WORTBILDUNG: INHALTSVERZEICHNIS 1. Zweck 2. Terminologie anhand deutscher Beispiele 3. Derivation (Ableitung): Substantive 3.1. 3.2. 3.3. 4. Substantive, die sich von Verben ableiten lassen 3.1.1. tor, sor, trix, strix 3.1.2. tus, sus, tio, sio Substantive, die sich von Adjektiven ableiten lassen 3.2.1. ia, itia 3.2.2. tas, tudo Die Verkleinerungsformen (Diminutiva) der Substantive Derivation (Ableitung): Adjektive 4.1. 4.2. 5. nach Latinum 20 Adjektive, die sich von Verben ableiten lassen 4.1.1. (b)ilis Adjektive, die sich von Substantiven ableiten lassen 4.2.1. osus 4.2.2. eus 4.2.3. alis, ilis, aris 4.2.4. ius Derivation (Ableitung): Verben 5.1. 5.2. Intensiva Incohativa 6. Komposition (Zusammensetzung): Verben 7. Akronyma 1 Wortbildung 1. Zweck Der Wortschatz einer Sprache ist nicht ein für allemal fixiert. In jeder Sprache lassen sich neue Wörter bilden, indem man sie nach bestimmten Gesetzmässigkeiten von den schon bestehenden ableitet. Die Kenntnis dieser Gesetzmässigkeiten hilft beim Spracherwerb: wer weiss, nach welchen Kriterien Wörter in einer bestimmten Sprache gebildet werden, ist imstande, Wörter zu verstehen, die er noch gar nie gehört hat. Ein Fremdsprachiger, der die deutschen Wörter „erfinden, hören, fahren“ und „Hörer, Fahrer“ kennt, wird ohne weiteres auch wissen, was ein „Erfinder“ ist. Die folgende Wortbildung hat eben dieses Ziel: dass Sie in die Lage kommen, unbekannte lateinische Wörter einfach zu verstehen, ohne dass Sie sie je zu lernen brauchen. 2. Terminologie anhand deutscher Beispiele 2.1. Wörter lassen sich zerlegen in Wurzel und Erweiterungen. (a) Unter der Wurzel versteht man den Bedeutungsträger eines Wortes; meist besteht sie aus einer Silbe. (b) Die Erweiterungen sind Bildungselemente, die nicht (mehr) als selbständige Wörter vorkommen. Präfix vorErEr- Wurzel findFindFind-find-find-find- Suffix Endung -et -ling -ling- -e -en -ung -ung- -en Präfixe und Suffixe dienen dazu, neue Wörter von der Wurzel abzuleiten. Mit den Endungen werden die verschiedenen grammatischen Formen eines Wortes gebildet. 2.2. Man kann mehrere Präfixe oder Suffixe miteinander kombinieren: Präfix 1 Präfix 2 un- -auf- Wurzel Find-find- Suffix 1 -ig-bar Suffix 2 -keit 2.3. Man unterscheidet zwischen Derivation und Komposition. Bei Derivation besteht das Wort aus nur einer Wurzel mit Erweiterungen; bei Komposition sind in einem Wort zwei oder mehr Wurzeln miteinander kombiniert. Bei Derivation spricht man von „abgeleiteten“, bei Komposition von „zusammengesetzten“ Wörtern. DERIVATION: eine Wurzel (mit Erweiterungen) Präfix Er- Wurzel Find-find- Suffix -er -ung KOMPOSITION: mindestens zwei Wurzeln (mit oder ohne Erweiterungen) Wurzel Präfix Ö Neu- 2 -er- Wurzel Suffix Find-er-find-ung Wurzel -lohn 2.4. Dieselben Bildungselemente wie im Deutschen, das heisst Wurzel, Präfix, Suffix und Endung, findet man auch in den lateinischen Wörtern. (a) Wurzeln: servin: serv-us, serv-are, serv-ire, serv-itus (b) Präfixe bei zusammengesetzten Verben: venire con-, in-, per-venire (vgl. dt. z.B. ein-, aus-, ver-, entführen) (c) Suffixe in der Konjugation und bei der Derivation: servare serva-ba-m (vgl. dt. ich bewahr-t-e) ferrum ferr-e-us (vgl. dt. eise-r-n) (d) Endungen in der Konjugation und in der Deklination: esse es-t (vgl. dt. er is-t) habere habe-nt (vgl. dt. sie gebe-n, sdt. si gä-nd) lux luc-es (vgl. dt. Licht-er, engl. light-s) Zusätzlich findet man lateinisch das indoeuropäische Nasalinfix, das heisst ein in die Wurzel eingeschobenes –n–: vi-n-c-ere aber vic-i, vic-tum Dieses Infix existiert auch im Deutschen, es ist allerdings etwas schwerer zu erkennen: bri-n-gen (ge-brach-t), de-n-ken (ge-dach-t) 3. Derivation (Ableitung): Substantive 3.1. Substantive, die sich von Verben ableiten lassen 3.1.1. Suffix Funktion -tor Täter abgeleitet von PPP Täterin PPP -sor -trix -strix Beispiel vincere „siegen“, PPP vic-tum Õ vic-tor „Sieger“ currere „laufen“, PPP cur-sum Õ cur-sor „Läufer“ vincere „siegen“, PPP vic-tum Õ vic-trix „Siegerin“ currere „laufen“, PPP cur-sum Õ cur-strix „Läuferin“ auditor, actrix, lustrix, monitor, instructor, debitor, amatrix Die Suffixe sind in den romanischen Sprachen und im Englischen erhalten; im Deutschen erscheinen die maskulinen Formen in Fremdwörtern. französisch italienisch englisch deutsch ac-teur, ac-trice at-tore, at-trice ac-tor, ac-tress Ak-teur Moni-tor -teur, -trice -tore, -trice -tor, -tress (aus dem Frz.) (aus dem Lat.) 3 3.1.2. Suffix Funktion -tus/-tio Tätigkeit abgeleitet von PPP -sus/-sio Beispiel movere „bewegen“, PPP mo-tum Õ mo-tus,-tus m. „Bewegung“ und Õ mo-tio,-tionis f. „Bewegung“ videre „sehen“, PPP vi-sum Õ vi-sus,-sus m. „Sehen“ und Õ vi-sio,-sionis f. „Sehen“ pulsus, exitus, versus petitio, missio, additio, confectio, laudatio, mansio actus/actio, conventus/conventio, status/statio Die Ableitungen auf -tio und -sio sind nicht nur im Latein, sondern auch in den modernen Sprachen ausserordentlich zahlreich. Verb nasci PPP na-tum „geboren werden“ Substantiv frz. it. engl. dt. na-tio „Geburt“ Õ „Volk“ na-tion na-zione na-tion Na-tion 3.2. Substantive, die sich von Adjektiven ableiten lassen 3.2.1. Suffix -ia -itia Funktion abgeleitet Beispiel von miser „arm, elend“, Gen. miser-i Eigenschaft Genetiv Õ miser-ia „Armut, Elend“ tristis „traurig“, Gen. trist-is Õ trist-itia „Traurigkeit“ amicitia, inimicitia Das Suffix –ia findet sich in folgenden Formen in modernen Sprachen wieder: Gallus Õ Gall-ia Lombardus Õ Lombard-ia französisch diligens,-ntis Õ diligent-ia constans,-ntis Õ constant-ia italienisch diligens,-ntis Õ diligent-ia constans,-ntis Õ constant-ia deutsch Gall-ien Lombard-ei dilig-ence const-ance dilig-enza cost-anza -ien -ei -ence -ance -enza -anza trist-esse trist-ezza -esse -ezza Beim Suffix –itia lauten die Entsprechungen: französisch tristis,-is Õ trist-itia italienisch tristis,-is Õ trist-itia 4 3.2.2. Suffix -tas Funktion abgeleitet von Eigenschaft Genetiv -tudo Beispiel liber „frei“, Gen. liber-i Õ liber-tas,-tatis f. „Freiheit“ consuetus „gewohnt“, Gen. consuet-i Õ consue-tudo,-tudinis f. „Gewohnheit“ Sehr oft steht vor den Suffixen –tas und –tudo ein zusätzlicher kurzer Vokal, meistens ein –i–: celer „schnell“Õ celer-i-tas,-tatis f. „Schnelligkeit multi „viele“Õ mult-i-tudo,-dinis f. „Vielzahl, Menge“ humanitas, fortitudo, pulchritudo In den modernen Sprachen lebt das Suffix –tas fort. französisch libertas italienisch libertas englisch libertas liber-té liber-tà liber-ty (allerdings auch freedom: „doppelter Wortschatz“) -té -tà -ty 3.3. Die Verkleinerungsformen (Diminutiva) der Substantive 3.3.1. Suffix Funktion -ellus Diminutiv -(c)ulus abgeleitet von Wurzel (z.T. lautlich verändert) Beispiel ager „Acker“ Õ ag-ellus „kleiner Acker, Äckerchen“ rex „König“ (Gen. reg-is) Õ reg-ulus „kleiner König, Königlein“ Im Deutschen sind alle Diminutiva neutral (das Äckerchen, das Königlein). Im Latein hat das Diminutiv stets dasselbe Geschlecht wie das Grundwort! Beispiele: (1) -ellus asinus „Esel“ Õ asellus -ella tabula „Tafel“ Õ tabella dt. Tabelle -ellum labrum „Lippe“ Õ labellum (2) -(c)ulus mus, muris m. „Maus“ Õ musculus dt. Muskel -(c)ula moles,-is f. „Masse“ Õ molecula dt. Molekül -(c)ulum vas, vasis n. „Gefäss“ Õ vasculum dt. vaskular Wie man sieht, wird das Suffix –ellus eher gebraucht bei Grundwörtern der a- oder der o-Deklination, das Suffix –(c)ulus bei Grundwörtern aus anderen Deklinationen. homunculus, versiculus, ocellus vocula, particula, recula, domuscula corpusculum, oppidulum, capitulum, sigillum, castellum In den romanischen Sprachen sind Diminutive in grosser Zahl erhalten. Meistens haben sie ihre diminutive Bedeutung abgelegt und werden anstelle des in der Regel nicht mehr vorhandenen Grundworts gebraucht. Z.B. geht italienisch fratello „Bruder“ nicht auf lat. frater zurück, sondern auf das Diminutiv fratellus; frater selbst lebt italienisch nur noch im Sinn von ‚Klosterbruder‘ fort (‚frate‘, Kurzform ‚fra‘). französisch vetulus,-a,-um (zu vetus!) vieux,-eil,-eille novellus,-a,-um (zu novus!) nouveau, nouvelle 5 italienisch vecchio novella 4. Derivation (Ableitung): Adjektive Vorbemerkung: Alle Adjektive, nicht nur die abgeleiteten, lassen sich negieren mit der Vorsilbe in-, wobei sowohl die Vorsilbe als auch das Adjektiv selbst lautlichen Veränderungen unterworfen ist: certus par amicus „sicher, gewiss“ „gleich(wertig)“ „befreundet“ in-certus im-par in-imicus „unsicher, ungewiss“ „ungleich(wertig)“ „verfeindet“ Lat. in- ist urverwandt mit dt. un- und mit gr. a-/an-, das man in vielen Fremdwörtern antrifft: apathisch „ohne Empfindung“, an-onym „ohne Name“. 