Die Gabe Der gemeinsame Ursprung der Gesellung und des

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Die Gabe
Der gemeinsame Ursprung der Gesellung und des Teilens
im religiösen Opferkult und in der Mahlgemeinschaft
Von Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Köln
Ein aktueller sozialpolitischer Bezllgsrahmen für eine klassische anthropologische
Fragestellung
Unter raum-zeit-unbedingten Formen der Sozialpolitik versteht die vorliegende Abhandlung Mechanismen der Risikovergemeinschaftung angesichts sozialer Gefähr,dungen und Mechanismen der Hilfe für sozial schwache Personenkreise. Der Gestaltkern einer solchen Sozialpolitik ist die Gabe. Die Haupthypothese I) lautet: Der
Ursprung der Sozialpolitik liegt in Urformen (Archetypen) der sozialen Hilfeformen und der sozialen Risikogemeinschaften anthropologisch begründet, die - so der
vergleichende ethnologische und kulturgeschichtliche Befund - ihre Wurzeln im
Opferkult und in den daraus resultierenden genossenschaftlichen Mahlgemeinschaften (sofern diese nicht ohnehin paläoanthropologisch ihren Ursprung im gemeinsamen häuslichen Herd besitzen) haben.
Diese Ursprungshypothese ist nicht soziogenetisch auf der Grundlage einer Theorie
kultureller Evolution (mit all den impliziten metatheoretischen Problemen) zu verstehen. sondern auf der Basis strukturaler Analogien gewonnen. Die Gabe wird somit als archetypische Kategorie aufgegriffen, um die anthropologischen Tiefenstrukturen sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften aufzudecken _
Tiefenstrukturen, die bis heute den Kern moderner Sozialpolitik betreffen. In dieser Aktualisierbarkeit - wie die n~uere Akzeptanzforschung (zur GKV) zeigt (UIIrich 2000) - liegt die besondere Bedeutung einer historisch-anthropologischen Reflexion begründet. Nachdem bereits vor einigen Jahren in der sozialpolitischen Fachdiskussion aus soziologischer Sicht nach der impliziten .,moralischen Ökonomie"
,des Generationenvertrages der GRV gefragt wOrden ist, entdeckt die Literatur im
Schnittbereich von Sozialpolitikwissenschaft und Soziologie - eventuell auch als
Folge des Aufstiegs der (Methodologie der) Netzwerkanalyse - das alte ethnologisch-kulturanthropologische Prinzip der (generalisierten) Reziprozität neu.
Der Aufsatz in Verbindung mit den hier weiter anzuführenden Schriften des Verfassers (20<XJ; 2<XJOa;
2oo0b; 2<XJOc; 2(X)Of) steht im Zusammenhang mit einer größeren Monographie, die'der Verfasser in Vorbereitung hat: Genossenschaftlichkeit und Herrschaft in der Geschichte der Menschheit. Zur Archetypenlehre der GeseJlung und der sozialpolitischen Institutionen. Erscheint in .. Schriften zum Genossens~haftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft.. , herausgegeben von D. Budäus. W. W. Engelhardt, F. Fürstenberg o. R. Hettlage. Berlin: DUllcker&Humblot (i. V.).
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Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Die religionsgeschichtliche Hallpthypothese: der Ursprung des sozialen Teilens im sakralen Kult
Insbesondere die Religionsgeschichte (nicht nur des antiken Griechenlands, das das
klassische Demonstrationsfeld dieser Thesen darstellt) stellt den Geburtszusammenhang der genossenschaftlichen Gebilde kultgeschichtlich dar: "die Kultgemeinschaft führt zur Bildung von genossenschaftlichen Organisationen", schreibt Laum
in seinen Studien über die "Stiftungen in der griechischen und römischen Antike"
(1964: 241). Und: "Die Anfänge liegen wie immer im Kult." (Laum.1964: 243) Diese
Verwurzelungen sollen im Folgenden herausgestellt werden (Kippenberg 1997: 99
ff. zum Ursprung aIler sozialen Pflichten im Opferritual). Die religionsgeschichtlich
orientierte Anthropologie des Themas könnte ergänzt und verdichtet durch rechtsethnologische Befunde, die vor allem aus dem Feld der Forschung des altestamentlichen Quellenmaterials im gemeinorientalischen Kontext herangezogen werden
können. Diese rechtsethnologischen Affinitäten resultieren aIlein schon zwingend
aus dem Zusammenspiel und aus den Zusammenhängen von Religion und Recht ohne hier interne Deduktionen annehmen Z).l müssen. Es kristallisiert sich eine argumentative Achse der Darlegung: die Fundierung des homo reciproclls im homo
festiclls. Damit kommt die Betrachtung zur Formulierung eines Zugangs zur Theorie archetypischer Sozialpolitik, der religionsgeschichtlicher Art ist. Es lassen sich
einige strukturale Analogien religionsgeschichtlicher Grundbegriffe zur Archety-'
penlehre finden. Zunächst ist die Möglichkeit der Betrachtung der Religion als eine
Größe sui generis herauszuheben. Sie wird konstituiert durch eine existentielle
Wechselbeziehung zwischen der Gottheit einerseits, deren Manifestation der
Mensch erfährt, und die andererseits eine Richtung auf das Unbedingte meint. Verehrung, Anbetung, ethische Lebensgestaltung und kultische Handlungen sind Ausdruck dieser Beschreitung eines Heilsweges. Ferner werden evident die innigen Bezüge zu Ottos "Numinose". Insofern orientiert sich die vorliegende Betrachtung
durchaus an der religionsgeschichtlichen Methode, die nach den Umweltbezügen
der Religion (hier des Alten oder auch des Neuen Testaments) fragt. Diese hier vorgetragenen Überlegungen stehen in der Tradition der berühmten Abhandlung von
Mauss (1968) "Essai sur le don" von 1924, der - anders als Kropotkin (1908) - im
modernen sozialstaatlichen VersicherUngswesen noch nach den Resten der kohäsionsstiftenden Reziprozität fragt. Und entsprechend schreibt Osterloh in einem Beitrag mit dem Untertitel "Europäischer Kulturwandel als psychosoziales Problem": .
