Naturwissenschaften und Waffentechnik im 2. Weltkrieg Literatur • Michael B. Stoff, Jonathan F. Fanton and R. Hal Williams (eds.), The Manhattan Project (New York 1991), ausgewählte Dokumente • Dieter Hoffmann (Hrsg.), Operation Epsilon. Die Farm-Hall Protokolle (Berlin 1993), Bericht Nr. 4 (August 1945) • Rainer Karlsch, Hitlers Bombe, Berlin 2005 • Michael Neufeld, Die Rakete und das Reich, Berlin 1997 Fragestellungen • Technisierung der Grundlagenforschung. Der Krieg als Ursache oder Beschleuniger? • Wissenschaften und Wissenschaftler (mitsamt ihrer Instrumente und Forschungspraktiken) als Ressourcen der modernen Kriegsführung - Selbst- oder Fremdbestimmung? • Den Schritt zur Großforschung und Technowissenschaft – wo geschah er in diesem Fall überhaupt, und warum? • Warum und WIE beteiligten sich die Wissenschaftler? Wollen und Können • Die Frage nach der Verantwortung Erstes Beispiel: Das deutsche Atom(bomben?)projekt Zur Einführung: Die „Entdeckung“ der Kernspaltung • Otto Hahn, Fritz Strassmann (Kaiser Wilhelm-Institut für Chemie, Berlin) Spaltung des Urankerns September 1938 • Lise Meitner (ehem. KWI Chemie) und Otto Robert Frisch, Deutung und 1. theoretische Erklärung der Kernspaltung im schwedischen Exil, Jänner 1939 Otto Hahn und Lise Meitner in früheren Tagen Bekanntmachung • Siegfried Flügge, „Kann der Energieinhalt der Atomkerne technisch nutzbar gemacht werden?“ in Die Naturwissenschaften, Juni 1939 (populäre Fassung in der Deutschen Allgemeinen Zeitung) Zwei Parallelinitiativen • Bildung des „Uranvereins“, 29. April 1939 Abraham Esau (technischer Physiker), Leiter der Abteilung Physik des Reichsforschungsrates im Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung (REM) - informiert durch Physiker der Universität Göttingen • Heereswaffenamt Informiert ebenfalls im April 1939 über das militärische UND politische Potential der Kernenergie durch Paul Harteck (Hamburg Konsulent für chemische Sprengstoffe) Erste Entscheidung fürs Militär • Oktober 1939 – Übernahme des KaiserWilhelm-Instituts für Physik durch das Heer • Ausdruck des Dauerkampfes unter den Machtinstanzen im Nationalsozialismus Erich Schumann Physiker Professor in Göttingen Ministerialdirigent im Heereswaffenamt Kurt Diebner - Kernphysiker im Heereswaffenamt Werner Heisenberg Professor in Leipzig zunächst wissenschaftlicher Berater des Projekts, erst ab 1942 Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik, Berlin Weitere Beteiligte • Karl Friedrich von Weizsäcker Assistent/Mitarbeiter Heisenbergs • Otto Hahn – KWI Chemie - eigene Projekte, versuchter Bau eines Teilchenbeschleunigers Karl-Friedrich von Weizsäcker Patent für einen Atombombendesign 1941 eingereicht Eine Arbeitsteilige Organisation • Isotopentrennung und Produktion schweren Wassers: Paul Harteck (Hamburg) + Klaus Clusius (München) • Berechnung „nuklearer Konstante“ und Erforschung der Transurane: Otto Hahn (Berlin), Georg Stetter (Radiuminstitut Wien) • Berechnung nuklearer „Konstante“: Kurt Diebner (HWA, Labor Berlin-Gottow) • Berechnungen verschiedener Eigenschaften der betr. Atomkerne: Walter Bothe (KWI für Medizinische Forschung, Heidelberg) • Theorie der Kettenreaktion, Isotopentrennung, Bau einer „Uranmaschine“: Werner Heisenberg (noch Leipzig, Berater in Berlin) Eine arbeitsteilige Organisation • Isotopentrennung: Hans Kopfermann (Kiel, später Göttingen) • Uranproduktion: Nikolaus Riehl (Berlin, Fa. Auer) • Design und Prüfung der „Uranmaschine“ konzentriert in Berlin • Erste Modellexperimente 1940-1941 unter der Leitung von