Die Bhagavadgita Eine Einführung von Anand Nayak Die Bhagavadgita-Upanishad oder die vom erhabenen Herrn proklamierte Lehre ist ein relativ kurzer Sanskrit-Text von 700 doppelten Versen. Ihr Ruhm aber ist gross. Ungefähr 2000 Übersetzungen in über 75 Sprachen wurden von ihr gemacht, nach der Bibel ist er der meist übersetzte spirituelle Text auf der Welt. In Indien, wo er etwa ein- bis zweihundert Jahre vor der christlichen Zeitrechnung komponiert wurde, hebt er sich ab als populärster Text im hinduistischen religiösen und spirituellen Kontext, gesungen und gehört, gelernt und kommentiert, gebetet und meditiert von Millionen Menschen aller Kasten und Glaubensbekenntnisse. jeder einzelne Satz wurde im indischen Volk sorgsam bewahrt. 1. Ein volkstümlich-spiritueller Text im Okzident Einer der modernen westlichen Sachverständigen der Bhagavadgita, R. C. Zaehner, glaubt, dag dieses Werk im Okzident ebenso bekannt ist wie in Indien (Concordant Discord, Oxford 1970). Wie immer man diese Aussage bewerten mag, es ist unbestreitbar, dag diese Verse fasziniert haben und weiterhin den Geist vieler seriöser Leser, welche mit dem Hinduismus konfrontiert werden, fesseln. Obwohl dem Text in Europa eine frühe Annahme durch die persischen Islam-Gelehrten wie Al-Biruni (973-1048) und Dara Shukoh (1615-1659) bereitet wurde, erschien die erste Obersetzung vom Sanskrit ins Englische erst 1785 von Charles Wilkins (1749-1836). In dieser Zeit wurde der Weg für indologische Studien geöffnet dank der Stiftung der Asiatischen Gesellschaft von Bengalen (1784). William Jones (1746-1794), Gründer dieser Gesellschaft, war stolz, im Westen zum ersten Mal einen spirituellen Klassiker Indiens präsentieren zu können: ,Wenn Sie wünschen, sich eine korrekte Vorstellung der indischen Religion und Literatur zu machen, müssen Sie damit beginnen, alles zu vergessen, was zu diesem Thema von Alten oder Modernen geschrieben wurde vor der Publikation der Gita." Dem britischen Empire war es so wichtig, der Hindu-Welt zu zeigen, wie sehr es dessen religiöse Vorstellungen schätzte, dag der Generalgouverneur Warren Hastings ein würdiges Vorwort schrieb. Die deutschsprachige Literaturwelt entdeckte die Bhagavadgita während der Romantik, speziell durch den Enthusiasmus der zwei Schlegel-Brüder Friedrich (1772-1829) und August Wilhelm (1767-1845). Der letztere brachte 1823 die erste kritische Ausgabe und eine lateinische Obersetzung heraus: Bhagavadgita, id est Thespesion Melos sive Almi Chrisnae et Arjunae Colloquium de Rebus Divinis, Bharateae Episodium. Er meinte, dag das Latein die Gedanken der Bhagavadgita besser wiedergebe als das Deutsch oder eine andere europäische Sprache. Die Klangfülle der lateinischen Sprache verstärkt sicher diese Hypothese: In campo sancto, Kuruis campo, congressi proeliabundi nostrates Panduidaeque quid fecerunt, o Sanjaya? Diese Übersetzung war lange Zeit massgebender Text für Bhagavadgita Studien. Der Baron Wilhelm von Humboldt (1767-1835) begann 1821 Sanskrit zu studieren, obwohl er zu dieser Zeit bereits Minister für Erziehung in Preussen war. In einer der wichtigsten Studien zur Bhagavadgita dankte er Gott, dag er lange genug habe leben dürfen, um dieses inspirierte Werk lesen zu dürfen. Er pries es als, vielleicht tiefste und erhabenste Wirklichkeit, welche die Welt uns bieten kann". Dieses Lob wurde dann sehr begeistert von G. W. F. Hegel (1770-1831) aufgenommen, welcher 1827 einen ausführlichen Überblick von beinahe einhundert Seiten in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik geschrieben bat. Die Weltsicht zur Bhagavadgita und ihre Konzepte von Maya, Yoga, Meditation wie auch die Rolle Krishnas fesselten offenbar Hegels Geist. Dieser Anfangsentdeckung folgten rasch Übersetzungen zahlreicher Sanskrit-Werke sowie kritische Studien dazu, so viele und so gute, dag der berühmte indische Sanskrit-Spezialist V. Raghavan Deutschland betreffend bemerkte: ,Ausserhalb Indiens kann man ohne Obertreibung sagen, dag dies die zweite Heimat des Sanskrit ist" (Sanskrit and Allied Indological Studies in Europe, 1956). Die erste vollständige Obersetzung in Deutsch wurde 1834 von C. R. S. Peiper in Leipzig unter dem Titel: „Bhagavadgita oder Das Hohe Lied des Indus" publiziert. Es war eine Obersetzung in Versform mit Bemerkungen, die sprachliche, mythologische und philosophische Aspekte des Textes erläuterten. Es folgte eine ganze Serie weiterer Übersetzungen, bis heute ungefähr dreissig an der Zahl, ohne die Teilübersetzungen zu zählen. Weitere Übersetzungen sind seither erschienen und erscheinen noch, einige von deutschen Indologen direkt aus dem Sanskrit. Andere, wie die vorliegende Obersetzung, sind deutsche Wiedergaben aus dem Englischen, erarbeitet von berühmten spirituellen Meistern. J. W. Hauer, ehemaliger Missionar in Indien und Sanskritgelehrter, welcher unter jenen war, die den Yoga im Okzident bekannt machten, sieht in der Gita wesentliche Elemente der indogermanischen Religiosität. Er schrieb in seinem Werk mit dem Titel Eine indo-arische Metaphysik des Kampfes und der Tat. Die Bhagavadgita in neuer Sicht (Stuttgart 1934, S. VI): „Die Bhagavadgita gibt uns nicht nur tiefe, für alle Zeiten und für alles religiöse Leben gültige Einsichten, sondern sie enthält auch im besonderen die klassische Gestaltung einer der bedeutendsten Phasen indogermanischer Glaubensgeschichte ... Und wenn wir auch davor warnen müssen, diese Gestaltung vorbehaltlos zu übernehmen ... so sind wir dock davon überzeugt, dag ... auch die Bhagavadgita uns auf das Wesen und den Grundcharakter indogermanischer Religiosität hinweist.“ Für Aldous Huxley (1894-1963) ist die Bhagavadgita die klarste Zusammenfassung dessen, was er die philosophia perennis nennt, etwas, das allen Religionen und alten Texten gemeinsam ist, die grundsätzliche Beziehung zwischen Gott, dem Menschen und dem Universum: „Die Gita ist eine der klarsten und reichhaltigsten Zusammenfassungen der philosophia perennis, die je gemacht worden sind. Daher ihr andauernder Wert, nicht nur für die Inder, sondern für die ganze Menschheit ... Die Bhagavadgita ist vielleicht die systema tischste vergeistigte Darstellung der philosophia perennis“ (Vorwort zu Svami Prabhavananda and Christopher Isherwood, Bhagavadgita, 1945). Die Person jedoch, die vermutlich am meisten zur Popularität dieses Werkes in der heutigen Zeit im Westen beigetragen hat, ist der britische Regisseur Peter Brook, dessen Mahabhârata mit weltweiter Begeisterung aufgenommen wurde. Die dramatische Adaptation aus dem Epos, aus welchem die Bhagavadgita entstanden ist, dauert neun Stunden, eine ganze Nacht, wie in den dramatischen Traditio nen Indiens. Es wurde dem Publikum in einer französischen Version wahrend des Filmfestivals von Avignon 1985 vorgestellt, dann kam die englische Fassung, die weltweit lief. Den Film gibt es inzwischen auch in der Video-Version. Das Werk ist ein wunderbares Beispiel für die Art, wie ein grosses indisches Thema einem universellen Kontext angepasst werden kann, ein Beispiel für die religiöse Inkulturation. 