Schon "in archaischen Gesellschaften gehört zusammen,wer von einer gemeinsamen Feuerstelle aus versorgt wird,'.2) Im Ursprung liegt das Feuer - als gemeinsamer Herd - in einer Hütte. Die ethnologischen Studien von Behrend zu den Tugen
in Ostafrika bestätigen dies (Behrend 1985). Und auf einer solchen Hausgemein,
schaft gründet sich das Dorf als ortsgebundene Kooperation, womit sich das Thema
der Gemeindebildung, definiert über die Nähe des Wohnens und über die Dichte der
sozialen Interaktionen, abzeichnet. Und Zimmermann .(1991: 154): "In der Festge-
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Schulz-Nieswandt, Die Gabe
meinschaft verschwinden die Schranken zwischen Alt und Jung, zwischen Individuum und Gesellschaft." Eine gewisse ParaIlele findet diese Ursprungsthese in der
Theorie detGeburt der Kultur. aus dem Spiel, wie sie von Huizinga (1997) fonimIiert worden ist, zumal in seiner Abhandlung übet den homo ludens immer wieder
die Nähe von Spiel und Fest, Kultund Ritus als ordnungsschaffende Elemente der
menschlichen Existenz betont wird. "Zwischen Fest und Spiel bestehen nun der Natur der Sache nach engste Beziehungen," (Huizinga 1997: 31) Huizinga nimmt auch
wahrscheinliche Zusammenhänge mit Opferkulten - insbesondere mit feierlichen
Opfertänzen - an. Mit der Beobachtung, dass das Spiel zur Clubbildung führt, rückt
Huizinga die Problematik in die Nähe zur genossenschaftsarfigen Gemeinschaftsbildung. Huizinga spricht von Gemeinschaftsverbänden (Huizinga 1997: 21-22). Die
Gabe - durchaus so, wie sie Mauss (1968) verstand und wie sie später die Reziprozitätsforschung von SahIins (bereits in dessen Abhandlung über die Ökonomie der
Steinzeitmenschen: SahIins 1974) und die Konzeption der moralischen Ökonomie
fortentwickelten - ist (neben dem Sakralkönigtum) einer der beiden (sakralen) Archetypen der Gesellung des Menschen,
Bachofen hat in seiner berühmten (wenn auch kontroversen) Abhandlung über das
Mutterrecht die Kulturbedeutung der Religion herausgestellt (Bachofen 1975: 19):
"Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aIler Zivilisation, die Religion." Muss
man auch nicht diesen Absolutismus teilen, so zeigt sich dennoch oftmals die Richtigkeit, den Ursprung und die Entwicklung vieler Phänomene in den religionsgeschichtlichen Kontexten zu finden. Mit der Hervorhebung der Rolle der Religion
wird keine Monokausalität konstatiert; aber es besteht damit die Möglichkeit, einen
doch recht einseitigen Ökonomismus zu vermeiden. Das Zusammenspiel beider Praxisformen - die ,der Ökonomie und die der Religion - ist aber oftmals ungelöst.
Es ist evident, dass aus der Vielzahl der Gestalten von Opferkulten nur eine Variante herausgegriffen wird. Aber hier - theoretisch in der Tradition von W.
Robertson Smith (da auf das Original werk an dieser SreIle nicht einzugehen ist: Kippenberg 1997a) stehend -liegt die KeimzeIle vor, die als Urform des GesellschaftIi. '. ehen begriffen werden soll. Dazu Goldammer im "Grundriss der systematischen Religionswissenschaft": "Die Praxis des Gaben- und Geschenkopfers, das einen persönlichen Empfänger voraussetzt, hat dann die reichste Entwicklung in der Geschichte der höheren Religionen erlebt. Aus ihr sind besonders zahlreiche Formen
der Vergeistigung und der Versittlichung des Opfers hervorgegangen. Denn die Idee
eines Verzichts zugunsten eines anderen, konnte ja erst an Hand des Gaben- und
. Darbringungsopfers gebildet werden:' (1960: 338 sowie 341 zum Gegenseitigkeitscharakter des Opfers) ,,,Opfer' wird dann aber ein Ausdruck für alles Mögliche an
Hingabe und Einsatzbereitschaft für altruistische und überindividuelle Zwecke: es
gibt ein Opfer für die Idee, für die große und gute Sache, für die Gemeinschaft"
(Goldammer 1960: 343). Liegt im Opferkultus das Teilen als sozialpolitischer Kern
begründet, so konstituiert sich Gemeinschaft eben auch als Kreis der Partizipatiort
(Goldammer 1960: 363): Teilen ist Handlung, ist Geben und Nehmen, Teilen ist ge,seIlschaftliehe Praxis.
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Kulturbildung und TodesbeWllsstsein
Die im Opferkult zum Ausdruck kommende Daseinsproblematik des Menschen
macht den Tod zum Ursprung der Kultur. Erst der Tod konstituiert die Zeit, in der
Geschichte möglich, somit Gestaltung des Daseins sinnvoll wird. Es ist eine sehr relevante Frage, ob sich diese Deduktionen aktualisiert an einer strengen Hypothese
der (modernen) Todesverdrängung überprüfen lassen müssen. Diese Hypothese der
Todesverdrängung ist Fuchs (1973) in seiner Analyse der "Todesbilder in der modernen Gesellschaft" kritisch angegangen, auch Hahn in seiner in der deutschen
Nachkriegssoziologie zu den frühen todessoziologischen Untersuchungen zählenden Analyse (Hahn 1968). Die Argumentation von Fuchs ist deshalb besonders erwähnenswert, da er auch einige Reflexionen zur Lebensversicherung und zur Sozialversicherung anschließt. Fuchs sieht offensichtlich in dem Markt der Lebensversicherungen eine tief verborgene Sinnhaftigkeit gegeben: Es werden die Konsequenzen des Todesfalles für die Hinterbliebenen aufgefangen. Und zwar ,.im über die statistischen Gesetze der Sterblichkeit vermittelten Prinzip der Gegenseitigkeit als genossenschaftliches System der Sterbehilfe" (Fuchs 1973). Fuchs betrachtet nun leider nicht dieses Element der gegenseitigen Hilfe auch im System der Sozialversicherung (Schulz-Nieswandt 2000d.). Er konzentriert seine Analyse vielmehr auf das
Problem der relativen Sinnentleerung in den Rollenspektren von älteren Menschen,
die die gesetzliche Altersgrenze überschreiten. Aber insgesamt sieht Fuchs doch die
große zivilisatorische Errungenschaft von weltgeschichtlicher Bedeutung, die in dieser Aufwertung des Alters durch sozioökonomische Ermöglichung der Existenz im
Alter begründet liegt. Diese genossenschaftliche Art der Daseinsermöglichung ist
wichtig, begründet sie sich doch in der Artifizialisierung verwandschaftlicher Hilfesysteme. Die Brutpflege, wie sie von der Verhaltensforschung - auf die Evolutionstheorie sozialen Verhaltens soll hier nicht näher eingegangen werden (Runciman
u. a. 1996) - aufgedeckt worden ist, mag eine weitere, evolutionsgeschichtlich noch
elementarere Keimzelle für kooperatives Handeln sein. Wyss, der das System von
Geben und Nehmen als gemeinschaftsbildender Faktor "allerersten Ranges" ansieht, schätzt bereits die primäre Beziehung der Mutter zum Kind als ein Geben und
Nehmen ein (Wyss 1973: 103). Aber davon abgesehen: Zur conditio humana
gehören demnach genossenschaftsähnliche Formen der Gesellung, die deutlich in'
ihren reJigionsgeschichtlichen Wurzeln verständlich werden können: Im Opferkult
generieren sich Formen der Gesellung als gemeinsames Mahl, als Festschmaus, der
gemeinschaftsstiftend ist und Formen der Mutualität und Reziprozität generiert. Es
wird also, schreibt Coulborn (1962: 141) über den "Ursprung der Hochkulturen",
herausgestellt, "wie wichtig nämlich die Versammlungen zum Zweck religiöser Feiern tatsächlich waren". Es gibt noch eine andere Möglichkeit, den anthropologischen Kern der Gesellschaftlichkeit bis in die moderne westliche Gesellschaftsform
hinein zu formulieren. Es handelt sich um die Argumentation in der Abhandlung
von Kurnitzky (1994) zum "heilige(n) Markt": Der Markt - als soziale Austauschveranstaltung - wird als gesellschaftskonstitutiv angesehen und universalgeschichtlieh thematisiert, aber eben mit einer besonderen Tiefenstruktur. Der Markt wird
gattungsgeschichtlich zurückgeführt auf Opferverhältnisse und Opferrituale. U. a.
am Hermes-Mythos und in Verbindung mit der Ödipus-Theorie wird der Ursprung
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des Marktes in der Triebregulierung und in der Kompensation von Trieberfüllung
durch Ersatztausch gesehen. So gesehen resultiert aus dem Ursprung des Marktes
im Tabu die Kultur überhaupt, nicht nur 'der Markt im engeren Sinne, auch andere
Formen des sozialen Austausches, durch die sich eine Ansammlung von Menschen
überhaupt erst als Gesellschaft generiert. An diesem Punkt der Argumentation
kehrt die vorliegende Abhandlung zur klassischen Fragestellung der Soziologie
zurück: "Wie ist Gesellschaft möglich?" Insofern und deshalb trägt diese Abhandlung den Untertitel "Der gemeinsame Ursprung der Gesellung und des Teilens ( ... )".
