Eine Kritik der Apelschen Diskursethik

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BEMERKUNGEN ZU APELS DISKURSETHIK
I. SCHMELZER
Zusammenfassung. Ein älterer Text, in dem ich mich mit Apels Transzendentalpragmatik kritisch auseinandersetze. Für eine Veröffentlichung in einem
Fachjournal fehlen einige formale Voraussetzungen – insbesondere was die Literatur betrifft, auch kenne ich den Stand der professionellen Apel-Kritik nicht.
Trotzdem halte ich die Argumente selbst inhaltlich für gut und wichtig genug
für die Veröffentlichung auf meiner Homepage.
1. Einleitung
Hans-Otto Apel behauptet, mit Hilfe seines sogenannten transzendentalpragmatischen Ansatzes Letztbegründungen für die verschiedensten philosophischen Thesen liefern zu können. Die Grundidee des Ansatzes ist, dass man philosophische
Theorien dadurch widerlegt, dass man zeigen kann, dass man diese Theorien nicht
in einer Diskussion vertreten kann, ohne durch sein eigenes Verhalten während
der Diskussion der Theorie zu widersprechen. Ein solcher Widerspruch zwischen
der vertretenen Theorie und dem eigenen Verhalten während der Verteidigung der
Theorie wird performativer Selbstwiderspruch genannt.
Nun führen sicherlich gewisse relativistische Bedeutungs- oder Wahrheitstheorien (wie “es gibt keine Wahrheit”, “Sprache ist sinnlos”) zu solchen performativen
Selbstwidersprüchen, und diese Widersprüche sind natürlich äußerst wichtige Argumente gegen die jeweiligen Theorien. Apel verbindet damit allerdings einen Anspruch auf Letztbegründung, den ich nicht nachvollziehen kann. Die Überhöhung
des Arguments vom performativen Selbstwiderspruch zur Letztbegründung scheint
nur vom Standpunkt einer Konsenstheorie der Wahrheit aus plausibel: Erst wo der
Konsens einer Diskursgemeinschaft die Wahrheit einer Aussage definiert, wird die
Unmöglichkeit, eine These in einem Diskurs zu vertreten, zu einem alles entscheidenden Argument. Im Rahmen eines klassischen Realismus ist der Status eines performativen Selbstwiderspruchs weitaus geringer – sicherlich stärker als ein reines ad
hominem Argument, aber keineswegs an einen echten Widerspruch heranreichend.
Aber nicht nur dem Anspruch auf Letztbegründung muss widersprochen werden. Apel behauptet die Letztbegründung von Thesen, die ich nicht einmal für
richtig, geschweige denn für begründet oder gar letztbegründet halte. So behauptet Apel, man könne unter Verwendung transzendentalpragmatischer Argumente
gewisse ethische Prinzipien begründen. Die ethischen Prinzipien, die er so zu begründen können glaubt, nennt er “Diskursethik”. Ethische Theorien können jedoch
nicht mit Hilfe von Apels Transzendentalpragmatismus begründet werden. Denn,
wie wir zeigen können, kann einmal ein Amoralist problemlos ohne jeden performativen Selbstwiderspruch an jedem beliebigen Diskurs teilnehmen. Auch die
Möglichkeit, dass Computerprogramme durchaus, zumindest in manchen Fragen,
Berlin, Germany.
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Diskussionspartner ersetzen können, ohne dass dadurch ethische Verpflichtungen
gegenüber solchen Programmen entstehen würden, lässt wenig Hoffnung für eine
gehaltvolle Diskursethik.
Das Programm der Letztbegründung der Diskursethik muss also scheitern. Trotzdem bleibt der Grundidee der Ausnutzung performativer Selbstwidersprüche zur
Ethikbegründung eine Verführungskraft, die es wert ist, genauer untersucht zu
werden. Die Frage wäre zu stellen, wohin sie uns (ver)führt. Apel behauptet, es
folge vor allem das Prinzip der Gleichberechtigung der Diskussionspartner: “[Jeder
Argumentierende] kann als evident entdecken, dass er mit jedem ernsthaften Argumentationsakt zugleich bereits die prinzipielle Gleichberechtigung aller Mitglieder
der realen Kommunikationsgemeinschaft und aller denkbaren Mitglieder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft anerkannt hat.” (S. 181). Ist dies wirklich der
Fall? Wir versuchen zu zeigen, dass eine “Diskursethik” keineswegs eine Ethik der
Gleichberechtigung und des Pluralismus wäre, sondern eher eine Ethik der Ausmerzung aller Schwachen und der Errichtung einer totalitären Weltherrschaft. Eine These, die möglicherweise nicht nur Apels Version der Diskursethik widerlegen
könnte. Sie könnte auch einen Teil der Faszination totalitärer Ideologien aus der
Verführungskraft der Diskursethik heraus erklären.
Kurz zusammengefasst: Apels transzendentalpragmatischer Ansatz liefert weder
eine Letztbegründung noch überhaupt eine Begründung seiner Diskursethik. Und
das ist auch gut so, da das Begründungsschema der Diskursethik viel plausibler zur
Begründung totalitärer Ideologien verwendet werden könnte.
2. Zur Definition von Diskursethik
2.1. Gleichberechtigung für meinen Computer! Eine der ersten Fragen, die
sich stellt, wenn man aus der Beteiligung an einer argumentativen Diskussion ethische Schlüsse ziehen will, sollte heutzutage ja wohl die nach ethischen
Schlußfolgerungen in Hinsicht auf künstliche Intelligenzen sein. Doch wir müssen
gar nicht die Höhen der künstlichen Intelligenz betrachten, im Gegenteil. Wir beschränken uns erst einmal auf die Betrachtung recht primitiver Computerprogramme.
(1) Als erstes betrachte ich den Austauch von Texten mit einem Compiler. Ich
übergebe dem Compiler einen Text, von dem ich meine, dass er ein syntaktisch korrekter Text in der fraglichen Computersprache (sagen wir Java)
ist. Falls dies nicht der Fall ist, liefert mir der Compiler konkrete Fehlermeldungen zurück. Daraufhin korrigiere ich den Ausgangstext solange, bis
es keine Fehlermeldungen mehr gibt.
(2) Eine Variante dieses Beispiels (wie er sich beispielsweise in der sogenannten
“beweisbaren Programmierung” findet) ist eine formale Sprache, in der mathematische Beweise geschrieben werden können. Ein Programm, der Beweisprüfer, ist dann in der Lage, die Richtigkeit des Beweises zu überprüfen.
Ist der Beweis nicht korrekt, liefert er eine Fehlermeldung, in der die Lücke
im Beweis aufgezeigt wird.
Der Austausch von Texten mit solchen Programmen ist natürlich kein Diskurs
in der üblichen Bedeutung dieses Wortes. Trotzdem finden sich genügend Gemeinsamkeiten zwischen beiden Tätigkeiten. Welche sind dies?