4.1. Adjektive, die sich von Verben ableiten lassen 4.1.1. Suffix Funktion -(b)ilis passive Möglichkeit abgeleitet von Wurzel, Stamm, PPP Beispiel facere „machen, tun“, Wurzel facÕ fac-ilis, -e „machbar, leicht“ amare „lieben“, Stamm amaÕ ama-bilis, -e „lieblich, liebenswert“ movere „bewegen“, PPP mo-(tum) Õ mo-bilis, -e „beweglich“ Wie man sieht, lässt sich das Suffix –(b)ilis deutsch durch –bar, –lich oder –wert wiedergeben. Da es eine passive Möglichkeit zum Ausdruck bringt, lassen sich Adjektive auf –(b)ilis prinzipiell nur von Verben ableiten, die ihrerseits ein Passiv bilden, das heisst von transitiven Verben. laudabilis, habilis In den modernen Sprachen lebt das Suffix quasi unverändert fort. französisch facilis mobilis italienisch facilis mobilis englisch facilis mobilis fac-ile mo-bile fac-ile mo-bile fac-ile mo-bile (Häufiger sind allerdings die davon abgeleiteten Substantive auf -ty: facility, mobility; vgl. 3.2.2.) -ile -bile -ile -bile -ile -bile Das Suffix –bilis bezeichnet nicht nur die passive Möglichkeit, sondern hat auch instrumentale Funktion. Das Wort terribilis heisst „schrecklich“, das heisst es bezeichnet eine Person oder Sache, die „Schrecken bewirkt“ (instrumental), nicht etwa eine Person oder Sache, die „sich erschrecken lässt“ (passive Möglichkeit). Es gibt Wörter, in denen beide Funktionen vereint sind: flebilis (zu flere „weinen“) bedeutet einerseits „beweinenswert“ (passive Möglichkeit: „was sich beweinen lässt“), andererseits „traurig“ (instrumental: „was Weinen bewirkt“). Der Dichter Ovid schreibt in einem Gedicht aus der Verbannung: Flebilis ut noster status est, ita flebile carmen. „Wie meine Lage beweinenswert ist, so ist mein Gedicht traurig.“ 6 4.2. Adjektive, die sich von Substantiven ableiten lassen Die meisten Suffixe, mit denen sich Adjektive von Substantiven ableiten lassen, drücken in ganz allgemeinem Sinn die Zugehörigkeit aus. Nur zwei haben eine spezifische Bedeutung; sie werden im folgenden zuerst behandelt. 4.2.1. Suffix Funktion -osus Fülle abgeleitet von Genetiv Beispiel periculum „Gefahr“, Gen. pericul-i Õ pericul-osus „gefahrvoll, gefährlich“ gloriosus, famosus In folgenden Formen kommt dieses Suffix in modernen Sprachen vor: deutsch 4.2.2. curiosus „neugierig“ nervosus „kräftig“ französisch curiosus italienisch curiosus englisch curiosus kurios nervös curieux,-euse curioso curious Suffix Funktion Beispiel -eus Stoff abgeleitet von Genetiv -os -ös -eux, -euse -oso -ous aurum „Gold“, Gen. aur-i Õ aur-eus „aus Gold, golden“ In der Poesie werden zahlreiche neue Adjektive auf –eus gebildet, deren Bedeutung meistens verblasst ist. Sie drücken die Zugehörigkeit im allgemeinen aus: flumin-eus bezeichnet eine Person oder Sache, die in irgendeiner Weise „zu einem Fluss gehört“, litoreus die Zugehörigkeit zu einem Meeresufer. 4.2.3. Suffixe Funktion -alis,-ilis Zugehörigkeit abgeleitet von Genetiv -aris Beispiel mors, „Tod“, Gen. mort-is Õ mort-alis,-e „sterblich“ civis „Bürger“, Gen. civ-is Õ civ-ilis,-e „bürgerlich“ miles „Soldat“, Gen. milit-is Õ milit-aris „soldatisch, militärisch“ Das Suffix –ris ist lautgesetzlich aus –lis entstanden: das von familia abgeleitete Adjektiv lautete *familia-lis. Das im Grundwort vorhandene –l– bewirkte die Veränderung des Konsonanten im Suffix: aus *familia-lis wurde familia-ris (sog. Ferndissimilation). annalis, puerilis, virilis, senilis, regalis, popularis, capitalis, salutaris, auxiliaris Alle drei Suffixe leben in den modernen Sprachen fort. lat. fat-alis dt. fat-al frz. fat-ale 7 it. fat-ale engl. fat-al 4.2.4. Suffix Funktion -ius Zugehörigkeit abgeleitet von Genetiv Beispiel rex „König“, Gen. reg-is Õ reg-ius „königlich“ Mit dem Suffix –ius bildet man vor allem die römischen Gentilnamen (Geschlechtsnamen): Tullius „zu Tullus gehörig“ Õ „Sohn des Tullus“. In Fremdwörtern erhalten sind Bildungen zu Substantiven auf –tor, –sor (vgl. 3.1.1.). Es handelt sich dabei um substantivierte Adjektive im Neutrum: Auditorium, Sanatorium (sanare „heilen“), Konservatorium (conservare „hüten“), Observatorium (observare „beobachten“). 