2. Die Bhagavadgita im Hinduismus Wenn der Okzident mit vollem Recht den Wert dieses spirituellen Werkes erkannt bat, so gibt es doch keinen Vergleich mit dem, was es für die Hindus in ihrem Alltag bedeutet. Ein frommer Hindu liest daraus Passagen, meditiert gewisse Verse, die er auswendig gelernt hat, oder hört in frommer Art jeden Tag Lesungen daraus. Bei gewissen Anlässen singt man den ganzen Text. Diese meditativen Rezitationen haben so den Geist dieser religiösen Nation seit Jahrhunderten geformt. In diesem Sinn kann man sagen, dag die Bhagavadgita für den Hinduismus die gleiche Bedeutung hat wie das Neue Testament für das Christentum, die Tora für die Juden und der Koran für die Muslime: Man macht im religiösen Bereich nichts, ohne sich auf diesen fundamentalen Text zu berufen, kein Ereignis der Geschichte geschieht, ohne dag es mit einem dieser Verse in Verbindung gebracht wird. Viele kennen dank häufiger, regelmässiger Rezitation den. ganzen Text auswendig, und manche der vielen begabten Brahmanen rezitieren ihn auch vom letzten bis zum ersten Vers! In den Hindu-Familien wird dieses Buch respektiert wie dasjenige eines grossen spirituellen Meisters und bei gewissen Gelegenheiten mit Gesten und Worten verehrt. Für die Hindus, die sie liebevoll, „Gita“ nennen, ist dieses Werk nicht nur ein heiliger Text, sondern die liebende Mutter, „die einst der Welt durch die Weisen offenbart wurde“, ,,welche die Finsternis zerstreut und das Licht der wahren Erkenntnis vergisst“, „welche die menschlichen Wesen von der endlosen Kette der Wiedergeburten befreit“. Ihr Einfluss lässt sich nicht nur in den spirituellen und religiösen Bereichen des Lebens ausmachen, sondern auch in der Politik und in den Entwicklungsarbeiten. Mahatma Gandhi (1869-1948) schrieb ihr die Stärke und die Hartnackigkeit seines politischen Schaffens zu (Mahatma bedeutet, die grosse Seele', Grundgedanke der Upanishaden, die der Gita entnommen wurden). 1925 mitten in seinem Kampf um die Befreiung des Landes, schrieb Gandhi in seiner Zeitung Young India: „In der Bhagavadgita finde ich einen Trost, den ich selbst in der Bergpredigt vermisse. Wenn mir manchmal die Enttäuschung ins Antlitz starrt, wenn ich, verlassen, keinen Lichtstrahl erblicke, greife ich zur Bhagavadgita. Dann finde ich hier und dort eine Strophe und beginne alsbald zu lächeln inmitten aller niederschmetternden Tragödien - und mein Leben ist voll von äusseren Tragödien gewesen. Wenn sie alle keine sichtbare, keine untilgbare Wunde auf mir hinterlassen haben, verdanke ich dies den Lehren der Bhagavadgita“ (1925, S. 1078 f.). 1910, einige Jahre vor dieser Entdeckung durch Gandhi, bat Lokamanya Tilak (18561920), ein anderer Kämpfer um die indische Befreiung, seinen Kommentar zur Gita unter dem Titel Gita Rahasya oder Das Geheimnis der Gita publiziert. Er las sie als Botschaft der Freiheit. In einer seiner öffentlichen Reden sagte er: „Die Bhagavadgita sagt euch, dass dieser unvergängliche Atman nicht durch Waffen oder durch das Feuer zerstört werden kann. Das, was die religiöse Philo sophie Atman nennt, heisst in der politischen Wissenschaft Freiheit. Atman existiert in allen Herzen, und ich erwecke lediglich das Bewu9tsein seiner Gegenwart in euch" (D. V. Tahmankar, Lokamanya Tilak, S. 236). Die unerhörte Popularität dieses Buches, in den Städten und in den abgelegensten Dörfern seit jahrhunderten gesungen und gespielt, ist jetzt selbst in die Medien eingedrungen. Der Mahabhârata hat die ganze indische Nation voll Bewunderung während mehr als drei Jahren durch ein Feuilleton, jeweils am Sonntagmorgen am Fernsehen, in Atem gehalten. Ein journalist des Tages-Anzeigers schrieb voll Begeisterung: „Wenn die 'Mahabharata'-Stunde schlägt, stehen in Indien alle Räder still. Seit Oktober 1988 hält dieser TV-Dauerbrenner rund 200 Millionen von Indern in Bann: Alte und junge, Arme und Reiche, Städter und Bauern, Hindus und Muslime, alle wollen miterleben, wie es weitergeht mit dem Machtkampf zwischen Pandavas und Kauravas, den verfeindeten Vettern. Sogar der Premierminister musste sich fügen und einen Besuch in Bhopal verschieben: Sonntags zwischen 9 und 10 Uhr hätten die Organisatoren keine jubelnde Menschenmenge zur Begrüssung zusammentrommeln können“ (TA 18.5. 1990). Indes, dieses Werk, das soviel Freude in das Leben von Millionen von Hindus und Nicht-Hindus bringt, gehört nicht zu der Kategorie der grössten religiösen HinduTexte, wie die Sruti oder die Offenbarungsbücher (wie die Veden oder die Upanishaden), deren Quelle göttlichen Ursprungs zugeschrieben wird, sondern derjenigen der Smrti oder Kommentaren menschlichen Ursprungs. In der Praxis jedoch erfreut sich die Gita einer Autorität und eines Respekts, die mit denen der grössten Offenbarungstexte vergleichbar sind. Sie gehört zu dem Bestand, den die gebildeten Hindus prasthana traya oder die drei Subjekte nennen, welche die Autorität ausmachen (mit den Veden und den Upanishaden) und zu denen man von jedem authentischen und bekannten Theologen einen Kommentar fordert. Aus diesem Grund haben so viele indische Meister Kommentare publiziert. Diese Tradition der Gelehrsamkeit besteht noch heute. Zahlreiche Lehrer haben in Indien ihre Kommentare herausgebracht und gelehrt, und so ist bis zum heutigen Tag eine fromme Tradition entstanden. Über dreihundert derartiger berühmter Kommentare können heute in Sanskrit aufgezählt werden; nicht zu reden von all denen, die in anderen indischen Sprachen oder weiteren Sprachen der Welt existieren. Die Gita geniesst den Vorteil gegenüber den Offenbarungstexten durch die Tatsache, dag ihre Rezitation und ihr Studium nicht den Eingeweihten vorbehalten ist, wie dies bei den letzteren der Fall ist. Im Gegenteil, sie ist allen zugänglich, Männern und Frauen, bis hin zum letzten Paria und den Kastenlosen. Es ist also das einzige Werk, das allen Indern aller Kasten und aller hinduistischen Sekten, die ihren Inhalt und die Autorität einstimmig anerkennen, gemeinsam ist. 3. Eine „Zusammenfassung“ des Mahabharata Die 18 Kapitel des Mahabharata (Kapitel 25 bis 42 des Buches VI mit dem Titel Bhishma Parvan), welche die Bhagavadgita bilden, sind in den Augen der Hindus eine perfekte Zusammenfassung der 18 Bücher der gewaltigen Epen, welche vom grossen Krieg der 18 Tage berichten. Die Zahl 18 bat im Hinduismus eine besondere Bedeutung: ein Werk, geteilt in 18 Teile, ist ein komplettes, ausgeschöpftes, perfektes Werk. Der Mahabharata ist demnach die umfassende Geschichte eines Krieges, einer Nation. Man muss hier indes den Begriff Geschichte in seinem umfassendsten Sinn verstehen, das riesige Stücke der Mythologie, der Philosophie, der Riten und der Informationen von unzähligen Künsten und Disziplinen einschliesst. Auch in ihrer Zusammenfassung ist die Bhagavadgita so mit ihren 18 Kapiteln vollständig. Das entspricht selbstverständlich nicht unserer Auffassung von Zusammenfassung; es ist gewiss nicht eine Zusammenfassung des Textes des gesamten Epos. Aber es ist so etwas wie ein Resümee all dessen, was der Mahabharata an Wesentlichem bekräftigen will, eine Übersicht all seiner fundamentalen Lehren. Der Hindu findet in der Gita alles, was den Hinduismus ausmacht, alles, was gelehrt wird. 3.1 Die Geschichte des Mahabharata „Mit seinen 90 000 Versen ist der Mahabharata die längste Episode in der weltweiten Literatur“, sagte Mircea Eliade. Nach M. Winternitz (1863-1937), der uns eine schöne und präzise Zusammenfassung des Epos in seiner Geschichte der indischen Literatur (Leipzig 1908-20) gibt, ist dieses monumentale Werk in der Zeitspanne vom 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zum 4. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung erschaffen werden. Wir kennen den oder die Autoren nicht. Die indische Literatur im allgemeinen und die religiöse Literatur im besonderen tragen den historischen Elementen des Raumes und der Zeit - Elementen, die von ihrem Standpunkt aus materieller Natur sind und deshalb der Sphäre einer vorübergehenden Existenz angehören - absolut keine Rechnung. Die Tradition bezeichnet jedoch einen gewissen Vyasa als Autor. Aber dies ist eher ein symbolischer Name, der mehr, Autorität" vermittelt als eine historische Persönlichkeit. Ein Autor oder eine besondere Gemeinschaft, die dieses Werk Vyasa zuschreiben, verbinden es mit einer „übermenschlichen Quelle", die ihm Autorität verleiht. Deshalb werden die meisten der fundamentalen Werke der hinduistischen religiösen Literatur Vyasa zugeschrieben. Der vollständige Titel des Epos ist Maha-bharata-yuddha oder der grosse Krieg der Bharatas, dessen Abkömmlinge die Kurus sind. Diese sind gespalten in zwei Familien von zwei Brüdern, die gegeneinander Krieg führen. Der ältere Bruder Dhritarashtra, der blinde König mit seinen hundert Sühnen, Duryodhana und die 99 anderen, bilden das Lager der Kaurava. Der jüngere Bruder, Pandu, gestorben in jungen Jahren, hinterlässt fünf Sühne: Yudhishthira, Arjuna, Bhima, Nakula und Sahadeva. Diese letzteren bilden das Lager der Pandava. Weil Dhritarashtra blind geboren worden war, hätte sein jüngerer Bruder Pandu normalerweise König werden sollen. Sein frühzeitiger Tod zwang aber Dhritarashtra zu regieren, bis der älteste Sohn von Pandu, Yudhishthira, alt genug war, dies zu tun. Jedoch sein eigener ältester Sohn, Duryodhana, den die Idee, die Königswürde eines Tages an die Familie seines Onkels Pandu abtreten zu müssen, beunruhigte, versuchte die Macht zu behalten, indem er Komplotte gegen seine Vettern anstiftete. Als seine tödlichen Pläne nicht zum Ziel führten, lud er seinen Vetter Yudhishthira zu einem Würfelspiel ein. Der böse Prinz Duryodhana profitierte von der Schwäche seines Vetters für Glücksspiele und schaffte es, mit Hilfe gezinkter Würfel zu gewinnen; er zwang seinen Vettern die Bedingungen der Niederlage auf: zwölf Jahre in der Verbannung im Wald und ein dreizehntes Jahr inkognito zu leben. Als diese Strafe einmal verbüsst war, schickten die fünf Brüder ihren Botschafter, einen gewissen Krishna, dessen Bekanntschaft sie im Wald gemacht hatten, zu Duryodhana, uni das Königreich zu verlangen oder mindestens einen Teil davon. Nach einer brutalen Zurückweisung dieser Forderung und nach dem Misserfolg aller Versuche, einen Kompromiss zu finden, brach der Krieg zwischen den beiden Familien aus. Zu diesem Zeitpunkt beginnt der Text der Bhagavadgita. Dhritarashtra in seinem Palast, blind wie er ist, wünscht sich, den Kampf zu beobachten. Sein Gehilfe Sanjaya hat die aussergewöhnliche Gabe der Hellseherei. Auf die Bitte des Königs, seines Meisters, beginnt er die Bewegungen der beiden Armeen zu schildern. 4. Die Übereinstimmungen der Geschichte Es ist klar, dag die „Geschichte“ in der Bhagavadgita absolut zweitrangig ist, ebenso das ganze Epos der Mahabharata. Sie ist wichtig für die Struktur, die bestimmt von der reichen spirituellen Lehren mit ihren harmonischen Grossartigkeiten, die voller Sinn und Symbolismus sind. Die Hindus lesen die Bhagavadgita auf verschiedenen Ebenen. Für jene, die keine Ausbildung haben und die nicht vorbereitet sind, die spirituelle Botschaft zu erfassen, ist die Gita nur eine Erzählung, die Geschichte eines Familienkrieges, ein Kampf zwischen den machtgierigen Prinzen und dem gerechten Erben des Thrones. Der gleiche Text enthält jedoch eine andere Geschichte, die eine höhere Ebene beschreitet - ja es gibt sogar mehrere Ebenen des Verstehens. Ihre Bedeutung erschliesst sich im Herzen dessen, der bereit ist, wahrzunehmen. Dort wohnt die spirituelle Botschaft der Gita. Der allererste Vers der Bhagavadgita legt schon solche Übereinstimmungen nahe: Als sie auf dem Feld von Kurukshetra versammelt waren, dem Felde der Ausarbeitung des Dharmas, ungestüm zur Schlacht drängend, was taten sie da, o Sanjaya, mein Volk und die Pandavas? Die Übersetzung kann die Nuancen der Sanskrit-Begriffe nicht vollständig zum Ausdruck bringen. Das Schlachtfeld der Kurukshetra ist nämlich dasjenige des Dharmas, des kosmischen, universellen Gesetzes, das die Gesamtheit der sichtbaren und der unsichtbaren Welt und aller Wesen, welche diese enthält, findet und leitet. Was sich hier an diesem kleinen geographischen Ort abspielt, ist nur ein Bild für das, was auf dem, Feld des Dharmas geschieht. Die Soldaten sind eifrig im Kampf wie die tiefen Kräfte des Menschen, die Wünsche und die Leidenschaften, die überschäumen, um ihre Ziele zu erreichen. Der Ausdruck mein Volk (mamaka) kann im Herzen eines Hindus die Bedeutung eines egoistischen Geisteszustandes (aham) wachrufen; im Gegensatz zum Wort Pandava, das Reine, der klare Intellekt (buddhi), welcher den Egoismus überwindet. Die Hindus lesen in der Bhagavadgita mindestens drei, wenn nicht gar vier Bedeutungsebenen, und jede verläuft in ihrem eigenen Raster, in gewisser Weise liegt eins über dem anderen. Während auf dem historischen Plan das geschieht, was die Worte mitteilen, liegt die zweite Ebene in der tiefen psychologischen Intrige, die im Spiel der Namen und im Symbolgehalt der Darsteller aufscheint. Der gute Dhritarashtra (jener, welcher die Einheit der Nation sichert = Dharma) ist blind; sein Bruder Pandu (der Reine - Buddhi) ist tot. Der blinde Dharma bringt die Schlechtigkeit, die Vielfältigkeit und die Konfusion hervor (Duryodhana, derjenige, der einen bösen Plan hat, und seine 99 Brüder, d. h. Vielfalt und Konfusion). Die fünf Brüder (die fünf Sinne), obwohl ihres Intellekts (buddhi) beraubt, haben eine Mutter, Kunti (spitz = Geist). Der hier geführte Kampf ist derjenige, welchen die Sinne und/oder das Mentale andauernd gegen die tiefen Leidenschaften, den Egoismus und die Verwirrung führen. Das ist Dharma, geistiger und religiöser Kampf, der alles unterstützt, vor allem die Mitglieder der fürstlichen Masse, welcher diese Rolle des Kampfes ganz besonders zufällt. Die Klasse der Priester, jene der Brahmanen, wird aber nicht vergessen. Die Bhagavadgita ist auch ihre Geschichte, jene der in ewigen Kriegen engagierten Götter. Dort liegt die dritte Bedeutungsebene, denn all diese Persönlichkeiten sind Reinkarnationen verschiedener vedischer Götter: Duryodhana inkarniert den Dämonen Kali, während die fünf Brüder die Inkarnation des Dharmas, des Vayu, der Indra und der zwei Asvins sind. Eine vierte Ebene der Bedeutung, der höchste spirituelle Sinn, kann gelesen werden auf dem Niveau der tiefsten Existenz, derjenigen des Atman, dem Selbst, Zeuge und Beobachter all dessen, was vergänglich und vorübergehend ist, eine Bedeutung, die nicht mehr mit Worten ausgedrückt werden kann. Diese Komplexität des Symbolismus charakterisiert den Reichtum der Bhagavadgita. Die spirituellen Meister des Hinduismus, die verstehen es, in ihren Interpretationen alle Färbungen und Nuancen dieser lebenden Metapher, welche die Gita ist, hervorzuheben. Da es sehr schwierig ist, auf die komplexen psychologischen, theologischen und spirituellen Bereiche im Rahmen einer Einführung einzugehen, begnügen wir uns mit der Entdeckung der ersten Ebene, der historischen, welche allen Lesern dieses Textes gemeinsam ist, wohl wissend, dass ihr spiritueller Wert nicht immer durch eine einfache Textanalyse zum Ausdruck kommt. 