(1) Das, was ausgetauscht wird, kann man als sinnvolle Aussagen oder Fragen betrachten, wie sie auch in Diskussionen zwischen Menschen sinnvoll
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sind. Das Übergeben eines Textes an den Compiler wäre beispielsweise der
Behauptung “Die Datei xxx.java enthält einen syntaktisch Korrekten JavaText” oder der Anfrage “Könntest du in der Datei xxx.java einen Syntaxfehler finden?” äquivalent. Für den Beweis im zweiten Beispiel gilt dies erst
recht.
(2) Auch die Antwort, die das Programm liefert, entspricht ohne Zweifel einer
sinnvollen menschlichen Antwort auf die Behauptungen oder Fragen, die
im vorigen Punkt gestellt wurden.
(3) Die Reaktion des Programmierers auf diese “Antworten” entspricht genau
der, die man von einem ernsthaften Diskussionspartner erwartet. Angesichts
der “Gegenargumente” – der Fehler, die in seinen Behauptungen gefunden
wurden – korrigiert er seinen “Standpunkt” und liefert eine korrigierte Version seines Programms oder Beweises.
Wir können sogar noch weiter gehen. Nehmen wir an, der Programmierer hat
gerade einen schlecht eingerichteten Computer, auf dem weder Compiler noch Beweisprüfer vorhanden ist, aber immerhin noch eine Verbindung zu den Newsgroups.
Wäre es nicht eine Notlösung für ihn, in einer Newsgroup zu fragen, ob jemand Fehler in seinem Programm oder seinem Beweis findet?
Nehmen wir an, jemand antwortet ihm. Könnte unser Programmierer überhaupt
herausfinden (wenn wir von Kriterien wie Fehlerfreiheit und Stilfragen mal absehen), ob sein Diskussionspartner die Fehler selbst herausgefunden hat oder einfach
nur einen Compiler oder Beweisprüfer auf seinem Computer “befragt” hat?
In dieser hypothetischen Situation kann nicht einmal der Programmierer selbst
sein Verhalten in der Diskussion mit einem Menschen von der Programmierarbeit
mit einem Compiler oder Beweisprüfer unterscheiden. Und insofern ist eines klar:
Zwischen einem Programmierer, der mit einem Compiler oder Programmprüfer
arbeitet, und dem Teilnehmer an einem Diskurs, in der es um die Korrektheit
von Programmen, Algorithmen oder Beweisen geht, gibt es keinerlei performativen
Unterschied.
Diese Beobachtung schränkt die Folgerungen, die man aus der Performance der
Beteiligung an einem Diskurs ziehen kann, erheblich ein. Warum sollte aus meiner
Beteiligung an einem Diskurs folgen, dass ich meinen Diskussionspartner ethisch
höher bewerten muss als die Programme auf meinem Computer, wenn ich denselben
“Diskurs” auch mit den Programmen auf meinem Computer direkt führen kann?
Aber gegenüber den Programmen auf meinem Computer habe ich keinerlei ethische Verpflichtungen, nichts, was auch nur entfernt irgendeinem kategorischen Imperativ oder einer Art Gleichberechtigung nahekommen würde. Ich habe lediglich
eine ganz normale Klugheitsregel (also einen hypothethischen Imperativ): “Behandle deine Werkzeuge pfleglich, wenn du sie in Zukunft weiterhin benutzen willst”.
Hieraus schließen wir die folgende These:
Aus der Teilnahme an einem idealen argumentativen Diskurs über Geltungsansprüche zumindest mathematischer Art ergeben sich keinerlei nichttriviale ethische
Folgerungen. Insbesondere folgt daraus keinerlei Akzeptanz der Gleichberechtigung
der Diskursteilnehmer in irgendeinem ethisch relevanten Sinn.
2.2. Wie weit geht die Compileranalogie? Strenggenommen haben wir die
Gegenthese zur Diskursethik, dass aus der Beteiligung an Diskursen keinerlei ethische Schlußfolgerungen gezogen werden können, mit der Compileranalogie nur für
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einen sehr begrenzten Bereich – den der rein mathematischen Diskurse – in vollem
Umfang beweisen können.
Man könnte also im Prinzip weiterhin versuchen, aus der Beteiligung an Diskursen anderer (insbesondere rein philosophischer oder ethischer) Art ethische
Schlußfolgerungen zu ziehen. Jedoch reicht es dafür natürlich nicht, diese anderen Diskurstypen von den rein mathematischen Diskursen abzugrenzen und dann
zu behaupten, aus der Beteiligung an den anderen Diskurstypen würde die Anerkennung ethischer Prinzipien folgen. Dies müsste im Detail begründet werden.
Gibt es Anlass, auf eine solche Begründung zu hoffen? Ich sehe wenig Grund
dafür. Denn unser Compilerbeispiel gibt auch für andere Typen von Diskursen
Hinweise darauf, welche Arten von Argumentation nicht dazu taugen, um ethische
Schlußfolgerungen aus der Diskussionsbeteiligung zu ziehen.
Dazu stellen wir ein paar qualitative Eigenschaften von unserem “Diskurs mit
dem Compiler” fest:
(1) Der “Diskurs” ist ernsthaft. Der Programmierer ist eindeutig ernsthaft daran interessiert, Fehler in seinem Programmtext zu finden.
(2) Der “Diskurs” ist argumentativ. Die Fehlermeldung ist ein Argument.
(3) Der “Diskurs” ist so nahe am idealen Diskurs wie ein realer Diskurs nur
sein kann. Viele Schwächen realer zwischenmenschlicher Diskurse entfallen.
Insbesondere sind die vom Compiler vorgebrachten “Gegenargumente” (ein
fehlerfreier Compiler sei vorausgesetzt) sachlich, richtig, korrekt formuliert,
in keiner Weise beleidigend.
(4) Der “Diskurs mit dem Beweisprüfer” ist inhaltlich allgemein genug um den
gesamten Bereich rein mathematischer Diskurse abzudecken.
(5) Als Teilnehmer an diesem “Diskurs” unterwirft man sich Regeln. Diese Regeln – Syntax und Semantik der Computersprache oder der Beweissprache
– sind sogar sehr viel schärfer als die Regeln der Umgangssprache in zwischenmenschlichen Diskursen.
(6) Der “Diskurs” hat sein erfolgreiches Ende gefunden, wenn zwischen Programmierer und Compiler ein “Konsens” besteht, dass das Programm syntaktisch korrekt ist.
