Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 Fall 16 K verkauft dem Antiquitätenhändler A aus dem Nachlass seines Onkels für 1.800 € ein Altarblatt, hergestellt von einem Mitglied der Malschule der sog. Praeraffaeliten. Später stellt sich heraus, dass die Darstellung eine Übermalung war und sich darunter ein weitaus wertvolleres Bild des hl. Sebastian aus dem 13. Jahrhundert verbirgt. Kann K anfechten? Abwandlung Nach dem Verkauf stellt K fest, dass sein Onkel das Altarblatt für 3.000 € gekauft hatte. Da ihm der mit A vereinbarte Preis zu niedrig erscheint, möchte er von dem Kaufvertrag loskommen. Ist das möglich? Lösungshinweise Fall 16 A. Grundfall K kann anfechten, wenn ein anfechtbares Rechtsgeschäft vorliegt. 1. Zwischen K und A ist ein Kaufvertrag gem. § 433 über den Verkauf eines Altarblattes, Malschule der Praeraffaeliten, zum Preis von 1.800 € zustande gekommen. 2. Allerdings könnte der Kaufvertrag anfechtbar sein. a) Die erforderliche Anfechtungserklärung (§ 143 I) des K kann noch erfolgen. b) Anfechtungsgegner wäre gem. § 143 II die andere Vertragspartei, hier also A. c) Weiterhin müsste ein Anfechtungsgrund vorliegen. aa) Ein Inhaltsirrtum gem. § 119 I, 1. Alt. liegt nicht vor, da K nicht über die Bedeutung seiner Erklärung irrte. bb) Auch ein Erklärungsirrtum gem. § 119 I, 2. Alt. kommt nicht in Betracht, da es an einem Irrtum in der Erklärungshandlung fehlte. Denn K erklärte genau das, was er auch erklären wollte. cc) In Betracht kommen könnte jedoch ein Eigenschaftsirrtum gem. § 119 II. Der bloße Motivirrtum begründet i.d.R. kein Anfechtungsrecht. Die Regelung des Irrtums über verkehrswesentliche Eigenschaften einer Person oder Sache gem. § 119 II ist eine gesetzliche Ausnahme von diesem Grundsatz. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 (1) Eigenschaften sind alle tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die infolge ihrer Beschaffenheit und Dauer auf die Brauchbarkeit und den Wert der Sache Einfluss haben, also die „wertbildenden“ Faktoren. (2) Die Eigenschaft muss weiterhin verkehrswesentlich sein. Der Begriff der „Verkehrswesentlichkeit“ ist in Lehre und Rechtsprechung umstritten. Die früher herrschende objektive Theorie stellte bei der Beurteilung ausschließlich auf die Verkehrsanschauung ab. Die von Flume (Eigenschaftsirrtum und Kauf, 1948) begründete Lehre vom geschäftlichen Eigenschaftsirrtum verlangt dagegen, dass die Eigenschaft in dem konkreten Rechtsgeschäft als wesentlich vereinbart worden ist, hält aber auch die stillschweigende Vereinbarung für möglich. Im praktischen Ergebnis stimmen beide Ansichten weitgehend überein. Nach dem Sinn und Zweck des § 119 II ist von dem konkreten Rechtsgeschäft auszugehen (BGHZ 88, 246). Aus seinem Inhalt kann sich ergeben, dass bestimmte Eigenschaften wesentlich, andere aber unwesentlich sind. Ergeben sich aus dem Rechtsgeschäft keine besonderen Anhaltspunkte, ist die Verkehrsanschauung Beurteilungsgrundlage. Merkformel: Eine Eigenschaft ist dann verkehrswesentlich, wenn sie aufgrund ausdrücklicher oder stillschweigender Vereinbarung zur Grundlage des Geschäfts gemacht worden ist. Fehlt eine solche Vereinbarung, entscheidet die Verkehrsauffassung. Der Inhalt des Bildes und sein Alter sind verkehrswesentliche Eigenschaften, die zumindest konkludent auch zum Vertragsinhalt geworden sind. Damit liegt ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft und deshalb ein Anfechtungsrecht aus § 119 II vor. d) Die Anfechtungsfrist des § 121 I ist auch noch einhaltbar. Ergebnis: K kann nach § 119 II anfechten. Exkurs: Bei der Anwendung des § 119 II ist - soweit es sich um die verkehrswesentliche Eigenschaft der Sache handelt - das Konkurrenzverhältnis des § 119 II zu den Gewährleistungsvorschriften des Kaufrechts (§§ 434 ff.) zu beachten. Soweit die spezielleren Vorschriften der kaufrechtlichen Gewährleistung eingreifen (also nach Übergabe der Kaufsache), ist eine Anfechtung nach § 119 II ausgeschlossen, da die §§ 434 ff. Sondervorschriften darstellen (leges speciales). Betroffen wird von dieser Regel aber nur die Anfechtung gem. § 119 II, also weder die Anfechtung nach § 119 I noch die nach § 123 (dazu ausführlich Schur, Eigenschaftsirrtum und Neuregelung des Kaufrechts, AcP 204 (2004), 883). B. Abwandlung K kann anfechten, wenn ein anfechtbares Rechtsgeschäft vorliegt. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 1. Zwischen K und A ist ein Kaufvertrag gem. § 433 zustande gekommen. 2. Allerdings könnte der Kaufvertrag anfechtbar sein. a) Erforderlich wäre eine Anfechtungserklärung des Anfechtungsberechtigten K, § 143 I. b) Anfechtungsgegner wäre gem. § 143 II die andere Vertragspartei, hier also A. c) Weiterhin müsste ein Anfechtungsgrund vorliegen. aa) Ein Inhaltsirrtum gem. § 119 I, 1.Alt. kommt nicht in Betracht, da K nicht über die Bedeutung seiner Erklärung irrte. bb) Auch ein Erklärungsirrtum gem. § 119 I, 2.Alt. scheidet aus, da es an einem Irrtum in der Erklärungshandlung fehlt. cc) Eventuell könnte aber ein Eigenschaftsirrtum gem. § 119 II vorliegen. Dann müsste der Wert der Sache eine verkehrswesentliche Eigenschaft darstellen. Dies ist aber abzulehnen. Der Wert einer Sache oder der Preis eines Gegenstandes ist kein wertbildender Faktor, der der Sache anhaftet, sondern das von den Gegebenheiten des Marktes abhängige Resultat der wertbildenden Faktoren. Außerdem entstünde bei einer Anfechtbarkeit wegen des Irrtums über den Wert einer Sache eine zu große Unsicherheit bei den beteiligten Verkehrskreisen. Ergebnis: K besitzt kein Anfechtungsrecht.