5. Derivation (Ableitung): Verben 5.1. Intensiva Intensiva sind Verben, die eine Verstärkung oder Wiederholung der Verbalhandlung ausdrücken; sie werden vom PPP abgeleitet und bilden ihre Formen nach der a-Konjugation. In den romanischen Sprachen und in deutschen Fremdwörtern sind oft nur die Intensiva bewahrt, die dann allerdings die Bedeutung des Grundworts angenommen haben. Grundwort trahere PPP tractum Intensivum tractare consultare acceptare dictare habitare frz. traiter consulter accepter dicter habiter it. trattare consultare accettare dettare abitare dt. traktieren konsultieren akzeptieren diktieren 5.2. Incohativa Incohativa drücken den Beginn einer Handlung oder den Übergang zu einer Handlung aus. Man erkennt sie daran, dass an den Stamm des Grundwortes das Suffix –sc– angefügt wird. timere, Stamm time- „sich fürchten“ time-sc-ere „in Furcht geraten“ Nicht selten sind Incohativa, zu denen es kein Grundwort (mehr) gibt. Zum Grundwortschatz gehören: (cog)noscere „kennenlernen, erkennen“, crescere „wachsen“ und die Deponentien nasci „geboren werden“, proficisci „aufbrechen“, adipisci „erwerben, erlangen“. Im Perfekt verschwindet das Suffix –sc– (z.B. cogno-sc-ere, cogno-vi). Damit kann eine Bedeutungsveränderung verbunden sein: im Perfekt wird die Handlung zum Zustand: (cog)no-sc-o (cog)no-vi „ich lerne kennen“ – „ich erkenne“ „ich habe kennengelernt“ = „ich kenne“ „ich habe erkannt“ = „ich weiss“ 8 6. Komposition (Zusammensetzung): Verben 6.1. Komposition mit Präpositionen Ein einfaches lateinisches Verb, ein sogenanntes Simplex, lässt sich mit einer vorangestellten Präposition zu einem Kompositum verbinden. Man nennt die Präposition in solcher Verwendung „Präverb“. Präposition a, ab + Abl. ad + Akk. cum + Abl. de + Abl. e, ex + Abl. in + Akk./Abl. inter + Akk. ob + Akk. per + Akk. pro + Abl. sub + Akk./Abl. trans + Akk. Bedeutung Präverb a, ab, abs, au von (her) „von, weg, fort“ ad „(hin)zu, bei“ zu, bei com, con, co mit „mit, zusammen“ von (herab) de „von...herab, ab“ e, ex „aus, heraus“ aus in „in, hinein“ in inter „dazwischen“ zwischen ob „gegen, entgegen“ gegen per „durch, hindurch“ durch pro „vor, vorwärts, für“ vor, für sub, sus unter „unter, unten, heimlich“ trans, tra über „jenseits, hinüber“ Kompositum Bedeutung ab-ire weggehen ad-ire con-venire hinzugehen zusammenkommen de-ponere ex-ire in-ire inter-venire ob-ire per-venire pro-cedere sub-scribere ablegen herausgehen hineingehen dazwischenkommen entgegengehen durchkommen vorwärtsgehen unterschreiben trans-ire hinübergehen Zwischen der Präposition und dem Präverb besteht in der Regel kein Sinnunterschied. Eine wichtige Ausnahme ist das Präverb com-/co-, das oft die Bedeutung des Simplex lediglich verstärkt, das heisst in seiner Funktion einem Intensivum entspricht. Deutsch werden in solchen Fällen Simplex und Kompositum meist nicht unterschieden: Simplex parare movere Kompositum com-parare com-movere Bedeutung (vor)bereiten bewegen 6.2. Komposition mit Präverbien Neben den Präpositionen kommen als Präverbien vor: Präverb dis-, dire-, red- Bedeutung(en fort, auseinander zurück, wieder Kompositum dis-cedere red-ire Bedeutung auseinandergehen zurückgehen 6.3. Lautliche Veränderungen bei der Bildung von Komposita Oft wird das Präverb oder das Verb bei der Komposition lautlich verändert. Über die wichtigsten Phänomene orientieren die folgenden drei Abschnitte. 6.3.1. Der auslautende Konsonant des Präverbs kann sich an den anlautenden Konsonanten des Verbs angleichen (sog. Assimilation): afferre (< ad-ferre), imponere (< in-ponere). 9 6.3.2. Sehr häufig ist die Vokalschwächung in Mittelsilben. Kurzes –a– und kurzes –e– wird in offener Mittelsilbe (das heisst vor einfachem Konsonanten) zu –i–, in geschlossener (das heisst vor zwei und mehr Konsonanten) zu –e–. Simplex facere Kompositum: Infinitiv con-ficere Kompositum: PPP con-fectum 6.3.3. Hie und da stösst man auf die Monophthongierung. Der Diphthong in der Wurzel des Simplex wird im Kompositum zu einem einfachen Langvokal. Simplex claudere Kompositum: Infinitiv in-cludere 6.4. Beispiele avertere, advenire, transponere, inferre, concipere, auferre, intermittere, admittere, offerre, comportare, decurrere, redigere, educere, propellere, immittere, expellere, amovere, dimittere 7. Akronyma Ein Akronymon ist ein Wort, das sich aus den ersten Buchstaben seiner Bestandteile zusammensetzt: UNO = United Nation’s Organisation LASER = light amplification by stimulated emission of radiation AIDS, SARS ... Lateinisch ist eine solche Bildung erst in der Zeit Karls des Grossen bezeugt: MILMO = (menses) Martius, Iulius, Maius, Octobris: Merkwort für die Monate, die schon vor der Kalenderreform Cäsars 31 Tage hatten und bei denen die Iden deshalb auf den 15. statt auf den 13. fielen. Wirkungsvoll ist ausserdem das griechische ICQUS. 