27.04.2010 Naturwissenschaften und

Werbung
Naturwissenschaften und
Waffentechnik im 2. Weltkrieg
Literatur
• Michael B. Stoff, Jonathan F. Fanton and R. Hal
Williams (eds.), The Manhattan Project (New
York 1991), ausgewählte Dokumente
• Dieter Hoffmann (Hrsg.), Operation Epsilon. Die
Farm-Hall Protokolle (Berlin 1993), Bericht Nr. 4
(August 1945)
• Rainer Karlsch, Hitlers Bombe, Berlin 2005
• Michael Neufeld, Die Rakete und das Reich,
Berlin 1997
Fragestellungen
• Technisierung der Grundlagenforschung. Der Krieg als
Ursache oder Beschleuniger?
• Wissenschaften und Wissenschaftler (mitsamt ihrer
Instrumente und Forschungspraktiken) als Ressourcen
der modernen Kriegsführung - Selbst- oder
Fremdbestimmung?
• Den Schritt zur Großforschung und Technowissenschaft
– wo geschah er in diesem Fall überhaupt, und warum?
• Warum und WIE beteiligten sich die Wissenschaftler?
Wollen und Können
• Die Frage nach der Verantwortung
Erstes Beispiel: Das deutsche
Atom(bomben?)projekt
Zur Einführung:
Die „Entdeckung“ der Kernspaltung
• Otto Hahn, Fritz Strassmann (Kaiser
Wilhelm-Institut für Chemie, Berlin) Spaltung des Urankerns September 1938
• Lise Meitner (ehem. KWI Chemie) und
Otto Robert Frisch, Deutung und 1.
theoretische Erklärung der Kernspaltung
im schwedischen Exil, Jänner 1939
Otto Hahn und
Lise Meitner
in früheren Tagen
Bekanntmachung
• Siegfried Flügge, „Kann der Energieinhalt der Atomkerne
technisch nutzbar gemacht werden?“ in Die
Naturwissenschaften, Juni 1939 (populäre Fassung in
der Deutschen Allgemeinen Zeitung)
Zwei Parallelinitiativen
• Bildung des „Uranvereins“, 29. April 1939
Abraham Esau (technischer Physiker), Leiter der
Abteilung Physik des Reichsforschungsrates im
Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft
und Volksbildung (REM) - informiert durch
Physiker der Universität Göttingen
• Heereswaffenamt
Informiert ebenfalls im April 1939 über das
militärische UND politische Potential der
Kernenergie durch Paul Harteck (Hamburg Konsulent für chemische Sprengstoffe)
Erste Entscheidung fürs Militär
• Oktober 1939 – Übernahme des KaiserWilhelm-Instituts für Physik durch das
Heer
• Ausdruck des Dauerkampfes unter den
Machtinstanzen im Nationalsozialismus
Erich Schumann
Physiker
Professor in Göttingen
Ministerialdirigent im
Heereswaffenamt
Kurt Diebner - Kernphysiker
im Heereswaffenamt
Werner Heisenberg
Professor in Leipzig
zunächst wissenschaftlicher
Berater des Projekts,
erst ab 1942 Direktor am
Kaiser-Wilhelm-Institut
für Physik, Berlin
Weitere Beteiligte
• Karl Friedrich von Weizsäcker Assistent/Mitarbeiter Heisenbergs
• Otto Hahn – KWI Chemie - eigene
Projekte, versuchter Bau eines
Teilchenbeschleunigers
Karl-Friedrich von Weizsäcker
Patent für einen Atombombendesign
1941 eingereicht
Eine Arbeitsteilige Organisation
• Isotopentrennung und Produktion schweren Wassers:
Paul Harteck (Hamburg) + Klaus Clusius (München)
• Berechnung „nuklearer Konstante“ und Erforschung der
Transurane: Otto Hahn (Berlin), Georg Stetter
(Radiuminstitut Wien)
• Berechnung nuklearer „Konstante“: Kurt Diebner (HWA,
Labor Berlin-Gottow)
• Berechnungen verschiedener Eigenschaften der betr.