Den Kitt der Gesellschaft sieht Kurnitzky im Fest; durch Kult wird die anthropogene
Spannung zwischen Zivilisation und Ursprungssituation des Menschen abgebaut.
Selbst der Diskurs wird - in dieser anthropologischen Tiefenstruktur der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt - bei Kurnitzky zur Kultveranstaltung.
Römisches Bankett lind christliche Agape
Eine Studie von Rüpke (1998) zum Bankett (als Institution im Sinne von Tafelfreunden) im alten Rom (mit vergleichenden Aspekten) hat die Möglichkeit, obige
religionsgeschichtliche Hypothese vorzulegen, gestärkt. Rüpke siedelt seine Perspektive in der historischen Anthropologie an, wodurch es ihm möglich wird, einerseits eine Institution von großer anthropologischer Dichte, andererseits aber auch
. eiIie historische Kontextualisierung, die phänomenologisch eine gewisse Gestaltvielfalt eröffnet, vorzustellen. Diese Perspektive der historischen Anthropologie ist
so zu verstehen, dass das Kontinuum im Wandel der Geschichte das in der Tiefe prägende Strukturmuster ist. Dies ist die Kontinuität im Wandel, die eigentliche "histoire de longue dun~e", länger jedoch als die Zeitspannen, die dieser Begriff in der
französischen Schule der Historischen Wissenschaft umfasst, ein Jahrtausende
überdeckendes Tiefenmuster.
Die Wurzeln des Banketts liegen allgemein im alten Orient, aber nicht-genetische
Parallelen phänomenologischer Art (etwa zu Polynesien) sind möglich. Öffentliche
Speisungen gab es auch bereits im altmesopotamischen Raum, aber sie waren königlieher Natur (vgl. auch Fauth 1988: 237, dort auch FN 184), nicht genossenschaftlicher Art. Man beachte etwa die Differenz dieser polydoria ("Freigiebigkeit") des
aItiranischen Großkönigs zum reziproken, egalitären Geschenkaustauschsystem
(Wiesehöfer 1999: 57). Auch das Phänomen der christlichen Agape ist hier einzuordnen. Im Zentrum steht das geselJungsstiftende Wirkgeschehen des gemeinsamen
Mahles, wobei in Abgrenzung zu Burkerts homo necans (Burkert 1998) im Opfer
nicht der Tötungsakt, sondern eben das Mahl im Zentrum der Kulturbedeutung
. steht. Rüpke (1998) richtet den Blick auf die menschlichen Sozialpartner, wenngleich der Kontext des Feierns sakraler Art sein kann. Innerhalb dieser Praxis der
Sozialpartner legt Rüpkc die Dialektik von Hierarchie und Gleichheit dar, je nachdem, um welche Formen der Reziprozität (einschließlich der destruktiven AgonaIität) es sich handelt. Ohne einen engen genetischen Zusammenhang evolutorischer
. Art zu postulieren, verweist Rüpke auf Wurz~ln des gesellungsstiftenden Gebens
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
und Nehmens in den homerischen Epen - ein eigenes, komplexes Thema, das an dieser Stelle nicht vertieft oder gar abgehandelt werden kann (vgl. nun den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Wagner-RaseI2000) - und im früheisenzeitlichen Italien.3) Mit der urbanen Sozialverdichtung im Rahmen der Bildung von Poleis entwickeln sich Bankette immer mehr zu Instrumenten des Euergetismus: Eueigetismus ist "the public generosity of the wealthy", eine "institution devised by the
rich in their own in te rests" . (Garnsey 1989: 272) Wie früher schon, so hat in hellenistisch-römischer Zeit das Bankett seine besondere Funktionalität im Kontext der sozialen Reproduktion der oberen Schichten bzw. Stände, wenngleich spätere römische Krisenkonstellation standes übergreifende Formen der Volksbewirtung aufwarfen. In der römischen Geschichte kommt den Priesterkollegien eine besondere
Bedeutung zu. Rüpke (1998) stellt für das 5. Jahrhundert v. Chr. das aus den gentes
bestehende Patriziat heraus; im 4. Jahrhundert v. Chr. konnte es im Rahmen der
Ausbildung einer patrizisch-plebeischen Nobilität zu entscheidenen Institutionalisierungen im Rahmen des Politischen kommen.
Archetypik und Geschichte
Die Form des - hier nicht darzulegenden - sakralen Königtums ist ein ebenso verbreitetes - anthropologisch dichtes - Phänomen. Sozialpolitikgeschichtlich wie auch
sozialpolitiktheoretisch ist daraus zu schlussfolgern: Neben den zwar nicht in der
vorliegenden Abhandlung, aber der Sache nach zwingend zu Kontrastzwecken und
damit zur Verdeutlichung der Kernproblematik komparativ beachtenswerten Formen des (sakralen) Königtumsals obrigkeitlicher Herrschaftstypus und Vergesellschaftsmodus muss das Genossenschaftsprinzip als Prinzip der Hilfe durch Gegenseitigkeit und als Prinzip der Selbsthilfe durch Selbstorganisation erkannt werden. Sozialpolitikgeschichtlich vereinfacht gesagt, reformuliert sich hier der Befund
der grundlegenden klassischen Studie von Bolkestein (1939), wonach es zwei Typen
von sozialer Politik im vorchristlichen Altertum gab: die sakralkönigliche und die
stadtbürgerliche Variante. Der eigentliche Ursprung der Sozialpolitik liegt aber woanders und tiefer: Die Gabe (am Beispiel Südostasiens: Scott 1976: 3 und 5) ist somit der Ursprung der beiden (sakralen) Archetypen der Gesellung des Menschen.
Genossenschaft und Herrschaft - also Selbstorganisation und Selbstverwaltung als
horizontale Gerechtigkeit durch gegenseitige Hilfe einerseits und Gerechtigkeit
durch vertikale und asymmetrische Regulierung der Sozialstruktur andererseits _
sind die beiden gattungsgeschichtlichen Grundphänotypen der Sozialordnung zur
Daseinsbewältigung des Menschen. Beide formgeschichtlichen Archetypen der Sozialpolitik - Genossenschaft und Herrschaft - sind demnach ursprünglich sakraler
Art. Der Geburtszusammenhang der Sozialpolitik a:uf der epistemologischen
Grundlage einer zeit-raum-unbedingten Gegenstandsbestimmung ist mithjn
3) Vgl. insbesondere zum thematischen Gesamtzusammenhang der Entstehung von Staatlichkeit aus ver.
wandtschaftlichen Systemen im römischen Altertum: Linke 1995.