Aus all diesen Eigenschaften des “Diskurses mit dem Compiler” folgt ethisch, wie
gezeigt, gar nichts. Und daher kann man aus diesen Eigenschaften irgendeines anderen “ernsthaften idealen argumentativen Diskurses”, sagen wir der experimentellen
Wissenschaft oder der Ethik, auch keinerlei ethische Schlußfolgerungen ziehen. Eine Argumentation, die aus einer Diskursbeteiligung die Akzeptanz ethischer Regeln
folgern will, muss sich auf andere, besondere Aspekte dieses Diskurses beziehen, also
Aspekte, die in rein mathematischen Diskussionen gar nicht vorhanden sind.
Für den Bereich der wissenschaftlichen Diskussion, bzw. generell Diskussionen
über Sachfragen – hier kommen als neues Element im wesentlichen lediglich Berichte
über Beobachtungen oder den Ausgang von Experimenten hinzu – sehe ich keinerlei
Chance, solche wesentlichen Unterschiede zu finden. Am ehesten kämen ethische
Diskurse dafür in Frage. Die Idee, dass eine Beteiligung an einem ethischen Diskurs
die Akzeptanz gewisser ethischer Prinzipien unhintergehbar impliziert klänge noch
am ehesten plausibel.
Trotzdem sind es ja gerade die bereits in unserer Liste vorkommenden Aspekte
der Beteiligung an einem Diskurs, die auf ersten Blick die Apelsche Argumentation
überhaupt plausibel machen – insbesondere die Unterwerfung unter Regeln, die
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Verwendung von Argumenten, die Ausrichtung auf einen Konsens. Wenn aus all
dem gar nichts mehr folgt, was bleibt dann noch an Plausibilität von der Apelschen
Argumentation übrig?
3. Strategische und normative Diskurse
Obwohl Apel an einigen Stellen suggeriert, man würde schon mit jeder mathematischen Diskussion die Diskursethik akzeptiert haben, (“Der nichthintergehbare
argumentative Diskurs . . . ist prinzipiell nicht als ein kontingentes Projekt vorstellbar, über dessen Zweck man im Lichte möglicher Alternativen diskutieren könnte,
sondern er stellt die von jedem, der - welches Problem auch immer – vernünftig
diskutiert, . . . ” S.266), nimmt er diesen Anspruch an anderen Stellen zurück und
beschränkt ihn auf rein normative Diskussionen (die er allerdings bevorzugt “argumentativ” nennt, als ob es in wissenschaftlichen, mathematischen oder strategischen
Diskussionen keine Argumente zu hören gibt).
Wir verlassen also im folgenden den Bereich der logisch-mathematischen Diskussion und betrachten ethische Diskurse. Diese stehen bei Apel im Gegensatz zu offen
strategischen Diskursen. Als Beispiel für einen offen strategischen Diskurs dient
beispielsweise die Aufforderung des Bankräubers “Geld her oder ich schieße.” Und,
soviel zumindest ist Apel klar, bedeutet eine solche Aufforderung (und somit eine
Beteiligung an einem offen strategischen Diskurs) keine Akzeptanz von irgendwelchen Moralregeln. (Auch wenn der Bankangestellte mit dem Bankräuber Probleme
beim Auszahlen, die z.B. mit Zeitschlössern verbunden sind, vernünftig diskutieren könnte.) Der Bereich des Diskurses, aus dem, wenn überhaupt, ethische Regeln
folgen könnten, ist sicherlich begrenzt auf ethische Diskussionen.
3.1. Das Verhalten des Amoralisten. Um zu zeigen, dass aus der Beteiligung
an ethischen Diskursen irgendetwas ethisch relevantes folgt, muss aufgezeigt werden,
dass ein Amoralist sich durch eine solche Beteiligung in einen performativen Selbstwiderspruch verwickelt. Apel hat dieses Problem sehr wohl erkannt. So schreibt er:
“Gesetzt den Fall, jemand hat in seiner Adoleszenzkrise Nietzsches genealogische
Erklärung des moralischen Gewissens als Krankheit . . . internalisiert und weigert
sich aufgrund dieser Überzeugungen, . . . Grundnormen . . . anzuerkennen: sollen wir
nun sagen, für ihn seien die . . . Grundnormen nicht rational verbindlich? Mir scheint
eine solche Formulierung philosophisch nicht akzeptierbar zu sein; denn sie widerspricht dem, wofür Menschen – d.h. selbst die fiktiv unterstellten Anhänger des
Amoralismus – in einer Kommunikationsgemeinschaft performativ widerspruchsfrei
argumentieren könnten.”
Leider wird hier nicht erläutert, worin denn dieser performative Widerspruch besteht. Man findet lediglich eine Erläuterung: “Empirisch-sozialpsychologisch dürfte
dem die Tatsache entsprechen, das Amoralisten ihre ’Weltanschauung’ kaum jemals
konsequent praktizieren. Eher schon werden sie – in einer quasi-postkonventionellen
Regression auf einen konventionellen Typus der ’Binnenmoral’ – eine den Amoralismus kompensierende Form der elitären Gruppen- oder Bandenmoral vertreten.”
Nun, diese “Tatsache” wäre wohl nicht einmal dann ein ernstzunehmendes philosophisches Argument, wenn sie der Wahrheit entsprechen würde. Denn man kann
sie bestenfalls dahingehend deuten, dass sich im allgemeinen Verhalten in der Regel ein performativer Widerspruch zeigt. Zu zeigen wäre jedoch, dass er sich auch
notwendigerweise zeigen muss, und nicht im allgemeinen Verhalten, sondern im eng
begrenzten Teilgebiet der Kommunikation.
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Die Hauptschwäche dieser Argumentation besteht jedoch darin, dass Apel nicht
klar zu sein scheint, wie sich ein rationaler (kluger) Amoralist entsprechend seiner
’Weltanschauung’ verhalten sollte. Was er ablehnt, sind die verschiedensten Pflichten, kategorischen Imperative, die ihm die verschiedensten Moralapostel aufdrängen
wollen. Ein Amoralist ist jedoch kein Antimoralist, er ist nicht moralisch verpflichtet, gegen jede Regel der verachteten Moral zu verstoßen. Er ist frei, die Moralregel
einzuhalten oder zu brechen. Und dabei richtet er sich nach seinem eigenen Interesse. Insbesondere richtet er sich dabei nach den verschiedensten Klugheitsregeln –
also hypothetischen Imperativen.
Nun gibt es hinter jeder wichtigen ethischen Regel eine ihr entsprechende Klugheitsregel. Hinter “du sollst nicht lügen” steht die Klugheitsregel “wer einmal lügt,
dem glaubt man nicht”, hinter “was du nicht willst, das man dir tu” steht “wie man
in den Wald hineinruft, so schallt es heraus”, hinter der Pflicht zur Einhaltung von
Gesetzen das Vermeiden von Strafe. Solange sich die Amoralisten in der Regel an
solche Klugheitsregeln halten, sind sie nicht zu unterscheiden von denen, die sie als
unbedingte ethische Regeln akzeptieren und bei der Ausübung ab und zu “schwach
werden”.