10 WORTBILDUNG: INHALTSVERZEICHNIS 1. Zweck 2. Terminologie anhand deutscher Beispiele 3. Derivation (Ableitung): Substantive 3.1. 3.2. 3.3. 4. Substantive, die sich von Verben ableiten lassen 3.1.1. tor, sor, trix, strix 3.1.2. tus, sus, tio, sio Substantive, die sich von Adjektiven ableiten lassen 3.2.1. ia, itia 3.2.2. tas, tudo Die Verkleinerungsformen (Diminutiva) der Substantive Derivation (Ableitung): Adjektive 4.1. 4.2. 5. nach Latinum 20 Adjektive, die sich von Verben ableiten lassen 4.1.1. (b)ilis Adjektive, die sich von Substantiven ableiten lassen 4.2.1. osus 4.2.2. eus 4.2.3. alis, ilis, aris 4.2.4. ius Derivation (Ableitung): Verben 5.1. 5.2. Intensiva Incohativa 6. Komposition (Zusammensetzung): Verben 7. Akronyma 1 Wortbildung 1. Zweck Der Wortschatz einer Sprache ist nicht ein für allemal fixiert. In jeder Sprache lassen sich neue Wörter bilden, indem man sie nach bestimmten Gesetzmässigkeiten von den schon bestehenden ableitet. Die Kenntnis dieser Gesetzmässigkeiten hilft beim Spracherwerb: wer weiss, nach welchen Kriterien Wörter in einer bestimmten Sprache gebildet werden, ist imstande, Wörter zu verstehen, die er noch gar nie gehört hat. Ein Fremdsprachiger, der die deutschen Wörter „erfinden, hören, fahren“ und „Hörer, Fahrer“ kennt, wird ohne weiteres auch wissen, was ein „Erfinder“ ist. Die folgende Wortbildung hat eben dieses Ziel: dass Sie in die Lage kommen, unbekannte lateinische Wörter einfach zu verstehen, ohne dass Sie sie je zu lernen brauchen. 2. Terminologie anhand deutscher Beispiele 2.1. Wörter lassen sich zerlegen in Wurzel und Erweiterungen. (a) Unter der Wurzel versteht man den Bedeutungsträger eines Wortes; meist besteht sie aus einer Silbe. (b) Die Erweiterungen sind Bildungselemente, die nicht (mehr) als selbständige Wörter vorkommen. Präfix vorErEr- Wurzel findFindFind-find-find-find- Suffix Endung -et -ling -ling- -e -en -ung -ung- -en Präfixe und Suffixe dienen dazu, neue Wörter von der Wurzel abzuleiten. Mit den Endungen werden die verschiedenen grammatischen Formen eines Wortes gebildet. 2.2. Man kann mehrere Präfixe oder Suffixe miteinander kombinieren: Präfix 1 Präfix 2 un- -auf- Wurzel Find-find- Suffix 1 -ig-bar Suffix 2 -keit 2.3. Man unterscheidet zwischen Derivation und Komposition. Bei Derivation besteht das Wort aus nur einer Wurzel mit Erweiterungen; bei Komposition sind in einem Wort zwei oder mehr Wurzeln miteinander kombiniert. Bei Derivation spricht man von „abgeleiteten“, bei Komposition von „zusammengesetzten“ Wörtern. DERIVATION: eine Wurzel (mit Erweiterungen) Präfix Er- Wurzel Find-find- Suffix -er -ung KOMPOSITION: mindestens zwei Wurzeln (mit oder ohne Erweiterungen) Wurzel Präfix Ö Neu- 2 -er- Wurzel Suffix Find-er-find-ung Wurzel -lohn 2.4. Dieselben Bildungselemente wie im Deutschen, das heisst Wurzel, Präfix, Suffix und Endung, findet man auch in den lateinischen Wörtern. (a) Wurzeln: servin: serv-us, serv-are, serv-ire, serv-itus (b) Präfixe bei zusammengesetzten Verben: venire con-, in-, per-venire (vgl. dt. z.B. ein-, aus-, ver-, entführen) (c) Suffixe in der Konjugation und bei der Derivation: servare serva-ba-m (vgl. dt. ich bewahr-t-e) ferrum ferr-e-us (vgl. dt. eise-r-n) (d) Endungen in der Konjugation und in der Deklination: esse es-t (vgl. dt. er is-t) habere habe-nt (vgl. dt. sie gebe-n, sdt. si gä-nd) lux luc-es (vgl. dt. Licht-er, engl. light-s) Zusätzlich findet man lateinisch das indoeuropäische Nasalinfix, das heisst ein in die Wurzel eingeschobenes –n–: vi-n-c-ere aber vic-i, vic-tum Dieses Infix existiert auch im Deutschen, es ist allerdings etwas schwerer zu erkennen: bri-n-gen (ge-brach-t), de-n-ken (ge-dach-t) 3. Derivation (Ableitung): Substantive 3.1. Substantive, die sich von Verben ableiten lassen 3.1.1. Suffix Funktion -tor Täter abgeleitet von PPP Täterin PPP -sor -trix -strix Beispiel vincere „siegen“, PPP vic-tum Õ vic-tor „Sieger“ currere „laufen“, PPP cur-sum Õ cur-sor „Läufer“ vincere „siegen“, PPP vic-tum Õ vic-trix „Siegerin“ currere „laufen“, PPP cur-sum Õ cur-strix „Läuferin“ auditor, actrix, lustrix, monitor, instructor, debitor, amatrix Die Suffixe sind in den romanischen Sprachen und im Englischen erhalten; im Deutschen erscheinen die maskulinen Formen in Fremdwörtern. französisch italienisch englisch deutsch ac-teur, ac-trice at-tore, at-trice ac-tor, ac-tress Ak-teur Moni-tor -teur, -trice -tore, -trice -tor, -tress (aus dem Frz.) (aus dem Lat.) 3 3.1.2. Suffix Funktion -tus/-tio Tätigkeit abgeleitet von PPP -sus/-sio Beispiel movere „bewegen“, PPP mo-tum Õ mo-tus,-tus m. „Bewegung“ und Õ mo-tio,-tionis f. „Bewegung“ videre „sehen“, PPP vi-sum Õ vi-sus,-sus m. „Sehen“ und Õ vi-sio,-sionis f. „Sehen“ pulsus, exitus, versus petitio, missio, additio, confectio, laudatio, mansio actus/actio, conventus/conventio, status/statio Die Ableitungen auf -tio und -sio sind nicht nur im Latein, sondern auch in den modernen Sprachen ausserordentlich zahlreich. Verb nasci PPP na-tum „geboren werden“ Substantiv frz. it. engl. dt. na-tio „Geburt“ Õ „Volk“ na-tion na-zione na-tion Na-tion 3.2. Substantive, die sich von Adjektiven ableiten lassen 3.2.1. Suffix -ia -itia Funktion abgeleitet Beispiel von miser „arm, elend“, Gen. miser-i Eigenschaft Genetiv Õ miser-ia „Armut, Elend“ tristis „traurig“, Gen. trist-is Õ trist-itia „Traurigkeit“ amicitia, inimicitia Das Suffix –ia findet sich in folgenden Formen in modernen Sprachen wieder: Gallus Õ Gall-ia Lombardus Õ Lombard-ia französisch diligens,-ntis Õ diligent-ia constans,-ntis Õ constant-ia italienisch diligens,-ntis Õ diligent-ia constans,-ntis Õ constant-ia deutsch Gall-ien Lombard-ei dilig-ence const-ance dilig-enza cost-anza -ien -ei -ence -ance -enza -anza trist-esse trist-ezza -esse -ezza Beim Suffix –itia lauten die Entsprechungen: französisch tristis,-is Õ trist-itia italienisch tristis,-is Õ trist-itia 4 3.2.2. Suffix -tas Funktion abgeleitet von Eigenschaft Genetiv -tudo Beispiel liber „frei“, Gen. liber-i Õ liber-tas,-tatis f. „Freiheit“ consuetus „gewohnt“, Gen. consuet-i Õ consue-tudo,-tudinis f. „Gewohnheit“ Sehr oft steht vor den Suffixen –tas und –tudo ein zusätzlicher kurzer Vokal, meistens ein –i–: celer „schnell“Õ celer-i-tas,-tatis f. „Schnelligkeit multi „viele“Õ mult-i-tudo,-dinis f. „Vielzahl, Menge“ humanitas, fortitudo, pulchritudo In den modernen Sprachen lebt das Suffix –tas fort. französisch libertas italienisch libertas englisch libertas liber-té liber-tà liber-ty (allerdings auch freedom: „doppelter Wortschatz“) -té -tà -ty 3.3. Die Verkleinerungsformen (Diminutiva) der Substantive 3.3.1. Suffix Funktion -ellus Diminutiv -(c)ulus abgeleitet von Wurzel (z.T. lautlich verändert) Beispiel ager „Acker“ Õ ag-ellus „kleiner Acker, Äckerchen“ rex „König“ (Gen. reg-is) Õ reg-ulus „kleiner König, Königlein“ Im Deutschen sind alle Diminutiva neutral (das Äckerchen, das Königlein). Im Latein hat das Diminutiv stets dasselbe Geschlecht wie das Grundwort! Beispiele: (1) -ellus asinus „Esel“ Õ asellus -ella tabula „Tafel“ Õ tabella dt. Tabelle -ellum labrum „Lippe“ Õ labellum (2) -(c)ulus mus, muris m. „Maus“ Õ musculus dt. Muskel -(c)ula moles,-is f. „Masse“ Õ molecula dt. Molekül -(c)ulum vas, vasis n. „Gefäss“ Õ vasculum dt. vaskular Wie man sieht, wird das Suffix –ellus eher gebraucht bei Grundwörtern der a- oder der o-Deklination, das Suffix –(c)ulus bei Grundwörtern aus anderen Deklinationen. homunculus, versiculus, ocellus vocula, particula, recula, domuscula corpusculum, oppidulum, capitulum, sigillum, castellum In den romanischen Sprachen sind Diminutive in grosser Zahl erhalten. Meistens haben sie ihre diminutive Bedeutung abgelegt und werden anstelle des in der Regel nicht mehr vorhandenen Grundworts gebraucht. Z.B. geht italienisch fratello „Bruder“ nicht auf lat. frater zurück, sondern auf das Diminutiv fratellus; frater selbst lebt italienisch nur noch im Sinn von ‚Klosterbruder‘ fort (‚frate‘, Kurzform ‚fra‘). französisch vetulus,-a,-um (zu vetus!) vieux,-eil,-eille novellus,-a,-um (zu novus!) nouveau, nouvelle 5 italienisch vecchio novella 4. Derivation (Ableitung): Adjektive Vorbemerkung: Alle Adjektive, nicht nur die abgeleiteten, lassen sich negieren mit der Vorsilbe in-, wobei sowohl die Vorsilbe als auch das Adjektiv selbst lautlichen Veränderungen unterworfen ist: certus par amicus „sicher, gewiss“ „gleich(wertig)“ „befreundet“ in-certus im-par in-imicus „unsicher, ungewiss“ „ungleich(wertig)“ „verfeindet“ Lat. in- ist urverwandt mit dt. un- und mit gr. a-/an-, das man in vielen Fremdwörtern antrifft: apathisch „ohne Empfindung“, an-onym „ohne Name“. 