Zur Bedeutung der Bhakti-Frömmigkeit im Hinduismus Die Vielgestaltigkeit im Hinduismus bezieht sich nicht nur auf die Götter, die in vielen verschiedenen Formen angebetet werden, sondern auch in einer Frömmigkeitshaltung, die Ausdruck dafür ist, wie sich durch die Manifestationen der Götter und des Göttlichen die Welt verstehen lässt. Das kommt in den entsprechenden Bräuchen und Glaubensformen zum Ausdruck. Ein wichtige Strömung ist der hingebungsvolle Weg: Die-Bhakti-Frömmigkeit. Sie ist die treibende Kraft in vielen hinduistischen Traditionen, im Sinne einer leidenschaftlichen Liebe, die Gott und der Anhänger, der „devotee“ miteinander teilen. Die innige Liebesbeziehung bildet den Grund des gesamten religiösen Lebens und eröffnet eine klare Perspektive für sinnhaftes Verhalten. Die Personifizierung des Göttlichen spielt dabei eine ziemlich untergeordnete Rolle. Während in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten noch Götter und Göttinnen im Bilde von Königen und Königreichen gesehen wurden, tritt ab dem 7. Jahrhundert eine intime Beziehung zwischen Gottheit und „Devotee“ in den Vordergrund, die gleichzeitig eine Abkehr von den Götterbildern zur Folge hatte. Damit verbindet sich auch eine Kritik am Kastensystem, denn religiöse Autorität war nun nicht länger abhängig vom Geburtsstatus und Reichtum, sondern beruhte auf der persönlichen Gotteserfahrung, die je länger je mehr nicht auf das Tun, sondern auf das Sein mit und vor Gott ausgerichtet war. So wurde der Körper zur Wohnung des Göttlichen, einem Tempel, ähnlich der Seele in der rheinischen Mystik des Mittelalters. Poesie bekam die Qualität des Heiligen und bildete gewissermaßen das Göttliche ab. Die Folge war, dass die alltäglich gesprochene Sprache das liturgische und feierliche Sanskrit ersetzte. Ab dem 13. Jh. erwuchs daraus eine Bewegung, die Männer und Frauen niedriger Kasten bewusst integrierte. Das kommt im Bild von der Kuh und dem Kälbchen zum Ausdruck: Gott sehnt sich nach seinen Anhängern und kümmert sich liebevoll um sie wie eine Kuh um ihr Kälbchen, d.h. Gott umgreift liebend-helfend das Leben der Menschen. Die wichtigsten mystischen „Vordenker“ der Krishna-Anbetung wie Sri Chaitanya (1485-1534) oder auch der berühmte über die eigene religiöse Tradition hinausgehende Mystiker Kabir (1440-1518) wenden sich durch die Variationsbreite der Krishna-Inkarnationen Krishnas letztlich hin zu einen Gott jenseits der Form („the Lord beyond form“) und distanzieren sich damit von Mythen, Abbildern, Anbetung im Tempel, vgl. unten S. 205). Gleichzeitig gibt eine erhebliche Nähe zur ursprünglich islamisch geprägten Sufi-Frömmigkeit. Daraus folgt, dass Bhakti im Herzen aller religiöser Traditionen zu finden ist, und zwar als vielseitige Beziehung zum Anbetung, die bis hin zur sexuellen Intimitätssprache geht. Aber die Formen der Beziehung bleiben Metaphern, ebenso wie die damit verbundenen Rituale des Bittens, Klagens und Lobens. Übrigens beruft sich auch die neohinduistische ISKCON (Hare-Krishna-Bewegung) auf das konsequente (teilweise sehr asketisch geprägte) Leben von Bhakti. Unsere irdische Welt hat – und das ist unstrittig – eine Beziehung zur letztgültigen Wirklichkeit „ultimate reality“, und zwar so das Brahman als die Eine Realität impersonal (nicht personal) gesehen wird und die Fülle der irdischen Welt als Illusion durchschaut wird. Diese Manifestation Brahmans in der Seele des Menschen bedeutet zugleich Erfahrung von Glückseligkeit und Freude. Dies kommt in Gedichten und Liedern mit poetischer Kraft zum Ausdruck