Eine wichtige Folgerung daraus ist, dass kluge Amoralisten sich an ethischen
Diskussionen beteiligen können und werden. Und dies in jedem Sinne ernsthaft, also
nicht nur in einer nihilistischen Ablehnung der jeweiligen ethischen Argumentation.
Denn die Argumente, die in einer solchen konkreten ethischen Diskussion fallen,
übersetzen sich für den Amoralisten in einfacher Weise in sinnvolle Argumente
einer offen strategischen Diskussion: Aus “mit Handlung X verstößt du gegen Regel
Y” wird “mit Handlung X handelst du dir die Risiken und Nebenwirkungen ein,
die nach den dir bekannten Klugheitsregeln üblicherweise mit Verstößen gegen die
Regel Y einhergehen.” Aus solchen ethischen Argumenten kann unser Amoralist
also aus den ihm bereits bekannten Klugheitsregeln neue, abgeleitete Klugheitsregel
erhalten. Dies ist für unseren Amoralisten von großer Wichtigkeit, weswegen Zweifel
an seiner Ernsthaftigkeit nicht gerechtfertigt sind. (Ganz abgesehen davon, dass
viele ethische Diskussionen voll sind von offen strategischen Argumenten.)
Wie auch immer, der Amoralist wird sich in seinem Verhalten nach den von ihm
erkannten Klugheitsregeln richten. Und wo immer eine Korrespondenz zwischen
Klugheitsregeln und Moralregeln besteht, wird er sich ähnlich verhalten wie ein
Moralist. Ein moralisches Verhalten seinerseit stellt also keinerlei performativen
Selbstwiderspruch dar. Eher wird ein völlig unmoralisches Verhalten starke Zweifel
wecken.
In einen performativen Widerspruch gelangt lediglich der Antimoralist, für den
der Verstoß gegen alle Moralregeln der etablierten Moral zur eigenen Moral wird.
Dies wird in der Tat performativ kaum durchzuhalten sein, da eben ein nicht unerheblicher Teil der etablierten Moral Klugheitsregeln entspricht, und der Antimoralist moralisch verpflichtet wäre, sich dumm zu verhalten, also wider besseres Wissen
seinen eigenen Interessen zu schaden.
Was wir hier über das Verhalten des Amoralisten im Allgemeinen gesagt haben,
gilt natürlich auch für sein Verhalten in Diskursen jeder Art. Er nimmt daran
teil, weil es in seinem Interesse ist, weil man dabei etwas lernen kann, weil es also
klug ist. Er verhält sich dabei entsprechend den Regeln des höflichen Umgangs
und andere Moralregeln der fraglichen Kommunikationsgemeinschaft, weil er nur
so Vorteil aus der Kommunikation ziehen kann. Wie aus einem solchen Verhalten
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ein performativer Selbstwiderspruch hergeleitet werden könnte, bleibt zumindest
mir völlig unklar.
Aus einem regelkonformen Verhalten folgt eben keinesfalls auch die Anerkennung
der Bindungskraft der befolgten Regel. Und somit kann er ohne jeden performativen Selbstwiderspruch bei jeder beliebigen ethischen Regel argumentieren, dass
sie als allgemeinverbindliche Regel ungültig, lediglich eine strategische Regel mit
begrenztem Gültigkeitsbereich sei, und dies unabhängig davon, ob er sich im Leben
nach dieser Regel richtet oder nicht.
3.2. Was ist mit interner Kritik? Im Zusammenhang mit der Diskursethik verlangt eine klassische Form der argumentativen Kritik – die interne Kritik – besondere Aufmerksamkeit.
Interne Kritik besteht darin, dass man – for the sake of the argument – die
Annahmen der eigentlich für falsch gehaltenen Theorie akzeptiert, und daraus dann
Schlußfolgerungen zieht, die entweder gleich zu einem logischen Widerspruch oder
doch wenigstens zu mehr oder weniger absurden, inakzeptablen oder unerwünschten
Ergebnissen führen.
Wir haben hier also eine Situation, in der – innerhalb der gegebenen Argumentation – Thesen akzeptiert werden, die vom Argumentierenden in Wirklichkeit ganz
explizit abgelehnt werden. Welche Teile der Argumentation dabei vom Argumentierenden abgelehnt werden, bleibt im Kontext der Diskussion offen. Es kann jede
einzelne der verwendeten Thesen sein. Und daher ist auch nicht auszuschließen, dass
es die von der Diskursgemeinschaft, in der die Diskussion stattfindet, verwendeten
Schlußregeln sind.
Eine interne Kritik erfüllt natürlich die für Apel wichtigen Kriterien. Sie ist
insbesondere argumentativ, ernstgemeint, legitimer Teil auch von idealen Diskursen,
prinzipiell konsensfähig und auf Konsens ausgerichtet. Und offensichtlich stellt es
keinen Selbstwiderspruch dar, im Rahmen einer solchen internen Kritik Prinzipien
und Schlußweisen zu verwenden, die man selbst nicht akzeptiert.
Wie soll man also anhand einer Argumentation überhaupt entscheiden können,
dass der Argumentierende, ohne in Selbstwiderspruch zu geraten, irgendwelche ethischen Prinzipien akzeptiert, wenn er, ohne in Selbstwiderspruch zu geraten, bei interner Kritik sogar die von ihm selbst explizit abgelehnten Thesen und Schlußweisen
verwenden kann?
Erschwerend kommt hinzu, dass – gerade in dem Fall, dass die interne Kritik
nicht zu einem expliziten Widerspruch führt, sondern lediglich auf eine auf die eine
oder andere Weise unliebsame Folgerung – anhand der Argumentation gar nicht
entschieden werden kann, welche Position der Argumentierende selbst einnimmt.
Der Argumentierende könnte sehr wohl auch alles akzeptieren, und lediglich seine
Genossen auf einige unliebsame Folgerungen vorbereiten. Oder er könnte damit
zeigen wollen, dass gewisse Folgen gar nicht bekämpft werden sollten, sondern eben
als Notwendigkeit hinzunehmen sind.
4. Diskursethik als Ethik der Ausmerzung aller Schwachen und
Etablierung einer totalen Weltherrschaft
Nehmen wir einmal an, man könnte tatsächlich unter Zuhilfenahme von performativen Widersprüchen aus der Beteiligung an Diskussionen ethische Schlüsse
ziehen. Welche wären dies? Eine offensichtlich inkorrekt gestellte Frage. Aber wenn
man die Anforderungen herunterschraubt, den Anspruch auf strenge Begründung
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(erst recht natürlich auf Letztbegründung) aufgibt, sondern die ethischen Schlüsse
aus der Beteiligung an Diskursen lediglich als Analogieschlüsse ohne jede Verbindlichkeit betrachtet, können wir daraus durchaus eine sinnvolle Frage machen. Auch
wenn wir es statt mit performativen Selbstwidersprüchen nur mit Scheinwidersprüchen zu tun haben, so kann man trotzdem sinnvoll die Frage stellen, durch
welche Ethik die Konsistenz zwischen Verhalten im Diskurs und Verhalten im Leben maximiert und Widersprüche minimiert werden. Eine solche Ethik könnte man
dann mit gutem Recht als Diskursethik bezeichnen.