5. Der Inhalt: einige wichtige Themen der Bhagavadgita Der englische Indologe, E. W. Hopkins, der sich in der Vielfältigkeit der in der Bhagavadgita enthaltenen Ideen verlor, behandelte sie als, Raum, der angefüllt ist mit primitiven philosophischen Ansichten". Dies ist genau der Eindruck, den ein Leser haben kann, wenn er die Gita wie eine Zeitung liest. Der aufmerksame Leser jedoch, der bereit ist, bei den Versen zu verweilen und sie zu meditieren, der den Mut bat, alle Kapitel zu lesen, wird vermutlich das sagen, was R. C. Zaehner der Gita attestiert: ,Erst nachdem ich mehrere Jahre die Gita unterrichtet habe, erschien es mir mit jeder neuen Lesung, als hätte sie eine weit grössere Einheit, als die meisten modernen Forscher ihr zugestehen wollten" (The Bhagavadgita, Oxford 1969, S. 2). Wir haben gesagt, dag die Hindus die Gita als Zusammenfassung der Mahabharata und selbst des Hinduismus betrachten. Alle Hindus lesen darin ihre eigenen Ideen und Tendenzen. Und die Gita eignet sich hervorragend dafür. Konsequenterweise haben die hinduistischen Kommentatoren Interpretationen gegeben, die je einen einheitlichen Gedanken hervorheben, indem sie die Gita etwa auslegen im Sinn der Nicht-Dualität (advaita) oder einer Dualität (dvaita) oder ganz einfach als Liebe (bhakti). 5.1 Bhakti oder Gottesliebe Die Autoren der Gita, welche der Tradition der Bhagavatas angehörten, haben hier ebenso - wie in den späteren Werken z. B. in der Bhagavata Purana - versucht, ihre eigenen fundamentalen Lehren der Bhakti mittels hinduistischer Ideen und Kategorien zu vermitteln. In der gleichen Linie liest ein moderner Bhagavan, Swami Bhaktivedanta (der berühmten Bewegung Hare Krishna, das „Krishna-Bewusstsein" überall und in allem. Wie dem auch sein mag, die Bhakti ist ohne Zweifel die Botschaft der Bhagavadgita. Wie W. D. P. Hill in seiner brillanten englischen Übersetzung bemerkte: „Nie würde ein Autor ein friedliches Werk von einem solch tiefen Verständnis in einem ebenso unverträglichen Geist komponieren. Nicht ein Körnchen des von Krishna erhobenen Anspruches, das höchste Wesen, alles zu sein, schlägt sich nieder" (Bhagavadgita, S. 16). Der Begriff Bhakti ist von der Sanskrit-Wurzel bhaj abgeleitet, welche teilnehmen bedeutet. Aus dieser Wurzel kommt der Begriff Bhagavan, der grösste Titel, den die Hindus Gott geben und den man allgemein mit der Erhabene übersetzen kann. Man muss diesen Titel im eigentlichen Sinn des Wortes nach der Bhagavan verstehen, d. h.: jener, der teilnimmt. Die Idee der Teilnahme wird im Symbol der Sonne versinnbildlicht, diese lichtvolle Quelle, welche in den Himmel und überall hin prachtvoll ausstrahlt. Kann man etwas für die Sonne tun? Kann man durch irgendwelche Bemühungen ihre Pracht erhöhen? Solche Fragen ergeben keinen Sinn. Dies lägt sich exakt auf Bhagavan anwenden. Er nimmt teil an allem, was das Lebewesen ist und tut. Man kann für Gott nichts tun. Das einzige, was man tun kann, ist an diesem Ruhm teilhaben. Man kann ein Sonnenbad nehmen - man kann seinen Ruhm und sein Licht erkennen. Das ist Bhakti, die Teilnahme. Derjenige, der sich in Abhängigkeit dieses widerstrahlenden Bhagavan begibt, nennt sich Bhakta und die proklamierte (Gita) Lehre (upanishad) des Ruhmvollen Herrn (Bhagavan) ist die Bhagavadgita-upanishad. Wir haben hier eine Spiritualität, die auf der Beziehung zwischen dem Allmächtigen, dem Absoluten und der vollendeten Welt, den vollendeten Wesen basiert. Obwohl man die Wurzeln einer solchen Spiritualität in den ältesten hinduistischen Texten, den Veden, findet, ist die Bhakti als solche vor allem durch die Bhagavadgita, den Kult des Sonnengottes Narayana und seinen Frommen, genannt Bhagavatas, „jene des Bhagavan", illustriert. Ihre Spiritualität und ihre Religiosität zielten nicht nur auf die Verwirklichung des Absoluten, sondern auch auf die Erfahrung eines tiefen Gefühls der Liebe, hervorgebracht durch die ruhmvolle Quelle, welche ihrerseits ebenfalls die Anerkennung ihrer Frommen erbat und schätzte. Diese Spiritualität der Beziehungen bat sich im Hinduismus bis zu dem Punkt entwickelt, wo sie zu einer starken monotheistischen Strömung wird, wie das die Gita selbst in den Kapiteln 9 und 18 bestätigt. Die Bhakti, deren Lob hier gesungen wurde, ist nicht nur die Frömmigkeit, wie sie in vielen Übersetzungen bezeichnet wird. Es ist eine strahlende Macht, der widerscheinende Ruhm, die unentgeltlich verschwendete Gottesliebe, freiwillig wie die Sonne, von der das Wesen, welches ihren wirklichen Wert erkannt bat, abhängen kann. Das ist die Geliebte, die von der verschlingenden Liebe ihres Geliebten abhängt. Der deutsche Begriff, der dem am nächsten kommt, heisst Hingabe, eine gegenseitige Hingabe. Die Gita wird nicht müde, dies in allen Kapiteln und speziell im Kapitel 18, das ihren Höhepunkt bildet, zu repetieren. So führt die Bhagavadgita eine Revolution im Hinduismus ein: nicht durch ein luxuriöses und kostspieliges vedisches Opfer (wie es der Brahmanismus proklamiert und gelehrt bat) gefällt man Gott, sondern durch die Einfachheit einer Gabe, dargebracht in vollkommener Abhängigkeit der Liebe: Wer Mir mit Hingabe ein Blatt darbringt, eine Blume, eine Frucht oder einen Becher des Wassers willkommen ist Mir das mit Liebe gegebene Opfer der strebenden Seele (IX, 26). Ein anderer charakteristischer Aspekt der Gita ist, dag Bhagavan nicht immer durch den Glanz seines Ruhmes aufersteht. In seiner Liebe nimmt er es auch auf sich, denjenigen zu Hilfe zu kommen, die ihn in einfachen Formen (avatara oder Herabkunft) lieben. Krishna, dessen Unterstützung die Pandavas suchten, war in ihren Augen ein geschickter Wagenführer, doch er gab sich nach und nach dem Krieger Arjuna als Höchster Gott zu erkennen, eine Offenbarung, die, von den unpersönlichen vedischen und upanishadischen Konzepten ausgehend (Kap. I; IV), sich über gigantische kosmische Visionen (Kap. XI) zu einer persönlichen, intimen Beziehung (Kap. XVIII) entwickelt. Für die Gita bleibt diese persönliche Beziehung der Bhakti das letzte Kriterium des Heils, trotz aller kosmischen Gesetze, die ihre Macht und ihren Einflug auf die Menschen ausüben. 5.2 Der Yoga und die Yogas Das erste Kapitel beschreibt den unmittelbaren Kontext der Gita: die zwei Armeen, versammelt zum Kampf, geben ein Bild des Tumultes und der Verwirrung ab. Die Mannigfaltigkeit der durch den Krieg und das Gemetzel aufgeregten Wesen illustriert perfekt das im Leichtsinn, in der Konfusion und in der Suche nach materiellem Vorteil und Berühmtheit verlorene Leben. Trotzdem kann man weder heuchelnd vorgeben, diese Realität des Lebens zu ignorieren, noch versuchen, sie zu umgehen, um die Probleme zu lösen. Arjuna, Oberhaupt der Pandava, befiehlt seinem Wagenführer in Begriffen, die für die Hindus sehr sinnerfüllt geworden sind: „Führe meinen Wagen mitten in den Kampf" (I, 21). Nur indem man die Situation hier und jetzt voll akzeptiert, kann man eine Linderung erhoffen. Aber der folgsame Krieger ist plötzlich niedergeschlagen und mutlos. Er steht sich seinen eigenen Vettern, Onkeln und Meistern gegenüber. Wie kann er sie töten? Er entscheidet sich also, nicht zu kämpfen: Als er alle diese Verwandten kampfbereit dastehen sah, wurde Kaunteya (Arjuna) von tiefem Mitleid ergriffen. Traurig und niedergeschlagen äusserte er sich wie folgt. Arjuna sprach: Wenn ich hier meine eigenen Verwandten in Schlachtordnung vor mir sehe, o Krishna, werden meine Glieder schwach, mein Mund dörrt mir aus, mein Leib erzittert, und me ine Haare sträuben sich. Der Bogen (Gandiva) entgleitet meiner Hand, und meine ganze Haut scheint zu brennen. Ich kann nicht mehr aufrecht stehen, und mir dreht sich der Kopf. Auch sehe ich widrige Vorzeichen, o Keshava (I, 28-30). Sanjaya sprach: Gudakesha, der Schrecken seiner Feinde, der so zu Hrishikesha ge redet hatte, sagte noch: „Ich will nicht kämpfen!" Dann schwieg er (II, 9). Der seinen Wagen