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Schulz-Nieswandt, Die Gabe
grundsätzlich religionsgeschichtlicher Art.4 ) Generalisierte Reziprozität kann gemeindebezogene, Verwandtschaft implizierende, aber eben auch transverwandtschaftliche, nicht-familiale Formen der Gesellung begründen. Sie kann sich - davon
unberührt - in agon al er Form (Potlatsch-Phänomen) zur politischen Zentralisierung
in Verbindung mit redistributiven Ressourcenpooling transformieren und somit
staatsbildend5) wirken (vgl. etwa Marschall 1976). Die Häuptlingsbildung soll an dieser Stelle kein eigenes Thema sein (Bogucki 1999). Jedenfalls korreliert mit der
Agrarwirtschaftsbildung ubiquitär ein soziales Problem: die ökonomische Krise von
Kleinbauern und die Schuldknechtschaft. Dagegen sind Versorgungsprobleme von
Witwen und Waisen bereits ein ubiquitäres Phänomen brüchiger verwandtschaftlicher Solidarstrukturen in verschiedenen und sehr unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen.
Diese Einstufung des reziproken Gebens und Nehmens als Urform der Gesellungsstiftung wird in einschlägigen neueren Abhandlungen zur Gabe (Köpping 1997)6)
bzw. zum Schenken (deutlicher: Berking 1996; weniger: Schmied 1996) so (in dieser
Zuspitzung) nicht vorgenommen. Damit besteht die Möglichkeit, den Zusammenhangvon Gesellungsbildung und Kohäsionsstiftung durch Distributionsvorgänge als
Kernbaustein der Sozialpolitiklehre theoretisch zu entwickeln. Dazu dient diese Ur4) Über den Ursprung des Rechts in der Religion bzw. über die Verflechtungen von Recht und Religion vgl.
auch Hoebel (1968: 324 in Auseinandersetzung mit den berühmten Abhandlungen von Maine und Diamond). Vgl. auch zum Überblick insgesamt: Roberts 1981.
5) Thurnwalds Werk ist im Zusammenhang mit der grundlegenden Frage nach der relativen Vorgängigkeit
bzw. der Gleichursprünglichkeit von Herrschaft und Genossenschaftlichkeit in der Menschheitsgeschichte.
anzusprechen, vor allem dann. wenn es um die Transformation segmentär-tribaJer Gesellschaften in königsherrschaftliche Gesellschaften geht. insbesondere im Zusammenhang mit forensischen Aspekten dieses Prozesses. Hierzu liegen eine Fülle von Vergleichstudien aus dem alttestamentlichen Forschungskontext vor. Nun soll an dieser Stelle ein Augenblick bei Thurnwald verweilt werden, da uns König einen für
uns tiefschürfenden Aufsatz zu Thurnwald hinterlassen hat (König 1984). Thurnwald sprach sich nämlich
gegen die auf Kar.! Büchner zurückgehende Stufen lehre des Wirtschaftens aus, nach der am Anfang der
Menschheitsgeschichte eine Hauswirtschaft stand. die keinen Tausch kannte (König 1984: 370). Dagegen
sah Thurnwald austauschtheoretisch in der Blutrache wie in der Gabe eine Form des Austauschens. die
auch seine ganze Auffassung von Rechtsethnologie prägte (König 1984: 371). Denn in dieser Weise konstituiere sich das Prinzip der Gegenseitigkeit (das in der Vergeltung implizit sei), das von allgemeiner Bedeutung für frühe Gesellschaften sei. So verweist Thurnwald auf die architektonisch-symbolische Reproduktion des symmetrischen Gesellschaftsaufbaus in der Struktur der Gebäude wie die der Geisterhalle.
Später dann verallgemeinert Thurnwald das Ptinzip der Reziprozität als sozialpsychologische Basis allen
Rechts (König 1984: 371). Was der Strafe immanent ist, findet Thurnwald - ähnlich wie fast zeitgleich
Mauss in seinem Essay über die Gabe - auch im Brautpreis und im System des Gebens (und Nehmens) allgemein. König setzt diese Lehre vom Gesellschaftsautbau in krassen Gegensatz zu Thomas Hobbes'
Schema von homo homini lupus und zieht Parallelen zu Theodor Litts Phänomenologie der Reziprozität
als "Vertiefung der Frage nach der Natur des Sozialen" (König 1984: 371). Von Interesse ist nun auch die
Frage nach Thurnwalds Beitrag zur Transformation einer reziprozitätsgestifteten symmetrischen - horizontalen - Gesellschaft zur politischen Herrschaft. Und hier verweist König mit Bezug aufThurnwalds Prozesskategorien von Würfelung, kumulativer Siedelung, Mengung, Überlagerung und Überschichtung (König 1984: 372 f.) auf die Figur des Königs als Hirte seiner Völker (373). An dieser Stelle soll nicht die Kontroverse zur Überlagerungstheorie der Staatsentstehung interessieren. Thurnwald spricht von der .,Anwendung des Prinzips der Viehhaltung auf das Halten von Menschen". Damit sieht Thurnwald die Genossenschaftlichkeit im Kontrast zur Herrschaft (hier in ihrer ubiquitärsten Form der Königsherrschaft),
die dominant von einem vertikalen Vektor als sozialer Raum konstituiert wird.
') Auf die aktuelle Rezeption des Werkes von G. Bataille soll hier nicht eingegangen werden.
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Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
formen these im Spektrum des binären (aber dialektisch vermittelbaren) Codes von
Genossenschaft und Herrschaft. Diese binäre Logik ist mit Bezug auf die historische
Dialektik beider Archetypen zu begreifen.
Für die SozialpOlitikgeschichte Europas be'deutet das alles: Das gemeinorientalische
Erbe einer vertikalen Sozialpolitik durchlief seit der formgeschichtlichen Innovation
der polis in der weiteren europäischen Geschichte als christliche Kultur, die auf jü~
disehen Boden im Filter des hellenistisch-römischen Kontextes (und unter Einbeziehung keltisch-germanischer Strukturelemente ) entstand, eine komplizierte, spannungsvolle und wechselhafte Geschichte des Mit-, Gegen- und Nebeneinander von
Herrschaft und Genossenschaft als Prinzipien der Sozialordnung. Diese Sichtweise
bekommt durch die neuere Renaissence des (genossenschafts-)rechtsgeschichtliehen Werkes von Otto von Gierke in der Geschichtsschreibung eine besondere Relevanz. Eine Schlüsselstellung mag dabei, wie Schürmann in .. Ursprung und Gestalt"
ausführt, der urchristlichen Gemeinde zukommen, sofern diese immer auch als Bruderschaft verstanden wurde (Schürmann 1970: 67 ff.). Die Forschungsliteratur dazu
kann hier jedoch nicht ausgebreitet werden. Festgehalten werden kann allerdings:
Diese Bruderschaftlichkeit der Gemeinde wiederum ist zu verstehen als Gemeinsamkeit des Gebens und Nehmens im Rahmen eines kooperativen Lebens. In diesem Fragenzusammenhang ist der Prozess des Übergangs von der frühchristlichen
Hausgemeinde und Hauskirche - so Klauck (1981) - zum umfassenderen Gemeindewesen zu beachten. In phänomenologischer Nähe zum Opferphänomen wird
diese Gemeinschaft des Teilens im Brudermahl konstituiert und reproduziert. Die
kirchliche gucharistiefeier findet ihre Kernstruktur also im Mahl (mit Bezug der Eucharistie zum Totem-Mahl). In diesem Sinne schreibt auch Goldammer in der "Formenwelt des Religiösen" (1960: 23): "Diese ursprungshafte Gemeinschaftsbindung,
die Du-Bezogenheit der religiösen Erfahrung und Übung, die bis zum Kollektiven
reicht, hat dann auch jenes Klima brüderlicher Herzlichkeit, ,sozialer' Hilfsbereitschaft und warmer Opferwilligkeit entstehen lassen, das viele hohe Religionen, vornehmlich das Christentum, auszeichnet." Diese Mahl- und Teilenspraxis hat lange
gemeinorientalische Traditionen, geht im Ur- und Frühchristentum aber eine Synthese mit hellenistisch-römischen Strukturtraditionen ein und wird in der weiteren
politisch-kirchlichen Geschichte des Christentums in Europa (nicht nur dort, sondern auch im christlichen Afrika südlich der Sahara) wiederum hierarchische Elemente sakralen Königtums aufgreifen und somit Formen autokratischer Herrschaftlichkeit ausbilden.