Atomkerne: Walter Bothe (KWI für Medizinische
Forschung, Heidelberg)
• Theorie der Kettenreaktion, Isotopentrennung, Bau einer
„Uranmaschine“: Werner Heisenberg (noch Leipzig,
Berater in Berlin)
Eine arbeitsteilige Organisation
• Isotopentrennung: Hans Kopfermann (Kiel, später
Göttingen)
• Uranproduktion: Nikolaus Riehl (Berlin, Fa. Auer)
• Design und Prüfung der „Uranmaschine“ konzentriert in
Berlin
• Erste Modellexperimente 1940-1941 unter der Leitung
von Karl Wirtz
• Gesamtzahl wissenschaftliches Personal: ca. 50 – 60
ALSO: NOCH KEINE GROSSFORSCHUNG
Skizze eines
Reaktordesigns
mit Paraffin als
Bremser
Ein weiteres Design,
ebenfalls mit Paraffin
Entscheidungsjahr 1941-1942 –
Die Wege trennen sich
• Besuch Heisenbergs bei Niels Bohr in
Kopenhagen, September 1941
• Bericht des Heereswaffenamtes (Februar
1942) – empfiehlt enthusiastisch den
Umstieg zur industriellen Produktion von
„angereicherten“ U-235 bzw. „Element 94“
(= Plutonium), gesteht aber die hohen
Kosten sowie die technischen Probleme
ein.
Warum das deutsche Heer den
Bombenbau NICHT empfahl
• (1) ungenügende Vorräte schweren Wassers;
• (2) noch unklarer Stand der Forschung
bezüglich der Fertigstellung einer serienfähigen
„Uranmaschine“, ohne welche die Möglichkeit
der Produktion nuklearer Sprengstoffe in
ausreichenden Mengen nicht einschätzbar wäre.
• Erich Schumann u. a. im Heereswaffenamt
empfehlen die abermalige Übergabe des
Programms an den Reichsforschungsrat, weil
kriegsentscheidende Ergebnisse nicht früh
genug zu erwarten seien.
Ein Drama, das keines war
• Reden Heisenbergs und andere im „Haus der Deutschen
Forschung“ in Berlin-Dahlem, 26. Februar 1942 betonen
ziviles UND militärisches Potential der Kernenergie.
• Heisenberg sagt, „Auch die Maschine im Betrieb kann
zur Gewinnung eines ungeheuer starken Sprengstoffs
führen.“ – betont aber zugleich die technischen
Schwierigkeiten (s.o.).
• Frage eines Generals (vermutlich Generalmarschall
Milch) an Heisenberg in einer Pause: Ob er eine
„kriegsentscheidende Bombe“ binnen neuen Monaten
herstellen könne. Heisenberg verneint. Der General fragt
dann Walter Bothe, ob er dies bestätigen könne; er
bejaht.
Rüstungsminister Albert Speer
mit Generalmarschall Milch
Der Ausgang
• Treffen Heisenbergs u. a. mit Albert Speer am 4. Juni
1942, in Anwesenheit hoher Militärs: Genauer Inhalt nur
indirekt erschließbar.
• Ergebnis: Speer bewilligt ca. 100.000+ RM für
Weiterarbeit an einer „Uranmaschine“.
• Überstellung des Reichforschungsrates vom REM zum
Vierjahresplan (Hermann Göring)
• 1942-1943 Überstellung des Atomprojekts an den
Reichsforschungsrat (RFR)
• Es gab KEIN strategisches Waffenprojekt.
• Nicht wollen oder nicht können?
Walter Gerlach
Physiker
Leiter der Fachsparte
Physik im RFR
Gab es denn doch noch eine
„deutsche“ Atombombe?
• Rainer Karlsch, Hitler’s Bombe (2005) – nicht
Heisenberg, sondern die Gruppen um Diebner und
Gerlach arbeiteten an einer Waffe weiter.
• Hohlladungsprinzip
• Eine Explosion in Ohrdruf (Thüringen) – eine „Taktische
Nuklearwaffe“?
• Was wäre wenn? Raketenphantasien
• Eine Schere zwischen der realhistorischen und der
vergangenheitspolitischen Bedeutung des deutschen
Programms
Das Manhattan-Projekt:
Ein historisches Novum
• Albert Einstein - Brief an US-Präsident
Franklin D. Roosevelt, 2. August 1939
• Der Anstifter: Leo Szilard (ungarischer
Physiker im Exil, Patenteinreichung für
eine Atombombe bereits 1931!)
Zwischenergebnis
• Roosevelt genehmigt eine
Machbarkeitsstudie
• Ausmaß: ca. $150.000
• Noch KEINE Waffenentwicklung, weil (a)
der Weg dorthin noch nicht klar war und
(b) die USA noch nicht im Krieg sind.