4.1. Adjektive, die sich von Verben ableiten lassen 4.1.1. Suffix Funktion -(b)ilis passive Möglichkeit abgeleitet von Wurzel, Stamm, PPP Beispiel facere „machen, tun“, Wurzel facÕ fac-ilis, -e „machbar, leicht“ amare „lieben“, Stamm amaÕ ama-bilis, -e „lieblich, liebenswert“ movere „bewegen“, PPP mo-(tum) Õ mo-bilis, -e „beweglich“ Wie man sieht, lässt sich das Suffix –(b)ilis deutsch durch –bar, –lich oder –wert wiedergeben. Da es eine passive Möglichkeit zum Ausdruck bringt, lassen sich Adjektive auf –(b)ilis prinzipiell nur von Verben ableiten, die ihrerseits ein Passiv bilden, das heisst von transitiven Verben. laudabilis, habilis In den modernen Sprachen lebt das Suffix quasi unverändert fort. französisch facilis mobilis italienisch facilis mobilis englisch facilis mobilis fac-ile mo-bile fac-ile mo-bile fac-ile mo-bile (Häufiger sind allerdings die davon abgeleiteten Substantive auf -ty: facility, mobility; vgl. 3.2.2.) -ile -bile -ile -bile -ile -bile Das Suffix –bilis bezeichnet nicht nur die passive Möglichkeit, sondern hat auch instrumentale Funktion. Das Wort terribilis heisst „schrecklich“, das heisst es bezeichnet eine Person oder Sache, die „Schrecken bewirkt“ (instrumental), nicht etwa eine Person oder Sache, die „sich erschrecken lässt“ (passive Möglichkeit). Es gibt Wörter, in denen beide Funktionen vereint sind: flebilis (zu flere „weinen“) bedeutet einerseits „beweinenswert“ (passive Möglichkeit: „was sich beweinen lässt“), andererseits „traurig“ (instrumental: „was Weinen bewirkt“). Der Dichter Ovid schreibt in einem Gedicht aus der Verbannung: Flebilis ut noster status est, ita flebile carmen. „Wie meine Lage beweinenswert ist, so ist mein Gedicht traurig.“ 6 4.2. Adjektive, die sich von Substantiven ableiten lassen Die meisten Suffixe, mit denen sich Adjektive von Substantiven ableiten lassen, drücken in ganz allgemeinem Sinn die Zugehörigkeit aus. Nur zwei haben eine spezifische Bedeutung; sie werden im folgenden zuerst behandelt. 4.2.1. Suffix Funktion -osus Fülle abgeleitet von Genetiv Beispiel periculum „Gefahr“, Gen. pericul-i Õ pericul-osus „gefahrvoll, gefährlich“ gloriosus, famosus In folgenden Formen kommt dieses Suffix in modernen Sprachen vor: deutsch 4.2.2. curiosus „neugierig“ nervosus „kräftig“ französisch curiosus italienisch curiosus englisch curiosus kurios nervös curieux,-euse curioso curious Suffix Funktion Beispiel -eus Stoff abgeleitet von Genetiv -os -ös -eux, -euse -oso -ous aurum „Gold“, Gen. aur-i Õ aur-eus „aus Gold, golden“ In der Poesie werden zahlreiche neue Adjektive auf –eus gebildet, deren Bedeutung meistens verblasst ist. Sie drücken die Zugehörigkeit im allgemeinen aus: flumin-eus bezeichnet eine Person oder Sache, die in irgendeiner Weise „zu einem Fluss gehört“, litoreus die Zugehörigkeit zu einem Meeresufer. 4.2.3. Suffixe Funktion -alis,-ilis Zugehörigkeit abgeleitet von Genetiv -aris Beispiel mors, „Tod“, Gen. mort-is Õ mort-alis,-e „sterblich“ civis „Bürger“, Gen. civ-is Õ civ-ilis,-e „bürgerlich“ miles „Soldat“, Gen. milit-is Õ milit-aris „soldatisch, militärisch“ Das Suffix –ris ist lautgesetzlich aus –lis entstanden: das von familia abgeleitete Adjektiv lautete *familia-lis. Das im Grundwort vorhandene –l– bewirkte die Veränderung des Konsonanten im Suffix: aus *familia-lis wurde familia-ris (sog. Ferndissimilation). annalis, puerilis, virilis, senilis, regalis, popularis, capitalis, salutaris, auxiliaris Alle drei Suffixe leben in den modernen Sprachen fort. lat. fat-alis dt. fat-al frz. fat-ale 7 it. fat-ale engl. fat-al 4.2.4. Suffix Funktion -ius Zugehörigkeit abgeleitet von Genetiv Beispiel rex „König“, Gen. reg-is Õ reg-ius „königlich“ Mit dem Suffix –ius bildet man vor allem die römischen Gentilnamen (Geschlechtsnamen): Tullius „zu Tullus gehörig“ Õ „Sohn des Tullus“. In Fremdwörtern erhalten sind Bildungen zu Substantiven auf –tor, –sor (vgl. 3.1.1.). Es handelt sich dabei um substantivierte Adjektive im Neutrum: Auditorium, Sanatorium (sanare „heilen“), Konservatorium (conservare „hüten“), Observatorium (observare „beobachten“). 