'
Man wird nun diese religionsgeschichtliche Hauptthese vertiefen und mit Material
anreichern können. Zumindest der antike Staat des griechisch-römischen Altertums
entwickelte sich - folgt man Fustel de Coulanges (1996) - aus Kult und Religion, am
häuslichen Opferaltar, bevor sich diese privat-häuslichen Kulte zu den gesellungsstiftenden öffentlichen Mahlzeiten der bürgerlichen Stadtgemeinde erweiterten.
Derartige Hilfeformen (auch Oexle 1984) hatten religionsgeschichtliche Wurzeln in
Opferkult und Tischgemeinschaft (hier die Interpretationsdifferenzen 7) zwischen
') Die These der Geburt der Kultur im Opfer hat in der Literatur verschiedene Varianten ausgebildet, die
hier aber nicht behandelt werden sollen. In der psychoanalytischen Theorietradition der Freudschen Theo-
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Burkert, Meuli und Vernant durchaus bewusst). Die Tradition von Fustel de Coulanges modern fortführend, kann nun die Anthropologie auch auf die viel beachtete
Studie von Polignac8) zurückgreifen, ohne dass die hierbei implizit angesprochene
These des homerischen Protoplasmas der Polis-Bildung (Wagner-Hasel 2000) näher
ausgebreitet werden kann. Polignac betont als Wurzeln der städtischen polis ländliche religiöse Kulte, die gemeinschaftsbildend wirkten sowie die Heroenverehrung
als Ahnenkult. Damit trägt Polignac zur These der religionsgeschichtlichen Ursprünge von Gesellungsformen Wichtiges bei.
Nochmals sei betont: Es wird evident, dass damit aus der Vielzahl der Gestalten von
Opferkulten, wie sie Klauck in der Analyse der "religiöse(n) Umwelt des Urchristentums" dargelegt hat (Klauck 1995: 27 ff.),9) nur eine Variante herausgegriffen
wird, ebenso wie die Fülle verschiedenster Theorien über die Ursprünge der Gilden
(Schulz-Nieswandt 2000d), wenn auch dort der Ursprung der genossenschaftsähnlichen Gebilde als conjuratio in sakral-religiösem Kontext von Mahl und Eid betrachtet wird, bewusst bleiben muss. Jedoch eben hier zeichnet sich der Ursprung sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften ab. In seiner "Archäologie
des frühe(n) Amerika" schreibt Fagan (1993: 201), dass das Potlatch-Phänomen als
Geschenkverteilungsfest "ursprünglich der Linderung wirtschaftlicher Not" diente.
Auch bei Stagl heißt es in seiner Untersuchung der politischen Führungsrollen in
Melanesien (StagI1971: 370): "die Verteilung der Überschüsse in einer Atmosphäre
der allgemeinen Reziprozität vermindert für jeden Haushalt das der Bedarfsdeckungswirtschaft inhärente Risiko und bindet diese im-Rahmen größerer, solidarischer Gruppen aneinander." Reziprozität bedeutet hier eine politisch kalkulierte
Wohltätigkeit, die aber sakral vermittelt ist.
Godelier über die Gabe
. Wie aktuell das Thema bzw. die Fragestellung - und auch speziell die anthropologische, insbesondere auch religionsgeschichtliche Zugangsweise - ist, erkennt man
nicht nur an der augenblicklichen theoretischen Wiederzuwendung zur Reziprorie geht die Ubiquität des Schuldgefühls bekanntlich auf den Vatermord (bis heute sehr kontrovers abgehandelt) zurück. Das Inzest-Tabu ist)n diesem TIleorierahmen immer ein kulturschaffl:!ndes repressives
Verbot, während in der strukturalen AnthropOlogie der elementaren Verwandtschaftsformen von LeviStrauss das Inzestverbot aus dem lVlechanismus des gruppenübergreifenden Frauentausches resultiert. also
eine Regel des Schenkens par excellence ist. Es wird deutlich, dass die Gabe auch bei Levi-Strauss eine anthropologische Tiefenstruktur sozialer Grammatik ist: In der strukturalen Anthropologie wird das heutige
amerikanische Weihnachten als gigantisches Potlatsch-Phänomen interpretiert. Die Forschung zum Potlatsch kann an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden.
") VgJ. die englische Übersetzung Polignac 1995. Im Vorwort verweist Mosse auf die inhaltlichen Überm'beitungen der englischen Übersetzung.
') Basis dieser Arbeit ist bereits die Habilitation von Klauck 1982. In dieser sehr differenzierten Studie bestimmt Klauck die hellenistischen Hintergründe der Mahl gemeinschaften und Opfermahle, wie sie dann
auch für das Christentum - insbesondere für do. paulinische Herrenmahl - konstitutiv wurden. In phänomenologischer Hinsicht werden zunächst einmal nur die Analogien betont. bevor man sich vorsichtig der
genetischen Fragestellung zuwenden kann. So sind Verwandtschaften zum Vereinsmahl und zum Totengedächtnismahl auszumachen (vgJ. Klauck 1982: 368). Zu verweisen ist ansonsten auf Teile der Zusammenfassung (vgJ. Klauck 1982: 369 ff.),
83
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Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
r"
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.
zitätsforschung in der Sozialpolitikwissenschaft (Ullrich 2000), sondern an der
deutschsprachigen Edition der Studie von Maurice Godelier "Das Rätsel der Gabe"
(1999). Godelier erarbeitet nicht nur eine neue oder erneute Rezeption der Abhandlung von Mauss; Godelier (1999: u. a. 124 ff.) rezipiert einen Teil der wichtigsten neueren Fachliteratur. Godelier behandelt (1999: 51) die Frage nach der "Natur des Sozialen, nach den wesentlichen Komponenten jeder menschlichen Gesellschaft." Hiermit wird die Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft gestellt (vgl.