Der Schritt zur technowissenschaftlichen Großforschung (1942)
Vier zentrale Merkmale des „Manhattan“-Projektes:
• Einmalige Dimensionen (Geschätzte Gesamtkosten: 1,3
Milliarden Dollar)
• Dezentrale Organisationsform unter zentraler ziviler und
militärischer Führung
• Komplexe Verbindung von Grundlagenforschung und
Technik bei entsprechender Vertragsvergabe
• Geheimhaltung
Dezentrale
Organisationsform:
Beilage zu einem
Brief von Vanever
Bush an FDR,
9. März 1942
Zivile + militärische Leitung
Zivile Leitung:
• Vanever Bush (ehemals MIT) – Leiter des
„Office of Strategic Research and Development“
(OSRD)
• James Bryant Conant (Harvard) – Chairman,
National Defense Research Committee (NDRC)
Militärische Leitung:
• General Leslie R. Groves („Manhattan District“,
U.S. Army Corps of Engineers)
Komplexe Verbindung von
Grundlagenforschung und Technik
Forschungs- und Entwicklungszentren:
• New York: Columbia University –
Gasdiffusion / Chemie - (Harold Urey)
• Chicago: University of Chicago –
“Atomistics” (Arthur Compton, Enrico Fermi)
Erste kontrollierte Kettenreaktion
• Berkeley: University of California –
Teichenbeschleuniger (= Zyklotron) (Ernest O. Lawrence)
• Oak Ridge, Tennessee – Isotopentrennung von U235 + U238 mit
elektromagnetischen Techniken + Gasdiffusion
• Hanford, Washington – Serienmäßige Herstellung von Plutonium
Vertragsvergabe:
Beilage zum Brief
von Bush an FDR,
9. März 1942
Anreicherung von Uran 235
In Oak Ridge, Tennessee
Gleichzeitig
Plutoniumproduktion –
“Transmutation” von U238
in Pu239
in Hanford, Washington
Dimensionen der Geheimhaltung
• Semantische Tarnung: „Tube Alloys“
• Begrenzte Kommunikation mit den Alliierten
• Begrenzte Kommunikation mit dem Congress
• Publikationsverbot und begrenzte Kommunikation
unter Wissenschaftlern
Los Alamos, New Mexiko
- die Kräfte werden gebündelt
Neue wissenschaftliche
Leitung:
J. Robert Oppenheimer
(ab 1943)
Bombendesign: Zusammenführung
von Physik und Technik
• Bau und Prüfung der
Linsen für die “Fat
Man”-Bombe
Modellskizze der „Implosion“
in einer
Plutoniumbombe
George Kistiakovsky,
Ukrainischer
Chemiker
Führender
Mitarbeiter
an der
Plutoniumbombe
1945 - Test und umstrittener
Abwurf der ersten Atombombe
• Einer tritt aus: Joseph Rotblatt
• Und die Anderen? Eigenmomentum der
Technowissenschaft + tolle Physik
• James Franck - 'Franck Report' – Chicago,
11. Juni 1945 - Verbindung politischer und
moralischer Argumentation
• Die militärische Seite – die Arbeit des
“Targeting Committee” geht weiter
'Trinity' - Almogordo, New Mexico
16. Juli 1945
• Oppenheimer: „I am Shiva, destroyer of
worlds!“ (Aus dem Bhagavad-Gita)
• Kenneth Bainbridge at Almogordo: “Well,
now we’re all sons of bitches.”
Der Schritt zum Abwurf
• Wer entschied was und warum?
• Aus Wissenschaftlerperspektive: Bericht des „Interim
Committee“, 16. Juni 1945
• Aus militärischer und politischer Perspektive: Henry
Stimson (Secretary of War = Verteidigungsminister) +
James Byrnes (Secretary of State = Aussenminister)
• Präsident Harry S. Truman („The buck stops here.” =
“Der schwarze Peter bleibt bei mir”.)
• KEIN schriftlicher Befehl aus seiner Hand!
• Tatsächliche Entscheidung, politische Verantwortung
oder beides?
Hiroshima - 6. August 1945
„Little Boy“
Diagram der Hiroshima-Bombe
mit U-235
Erstmals „getestet“ beim
Abwurf selbst!
„Fat Man“
Nagasaki, 9. August 1945
Masuji Ibuse, Schwarzer Regen
• „In meines Geistes Auge konnte ich, wie
im Wachtraum, die Feuerzungen an den
Körpern von Menschen arbeiten sehen.“
Reaktionen der deutschen Physiker
• ALSOS – Operation des CIC
(Wissenschaftlicher Leiter: Samuel
Goudsmit)
• Farm Hall (bei Cambridge, England)
Aus Farm Hall Bericht Nr. 4
(6. – 7. August 1945)
• Otto Hahn: fühlt sich verantwortlich für den Tode
unzähliger Zivilisten
• Dann aber, an Heisenberg gerichtet: „Auf jeden
Fall, Heisenberg, sind Sie eben zweitklassig,
und Sie können einpacken“.
• Darauf Heisenberg: „Ganz Ihrer Meinung!“ recht
• Hahn: „Die sind fünfzig Jahre weiter als wir.“
• Wollen oder können?