Apel zufolge wäre der wichtigste ethische Schluß die Gleichberechtigung aller
Diskursteilnehmer. Mir scheint dies jedoch überhaupt nicht plausibel zu sein.
Betrachten wir dazu erst einmal das Verhalten von Menschen in realen Diskursen, insbesondere im Fall größerer Teilnehmerzahlen, beispielsweise in Newsgruppen
oder Internetforen. Das erste, was man feststellt, ist, dass die Qualität der Beiträge
verschiedener Teilnehmer sehr verschieden ist. Insbesondere gibt es immer auch
Diskursteilnehmer, deren Argumente man glatt vergessen kann. Andere Teilnehmer hingegen werden – aufgrund der Qualität ihrer Argumente – hoch bewertet
und zu Autoritäten.
Nach einiger Zeit wird man die Beiträge gewisser Teilnehmer einfach nicht einmal
mehr lesen. Jeder Newsreader hat heutzutage dafür extra die technische Möglichkeit
geschaffen – das sogenannte Killfile. In diesem File werden diejenigen abgespeichert,
deren Beiträge man gar nicht erst angezeigt bekommen möchte.
Bereits der Name “Killfile” spricht Bände und deutet an, worauf ich hinaus will.
Befindet sich derjenige, der bereits mehrere Leute in seinem Killfile hat, diese Leute
aber trotzdem noch draußen lebend rumlaufen lässt, nicht bereits in einem performativen Selbstwiderspruch?
“Natürlich nicht!” ist die klare Antwort eines Liberalen. Das ist auch meine Antwort. Aber gibt es nicht genügend Leute, die dies ganz anders sehen? Rein sachlich
gesehen: Derjenige, der die Leute umbringt, deren Beiträge zum Diskurs schädlich
sind, weil diese, aufgrund ihrer Trivialität und Dummheit, die Gruppe belästigen
und “Bandbreite verschwenden”, könnte damit zumindest kurzfristig den ernstgemeinten, argumentativen Diskurs fördern.
Dies ist nicht der Zeitpunkt, den liberalen Standpunkt zu begründen. Es geht
lediglich darum, dass es eher der Liberale ist, derjenige, der allen Gleichberechtigung
zubilligt, aber selbst seine Leichen im Killfile hat, der viel eher in der Gefahr steht,
in einen performativen Selbstwiderspruch zu geraten, als der Ausmerzer der geistig
Schwachen.
Dies fassen wir zur folgenden These zusammen: Wenn sie überhaupt existiert, ist
Diskursethik eine Ethik der Ausmerzung aller geistig Schwachen.
Der zweite Aspekt ist das Endziel. Das Ziel des Apelschen Diskurses ist, wie Apel
auch immer wieder betont, der Konsens. Es ist nicht friedliche Koexistenz verschiedener Wahrheitsformen. Sondern, eben, klar und eindeutig, Konsens. Und solange
noch kein Konsens besteht, gibt es ernsthafte, argumentative Auseinandersetzung.
Einen gnadenlosen Kampf der Argumente, bis der Konsens erreicht ist.
Wer befindet sich also eher im performativen Selbstwiderspruch – der Liberale, der für eine pluralistische Welt eintritt, aber im Diskurs nach einer einzigen
Wahrheit sucht, oder der Fundamentalist, der die totale Weltherrschaft derjenigen
Theorie herstellen will, deren Wahrheit durch den Konsens in unserem ernsthaften
argumentativen Diskurs festgestellt wird?
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Ich denke, die Antwort ist ziemlich offensichtlich: Wenn sie überhaupt existiert,
ist Diskursethik eine Ethik der Etablierung einer totalen Weltherrschaft.
Wir können beide Thesen kurz und markant zusammenfassen: Diskursethik wäre
eine Ethik des Totalitarismus.
Im Gegensatz dazu unterscheidet die liberale Tradition, bis hin zum Paradox,
zwischen den Ideen und deren Trägern. Die Ideen werden bekämpft, dem Träger der
Ideen billigt man hingegen alle Menschenrechte zu, einschließlich des Rechts, seine
Ideen zu verbreiten. Hier besteht ein Konflikt zwischen Verhalten in der Diskussion
und im Leben.
Auch der Fernsehzuschauer, der erfährt, dass die beiden politischen Kontrahenten, deren scharfe Diskussion er gerade verfolgt hat, nach der Sendung zusammen
ein Bier trinken gehen, spürt diesen Konflikt. Er fühlt sich betrogen, die politische
Diskussion wird für ihn zur Farce.
Und die Anhänger totalitärer Ideologien spüren ihn auch. Und sie nutzen ihn
auch aus in ihrer Propaganda, in der sie Liberale als hohle Schwätzer darstellen.
Wer wollte Stalin einen performativen Widerspruch unterstellen, wenn er die Angehörigen der laut Theorie aussterbenden Klassen umbringen lässt? Oder Hitler,
wenn er dasselbe mit rassisch Minderwertigen macht?
Und spüren ihn nicht auch, nur von der anderen Seite aus, die Anhänger relativistischer Wahrheitstheorien? Sind diejenigen, die den Anspruch der westlichen
Wissenschaft auf Wahrheit als Dogmatismus, als Teil des Imperialismus ablehnen,
nicht einfach nur Opfer desselben diskursethischen Fehlschlusses?
Sicher, sie alle sind auf dem Holzweg. Sie alle begehen einen Irrtum. Aus dem
Verhalten, was für Diskurse angemessen ist – die Ausmerzung aller falschen Argumente, mit dem allgemeinen Konsens als Ziel – kann man eben keine ethischen
Schlüsse auf das Verhalten gegenüber den Vertretern anderer Ideen schließen. Und
es ist wichtig, zu begreifen, dass der performative Widerspruch zwischen harter
und kompromissloser Diskussion und Toleranz gegenüber dem Opponenten nur ein
scheinbarer Widerspruch ist.
4.1. Was ist mit idealen Diskursen? Bevor wir weitergehen, sei noch die Frage betrachtet, inwieweit die Schlüsse dieses Abschnitts dadurch bestritten werden
können, dass in der Diskursethik ja ein idealer Diskurs betrachtet werden muss,
während wir bisher einen realen Diskurs betrachtet haben.
Ich meine, dass sich wichtige Eigenschaften, die wir im realen Diskurs festgestellt
haben und die die Grundlage unserer Argumentation bilden, sich auch in einem
idealen Diskurs wiederfinden. Zum Teil werden sie sogar in der Idealisierung noch
verschärft.