Godelier 1999: 55).Vor allem aber: Godelier behandelt eine Reihe gerade für die
vorliegende Problemstellung wichtige, ja zentrale Fragen. Etwa den Ursprung der
Nächstenliebe und Almosens im religiösen Opfer (Godelier 1999: 47 FN 40 sowie
261 ff., 276 ff.), wenngleich man ihm hier nicht ganz folgen muss. Zentraler ist die
Frage nach dem Potlatsch als Transformation der Gabe (Godelier 1999: 57-58). Godelier hält (58) die nicht-agonale Form der Gabe für älter als das Potlatsch-Phänomen, das ja einer anderen Logik folgt (85). Als reinsten Typus hält Godelier in sozialmorphoJogischer Sicht eine Gesellschaft zweier Phratrien, die sich über ein System des Gebens und Nehmens gegenseitig konstituieren (60). Die soziale Morphologie behandelt so den Schnittbereich von Ökonomie und Moral als Sphäre des AusTausches, ungleich dem Warentausch (vgl. Godelier 1999: 63 ff., 71, 94). Diese
Transformation der Gabe zum Potlatsch hebt Godelier besonders hervor (110 ff.,
insb. 113). Dabei behandelt Godelier vergleichend die Potlatsch- sowie die kula- und
toanga-Phänomene (133). Vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit der Theorie von Levi-Strauss (Godelier 1999: u. a. 148 f.) entwickelt Godelier Auffassungen
über eine mögliche Metamorphose der Gabe (150). Nichi-agonale Formen hält Godelier für historisch vorgängig (57 f., ;213, 215, 219). Die Geschichte wird so zu einer
Geschichte von Form-Transformationen (217.,223). Interessant ist, dass Godelier
aber keinen Übergang vom Po"tlatsch zur vertikalen Modalität der Monarchie sieht
(224 ff.), denn das Potlatsch-Phänomen sieht er gerade dort wirksam und existent,
wo es keine fixen sozialen Strukturen gibt (Godelier 1999: 226).
Diese erneute Rezeption von Mauss (1968) ist deshalb besonders herauszustellen,
da Godelier nochmals den sozialreformerischen, sozialstaatlichen Grundcharakter
der Ausführungen von Mauss betont (Godelier 1999: 92 f., 98, 292 f.). Und Godelier
verweist auf die aktualisierbare Rolle der Gabe, wirksam heute in den Netzwelten
von Freundschaft und Nachbarschaft (291) oder auch in der (internationalen) Wiederkehr der Caritas (294). Grundlegend ist das Argument bei.Godelier, wonach sich
die eng verwandten Sozialph~noi"nene der Gabe und der Solidarität sich theoretisch
eben nicht hinreichend als Vertragsfigur rekonstruieren lassen (295).
Riten lind gesellschaftliche Kohäsion durch Helfen und Risikovergemeinschaftung
Der moderne Wohlfahrtsstaat inkorporiert im Kern noch Restbestände jener conditio humana der reziproken Gabe, hat diese Gabe aber ent-sakralisiert und ent-ritualisiert. Sozialgeschichtlich, insbesondere kirchengeschichtlich und staatsrechtlich
gesehen ist die mit der "päpstlichen Revolution" (des lnvestiturstreits) anbrechende
Trennung von Kirche und Staat sogar zur Voraussetzung der sich später ent84
. wickelnden,Sozialstaatlichkeit geworden. Die Gabe steht in keinem dialektischen
Verhältnis mehr zum Heiligen. Der Gabenzusammenhang im Wohlfahrtsstaat ist
profan - oder eben säkularisiert. Wohlfahrtsstaatliche Regimetypen stellen daseinstechnische Phänotypen in Bezug auf eine existentielle Herausforderung infolge der
genetischen Ausgangslage des Menschen dar: Nämlich Formen darstellend, in denen
Personwerdung und Personalität im Wandel des Lebenszyklus einerseits und andererseits unterschiedliche Inklusionsgrade und -formen der Bevolkerung hinsichtlich
der Verteilung von Teilhabechancen an den ökonomischen, kulturellen, politischen
und sozialen Gütern der Gesellschaftverknüpft werden. Dieser Inklusionsanspruch
verweist auf die Begrenztheit der griechischen Demokratie. Wohlfahrtsstaatlich regulierte - und in mancher Hinsicht (im Homerischen Sinne) agonale (Huizinga 1997:
56 ff. sowie 84ff.) - Arbeitsgesellschaften stellen nur moderne Formen eines uralten
und daher universellen Daseinszusammenhanges des Menschen dar: Wirtschaftstätigkeit bleibt - das ist ein Grundbefund einer Ontologie des Politischen immer eingebettet in Kultur, definiert als symbolische Praxis, in der die Menschen
sich selbst und ihre Reproduktion in Gesellungsformen normativ, also sinnhaft interpretieren. Wirtschaft, Politik und Religion sind (seit den frUhen Hochkulturen
des gemeinorientalischen Raumes) unterschiedliche Sphären des Daseins dieses zugleich gesellschaftlichen wie'personalen Funktionszusammenhangs, wenngleich sich
seit dem Altertum über Antike, Spätantike, Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, frühe
Neuzeit und Moderne die Hierarchie dieser drei Sphären und die Verschachtelungsformen innerhalb eines epochalen Kulturzusammenhangs mehrfach verschoben haben. Das ist ein sehr allgemeines Extrakt, das sich vom geschichtlichen und
kulturübergreifenden Material her begründen lassen muss. Es zeigt aber, wie anthropologisch tiefgreifend noch der moderne Wohlfahrtsstaat im Rahmen einer Daseins(gestaltungs)analyse des Menschen zu verstehen ist.
Anthropologischer Ausgangspunkt der Entwicklung institutioneller Arrangements
zur Verteilung von Lebenslagen sirid gesellschaftliche Riten. Aus der Ritualisierung
der symbolischen Gabe kann - wie es im reziproken Ausstauschsystem der !Kung
der Fall ist - eine Art von Sozialversicherung entstehen, wie Eibl-Eibelsfeldt in seinen umfassenden Lehrbuch zur "Biologie des menschlichen Verhaltens" (1997: 503)
darlegt. Die !Kung-Buschmänner sind Sammler und Jäger in der Kalahari-Wüste.
Zum Teil leben die !Kung im Nyae Nyae-Distrikt in Namibia, zum Teil leben sie in
Botswana. Eibl-Eibelsfeldt schreibt an anderer Stelle (Eibl-Eibelsfeldt 1997: 416;
vgl. auch Lee 1979 sowie 1984: 97 f., 101 f., 55): Wiessner (vgl. auch Wiessner 1982)
"untersuchte bei den !Kung-Buschmännern das hochentwickelte reziproke Austauschsystem ,hxaro', über das sich jedes Mitglied der Gruppe ein persönliches Beziehungsnetz aufbaut, das auf wechselseitiger Verpflichtung über Geschenkeaustausch basiert und eine Art Sozialversicherung darstellt".
Der bekannte Kulturanthropologe Harris (1996: 179) hat das System von Geben und
Nehmen als Kitt aller Gesellschaftlichkeit bezeichnet. In Anlehnung an eine ethnologische Studie von Gould (1982) konstatiert Harris (1996: 328) nämlich einen engen Zusammenhang zwischen Ungewissheit und Teilungsbereitschaft: "Je größer
die Ungewissheit, um so größer die Bereitschaft zu teilen." Und er schließt an (Har85
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
ris 1996: 328): "Gegenseitigkeit erfüllt in kleinen Gemeinschaften die Funktion der
Sparkasse." Harris beschreibt dieses System als generalisierte Reziprozität, dcnn _
wie von ihm referierte Studien (Harris 1996: 328 f.) zu den Semai in Zentralmalaysia zeigen - man bedankt sich nicht. Geben ist selbstverständlich: Wo Gegenseitigkeit wirklich das Alltagsleben beherrscht, da ist es Brauch, dass die Großzügigkeit
als etwas Selbstverständliches behandelt wird." (Harris 1996: 328)
Ein anderes Beispiel (Harris 1996: 467) sind die Nexus-Systeme der !Ko, die in der
zentralen Kalahari wohnen, wo Nahrung und Wild etwa gleichmäßig verteilt sind.