Aus Farm Hall Bericht Nr. 4
• Später – Heisenberg: „Wir hätten gar nicht den
moralischen Mut aufgebracht, im Frühjahr 1942
der Regierung zu empfehlen, 120.000 Mann
einzustellen, nur um die Sache aufzubauen.“
• Darauf von Weizsäcker: „Ich glaube, es ist uns
nicht gelungen, weil alle Physiker im Grunde gar
nicht wollten, dass es gelang. …“
• Hahn: „Das glaube ich nicht, aber ich bin
dankbar, dass es uns nicht gelungen ist.“
Zweites Beispiel –
das deutsche Raketenprogramm
Ursprünge - Träume der Raumfahrt und
Wünsche der Artilleristen
Dann: Entstehung und Struktur des
Programms ab 1936
Deckblatt der
Zeitschrift „die Rakete“,
1926
Raketenpionier Hermann Oberth (Mitte) mit Raketenmotor und Designer
Klaus Riedel in Berlin (1930). Rechts hinter Riedel: Wernher v. Braun
Raketenflugplatz – Testversuch 1932
Der Initiator:
General der Artillerie
Karl Emil Becker
Militärische Leitung:
Oberstmajor Walter Dornberger (ab 1943 General)
Pennemünde
Alles in einem Haus:
Forschung, Entwicklung
Tests,
Serienmäßige Produktion
Forschungs- und
Entwicklungserfolge
• Forschungsdirektor: Werner von Braun
• Innovationswege: Zusammenführung von
aerodynamischer Grundlagenforschung
und Luftfahrttechnik
(a) Raketentriebwerk (gesteuerter
Treibstoffzufuhr)
(b) Kreiselsysteme
Werner von Braun
1912 - 1977
Raketentriebwerk
mit gesteuertem
Treibstoffzufuhr
von oben
• Eine „A-4“-Rakete
wird für den ersten
überatmosphärischen
Flug vorbereitet, 3.
Oktober 1942
3. Oktober 1942 –
erster überatmosphärischer
Flug einer „A-4“ Rakete
(hier: Bild eines späteren
Testfluges)
• Gratulierungen nach
dem erfolgtem Flug
(li., Mitte, hinter ihm in
zivil Wernher von
Braun)
Der Kampf um das Programm:
zwei Phasen
1. Phase: Kampf unter verschiedenen Programmen um
Höhereinstufung beim Rüstungsministerium
(Materialbeschaffung usw.) – Hauptbeteiligte hier RLM
(Göring) versus RKM (Heer). Entscheidungsträger: RM
Speer (Hitler persönlich eingebunden)
2. Phase: Nach Bombardierung des PeenemündeGeländes durch britische Luftwaffe – die SS schreitet ein
Hans Kammler
- vormals Architekt der
Gaskammer in
Auschwitz, jetzt
Bauleiter der neuen,
zerstreuten
Werksbauten zum
Raketenbau
A-4 (V-2) Raketenbauplätze
1943 1944
„Wunderwaffen“ und Sklavenarbeit
• Erst ab 1943 spricht NSPropagandaminister Goebbels von
„Wunderwaffen“ (infolge der Ausrufung
des „Totalen Kriegs“) – V-1 + V-2 (=
Vergeltungswaffen“)
• Raketenbau im ehemaligen Salzbergwerk
bei Nordhausen (Thüringen) –
Zwangsarbeiter im Lager „Dora-Mittelbau“
untergebracht
Hermann Rudolph
Chefingenieur im Werk
Mittelbau, später
Mitarbeiter von Brauns
in den USA
Was wäre wenn?
Planspiele um Trägerraketen von größerer
Reichweite
Neuanfang: Das Personal von Peenemünde in White Sands,
New Mexico, 1946
White Sands, Dezember 1947
Fazit
• Technisierung der Grundlagenforschung, bzw.
Grundlagenforschung im Anwendungskontext.
Der Krieg als Beschleuniger, nicht Ursache der
Wende zur Technowissenschaft und
Großforschung überhaupt, aber Ursache der
Lenkung dieser Entwicklung hin zur
Waffentechnik
• Den Schritt zur technowissenschaftlichen
Großforschung GAB es im deutschen
Atomprojekt NICHT – warum nicht, darf noch
gefragt werden!
Fazit
• Wissenschaften und Wissenschaftler (mitsamt
ihrer Instrumente und Forschungspraktiken) als
Ressourcen der modernen Kriegsführung Selbst- oder Fremdbestimmung? BEIDES, und
zwar gegenseitig!
• Warum beteiligten sich die Wissenschaftler?
Wollen und Können
• Die Verantwortungsfrage präziser stellen:
Wessen Verantwortung in welchem Kontext?
Herunterladen