Insbesondere ist das Ziel – nämlich das Erreichen des Konsens mit allen Diskussionspartnern – auch im idealen Diskurs vorhanden. Man kann sogar sagen, es
ist erst im idealen Diskurs wirklich in aller Schärfe vorhanden. Der Argumentation
für die Diktatur der wahren Theorie kann also durch den Übergang zum idealen
Diskurs nicht ausgewichen werden.
Aber auch die wesentlichen Argumente für die Regel “Tötet alle Dummen” bleiben im idealen Diskurs bestehen. Einerseits ist auch der ideale Diskurs sinnlos, wenn
alle dieselben Argumente vertreten. Denn dann ist der Konsens bereits erreicht, und
es findet gar keine Diskussion mehr statt. Eine Idealisierung des Diskurses, in der
gar kein Diskurs mehr stattfindet, ist sinnlos. Somit werden auch im idealen Diskurs
von verschiedenen Teilnehmern verschiedene Argumente vertreten.
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Andererseits gehört es natürlich auch zu einem idealen Diskurs, dass falsche
Argumente widerlegt werden. Dazu ist es aber erforderlich, dass die falschen Argumente auch vorgebracht werden. Somit gehören auch falsche Argumente zu einem
idealen Diskurs.
Die Teilnehmer am idealen Diskurs bringen also verschiedene Argumente vor,
unter ihnen auch falsche Argumente. Und das Ziel ist auch im idealen Diskurs
die Ausmerzung der falschen Argumente. Unsere Argumentation lässt sich also
durchaus auch auf den idealen Diskurs anwenden – alle Bestandteile der realen
Diskurse, die wir brauchen, bleiben auch in allen sinnvollen Idealisierungen des
Diskursbegriffs bestehen.
4.2. Welche Rolle spielt der Konsens? Wir hatten bereits den engen Zusammenhang zwischen Diskursethik und Konsenstheorie der Wahrheit erwähnt – ein
Zusammenhang, den auch Apel sieht (“so scheint mir gezeigt zu sein, daß die Begriffe . . . der Konsens-Theorie der Wahrheit und der philosophischen Letztbegründung
einander nicht ausschließen, sondern fordern.” S. 193). Gibt es einen solchen Zusammenhang auch für unsere totalitäre Variante der Diskursethik? Dies scheint ohne
weiteres plausibel. In totalitären Staaten ist wahr, was die Volksgemeinschaft im
Konsens vertritt. Zweifellos ist dies eine Banalisierung des philosophischen Konzepts
der Konsenstheorie der Wahrheit.
Das Ziel, welches hingegen ein Realist verfolgt, ist ein ganz anderes – es ist, in
strategischen Diskussionen, das Herausfinden der besten Strategie, oder die Beeinflussung der Entscheidung der anderen Teilnehmer im eigenen Interesse. In wissenschaftlichen Diskussionen ist es die objektive Erkenntnis.
Ähnlich wie die ethische Diskussion kann die wissenschaftliche Diskussion auf
die strategische zurückgeführt werden: Jeder dürfte schon als Kind gelernt haben,
dass es normalerweise klüger ist, auf objektive Fakten zu vertrauen als auf Wunschträume. Die objektiv-wissenschaftliche Frage “hält die Brücke meinen Wagen aus?”
ist nun einmal eng verbunden mit der strategischen Frage “sollte ich über diese
Brücke fahren?”.
Und diese Betrachtung zeigt auch, dass Konsens nicht das Ziel von wissenschaftlichen Diskussionen ist. Jedenfalls nicht für unseren Autofahrer, der vor der Brücke
steht. Er neigt zu einem “Ja”, fragt aber vielleicht noch einen Anwohner. Mit Apel
sollte man denken, er wäre durch ein “Ja” befriedigt. Schließlich ist damit Konsens
erreicht. Aber nicht das “Ja” ist ihm wichtig, sondern die Begründung: “Hier fährt
täglich ein Wagen rüber, der doppelt so groß ist wie Ihrer.”, oder “Die Spalte da ist
vor 10 Jahren bei einem Erdbeben entstanden und seit dem nicht größer geworden.”.
Und hierbei ist nichts davon zu bemerken, dass dem Autofahrer irgendein Konsens
wichtig wäre. Die Informationen sind es, die ihm helfen, eine für ihn möglicherweise
lebenswichtige Entscheidung zu treffen.
Nebenbei hängt der Wert dieser Information nicht davon ab, dass überhaupt
ein Diskurs verwendet wurde. Wäre der Autofahrer schon hier gewesen, als der
größere Wagen vorbeifuhr, oder gar beim Erdbeben vor 10 Jahren, dann wären
die Informationen für ihn nutzlos gewesen – er selbst hätte sie ja schon aus erster
Hand und wäre noch viel sicherer in seinen Entscheidungen, denn er müsste nicht
überlegen, ob die von ihm Befragten die Wahrheit sagen, oder ob er die Bedeutung
ihrer Worte richtig entschlüsselt hat.
Ziel ist in unserem einfachen Beispiel also nicht irgendein Konsens, sondern
die Gewinnung von objektiv richtigen Informationen. Und unser Autofahrer wird,
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möglicherweise, einen allgemeinen Konsens der Dorfbewohner ignorieren und einen
Umweg wählen. Denn es ist sein Leben, das er riskiert.
Auch das Compilerbeispiel ist hier noch einmal wert, betrachtet zu werden. Der
Punkt ist, dass man auch im Fall des “Diskurses” mit dem Compiler von einem
“Konsens” als Ziel der Kommunikation sprechen könnte. Der “Konsens” besteht
darin, dass der Compiler das Programm als syntaktisch korrekt akzeptiert und in
Programmcode übersetzt.
Allerdings ist das Ziel der Arbeit des Programmierers keineswegs der ”Konsens”
mit dem Compiler, sondern ein korrekt arbeitendes Programm. Der ”Konsens” mit
dem Compiler ist dabei nur ein Zwischenschritt: Die eigentliche Hauptarbeit kommt
erst danach – das Debuggen des Programms.
Interessant ist in dieser Hinsicht ein weiterer Aspekt des modernen Sprachdesigns
und Compilerbaus. Ziel ist es, Sprachen zu entwickeln und Compiler zu bauen, die
sehr viel mehr Fehler finden. Fehler, die man ansonsten im Prozess des Testens
finden müsste, sollen möglichst bereits durch den Compiler gefunden werden. Dies
läuft darauf hinaus, dass die ”Konsensfindung” mit dem Compiler künstlich erschwert wird. Was soll das? Wenn Konsensfindung das Ziel wäre, hieße das, ich
mache mir künstlich das Leben schwer, wenn ich eine moderne Programmiersprache mit modernerem Compiler benutze.