5. Derivation (Ableitung): Verben 5.1. Intensiva Intensiva sind Verben, die eine Verstärkung oder Wiederholung der Verbalhandlung ausdrücken; sie werden vom PPP abgeleitet und bilden ihre Formen nach der a-Konjugation. In den romanischen Sprachen und in deutschen Fremdwörtern sind oft nur die Intensiva bewahrt, die dann allerdings die Bedeutung des Grundworts angenommen haben. Grundwort trahere PPP tractum Intensivum tractare consultare acceptare dictare habitare frz. traiter consulter accepter dicter habiter it. trattare consultare accettare dettare abitare dt. traktieren konsultieren akzeptieren diktieren 5.2. Incohativa Incohativa drücken den Beginn einer Handlung oder den Übergang zu einer Handlung aus. Man erkennt sie daran, dass an den Stamm des Grundwortes das Suffix –sc– angefügt wird. timere, Stamm time- „sich fürchten“ time-sc-ere „in Furcht geraten“ Nicht selten sind Incohativa, zu denen es kein Grundwort (mehr) gibt. Zum Grundwortschatz gehören: (cog)noscere „kennenlernen, erkennen“, crescere „wachsen“ und die Deponentien nasci „geboren werden“, proficisci „aufbrechen“, adipisci „erwerben, erlangen“. Im Perfekt verschwindet das Suffix –sc– (z.B. cogno-sc-ere, cogno-vi). Damit kann eine Bedeutungsveränderung verbunden sein: im Perfekt wird die Handlung zum Zustand: (cog)no-sc-o (cog)no-vi „ich lerne kennen“ – „ich erkenne“ „ich habe kennengelernt“ = „ich kenne“ „ich habe erkannt“ = „ich weiss“ 8 6. Komposition (Zusammensetzung): Verben 6.1. Komposition mit Präpositionen Ein einfaches lateinisches Verb, ein sogenanntes Simplex, lässt sich mit einer vorangestellten Präposition zu einem Kompositum verbinden. Man nennt die Präposition in solcher Verwendung „Präverb“. Präposition a, ab + Abl. ad + Akk. cum + Abl. de + Abl. e, ex + Abl. in + Akk./Abl. inter + Akk. ob + Akk. per + Akk. pro + Abl. sub + Akk./Abl. trans + Akk. Bedeutung Präverb a, ab, abs, au von (her) „von, weg, fort“ ad „(hin)zu, bei“ zu, bei com, con, co mit „mit, zusammen“ von (herab) de „von...herab, ab“ e, ex „aus, heraus“ aus in „in, hinein“ in inter „dazwischen“ zwischen ob „gegen, entgegen“ gegen per „durch, hindurch“ durch pro „vor, vorwärts, für“ vor, für sub, sus unter „unter, unten, heimlich“ trans, tra über „jenseits, hinüber“ Kompositum Bedeutung ab-ire weggehen ad-ire con-venire hinzugehen zusammenkommen de-ponere ex-ire in-ire inter-venire ob-ire per-venire pro-cedere sub-scribere ablegen herausgehen hineingehen dazwischenkommen entgegengehen durchkommen vorwärtsgehen unterschreiben trans-ire hinübergehen Zwischen der Präposition und dem Präverb besteht in der Regel kein Sinnunterschied. Eine wichtige Ausnahme ist das Präverb com-/co-, das oft die Bedeutung des Simplex lediglich verstärkt, das heisst in seiner Funktion einem Intensivum entspricht. Deutsch werden in solchen Fällen Simplex und Kompositum meist nicht unterschieden: Simplex parare movere Kompositum com-parare com-movere Bedeutung (vor)bereiten bewegen 6.2. Komposition mit Präverbien Neben den Präpositionen kommen als Präverbien vor: Präverb dis-, dire-, red- Bedeutung(en fort, auseinander zurück, wieder Kompositum dis-cedere red-ire Bedeutung auseinandergehen zurückgehen 6.3. Lautliche Veränderungen bei der Bildung von Komposita Oft wird das Präverb oder das Verb bei der Komposition lautlich verändert. Über die wichtigsten Phänomene orientieren die folgenden drei Abschnitte. 6.3.1. Der auslautende Konsonant des Präverbs kann sich an den anlautenden Konsonanten des Verbs angleichen (sog. Assimilation): afferre (< ad-ferre), imponere (< in-ponere). 9 6.3.2. Sehr häufig ist die Vokalschwächung in Mittelsilben. Kurzes –a– und kurzes –e– wird in offener Mittelsilbe (das heisst vor einfachem Konsonanten) zu –i–, in geschlossener (das heisst vor zwei und mehr Konsonanten) zu –e–. Simplex facere Kompositum: Infinitiv con-ficere Kompositum: PPP con-fectum 6.3.3. Hie und da stösst man auf die Monophthongierung. Der Diphthong in der Wurzel des Simplex wird im Kompositum zu einem einfachen Langvokal. Simplex claudere Kompositum: Infinitiv in-cludere 6.4. Beispiele avertere, advenire, transponere, inferre, concipere, auferre, intermittere, admittere, offerre, comportare, decurrere, redigere, educere, propellere, immittere, expellere, amovere, dimittere 7. Akronyma Ein Akronymon ist ein Wort, das sich aus den ersten Buchstaben seiner Bestandteile zusammensetzt: UNO = United Nation’s Organisation LASER = light amplification by stimulated emission of radiation AIDS, SARS ... Lateinisch ist eine solche Bildung erst in der Zeit Karls des Grossen bezeugt: MILMO = (menses) Martius, Iulius, Maius, Octobris: Merkwort für die Monate, die schon vor der Kalenderreform Cäsars 31 Tage hatten und bei denen die Iden deshalb auf den 15. statt auf den 13. fielen. Wirkungsvoll ist ausserdem das griechische ICQUS. 10