lenkende Krishna setzt an, zu ihm zu sprechen, und so beginnt der Gesang des ruhmvollen Herrn: Zu ihm, o Bharata, der so niedergeschlagen und entmutigt war, sprach nun zwischen den beiden Heeren Hrishikesha. Und es war, als ob er dabei lächelte (II, 10). Der Erhabene sprach: Du beklagst die, welche man nicht beklagen sollte, - und doch redest du Worte der Klugheit. Der erleuchtete Mensch betrauert weder die Lebenden noch die Toten (II, 11). Von diesem Augenblick an werden alle Worte und Taten Krishnas zu einer langen Lehre, die er dem Krieger vermittelt, um ihn zum Weiterkämpfen zu motivieren, ihn zu ermutigen, die Waffen zu nehmen und einen gerechten Krieg zu führen. Ist es aber nicht schockierend, dass der allmächtige Gott selbst einen Krieger, der aus Mitleid mit den Seinen die Lust zum Kampf verloren bat, zum Kampf ermutigt? Was bedeutet die Tatsache, daf3 Gott selbst zum Morden und Metzeln ermutigt? Um die spirituelle Logik der dahinterliegenden Haltung zu verstehen, muss; man zunächst sehen, welche Vision von der Welt, welche Bedeutung und welches Ziel das Leben und die Existenz nach der Bhagavadgita haben. Nur auf diesem Hintergrund können wir hoffen, diese Ermutigung zum Krieg durch Krishna verstehen zu können, ebenso wie viele andere Reden, die auf den okzidentalen Leser konsternierend wirken. Diese "Niedergeschlagenheit" Arrunns wird als ein „Yoga" betrachtet. So trägt auch jede andere Instruktion, die in den 18 Kapiteln präsentiert wird, einen Yoga-Titel: Yoga der Werkentsagung (Kap. V); Yoga der Besinnung (Kap. VI); Yoga der Offenbarung (Kap. X); Yoga der Unterscheidung von Feld und Kenner des Feldes (Kap. XIII) usw. bis zum Yoga des Entsagens der Befreiung (Kap. XVIII). Der Begriff Yoga wird hier natürlich in seiner breitesten Bedeutung verwendet. Abgeleitet von der Wurzel Yuy, bedeutet er einigen, verbinden (nahe dem Deutschen jochen, lateinisch jungere). All diese Kapitel der Gita, all diese Yogas, reden also von der Situation und den Problemen des konkreten Lebens, in dem die menschlichen oder göttlichen Individuen mit dem Absoluten in Beziehung treten können, Situationen der Entmutigung, Taten gegen die uns Nahestehenden, die Suche nach der Erkenntnis, des göttlichen Schöpfungsaktes und die Manifestation oder das letzte Verzichten, welches zur Befreiung führt. Die Bhagavadgita kennt auch den Yoga der Körperhaltungen (asanas), die Kontrolle der Atmung (pranayama) und die Meditation (dhyana) [vgl. Kap. 6, 11-15]. Sie lobt jedoch nicht einen übertriebenen hatha-yogischen Einsatz, sondern eher einen ausgeglichenen gesunden Yoga: ,Dieser Yoga ist wahrlich nichts für einen, der zu viel isst oder zu viel schläft; und ebenso, Arjuna, ist er auch nichts für einen, der auf Schlafen und Essen verzichtet" (VI, 16). Zusammenfassend kann gesagt werden, alles, was zur höchsten Wahrheit und Wirklichkeit führt, ist für die Gita, unter welcher Form auch immer, Yoga. Die hinduistische Tradition, welche Meistern wie Yamuna (ca. 1030) und Ramanuja (1017-1137) folgt, unterteilt diese 18 Kapitel in drei Sechsteiler. Danach stellen die sechs ersten Kapitel die fundamentale Lehre der Erkenntnis und der Aktion dar, deren volle Bedeutung in den folgenden sechs Kapiteln ausführlich durch die Darstellung der Bhakti entwickelt wird (7-12). Das zwölfte Kapitel erscheint als Höhepunkt der Bhagavadgïta: der Yoga der Bhakti. Die sechs letzten Kapitel werden als ergänzende Lehren zu bereits behandelten Themen betrachtet. 5.3 Der Samkhya-Yoga: Die Weltsicht der Bhagavadgita Die erste von der Gita vermittelte fundamentale Lehre ist die unerschütterliche Weisheit (Kap. II, 11-53), eine Passage, die den Hindus wichtig ist. Sie stellt die hauptsächlichen Fundamente der hinduistischen Vision der Welt dar, eine Vision, die allen Lehren der Bhagavadgïta zugrunde liegen. Diese Verse fassen nämlich die Samkhya-Philosophie zur Konstitution des Individuums und jener des Lebens der Welt zusammen, erklärt nach den vereinigenden Prinzipien des Selbst (purusha) und der phänomenalen Welt der Natur (prakrti). Die Schlüssel-Konzepte dieser Sicht finden sich in folgenden Versen: Es ist nicht wahr, dass Ich zu irgendeiner Zeit nicht gewesen bin, noch du, noch diese Könige unter den Menschen. Und es ist auch nicht wahr, dag einer von uns je aufhören wird, hernach zu sein. So wie die Seele (dehin) körperlich (d. h. im Körper [deha]) durch Kindheit, Jugend und Alter hindurchgeht, so geht sie auch weiter zum Wechsel des Körpers. Der gelassen in seinen Selbst gegründete Mensch (dhira) erlaubt es sich nicht, hierdurch verwirrt und geblendet zu werden (11,12-13). Der im Vers zwölf beschriebene Zustand entspricht genau dem letzten ExistenzZustand, demjenigen des Atman oder Brahman, der Ewigkeit, der unendlichen Gegenwart, wo jedes Wesen seine Wurzeln hat. Obwohl die Gita hier nicht den begriff des Selbst benützt, nimmt der Kontext dazu klar Stellung. Durch die Bezugnahme auf diesen Zustand des Selbst, kann man an kein individuelles Wesen denken, das nicht existiert oder aufgehört hat zu existieren. Die Person, die sich dieser Ebene der Existenz bewuf3t ist, wird im Vers 13 Dhira genannt. Das Individuum im Lebenszyklus ist sich dieses höchsten Zustandes nicht bewu9t. Dessen, was es sich bewuf3t ist, ist sein Körper (deha) und der Behausung seines Körpers (dehin), in unserem Text als Seele bezeichnet. Diese Seele durchlebt verschiedene Lebensstadien: die Kindheit, die Jugend und das Alter; nach dem Tod bekleidet sie einen neuen Körper, und so geht das weiter bis zur Entdeckung ihrer wahren Identität, d. h. des Zustands des Selbst. Wir haben hier drei Konzepte: das Selbst (Atman), die Seele (dehin) und den Körper (deha), welche, nach dieser Vision des Samkhya, das individuelle Wesen ausmachen. Der im Vers zwölf beschriebene Zustand entspricht genau dem letzten ExistenzZustand, demjenigen des Atman oder Brahman, der Ewigkeit, der unendlichen Gegenwart, wo jedes Wesen seine Wurzeln hat. Obwohl die Gita hier nicht den Begriff des Selbst benützt, nimmt der Kontext dazu klar Stellung. Durch die Bezugnahme auf diesen Zustand des Das Selbst ist die unbegrenzte Fülle des Seins. Es ist begrenzt durch die Hüllen der Seele und des Körpers, beide aus Materie bestehend, wahrnehmbare und vergängliche Welt. Dieses Bild lässt sich nicht nur auf die menschlichen Wesen anwenden, sondern auch für alle lebenden Wesen und für den gesamten Kosmos, der auch der phänomenalen Ord nung angehört, das unbegrenzte Selbst durch die Stofflichkeit begrenzend. Das höchste Ziel des Lebens ist es, diesen Zustand des Selbst zu erreichen, indem den wesentliche Unterschied zwischen ihm einerseits und dem Körper und der Seele andererseits erkannt wird. Die Bhagavadgïta bestätigt die gleiche Idee im Kapitel XV, wenn sie das Gesamt der Welt der Phänomene mit einem kräftigen Baum vergleicht, welcher seine liste rund um sich entfaltet. Man muss ihn schneiden, will man seinen Ursprung in der unsichtbaren Welt entdecken. Diese unsichtbare Welt, der allerhöchste Ort (parama pada), ist der Zustand des Selbst, die Wurzeln und die triste sind die Aspekte des Körpers/der Seele des Wesens. Bedeutet das, de die Bhagavadgita eine Art radikale Trennung hervorhebt, ein verächtliches Zurückweisen des Körpers und der tiefen Wirklichkeiten des Lebens? Alle Interpretationen sind möglich, und im Hinduismus wurden sie auch schon weit ausgeschöpft. Es ist wahr, die Bhagavadgita eignet sich auch für solche extremen Positionen. Man muss jedoch auch zur Kenntnis nehmen, de durch die Entwicklung