Karl Wirtz • Gesamtzahl wissenschaftliches Personal: ca. 50 – 60 ALSO: NOCH KEINE GROSSFORSCHUNG Skizze eines Reaktordesigns mit Paraffin als Bremser Ein weiteres Design, ebenfalls mit Paraffin Entscheidungsjahr 1941-1942 – Die Wege trennen sich • Besuch Heisenbergs bei Niels Bohr in Kopenhagen, September 1941 • Bericht des Heereswaffenamtes (Februar 1942) – empfiehlt enthusiastisch den Umstieg zur industriellen Produktion von „angereicherten“ U-235 bzw. „Element 94“ (= Plutonium), gesteht aber die hohen Kosten sowie die technischen Probleme ein. Warum das deutsche Heer den Bombenbau NICHT empfahl • (1) ungenügende Vorräte schweren Wassers; • (2) noch unklarer Stand der Forschung bezüglich der Fertigstellung einer serienfähigen „Uranmaschine“, ohne welche die Möglichkeit der Produktion nuklearer Sprengstoffe in ausreichenden Mengen nicht einschätzbar wäre. • Erich Schumann u. a. im Heereswaffenamt empfehlen die abermalige Übergabe des Programms an den Reichsforschungsrat, weil kriegsentscheidende Ergebnisse nicht früh genug zu erwarten seien. Ein Drama, das keines war • Reden Heisenbergs und andere im „Haus der Deutschen Forschung“ in Berlin-Dahlem, 26. Februar 1942 betonen ziviles UND militärisches Potential der Kernenergie. • Heisenberg sagt, „Auch die Maschine im Betrieb kann zur Gewinnung eines ungeheuer starken Sprengstoffs führen.“ – betont aber zugleich die technischen Schwierigkeiten (s.o.). • Frage eines Generals (vermutlich Generalmarschall Milch) an Heisenberg in einer Pause: Ob er eine „kriegsentscheidende Bombe“ binnen neuen Monaten herstellen könne. Heisenberg verneint. Der General fragt dann Walter Bothe, ob er dies bestätigen könne; er bejaht. Rüstungsminister Albert Speer mit Generalmarschall Milch Der Ausgang • Treffen Heisenbergs u. a. mit Albert Speer am 4. Juni 1942, in Anwesenheit hoher Militärs: Genauer Inhalt nur indirekt erschließbar. • Ergebnis: Speer bewilligt ca. 100.000+ RM für Weiterarbeit an einer „Uranmaschine“. • Überstellung des Reichforschungsrates vom REM zum Vierjahresplan (Hermann Göring) • 1942-1943 Überstellung des Atomprojekts an den Reichsforschungsrat (RFR) • Es gab KEIN strategisches Waffenprojekt. • Nicht wollen oder nicht können? Walter Gerlach Physiker Leiter der Fachsparte Physik im RFR Gab es denn doch noch eine „deutsche“ Atombombe? • Rainer Karlsch, Hitler’s Bombe (2005) – nicht Heisenberg, sondern die Gruppen um Diebner und Gerlach arbeiteten an einer Waffe weiter. • Hohlladungsprinzip • Eine Explosion in Ohrdruf (Thüringen) – eine „Taktische Nuklearwaffe“? • Was wäre wenn? Raketenphantasien • Eine Schere zwischen der realhistorischen und der vergangenheitspolitischen Bedeutung des deutschen Programms Das Manhattan-Projekt: Ein historisches Novum • Albert Einstein - Brief an US-Präsident Franklin D. Roosevelt, 2. August 1939 • Der Anstifter: Leo Szilard (ungarischer Physiker im Exil, Patenteinreichung für eine Atombombe bereits 1931!) Zwischenergebnis • Roosevelt genehmigt eine Machbarkeitsstudie • Ausmaß: ca. $150.000 • Noch KEINE Waffenentwicklung, weil (a) der Weg dorthin noch nicht klar war und (b) die USA noch nicht im Krieg sind. Der Schritt zur technowissenschaftlichen Großforschung (1942) Vier zentrale Merkmale des „Manhattan“-Projektes: • Einmalige Dimensionen (Geschätzte Gesamtkosten: 1,3 Milliarden Dollar) • Dezentrale Organisationsform unter zentraler ziviler und militärischer Führung • Komplexe Verbindung von Grundlagenforschung und Technik bei entsprechender Vertragsvergabe • Geheimhaltung Dezentrale Organisationsform: Beilage zu einem Brief von Vanever Bush an FDR, 9. März 1942 Zivile + militärische Leitung Zivile Leitung: • Vanever Bush (ehemals MIT) – Leiter des „Office of Strategic Research and Development“ (OSRD) • James Bryant Conant (Harvard) – Chairman, National Defense Research Committee (NDRC) Militärische Leitung: • General Leslie R. Groves („Manhattan District“, U.S. Army Corps of Engineers) Komplexe Verbindung von Grundlagenforschung und Technik Forschungs- und Entwicklungszentren: • New York: Columbia University – Gasdiffusion / Chemie - (Harold Urey) • Chicago: University of Chicago – “Atomistics” (Arthur Compton, Enrico Fermi) Erste kontrollierte Kettenreaktion • Berkeley: University of California – Teichenbeschleuniger (= Zyklotron) (Ernest O. Lawrence) • Oak Ridge, Tennessee – Isotopentrennung von U235 + U238 mit elektromagnetischen Techniken + Gasdiffusion • Hanford, Washington – Serienmäßige Herstellung von Plutonium Vertragsvergabe: Beilage zum Brief von Bush an FDR, 9. März 1942 Anreicherung von Uran 235 In Oak Ridge, Tennessee Gleichzeitig Plutoniumproduktion – “Transmutation” von U238 in Pu239 in Hanford, Washington Dimensionen der Geheimhaltung • Semantische Tarnung: „Tube Alloys“ • Begrenzte Kommunikation mit den Alliierten • Begrenzte Kommunikation mit dem Congress • Publikationsverbot und begrenzte Kommunikation unter Wissenschaftlern Los Alamos, New Mexiko - die Kräfte werden gebündelt Neue wissenschaftliche Leitung: J. Robert Oppenheimer (ab 1943) Bombendesign: Zusammenführung von Physik und Technik • Bau und Prüfung der Linsen für die “Fat Man”-Bombe Modellskizze der „Implosion“ in einer Plutoniumbombe George Kistiakovsky, Ukrainischer Chemiker Führender Mitarbeiter an der Plutoniumbombe 1945 - Test und umstrittener Abwurf der ersten Atombombe • Einer tritt aus: Joseph Rotblatt • Und die Anderen? Eigenmomentum der Technowissenschaft + tolle Physik • James Franck - 'Franck Report' – Chicago, 11. Juni 1945 - Verbindung politischer und moralischer Argumentation • Die militärische Seite – die Arbeit des “Targeting Committee” geht weiter 'Trinity' - Almogordo, New Mexico 16. Juli 1945 • Oppenheimer: „I am Shiva, destroyer of worlds!“ (Aus dem Bhagavad-Gita) • Kenneth Bainbridge at Almogordo: “Well, now we’re all sons of bitches.” Der Schritt zum Abwurf • Wer entschied was und warum? • Aus Wissenschaftlerperspektive: Bericht des „Interim Committee“, 16. Juni 1945 • Aus militärischer und politischer Perspektive: Henry Stimson (Secretary of War = Verteidigungsminister) + James Byrnes (Secretary of State = Aussenminister) • Präsident Harry S. Truman („The buck stops here.” = “Der schwarze Peter bleibt bei mir”.) • KEIN schriftlicher Befehl aus seiner Hand! • Tatsächliche Entscheidung, politische Verantwortung oder beides? Hiroshima - 6. August 1945 „Little Boy“ Diagram der Hiroshima-Bombe mit U-235 Erstmals „getestet“ beim Abwurf selbst! „Fat Man“ Nagasaki, 9. August 1945 Masuji Ibuse, Schwarzer Regen • „In meines Geistes Auge konnte ich, wie im Wachtraum, die Feuerzungen an den Körpern von Menschen arbeiten sehen.“ Reaktionen der deutschen Physiker • ALSOS – Operation des CIC (Wissenschaftlicher Leiter: Samuel Goudsmit) • Farm Hall (bei Cambridge, England) Aus Farm Hall Bericht Nr. 4 (6. – 7. August 1945) • Otto Hahn: fühlt sich verantwortlich für den Tode unzähliger Zivilisten • Dann aber, an Heisenberg gerichtet: „Auf jeden Fall, Heisenberg, sind Sie eben zweitklassig, und Sie können einpacken“. • Darauf Heisenberg: „Ganz Ihrer Meinung!“ recht • Hahn: „Die sind fünfzig Jahre weiter als wir.