Erst wenn man berücksichtigt, dass das Ziel eben nicht Konsensfindung ist, sondern diese nur ein Mittel ist, wird das Verhalten der Sprachdesigner und Compilerbauer verständlich.
Und steht dasselbe Ziel nicht auch hinter der Formalisierung, der Mathematisierung, der Einführung von Fachbegriffen in die natürliche Sprache, die den Übergang
von natürlicher Sprache zur Wissenschaftssprache kennzeichnen? Wird man bei
Verwendung genauerer Sprache nicht viel häufiger auf Widersprüche stoßen, Widersprüche, die in der Alltagssprache einfach untergegangen wären?
5. Welche Grenzen hat die transzendentale Argumentation?
Bisher haben wir das grundlegende Argumentationsmuster der Transzendentalpragmatik, die Notwendigkeit der Vermeidung performativer Selbstwidersprüche,
unhinterfragt akzeptiert. Nur, wie schwerwiegend ist eigentlich ein performativer Selbstwiderspruch? Gerade wenn ein Verfahren den Anspruch auf Letztbegründung erhebt, müsste ein solcher Widerspruch in jedem Fall fatal sein. Ist er
das überhaupt?
Vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus gesehen muss man hierbei durchaus Unterschiede machen. Wo der Widerspruch auf logischem Gebiet entsteht, wie bei Aussagen vom Typ “Es gibt keine Wahrheit”, wird man die Theorie
sicherlich ablehnen. Wenn aus einer empirischen Theorie folgen sollte, dass, beispielsweise, der Vortragende unfähig sein müsste, zu reden, weil beispielsweise der
menschliche Kehlkopf zur Rede ungeeignet wäre, hätten wir einen Widerspruch zwischen Voraussage und Experiment, den wir mit anderen Widersprüchen zwischen
Voraussage und Experiment auf eine Stufe stellen würden.
Aber was ist mit dem hier besonders interessanten Fall einer ethischen Theorie?
Der typische performative Widerspruch wäre ein ethisches Schweigegebot, welches
man mit der Darstellung oder Begründung der Theorie durchbrechen müsste. Doch
ein solches Schweigegebot, zumindest vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands aus gesehen, kaum ein ernstzunehmendes Argument gegen eine ethische
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I. SCHMELZER
Theorie. Allerhöchstens ist sie ein pragmatisches Hindernis bei der Weiterverbreitung der Theorie.
Ethische Theorien, die Schweigegebote enthalten, finden wir im Alltag häufig.
Die Ethik der Wissenschaft ist voll von Betrachtungen darüber, ob wahre wissenschaftliche Theorien, beispielsweise darüber wie man Massenvernichtungswaffen
baut, offengelegt werden sollten. Auch bei metaphysischen und ethischen Theorien, wie dass es kein Weiterexistieren nach dem Tod oder keine gottgewollte Moral
gibt, kann die Weiterverbreitung als problematisch angesehen werden – sie würden
den Menschen den letzten Trost nehmen und könnten zu Chaos und Revolutionen führen. Egal wie man zu solchen Theorien steht – wer würde das Argument
ernstnehmen, diese Theorien wären falsch, weil man sie nicht ohne performativen
Selbstwiderspruch dem Volk verkünden könne?
Ein nettes Beispiel für potentielle performative Selbstwidersprüche findet sich im
Recht von Angeklagten und Zeugen, vor Gericht die Aussage zu verweigern, wenn
sie sich durch die Aussage selbst belasten müssten – was sie nicht begründen können,
ohne zu sagen, womit sie sich selbst belasten würden, wenn sie aussagen würden.
Sollte man deswegen diesen Paragraphen abschaffen? Oder wiegen die Gründe für
diese Ausnahmeregelung nicht doch schwerer als die Probleme damit, herauszufinden, ob ein Zeuge zu Recht von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machen will?
Und stehen wir nicht alle irgendwann vor der Frage, ob wir irgendein Geheimnis
offenbaren sollen? Eine Frage, bei der die Antwort “nein, behalt es für dich” zu
einem performativen Selbstwiderspruch führt? Wieviele Menschen bewegt dies, all
ihre Geheimnisse zu offenbaren?
Doch warum sind wir in diesen Alltagssituationen geneigt, diese offensichtlichen
performativen Widersprüche zu tolerieren? Sollten wir nicht jeden Widerspruch
ernst nehmen? Sollten wir nicht, wenn die Wissenschaft, hier die Philosophie, uns
Widersprüche in unserem Alltagsverhalten aufzeigt, dieses Verhalten ändern? Nur,
verhält sich jemand wirklich selbstwidersprüchlich, wenn er der performativ selbstwidersprüchlichen Regel “behalte für dich, dass du beim Sex an (eigene Phantasien
hier einsetzen) denkst” folgt? Oder wenn er sie als ethische Regel akzeptiert? Oder
sind solche performativen Selbstwidersprüche doch nur Widersprüche zweiter Klasse?
Um das zu entscheiden, brauchen wir eine philosophische Grundlage. Es ist dabei von erheblicher Wichtigkeit, ob wir eine Form des Realismus vertreten, in der
die Wahrheit durch Übereinstimmung mit der Realität bestimmt wird, und eine
intersubjektive Diskussion nur ein Mittel unter anderen ist, die Theorie zu kritisieren und möglicherweise abzulehnen, oder ob man eine Konsenstheorie der Wahrheit
vertritt, in der eine Theorie, die nicht intersubjektiv diskutiert werden kann, gar
nicht auf Wahrheit überprüfbar ist.
Für den kritischen Rationalisten reicht es vollkommen, dass man die fragliche
Theorie selbst durchdenken und dabei eben auch kritisieren kann. Das monologische sprachliche Denken ist für ihn eine vollwertige Methode der Kritik, in keinerlei
Hinsicht defizitär oder parasitär. Was durch den performativen Selbstwiderspruch
geschieht, ist nichts als das eine andere wichtige Methode – die intersubjektive Diskussion – leider nicht anwendbar ist. Dadurch entgehen uns möglicherweise wichtige
Argumente. Aber für die Frage der Richtigkeit der ethischen Theorie ist dies genauso unwesentlich wie die Unmöglichkeit, bestimmte Experimente real durchzuführen,
sagen wir Teilchenbeschleuniger mit dem Radius der Milchstraße zu bauen, etwas
BEMERKUNGEN ZU APELS DISKURSETHIK
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über die Wahrheit einer physikalischen Theorie aussagt, die durch solche Experimente widerlegt werden könnte.
Diese Betrachtung zeigt, dass die Überzeugungskraft performativer Selbstwidersprüche von den philosophischen Theorien abhängt, die man bei philosophischen
Betrachtungen über diese Überzeugungskraft implizit voraussetzt. Womit wir, was
sowieso zu erwarten war, feststellen können, dass Versuche von Letztbegründungen
scheitern müssen, weil sie regelmäßig irgendetwas implizit voraussetzen müssen und
damit bestenfalls normale Begründungen sind, welche auf der Akzeptanz von Voraussetzungen basieren.