Die soziale Organisation der !Ko durch den Horden-Nexus stellt also eine Transformation von (erweiterter) Familie und Horde als Lokalgruppe dar. Ein Nexus-System ist ein Allianzsystem mehrerer Horden. In Zeiten der Not können Horden des
gleichen Nexus in den Territorien der anderen Lokalgruppen jagen. Heinz (1979)
hat diese Mechanismen beschrieben.
Dies wäre nur ein Unterfall der allgemeinen Problematik der Generierung von sozialer Kohäsion durch Rechtssysteme im Sinn der Generierung von sozialen Verpflichtungen, wie es von Roberts in einer lehrbuchartigen Einführung (1981: 88)
rechtsethnologisch am Beispiel der !Kung (u. a. in Anlehnung an Marshall1961) dar~
gestellt wird. Es zeigt sich, wie Religionsgeschichte in anthropologischer Absicht mit
Rechtsethnologie zu einer allgemeinen Theorie der Kerngestalt von Sozialpolitik _
bzw. des Gestaltkerns einet jeden Sozialpolitik auf raum-zeit-unbedingter Grundlage - zu verknüpfen ist. Und Marshall macht die sozialsicherungsökonomische Dimension der Normgenerierung deutlich. Roberts (1981: 90) fasst zusammen: "Nach
Marshalls Bericht haben bei den !Kung-Buschmännern alle Angehörigen einer
Horde Recht auf einen Anteil an Fleisch, wenn ein Großwild erlegt worden ist. Die
Ethnologin ist der Ansicht, dass durch die ständige Wiederholung des Verfahrens
jene Bande wechselseitiger Verpflichtung und wechselseitigen Vertrauens gestärkt
werden."
Ein verwandtes Phänomen stellt das informelle Unterstützungswesen der Abgabe
der zakat als islamisches Wohlfahrtsinstitut in Ägypten dar (Wippe I 1997). Dabei
mag es zutreffen, dass die ägyptischen wagf-Stiftungen (Goody 1990: 481 zur Eigenschaft der Stiftungen, Verwandtschaftshilfe zu transformieren) aus vorislamischer.
Zeit stammen, also griechisch-byzantinischer TraditiGn sind. Ein zentrales Thema ist
heute in diesem Bereich, wie sich derartige Unterstützungssysteme institutionalisieren lassen bzw. in welchem Verhältnis diese informellen Unterstützungswesen zu
wohlfahrtsstaatlichen Strukturen stehen. Auf die Grenzen der Ausdehnung oder
auch Verallgemeinerung von Reziprozität in Kleingruppen verwandtschaftlicher
oder auch artifizieller Art unter der Bedingung des Größen wachstums und der Komplexitätssteigerung (Bogucki 1999) hat in Auseinandersetzung mit der einschlägigen
Forschungsliteratur Hofmann (1997: 120 ff.) am Beispiel der Buhid im hügeligen
Hinterland der philippinischen Insel Mindoro hingewiesen. Gegenüber anderen Interpretationen betont Hofmann, dass die Redistributionsneigungen im Sinne eines
Systems konzentrischer Kreise abnehmen, wenn der Kreis von Gebern und Nutzern
den haushaltsorientierten Bereich verwandtschaftlicher Beziehungen verlässt und
zur großen Lokalgruppe übergeht (Klauck 1981: 16 ff.). Aber am Beispiel dergrie86
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
chisehen polis kann man zeigen, wie sich größere politische Gemeinwesen gerade auf.
Kreuzungen von Familien- und Phylenstrukturen und auf genossenschaftsartige Gestalttransformationcn verwandtschaftlicher Kernstrukturen aufbauen können. Und
in diesem Sinne sieht Huizinga (1997: 89) in seiner klassisch gewordenen Studie zum
homo ludens rechtsgeschichtlich im Potlatsch die Institutionen der Übereinstimmung und Verpflichtung begründet. Auch dort liegt mithin die innige Verbindung
von Rechtsethnologie und Anthropologie der Riten in sozialpolitiktheoretischer
Absicht evident vor.
Riten sind Institutionen: Unter Institutionen sind, folgt man der kulturanthropologisch fundierten Soziologie, normative Sinnhorizonte zu verstehen, also Regeln
inenschlichen Zusammenlebens, die Handlungsfelder vorstrukturieren, Verhalten
prägen und zielgerichtct kanalisieren und sowohl Restriktionen interessengeleiteten
Hanctelns als auch Kontexte personaler Identitätsfindung darstellen. Verwandt dazu
ist der Kult: ,.Kultus ist, religionsgeschichtlich gesehen, seinem Wesen nach Handlung, und zwar Handlung in Raum und Zeit", so wiederum Goldammer im .,Grundriss der systematischen Religionswissenschaft", den er religionsphänomenologisch
mit "Die Formenwelt des Religiösen" übertitelt hat (Goldammer 1960: 329). Gerade
in diesem Sinne war das Urchristentum Kultgemeinde, Gemeinde des Versammelns
vor Ort, in Raum und Zeit, das "Numinose" strahlt nur "uno actu" in der Handlung,
im Gemeindeleben als Praxis des Gebens und Nehmens, des Feierns und Opferns
(Goldammer 1960: 197). Gerade der liminale Charakter der Riten schließt das Liminoide, also sozialen Wandel und soziale Innovationen nicht aus. Riten sind dann
immerPraxisformen der Personwerdung des Menschen, die zugleich Gesellschaft
stiften. Vor allem dann, wenn rituelle Akte - Feste, wie sie Althoff (1990: 203 ff.)
auch für das europäische Mittelalter analysiert hat - Akte des TeiJens (im Sinne einer ars donandi) sind. In dem Prozess des Teilens - des Gebens und Nehmens - stif.. tet man Gesellungsformen, damit Gesellschaft überhaupt. Somit wurde in der vorliegenden Abhandlung der anthropologische Kern auch einer aktuellen Soziologie
moderner Gesellschaften herausgearbeitet.
Zur conditio humana gehören demnach genossenschaftsähnliche Formen der Gesellung, die deutlich in ihren religionsgeschichtlichen Wurzeln (Burkert 1998; Heinsohn 1997; Jamme 1999: 151 ff.)verständlich werden können: Im Opferkult generieren sich Formen der Gesellung als gemeinsames Mahl, als Festschmaus, der geineinschaftsstiftend.ist und Formen der Mutualität und Reziprozität generiert. Insofern stiftet Religion in der Tat Gesellschaft. So hat Albertz in seiner "Religionsge. schichte Israels in alttestamentlicher Zeit" (1996: 347) auf das Phänomen der Opferkulte im Rahmen von Gottesdiensten hingewiesen, wo es um symbolische Kulte
des gesamtgesellschaftlichen Teilens zur Stiftung transfamilialer Solidarität geht. Es
handelte sich um Kulte, die quasi Versorgungsansprüche institutionalisieren. Konkret ist die soziale Nutzung der Zehntabgabe angesprochen. Dies findet sich so viel
später noch in fränkischer Zeit (Boshof 1976: hier 290, 296 ff.). Auch zum sozialgeschichtlichen Kontext des Jesu schreibt Tilly (1997: 117) hinsichtlich des Kultes im
Alltag der Frömmigkeit des antiken Judentums bei Wallfahrtsfesten, diese boten
"den Menschen die willkommene Gelegenheit, den zuvor beiseite gelegten Zweiten
87
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Schulz-Nieswandt, Die Gabe
Zehnt in angenehmer Weise zu verbrauchen". Religiöse Kulte, die aus der Opferpraxis resultieren, verkörpern also Rituale des gesellschaftsstiftenden Teilens (Gladigow 1984; ders. 2000). Spezialstudien zur Kultpraxis im alten Testament bestätigen diesen deuteronomisch-deuteronomistischen Umverteilungsgehalt (speziell des
Laubhüttenfestes). Die alttestamentliche Forschungsliteratur kann an dieser Stelle
jedoch kaum ausgebreitet werden. Das Alte Testament wird in diesem Sinne zu einer reichhaltigen Quelle anthropologisch reflektierter soziologischer Bausteine einer jeden, einschließlich modernen GesellschaftIichkeit, deren Kohäsion immer
auch Sozialpolitik voraussetzt. Der raum-zeit-unb~dingte Gestaltkern einer solchen
Sozialpolitik ist die Gabe.