Möglich ist aber auch, Gott (noch) personal zu denken und die Welt als seine Verkörperung bzw. als sein göttliches Spiel (Sanskrit: Lila) zu sehen, die er sich erschaffen hat. Darum spielt beispielsweise der Tanz eine „liturgisch“ so große Rolle. Das Handeln in der Liebe ist dann auf die die größere Eine Realität ausgerichtet, deren Teil wir sind. Das beinhaltet die Erkenntnis, dass der Mensch ein letztlich unbedeutendes Leben führt. So stellt die Erwartung von Reichtum, das ständige Streben nach Spaß und nach Besitz von Objekten oder Personen letztlich nicht zufrieden. In den ersten Phasen des spirituellen Erwachens sieht sich der Mensch in den Kreislauf des Karma eingeschlossen in einer endlosen und bedeutungslosen Schleife aus Wiedergeburt und „Wiedersterben“ weil er die Folgen seines Handelns aus der Vergangenheit in die neue Gegenwart weiter trägt. Darum braucht der Mensch Gottes Gnade, weil es sehr schwer für ihn ist, seine Verfallenheit an den Kreislauf des Karma allein zu überwinden. 1 Einige Poeten haben darum die Frage gestellt, ob Gott eigentlich dafür verantwortlich ist, dass es der Mensch es so schwer hat, denn Gott hat diese „schreckliche“ Welt ja möglicherweise als seinen Spielplatz geschaffen. Diese Poeten äußern Ängste und Zweifel und formulieren dies als Klagen. Wie kann nun der Mensch eine Beziehung zu einem solchen Gott aufbauen? Die Antwort heißt: Gott ist unsichtbar, aber überall präsent, er ist alles in allem und er zeigt sich im Herzen der Menschen, ja Gott ist sogar direkt am Leben eines jeden Menschen beteiligt. Durch die Erfahrung, dass Menschen durch die Kinder Mütter und Väter werden, lernen sie neue Erkenntnisse, ähnlich, wie Kinder nach und nach entdecken, was Eltern für sie getan haben. So entsteht eine Liebesbeziehung zwischen Gott und dem Menschen / seiner Seele: Gott und Seele sehnen sich nacheinander sehnen, empfinden Verlustängste haben und können gar eifersüchtig aufeinander werden. Der Sinn des Lebens besteht also darin: eine Liebe in allen Facetten mit Gott, in innigster Vertrautheit und ohne Scham das menschliche Herz sehnt sich nach Gott, nach völliger Vereinigung mit ihm, um seine Liebe zu erfahren. die körperliche Existenz macht diese Liebe möglich und jede Wiedergeburt ist eine Chance, erneut zu lieben und diese Liebe zu intensivieren. ebenso bietet sie die Möglichkeit andere Menschen in diese Liebe zu führen und ihnen den Weg nach Hause zu zeigen. in jedem neuen Leben gibt der Mensch alles, was er hat, alles, was er ist, mit seinen Stärken und Schwächen ist er für Gott – trotz seines „schlechten“ Karmas. Und so wartet er letztlich darauf, dass Gott ihn in die Arme schließt. Die praktische Konsequenz lautet darum: Der Mensch muss nach der göttlichen Erlösung fragen, dann wird er Gott überall dort sehen, wo er hinschaut. Wenn nun die Liebe aus diesem Zentrum des Lebens fließt, wird der Mensch das Göttliche im Herzen all seiner Beziehungen finden – für die hinduistischen Gläubigen wird diese Liebe (bhakti) zur Essenz des Lebens. Diese Überlegungen wurden im SS 2005 in einem interreligiösen Seminar der Uni Dortmund diskutiert, um die Wichtigkeit der indischen Bhakti-Frömmigkeit für den interreligiösen Dialog herauszustellen. Grundlage war der Aufsatz von: Nancy M. Martin: Love and Longing in Hinduism (Liebe und Sehnsucht im Hinduismus), in: Joseph Runzo / Nancy M. Martin (Hg.): The Meaning of Life in the World Religions. Oxford (UK): One World 2000, S. 203-219 Überarbeitung: Reinhard Kirste Mystik/bhakti.doc, 26.04.06, bearbeitet 04.01.11 2