einer starken Bhakti die Gita in gewisser Weise Wärme in die Kälte den Sicht den Dinge nach den Samkhya bringt. Es ist sicher, de die wahrnehmbare Welt unter dem Einflug einer Kraft steht, die Illusion und Verwirrung (maya) sät. Das zur Unterscheidung unfähige Individuum kann sich in dieser Konfusion verlieren. Auf den anderen Seite scheint für diejenigen, die das klare göttliche Auge besitzen, das Gesamt den wahrnehmbaren Welt wie die Ausbreitung göttlicher Energie, die Manifestation des nicht-manifestierten Selbst. Durch Mich ist dieses ganze Universum in dem unbeschreiblichen Mysterium Meines Wesens ausgebreitet worden. Alle Seienden haben ihren Stand in Mir, nicht Ich in ihnen. Und doch haben alle Wesen ihren Stand auch wieder nicht in Mir - verstehe Meinen göttlichen Yoga richtig! Es ist Mein Selbst, das alle Wesen trägt und deren Sein begründet, aber es wohnt nicht in ihnen (IX, 4-5). Wir verstehen vielleicht jetzt Krishnas Argument besser: Der Krieg, das Gemetzel und der Tod heben die phänomenale, vergängliche Identität der Person hervor. In der Wirklichkeit des Selbst ist die Person nicht betroffen, sie ist nicht berührt. Wer sie erkennt als ein unsterbliches, ewiges, unzerstörbares, geistiges Sein, Me kann dieser töten, Partha, oder Ursache des Tötens sein? (II, 21). Dies hier ist eine praktische Anwendung der Weltanschauung nach Samkhya. 5.4 „Im Handeln Nichthandeln, im Nichthandeln Handeln“ Die befreiende Erkenntnis besteht darin, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Selbst und den wahrnehmbaren Realität auszumachen. Das ist den Yoga den Erkenntnis (jnana-yoga). Ein solcher Gesichtspunkt hat wichtige Konsequenzen für das Leben, vor allem für das Handeln (karman). Der Begriff Karman (oft ungenau durch Karma ersetzt) meint eine mit Vorsatz erfolgte Handlung. Unter Zweck (artha) versteht man den Besitz von etwas, was dem. eigenen egoistischen Profit dient. Rituelle Handlungen, durch die Vedas vorgeschriebene Opferungen Taten im wahrsten Sinne des Wortes, alle ausgeführt mit Vorsatz, um in diesem oder im folgenden Leben materielle und nichtmaterielle Wohltaten zu sichern. Das tägliche Leben und seine Aktivitäten, geregelt durch das kosmische Gesetz des Dharmas, seien es die Handlungen eines Brahmanen oder die eines Kriegers, verlängern den vedischen Ritus und gehören ebenfalls zur Kategorie des Karman. Die Schriften lehren, de alles Karman eine Wirkung produziert in der Kette von Ursachen und Wirkungen, unendliche Kette (samsara), welche die Wesen bindet und sie in der Unwissenheit lässt, d. h. in der Unkenntnis der radikalen Differenz zwischen dem Selbst und der wahrnehmbaren Welt. Das in dieser Unwissenheit festgefahrene Individuum identifiziert sich mit allen möglichen Zuständen des Seins und ignoriert seine eigene Identität, seine wahre Natur: das Selbst. Das von der Bhagavadgiita aufgenommene Problem ist: Wie geschieht es, de die heiligen Texte uns gebieten zu handeln - die Aufgabe des Brahmanen, die darin besteht, Opfer darzubringen, und derjenigen des Kriegers, der kämpfen muss -, und gleichzeitig verdammen sie die Taten? Der perplexe Arjuna stellt trotzdem die folgende Frage: Wenn Du die Einsicht für höher achtest als das Wirken, o Janardana, warum beauftragst Du mich dann, o Keshava, mit einem schrecklichen Werk? Du verwirrst mir offenkundig meine Einsicht mit einer zweideutigen Rede (III,1-2). Krishna erklärt in seiner Antwort, de auch er - als Gott - handelt, obwohl er darin keinen Wunsch verwirklicht. Für Mich, o Partha, gibt es kein Werk, das Ich in den drei Welten tun müsste... Und trotzdem bleibe wahrlich gerade Ich auf den Wegen des Wirkens (III, 22). Krishna erklärt, wie er als Gott durch seine Manifestationen (avatara) hindurch agiert, um auf diese Weise die kosmische Ordnung (dharma) zu erhalten (IV, 5-15). Der Mensch kann das Handeln nicht vermeiden, denn dieses wird von ihm vom unabänderlichen Gesetz der Natur (III, 27-35) und demjenigen der Notwendigkeit zu opfern (IV, 24-33) verlangt. Aber er kann dem Einfluss des blinden Gesetzes des Karman durch ein richtiges Verhalten entgehen, nämlich durch das Handeln ohne Früchte (nishkama karma): Du hast ein Recht auf das Handeln, aber nur auf das Handeln an sich, niemals auf dessen Früchte. La l nicht die Früchte zum Beweggrund deines Wirkens werden! Und sei nicht der Untätigkeit verhaftet! (II, 47). Das ist genau das, was die Gita preist, zu handeln im Nicht-Handeln (IV, 16), der Weg der höchsten Tat (karma-marga). Das ist die tiefe spirituelle Disposition, die aus dem Menschen in der Welt einen wirklich Verzichtenden macht (Kap. V) und aus einem aktiven Menschen einen wirklichen Yogi (Kap. VI). 5.5 Der Gottesbegriff Eine vertieftere Lektüre der Gita zeigt auf jeden Fall, de sie eine progressive Offenbarung Gottes entwickelt: vom Begriff des unpersönlichen Selbst, das die Samkhya lehrt, bis zum warmen persönlichen Sein, welches durch eine Liebesbeziehung (bhakti) in eine tiefe Intimität mit dem Menschen eintritt. Das Kapitel VII nimmt eine Rede zu den zwei Naturen von Gott auf. „Die niedere Natur: die fünf Elemente, das Mental, die Vernunft und das Ich, dies ist meine achtfach geteilte Natur" (VII, 4). „Die höhere Natur ist der Schoss aller Wesen. Ich bin die Geburt der gesamten Welt und ebenso ihre Auflösung" (VII, 6). Die Weltsicht nach der Samkhya hat hier eine persönliche Färbung, und es wird vor allem eine intime Beziehung zwischen Materie/Geist und dem Ursprung allen Seins angenommen. Der Weg, der zur Quelle führt, ist der Weg der niederen Natur, er beginnt bei der Materie und führt durch den Geist zum Ursprung. Dieser Ursprung ist nicht entfernt von der sichtbaren materiellen Welt, sondern macht das Leben aus, sein intimes Prinzip: „ Ich bin der Geschmack in den Wassern, o Sohn der Kunti, Ich bin das Licht von Sonne und Mond, Ich bin Pranava (die Silbe OM) in allen Veden, der Klang im Äther und die Mannhaftigkeit in den Männern" (VII, 8). Gott lebt in seinen Geschöpfen, seinen Manifestationen, indem er ihnen das Sein einatmet, indem er ihnen ihr Wegen gibt. Über diesen mikrokosmischen Aspekt hinweg bringt das Kapitel XI eine makrokosmische Offenbarung. Arjuna, der mehr und mehr die Grösse und Göttlichkeit seines Wagenlenkers durchblickt, drückt offen seinen kostbarsten Wunsch aus: „Ich begehre nun, Deine göttliche Gestalt und Deinen göttlichen Leib zu erblicken“ (XI, 3). Krishna weist dieses transzendentale Verlangen nicht zurück: „Was du sehen sollst, das kann dein menschliches Auge nicht fassen. Es gibt aber ein göttliches Auge, und dieses Auge verleihe Ich dir jetzt. Erblicke Mich in Meinem göttlichen Yoga“ (XI, 8). Und Arjuna betrachtet den ganzen Kosmos, die Unzahl der Galaxien und die Kräfte, die sich vor seinen Augen ausbreiteten. Betäubt und erstaunt fühlte sich Arjuna kleinmütig und bittet Krishna, vor ihm wieder in seiner normalen menschlichen Natur zu erscheinen. Materie, Mensch und Kosmos: dies sind die Gestalten des höchsten Gottes. Aber die Gita endet nicht da. Die grösste Offenbarung steht noch bevor: das Mysterium der Liebe, die Liebe Gottes für den Menschen! Das letzte Kapitel der Bhagavadgita enthält die endgültigen und klarsten Offenbarungen: Gott bleibt im Herzen des Menschen und handelt dort, er lädt ihn zu einer Liebesbeziehung ein. Krishna fordert Arjuna auf, sich diesem tief in ihm lebenden Gott anzuvertrauen: Zu Ihm nimm deine Zuflucht auf allen Wegen deines Seins! Durch seine Gnade sollst du eingehen in den höchsten Frieden und ewigen Zustand. ... Höre weiter Mein allergeheimstes, Mein erhabenes Wort, das Ich jetzt zu dir spreche! Zu deinem Besten sage ich es dir, denn du bist Mir innig lieb. Sei Mir zugeneigt! Werde Mein Mich Liebender und Verehrender, ein Mir Opfernder! ... Dann wirst du zu Mir gelangen. Dies ist Mein Wort und Versprechen an dich, denn du bist Mir lieb (XVIII, 62-65). Hier gibt es etwas Neues. Nie zuvor hat im Hinduismus ein Gott in so intimen Worten zum Menschen gesprochen, Worte der Liebe und der Gnade, klarster und erhabenster Ausdruck des Monotheismus. Es ist nicht mehr die Gnosis, die den Menschen rettet, es ist die vollkommene Agape. Keine Opfer, keine fordernden asketischen Praktiken, keine Aufgaben, keine Verpflichtungen, welche ihm vergleichbar sind, Gott lädt den Menschen zu absoluter Freiheit ein: Gib alle Dharmas auf und nimm deine Zuflucht allein zu Mir! Ich werde dich von aller Sünde und allem Übel befreien, sei unbekümmert! (XVIII, 66). 