“ • Wollen oder können? Aus Farm Hall Bericht Nr. 4 • Später – Heisenberg: „Wir hätten gar nicht den moralischen Mut aufgebracht, im Frühjahr 1942 der Regierung zu empfehlen, 120.000 Mann einzustellen, nur um die Sache aufzubauen.“ • Darauf von Weizsäcker: „Ich glaube, es ist uns nicht gelungen, weil alle Physiker im Grunde gar nicht wollten, dass es gelang. …“ • Hahn: „Das glaube ich nicht, aber ich bin dankbar, dass es uns nicht gelungen ist.“ Zweites Beispiel – das deutsche Raketenprogramm Ursprünge - Träume der Raumfahrt und Wünsche der Artilleristen Dann: Entstehung und Struktur des Programms ab 1936 Deckblatt der Zeitschrift „die Rakete“, 1926 Raketenpionier Hermann Oberth (Mitte) mit Raketenmotor und Designer Klaus Riedel in Berlin (1930). Rechts hinter Riedel: Wernher v. Braun Raketenflugplatz – Testversuch 1932 Der Initiator: General der Artillerie Karl Emil Becker Militärische Leitung: Oberstmajor Walter Dornberger (ab 1943 General) Pennemünde Alles in einem Haus: Forschung, Entwicklung Tests, Serienmäßige Produktion Forschungs- und Entwicklungserfolge • Forschungsdirektor: Werner von Braun • Innovationswege: Zusammenführung von aerodynamischer Grundlagenforschung und Luftfahrttechnik (a) Raketentriebwerk (gesteuerter Treibstoffzufuhr) (b) Kreiselsysteme Werner von Braun 1912 - 1977 Raketentriebwerk mit gesteuertem Treibstoffzufuhr von oben • Eine „A-4“-Rakete wird für den ersten überatmosphärischen Flug vorbereitet, 3. Oktober 1942 3. Oktober 1942 – erster überatmosphärischer Flug einer „A-4“ Rakete (hier: Bild eines späteren Testfluges) • Gratulierungen nach dem erfolgtem Flug (li., Mitte, hinter ihm in zivil Wernher von Braun) Der Kampf um das Programm: zwei Phasen 1. Phase: Kampf unter verschiedenen Programmen um Höhereinstufung beim Rüstungsministerium (Materialbeschaffung usw.) – Hauptbeteiligte hier RLM (Göring) versus RKM (Heer). Entscheidungsträger: RM Speer (Hitler persönlich eingebunden) 2. Phase: Nach Bombardierung des PeenemündeGeländes durch britische Luftwaffe – die SS schreitet ein Hans Kammler - vormals Architekt der Gaskammer in Auschwitz, jetzt Bauleiter der neuen, zerstreuten Werksbauten zum Raketenbau A-4 (V-2) Raketenbauplätze 1943 1944 „Wunderwaffen“ und Sklavenarbeit • Erst ab 1943 spricht NSPropagandaminister Goebbels von „Wunderwaffen“ (infolge der Ausrufung des „Totalen Kriegs“) – V-1 + V-2 (= Vergeltungswaffen“) • Raketenbau im ehemaligen Salzbergwerk bei Nordhausen (Thüringen) – Zwangsarbeiter im Lager „Dora-Mittelbau“ untergebracht Hermann Rudolph Chefingenieur im Werk Mittelbau, später Mitarbeiter von Brauns in den USA Was wäre wenn? Planspiele um Trägerraketen von größerer Reichweite Neuanfang: Das Personal von Peenemünde in White Sands, New Mexico, 1946 White Sands, Dezember 1947 Fazit • Technisierung der Grundlagenforschung, bzw. Grundlagenforschung im Anwendungskontext. Der Krieg als Beschleuniger, nicht Ursache der Wende zur Technowissenschaft und Großforschung überhaupt, aber Ursache der Lenkung dieser Entwicklung hin zur Waffentechnik • Den Schritt zur technowissenschaftlichen Großforschung GAB es im deutschen Atomprojekt NICHT – warum nicht, darf noch gefragt werden! Fazit • Wissenschaften und Wissenschaftler (mitsamt ihrer Instrumente und Forschungspraktiken) als Ressourcen der modernen Kriegsführung Selbst- oder Fremdbestimmung? BEIDES, und zwar gegenseitig! • Warum beteiligten sich die Wissenschaftler? Wollen und Können • Die Verantwortungsfrage präziser stellen: Wessen Verantwortung in welchem Kontext?