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REZENSIONEN
Thomas FaistiKlaus Sieveking/Uwe Reim/Stefan Sandbrink: Ausland im Inland. Die
Beschäftigllng von Werkvertragsarbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland. Rechtliche Regulierung lind politische Konflikte. Band 28 der Schriftenreihe
des Zentrums für europäische Rechtspolitik (ZERP), Nomos Verlag, Baden-Baden 1999,289 S., 98,- DM.
Ausland im Inland: Treffender hätte der Titel für die Untersuchung der Beschäftigung ausländischer Werkvertragsarbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland
wohl nicht gewählt werden können. Mit dieser Formulierung knüpfen die Autoren
an den paradoxen Sachverhalt an, dass am 1973 verfügten Anwerbestopp festgehalten und gleichzeitig entsandten Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten seit 1990 der
Zugang zu den deutschen Arbeitsmärkten durch die .,AnwerbestoppausnahmeVerordnung" eröffnet wurde. Bereits mit dem Namen signalisiert dieses Wortungetüm, dass die Genese von Recht in den Kontext der Durchsetzung widerstreitender Interessen an dem Festhalten bzw. der Abschaffung des Anwerbestopps eingebettet ist. Insofern ist dieses Politik- und Rechtsetzungsfeld für eine wissenschaftliche Untersuchung des Zusammenhangs und der Wechselwirkung .,rechtlicher Regulierung und politischer Konflikte" geradezu prädestiniert, zumal die enorme politische Bedeutung der Kontroversen über die Werkvertragsbeschäftigung "unter an-,
derem an der Vielzahl der Akteure. an der Akteurskonstellation und an den verschiedenen Arenen, in denen sie ausgetragen wurde, deutlich" wird (159). Hervorzuheben ist, dass die Studie ein Ergebnis interdisziplinärer Bremer Zusammenarbeit
von Juristen des ZERP und Sozialwissenschaftlern des ZeS ist. Für den Hauptuntersuchungszeitraum 1990 bis 1996 wird gezeigt, dass der Einsatz der mittel- und osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmer eine politische Kontroverse unter Einschluss der höchsten politischen Ebenen auslöste. Die Autoren betonen, dass "die
gesamte Diskussion um die Werkvertragsabkommen davon durchzogen ist, dass es
den politischen Akteuren nicht oder nur selten gelang, Zusammenhänge zwischen
der Beschäftigung von Werkvertragsarbeitnehmern aus den MOE-Staaten und den
vermuteten Auswirkungen empirisch zu belegen" (160). Folge dieser Konstellation
92
Rezensionen
war eine argumentativ schillernde politische Auseinandersetzung: Von den Befürwortern wurden die Werkvertragsabkommen als probates Mittel zur Linderung
temporärer Arbeitskräfteengpässe, Zurückdrängung von illegaler Ausländerbeschäftigung und Unterstützung der Ökonomien der Transformationsländer gepriesen. Die Gegner wiesen im Gegenteil auf eine Zunahme illegaler und vorschriftswidriger Beschäftigung, zunehmende Arbeitslosigkeit bei inländischen Arbeitnehmern, Firmeninsolvenzen oder Steuerhinterziehung als vermeintliche Folge der
Werkvertragsabkommen hin. Auf Grund des B~schäftigungsschwerpunktes der ausländischen Werkvertragsarbeitnehmer konzentrierte und polarisierte sich die Auseinandersetzung auf den Baubereich: .,Im Kontlikt über den Einsatz von Werkvertragsarbeitnehmern aus den MOE-Staaten kam es hier zu einer interessanten Koalition zwischen Gewerkschaften (IG BAU) und sektoralen Arbeitgeberverbänden,
die sich gemeinsam gegen die Werkvertragsbeschäftigung und für die Aufkündigung
der Werkvertragsabkommen aussprachen. ( ...) Die Position der Unternehmerverbände hing davon ab, weIche Vorteile sie aus dem Einsatz von Werkvertragsarbeitnehmern aus den MOE-Staaten ziehen konnten" (218).
Am Beispiel der Bauwirtschaft und ihrer kollektiven Akteure wird der komplexe
Prozess der Aushandlung und Neuziehung der Grenzen für die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte zu deutschen Arbeitsmärkten ausführlich rekonstruiert und
analysiert. Dabei verfahren die Autoren perspektivisch und methodisch mehrgleisig: In die Untersuchung werden sozialrechtliche, ausländerrechtliehe, europapolitisehe, migrationspolitische, wirtschaftspolitische, verbandspolitische, diplomatische
und internationale Dimensionen erörtert. Ausführlich eingegangen wird nicht nur
auf die Motive der Bundesregierung, die als zentraler Akteur ausgemacht wird, sondern auch ihrer Unterstützer und Kritiker in Wirtschaft und Politik. Die Argumentationsstrategien der maßgeblichen kollektiven Akteure, der Verlauf der Auseinandersetzung und die jeweils entwickelten Kompromisslösungen zur rechtlichen Regulierung werden detailliert beschrieben und analysiert. Trotz der hier 'nur angedeuteten Komplexität des Themas gelingt es den Autoren, eine gut lesbare Darstellung vorzulegen, die nur selten in juristischen Jargon verfällt. Die vielfältigen Dimensionen und, disziplinären Perspektiven werden in einer detaillierten SachverhaltsdarsteIlung klar gegliedert und verständlich aufgefächert. Bei einer Untersuchung mit einem derart breit gefassten Untersuchungsgegenstand sind jedoch Kompromisse bei der Ausführung und Darstellung unvermeidlich: Einige Wiederholun'. gen sind durch die Methode der alternierenden juristischen und politikwissen~
schaftlichen Perspektive wohl unvermeidlich. Zudem genügt ein Blick in die Liste
der verwendeten Literatur um festzustellen, dass ein - durch den Erscheinungsort
gerechtfertigtes - rechtswissenschaftliches Übergewicht besteht. Weitgehend verzichtet wurde auf eine explizite Bezugnahme auf sozialwissenschaftliehe oder politologische Theorien. Aus der Anlage und dem Verlauf der Untersuchung wird jedoch deutlich, dass die Perspektiven dieser Disziplinen immer wieder sehr gegenstandsbezogen einflossen. Damit ist das Buch auch über den Kreis des juristischen
Fachpublikums hinaus insbesondere für diejenigen von Interesse, die sich mit dem
Verhältnis von rechtlicher Regulierung und politischen Interessensdurchsetzung befassen.
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