6. Einige praktische Hinweise für die LeserInnen der Bhagavadgita Die dramatischen Persönlichkeiten: Weil die Bhagavadgita ein Teil der Mahabharata ist, kommen mehrere dramatische Persönlichkeiten ins Spiel, gleich wie im Austausch zwischen Krishna und Arjuna. Der nachfolgende Stammbaum kann den Lesenden helfen, die Rolle der verschiedenen Personen, die in den Kriegsfamilien aufscheinen, zu platzieren: Die Namen: In der Sanskrit-Literatur allgemein und in der Bhagavadgita im Besonderen tragen die Persönlichkeiten oft zahlreiche Namen, die dazu dienen, eine Person frei und genauer zu bezeichnen. Es kommt vor, dag man verwirrt ist und sich in dieser Vielfalt verliert. Das hat einen besonderen Sinn: je wichtiger die Person und der Platz, den sie im Leben und in der Hierarchie einnimmt, je erhabener ihre Existenz, umso mehr verschiedene Namen trägt sie, die damit die Komplexität ihres Wesens angeben. Jeder Name gibt einen Aspekt der Persönlichkeit wieder, ruft im Geist des Lesenden eine Erinnerung an ein mythologisches Ereignis oder einen theologischen Sinn wach. Man muss jedoch zugeben, dag die Sanskrit-Autoren diese Namen aus einem ganz praktischen Grund im Überflug benützen: sie dienen auch dazu, die Verslehre einzuhalten. Ausser im ersten Kapitel (wo die Vielfalt der Personen besonders gross ist, um die Kriegsszenen und die Verwirrung zu beschreiben) findet man in den anderen Kapiteln Arjuna und Krishna, die zwei wichtigsten Protagonisten des Dialogs der Bhagavadgita, mit folgenden Namen bezeichnet: ARJUNA KRISHNA Partha (Sohn von Pritha, d.h. Kunti) Janardhana (der Entgelt gibt) Parantapa (Geissel der Feinde) Sohn des Pandu Kaunteye (Sohn der Frau Kunti) Bharata Gudakesha (mit dichten Haaren) Bhaghavan (der ruhmreiche Herr) Hrishikesha (von Freude erfüllt) Madhava (Abkämmlinge Madhus) Accyuta (unbeweglich) Madhusudana (Zerstörer von Madhu) Varshneya (Abkömmling des Vrishni) Die Bhagavadgita weist in jedem Fall klar darauf hin, wer der Sprecher ist, indem eingeführt wird durch eine Redewendung wie: Der Erhabene sprach. . . , Arjuna sprach .... Sanjaya sprach ... usw. Die Bhagavadgita, wie das darin enthaltene Epos Mahabharata und andere SanskritTexte sind konstruiert wie ein Dialog innerhalb eines anderen Dialogs, nach der Art von Einschiebetischen. Wie wir schon festgestellt haben, ist die Bhagavadgita, die auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra proklamierte Lehre an Arjuna, eine Rede, gehalten auf dem Wagen Arjunas mitten in der Schlacht. Der gesamte Dialog zwischen Krishna und Arjuna ist nämlich die Erzählung an den blinden König Dhritarashtra von Sanjaya. Es gibt glücklicherweise keinen anderen Gesprächspartner wie in der übrigen Mahabharata, wo die Lesenden sich völlig in den verschachtelten Dialogen verlieren können. Persönlichkeiten der Mahabharata Dhritarashta Arjuna Krishna Sanjaya Persönlichkeiten der Mahabharata 7. Sri Aurobindo Ghosh (1872-1950) und die Bhagavadgita Die vorliegende Übersetzung in deutscher Sprache stammt aus der englischen Übersetzung, die von Sri Aurobindo, einem der grössten Denker des NeoHinduismus, erarbeitet wurde. Geboren in Kalkutta, wo er auch sein Studium absolvierte, nahm Aurobindo Ghosh nach seinem Aufenthalt in England von 1879-1892 aktiv an der Befreiungsbewegung teil. Nachdem er von der britischen Regierung gefangen genommen wurde, entschied er, sich von der Politik zurückzuziehen, und lies sich in Pondichéry nieder, wo er 1914 einen Ashram gründete. Dort bat er bis zu seinem Tod gelebt und gelehrt. Unter seinen zahlreichen Werken ist es wahrscheinlich The Life Divine, welches am besten sein spirituelles Denken und seine sowohl vom Tantrismus aus seiner Geburtsgegend Bengalen als auch von den evolutionistischen Theorien Plotins, Bradleys und Bergsons beeinfluf3te Mystik wiedergibt. Nach Aurobindo entwickelt sich das Leben von der Materie über das Bewusstsein und das Über-Bewusstsein bis zu seiner perfekten Vereinigung mit dem Absoluten. Er unterstreicht, de die Zeichen einer solchen supra-mentalen Entwicklung sich schon bei einzelnen Individuen bemerkbar machen, die supramentalen Geister, welche jetzt schon am Werk sind und das Ferment für eine neue Menschheit bilden. Aurobindo publizierte seine erste kommentierte Übersetzung der Bhagavadgita 1928. Sie war die Frucht reifer meditativer Reflexion, welcher er sich zugewendet hatte, nachdem er im Ashram von Pondichéry eingerichtet war. Was er in seinem Werk niederschrieb, ist keine wortwörtliche Übersetzung aus dem Sanskrit-Original: „den exakten metaphysischen Sinn darin fanden die Menschen seiner Epoche" Bhagavadgita, Paris, S. 22). Sein Vorsatz war es, den Lesern einen lebendigen Text zu präsentieren: „Was wir mit Profit tun können, ist, in der Gita die lebendige Wahrheit zu suchen, welche sie enthält, ohne de wir uns um die metaphysische Darstellung kümmern; indem wir das herausnehmen, was uns helfen kann, seien dies wir selbst, sei es die Welt in ihrem Ganzen, und uns anstrengen, sie zu übersetzen in der natürlichsten und lebendigsten Ausdrucksform, die sich an die heutige Menschheit anpassen kann und die die spirituellen Bedürfnisse befriedigt“ (ebd. 2223). Seine Übersetzung bat also sowohl grosse Verdienste als auch Schwachen. Aurobindo transformiert die spirituellen Konzepte und die religiösen Praktiken, von denen die Gita spricht und die im Hinduismus normalerweise als trockene, dürre, leblose Kategorien und Riten dargestellt werden, in lebendige und kraftvolle Wirklichkeiten. Bei der vorliegenden deutschen Übersetzung merkt man manchmal, dag sie sich vom Sanskrit-Original entfernt, vor allem was die Terminologie und die technischen Begriffe betrifft. Aber sie ist praktisch in dem Sinn, als die Leser nicht von einem schweren technischen Kommentar behindert werden, sondern sich an einem klaren Text erfreuen, den sie direkt lesen oder meditieren können. Jedes Mal, wenn es notwendig ist, fügt Sri Aurobindo eine Bemerkung oder eine Klammer ein, um den Sinn zu klaren. Diese Art zu interpretieren manifestiert sich manchmal im Text selbst und scheint - nach rein wissenschaftlichen Kriterien - vielleicht nicht immer akzeptierbar. Nichtsdestoweniger verstärkt sie den Sinn des Textes und ist weit davon entfernt, ihn zu verfälschen. 