Aber könnte der Apelsche Transzendentalpragmatismus nicht wenigstens für die
Grundlagen der Logik eine Letztbegründung liefern? Ist nicht wenigstens die Theorie “Es gibt keine Wahrheit” durch den notwendigen performativen Selbstwiderspruch widerlegt? Nun, ich sehe keinerlei Grund dafür, dass ein allgemeines Verfahren, welches, wie gezeigt, auf einem Gebiet nur schwache Begründungen liefern
kann, auf einem anderen Gebiet plötzlich strenge Letztbegründungen liefern sollte.
Viel wahrscheinlicher ist, dass die Begründung uns nur deswegen plausibel erscheint,
weil wir das Ergebnis auch ohne Begründung schon immer akzeptiert haben. In Begründungen, in denen Falsches begründet wird, kann man Fehler durch sukzessive
Unterteilung finden: Man braucht sich lediglich zu fragen, ob eine Zwischenthese
selbst wahr oder falsch ist, schon weiß man, ob der Fehler danach oder davor passiert. Außerdem weiß man sowieso, dass die Begründung fehlerhaft sein muss. Solch
eine Methode zum Finden von Lücken in Begründungen richtiger Aussagen gibt es
leider nicht.
Außerdem sollte man die Möglichkeiten von Theorien nicht unterschätzen, performative Selbstwidersprüche zu verhindern. “Es gibt keine Wahrheit” könnte immer noch auf einer Theorie beruhen, die den üblichen Wahrheitsbegriff nur als eine
Annäherung enthält, ähnlich wie die klassische Mechanik in der Quantentheorie als
klassische Näherung überlebt. Mit dieser Näherung zu operieren ist, laut Quantentheorie, in gewissen Bereichen, insbesondere im Alltag, völlig legitim. Warum sollte
es in einer Wahrheitstheorie ohne Wahrheit nicht ein ähnliches Gebiet geben, in dem
der klassische Wahrheitsbegriff als Näherung anwendbar ist? Warum sollte dieser
Bereich nicht alle Diskurse in natürlicher Sprache einschließen können? Natürliche
Sprachen zeichnen sich ja schließlich bekanntermaßen durch ihre Unschärfe aus.
Sicher, als Anhänger einer höchst klassischen Wahrheitstheorie halte ich von
solch alternativen Wahrheitstheorien wenig. Und unter meinen Argumenten gegen
viele solcher Theorien haben auch performative Selbstwidersprüche ihren Platz.
Nur: Für einen Letztbegründungsanspruch sehe ich auch hier keinerlei Grundlage.
5.1. Voraussetzungen für eine Vertragsgesellschaft. Ein klassisches Problem
von Letzbegründungsphilosophien ist die Frage, warum Verträge eingehalten werden sollten. So schreibt Apel: “Die . . . Motive für das Eingehen von Vertragsverhältnissen sind in der Tat äußerst plausibel und sogar ausschlaggebend, wenn
die einsehbar notwendige Anerkennung der “Grundnorm” bzw. des Grundprinzips
einer kommunikativen Vernunftethik schon vorausgesetzt werden kann. Ohne diese Voraussetzung aber . . . ist die gesamte Begründungskonzeption . . . keineswegs
schlüssig.” (S. 243)
Was hat Apel gegen eine strategisch-zweckrationale Begründung der Ethik einzuwenden? Einmal dass “. . . jeder strategisch-rational Denkende daran interessiert
sein müßte, daß alle anderen sich auf Verträge . . . einlassen und [sie] einhalten,
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I. SCHMELZER
während er selber den Vertrag nur scheinbar (d.h. mit kriminellem Vorbehalt) mitabschließt, um ihn bei passender Gelegenheit (wenn keine Sanktionen zu befürchten
sind) zu brechen.” (S.243)
Nur hat das Brechen von Verträgen nun einmal erhebliche Risiken und Nebenwirkungen: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und weil unter lauter rational
denkenden Menschen alle wissen, dass die Vertragspartner auch ihre kriminellen
Vorbehalte haben können, löst man diese Probleme durch die verschiedensten Kontrollmöglichkeiten.
Wir brauchen also keinerlei Anerkennung einer “Grundnorm” der Vertragstreue,
wenn Vertragsbruch hinreichend bestraft wird. Und dazu ist ausreichend, dass er
bekannt wird – schon weil man sich, aus purem Eigeninteresse, nicht auf Verträge
mit Vertragsbrechern einlassen wird.
Apels zweites Argument läßt mich noch ratloser zurück: “Soll in dieser Situation der sogenannten “rationalen Wahl” das Motiv des parasitären Vorbehalts (des
“free riders”) tendenziell ausgeschaltet . . . werden, dann muß der einzelne bei der
Beantwortung der post-Aufklärungs-Frage “Warum moralisch sein?” auf eine prinzipiell andere rationale Motivation rekurrieren können als die der utilitaristischen
Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen im Sinne der strategischen Spieltheorie.
Er muß, gerade um die plausiblen Argumente utilitaristischer Kooperationstheorien
von vornherein im nichtegoistischen Sinne verstehen und würdigen zu können, schon
im vorherein ein deontisches Universalisierungsprinzip im Sinne der Gerechtigkeit
oder Fairness als unbedingt verbindlich anerkannt haben (also nicht erst aufgrund
der Erwägung von Folgen faktisch anerkennen!).” (S.243) Soll denn? Warum? Vielleicht möchte ja Apel, wie obiger strategisch-rational Denkende, erreichen, dass alle
anderen sich an die Verträge ohne kriminellen Vorbehalt halten und dabei ihr eigenes strategisch-rationales Handeln aufgeben? Dann wäre es in der Tat nützlich,
wenn alle anderen die Gesetze als unbedingt verbindlich anerkennen. Unser Amoralist kennt jedenfalls keine Gründe für obiges “soll”.
Nein, wir brauchen keine Letztbegründung für das Einhalten von Verträgen.
Es reicht völlig aus, die Einhaltung von Verträgen so zu überwachen, dass es zur
Klugheitsregel wird, Verträge einzuhalten.
Sicherlich, es wäre schön, wenn man sich all die Kontrollen sparen könnte, weil
alle Menschen ehrlich sind und wir alle uns aus freiwilliger Einsicht in Apels Letztbegründung nach den objektiven Normen seiner Diskursethik richten würden. Nur
sind solche Utopien keine Option. Höchstens im Elfenbeinturm der Philosophie mag
man damit ganz gut leben können.
Literatur
[1] Die bibliographische Referenz zu dem Buch von Apel, dem die Zitate entnommen sind, ist
mir leider verlorengegangen.
E-mail address: [email protected]
URL: ilja-schmelzer.de
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