8. Die Bhagavadgita und der interreligiöse Dialog Der im heutigen interkulturellen Kontext unseres Lebens notwendig gewordene interreligiöse Dialog muss sich gezwungenermassen auf präzise religiöse Punkte beziehen und nicht auf vage Allgemeinheiten. Die Bhagavadgita ist ein ausgezeichnetes Werkzeug für einen solchen Dialog. Der interreligiöse Dialog zielt auf die Begegnung zweier Konzepte, Haltungen oder religiöser Perspektiven, die von den Gläubigen zweier verschiedener Religionen konkret gelebt werden. Es gibt keine Dialogsituation zwischen zwei Religionen oder religiösen Texten. Es gibt nur Dialog zwischen zwei lebenden Menschen, in der Begegnung des Verstandes, in der Begegnung der von diesen zwei Menschen gelebten Wahrheit. Das bedeutet natürlich nicht, dag für einen wirklichen Dialog eine Person unbedingt einer anderen Religion angehören muss. Das wäre das Ideal. Aber in der Wirklichkeit kann der Dialog sich im Herzen oder im Geist einer Person abspielen, die mit einer anderen religiösen Wahrheit, welche herausfordert und mit der man ins reine kommen muss, in Kontakt tritt. Das ist vermutlich bei den meisten Zeitgenossen so, deren Situation immer interkultureller wird. Von den Medien befördert und durch den Tourismus sowie die Ortsveränderungen der Bevölkerung verstärkt, zirkulieren Ideen, Traditionen und Symbole frei in der Gesellschaft. Sie fordern unseren Glauben und unsere Tradition heraus und verlangen so einen Dialog in unserem Herzen. Wir beschranken unsere Analyse auf das Christentum, die Religion der Mehrheit in Europa und auf den Hinduismus, an dessen Ursprung die Bhagavadgita stand. Das Neue Testament und die Bhagavadgita eignen sich ausgezeichnet als konkrete Referenzpunkte für diesen Dialog. So wie das Neue Testament von Christen als authentischer Text anerkannt wird, so ist auch die Bhagavadgita von allen Hindus anerkannt und akzeptiert; beide nähren in der Welt heute den Geist von Millionen von Gläubigen. Die Christen können in der Gita alles sehen, was die Hindus akzeptieren und was ihren Glaubensausdruck bereichert, wie die Hindus sich umgekehrt am Neuen Testament orientieren können. Unser Vorschlag ist es, hier nicht zu untersuchen, wie das Neue Testament die Hindus herausfordert, sondern zu schauen, wie die Bhagavadgita Christen fordert. Eine aufmerksame, meditative Lesung der Gita kann einem Christen erlauben, folgendes zu entdecken: - verschiedene Lehren im Gleichklang mit dem christlichen Glauben, - Themen, welche ergänzen können, was die Christenheit in ihrer geschichtlichen Erfahrung noch nicht entdeckt bat, oder mindestens wieder beleben, was sie vergessen ging, - Lehren und Haltungen, welche zu denken und zu meditieren geben, - und Punkte, welche er als unvereinbar mit seinem Glauben zurückweist. - Andererseits bat ein Christ Hindus gegenüber Punkte zu erwähnen, welche das Bewusstsein dieser wecken könnten für die der Bhagavadgïta unbekannte Dimensionen. Was wird der Christ in Einklang mit seinem Glauben finden? Zuerst den Kontext der Liebe (bhakti), die Gott dem Menschen gegenüber manifestiert und zu der er ihn einlädt, die Intimität und die persönliche Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, die Gewissheit, dag Gott den Menschen liebt und versucht, ihn zu retten. Diese Liebe ist ausserhalb aller Proportionen dessen, was der Mensch für sich in Anspruch nehmen könnte, auf was er ein Recht hätte. Die Liebe Gottes verlangt weder Macht noch Reichtum: Was der Mensch aus ganzem Herzen geben kann, ist für Gott annehmbar, selbst wenn es nur ein einfaches Blatt oder eine Blume ist. Der Christ fühlt sich auch bei sich mit der Vorstellung der Gnade, die Gott den Menschen schenkt, der Glaube an Gott, der von allen Sünden und allen Bürden der Vergangenheit reinigt, den Menschen zu einem neuen Leben auffordernd. Der Christ kann aus der Bhagavadgita auch das Konzept der Überlegenheit Gottes annehmen, seine Transzendenz in bezug auf die wahrnehmbare Welt. Diese letztere ist nicht radikal schlecht oder falsch, aber es kann verhängnisvoll sein, wenn sie nicht zur Transzendenz und zum Göttlichen führt. Das grundsätzliche Konzept des Selbst nach der Samkhya besteht darin, dag die Bhagavadgita zu Reiht ein Beitrag zum Christentum vorschlägt. Das ist das reichste aller hinduistischen Konzepte, dieser Zustand, wo die Wurzeln des Menschen und des Kosmos tief in Gott verankert bleiben, wo Gott seine Schöpfung ausstrahlt. Das solid in der Geschichte begründete Christentum, voll der Menschen und der Geschichte bewusst, bat den Pantheismus so gefürchtet, dag es dieser vom Selbst ausgehenden Mystik keine Wichtigkeit zugesteht, dieser allerwirklichsten Dimensionen des Selbst. Die Übertreibung des historischen Aspekts kann die gefährlichen Konsequenzen haben, dass der Mensch Gott auf seine eigene Grösse und auf seine eigenen Grenzen reduziert. Man findet in engem Bezug dazu die Lehre der Bhagavadgita zur Handlung ohne Früchte, d. h. die aus vollem Herzen erfolgte Tat ohne weiteres Motiv; die Handlung, die ihren Ursprung und seine Kraft im Selbst hat, zu dem es zurückgeht. Der wahre Verzicht besteht nicht in dem, was ich abgebe oder behalte. Er hängt von der reinen Freude des Selbst ab. Die Evangelien bezeichnen das mit Himmelreich, doch die christliche monastische Tradition hebt dies in der gelebten Wirklichkeit nicht hervor. Es heisst: allem in Freude entsagen, Freude haben, das Ganze zu finden. Gewisse Passagen der Gita versetzen Christen manchmal in Unwohlsein, aber gleichzeitig fühlen sie sich herausgefordert, die Situation unter einem ganz neuen Gesichtspunkt zu betrachten, das menschliche Leben im globalen Leben zu verstehen: das tierische; pflanzliche, natürliche und das kosmische Leben. Der Hindu sieht nicht eine radikale Differenz zwischen dem Menschen und den anderen Formen des Lebens, der einzige Unterschied besteht für ihn im Stadium der Entwicklung des Bewusstseins. Der Mensch ist also nicht das Zentrum des Universums. Er ist der bestentwickelte Diener des Universums, ein Bruder und eine Schwester für alle anderen lebenden Wesen. Und damit verknüpft findet man die Frage nach Inkarnation und Reinkarnation. Gott scheint in der Geschichte von Zeit zu Zeit auf, immer dann, wenn die kosmische Ordnung danach verlangt, und die lebenden Wesen fahren fort, im Zyklus des Lebens zu kreisen, solange sie die Wirklichkeit hinter der manifestierten Realität nicht sehen. Es gibt in der Gita auch Elemente, die ein Christ nicht annehmen kann, denn sie sind mindestens in der Form, wie sie dargestellt und verstanden werden, unvereinbar mit seinem Glauben. Das vordergründigste Beispiel ist die Unterstützung, die die Gita dem Kastensystem (Kap. I) gibt, welches ins menschliche Leben Kategorien einführt, die auf der Geburt und der Familie basieren. Im Weiteren kann ein Christ nicht die subtile Unterscheidung zwischen dem Töten des Körpers, nicht aber der Seele (Kap. II) akzeptieren. Auch der Körper ist des Respekts würdig - die Gita zweifelt daran nicht, aber sie proklamiert es nicht. Wir haben vorher die Worte Gandhis zitiert, der sage, de er in der Gita etwas gefunden bat, was ihm selbst in der Bergpredigt fehlte. Der Christ kann vermutlich ebenso ausdrücken, was er in den Evangelien findet und was in der Gita fehlt: die Sorge des Menschen, die Sorge um das menschliche Leben, die Liebe selbst bis zum Tod. Das zeigt sich von Zeit zu Zeit in der Geschichte, ebenso zerbrechlich wie zeitlich, an einer Bedeutung, und selbst einer ewigen Bedeutung. Die Ewigkeit konkretisiert sich hier und jetzt in der Geschichte durch das totale Annehmen des Lebens, so wie es ist, und nicht durch die Prismen der Strukturen hindurch, selbst wenn es erhabene Strukturen einer Weltordnung sind. Denn wir sehen die einen wie die anderen, de Gott lebt und wächst in allem Gedeihenden, in allem grösser Werdenden, in allem, was ist.