Die Bhagavad Gita

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Das Weisheitsbuch
fürs 21. Jahrhundert
Übertragen und
kommentiert von
Ralph Skuban
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Die menschliche Krise als Ausgangspunkt
Am Beginn der Bhagavad Gita steht die menschliche Krise. Arjuna
ist verzweifelt, weil er in einen Krieg ziehen soll, der unsägliches Leid
bringen wird. Die Krise war immer schon der Ausgangspunkt allen
spirituellen Suchens. Solange wir gesund, munter und fröhlich sind,
solange wir vor allem Spaß haben und die Welt uns als ein Ort begegnet, wo immer nur die Sonne scheint, beginnen wir nicht zu suchen. Wozu auch? Erst die Erkenntnis, dass Leid existiert – und sei es
auch nur so wenig, dass zum vollkommenen Glück noch irgendetwas
fehlt –, öffnet uns für Fragen nach dem Sinn des Seins.
Gautama Siddharta, der Prinz, den man später Buddha, den Erwachten, nennen sollte, hatte alles, was man sich erträumen kann:
Reichtum, Gesundheit, Schönheit und Vergnügungen. Doch als er sah,
dass draußen in der Welt, vor den Toren seines Palastes, Menschen
und Tiere litten, alt und krank wurden, um schließlich zu sterben, da
begann er Fragen zu stellen und sich auf den Weg zu machen – auf
einen Weg, der ihn zu jener Selbsterkenntnis führte, die alles Leiden
transzendiert. Einen Weg, den man seither den Weg der Mitte nennt.
Am Beginn seiner Lehre steht die einfache Aussage, dass Leiden existiert. Es ist die schiere Endlichkeit und Verletzlichkeit aller fühlenden
Wesen, die Leiden möglich macht. Auch die Geschichte Jesu ist in
ihrer psychologischen und spirituellen Essenz eine Geschichte vom
Leiden und seiner ­Überwindung durch ein Annehmen dessen, was wir
nicht ändern können (das Kreuz, das wir tragen müssen), und ein­
Loslassen dessen, was uns den Weg zum inneren Frieden versperrt.
Dieses Loslassen meinte Jesus, wenn er von Vergebung sprach.
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Einführung
Das älteste geschlossene philosophische System Indiens –zugleich wohl das älteste der Menschheit überhaupt – ist Sankhya, die
Philosophie, die dem praktischen Weg des Yoga zugrunde liegt. Sie
geht auf den legendären Kapila zurück, der vermutlich um 700 vor
Christus lebte. Krishna sagt, dass Sankhya und Yoga letztlich ein und
dasselbe seien. Und die Gita entfaltet in hoher Verdichtung den faszinierenden mehrdimensionalen Blick des Sankhya auf die Schöpfung
im Allgemeinen und den Menschen im Besonderen als körperliches,
geistiges und spirituelles Wesen. Auch die Sankhya-Philosophie beginnt mit der Feststellung, dass Leiden existiert: ob körperlich oder
psychologisch, von außen verursacht oder selbst erzeugt. Und selbst
das glücklichste Leben endet mit dem physischen Tod. Alles, was ist,
wird geboren, gedeiht und vergeht. Doch der Mensch hat das große
Glück, Fragen stellen zu können, um einen Ausweg aus den Lebensproblemen zu suchen, denn darum geht es. Das Denken der indischen
Philosophie verharrt nicht bei der Feststellung, dass das Leben bloß
schwierig und letztlich immer tödlich ist. Vielmehr ist die Krise nur
der Ausgangspunkt, der die Suche nach Befreiung einleitet – eine
Suche, deren Ziel die existenzielle Erkenntnis der eigenen Unsterblichkeit und der Verbundenheit mit allem Sein ist. In diesem Sinne
wird die Krise zur Gnade. Im zweiten Kapitel der Gita sagt Krishna zu
Arjuna:
Nie war eine Zeit, in der ich nicht war noch du,
noch irgendeiner dieser Könige.
Und keine Zeit wird je kommen, da wir aufhören zu sein.
Philosophie der Befreiung
Die spirituelle Philosophie Indiens ist eine Philosophie der Befreiung.
Moksha, die Befreiung aller Wesen aus der Zweischneidigkeit des Lebens, in dem Freude und Schmerz, Glück und Unglück, Erfolg und
Misserfolg die ständigen Begleiter aller Wesen sind, ist deshalb auch
die Botschaft der Gita.
Die Philosophie des Abendlandes ist geboren aus dem Staunen
über die Welt und bemüht sich, sie durch Beobachtung und das Sammeln von Daten zu verstehen. Daher kommt die Analyse. Wörtlich bedeutet dieser Begriff »zerlegen« oder »auflösen«. Das Problem dabei
ist: Wenn wir etwas analysieren wollen, müssen wir seine Ganzheit
zerstören. Wollen wir das Uhrwerk analysieren, müssen wir es auseinanderbauen. Und zerlegen wir etwas Lebendiges, so stirbt es. Etwas Ganzes kann also nicht wirklich verstanden werden, indem wir es
in seine Einzelteile zerlegen, weil die Ganzheit immer mehr ist als die
Summe seiner Teile. Die Hoffnung der westlichen Wissenschaft ruht
auf der Annahme, dass die Analyse der äußeren Welt uns ermöglicht,
sie zu verstehen, damit wir sie manipulieren und somit komfortabler,
sicherer und glücklicher in ihr leben können. So wird die Welt und alles Lebendige zum Objekt unseres Interesses. Die Folgen dieses Denkens zeigen sich in den Verheerungen, die der Mensch in der Welt anrichtet. Doch selbst wenn es gelingen sollte, einst ein (künstliches)
Paradies auf Erden zu schaffen, wird uns das nicht von Alter, Krankheit und Tod befreien.
Die Philosophie des Ostens will nicht die Welt erklären, damit wir
sie manipulieren und angenehmer in ihr leben können (wenngleich
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Einführung
auch Krishna freilich nichts dagegen einzuwenden hätte, dass wir
gut leben wollen – doch auch an das gute Sterben würde er uns erinnern!). Sie will vielmehr, dass wir über die Welt hinausgehen, noch
während wir in ihr sind. Die Botschaft der Gita ist also praktische Philosophie. Sie intellektuell zu verstehen ist das eine – doch ihr eigentliches Anliegen ist es, dem Menschen einen Weg aufzuzeigen.
Die Geschichte hinter der
Bhagavad Gita
Die Bhagavad Gita ist Teil des Mahabharata, einer Familiensaga, in
welcher die Geschichte der Nachkommen von König Bharata über
mehrere Generationen hinweg erzählt wird.
Die unmittelbare Vorgeschichte der Gita beginnt mit König Pandu.
Pandu hat fünf Söhne, die Pandus. Sie sind noch Kinder, als ihr Vater stirbt, und Yudishtira, der älteste Sohn, kann die legitime Thronfolge deshalb noch nicht antreten. Die Pandus leben fortan bei ihrem
blinden Onkel Dhritarashtra, der bis zu Yudishtiras Thronbesteigung
die Regierungsgeschäfte leiten soll. Dhritarashtra hat 100 Söhne, die
Kurus. Als die Pandus zu Männern heranwachsen, offenbaren sie herausragende Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, was den Neid
und die Missgunst der Kurus heraufbeschwört, besonders bei Duryodana, dem ältesten von ihnen. Er lässt nichts unversucht, um den
Pandus Schaden zuzufügen.
Einmal errichtet er einen Palast aus Wachs und lädt seine fünf
Cousins ein, dort während einer religiösen Feier zu wohnen. Die Pandus akzeptieren die Einladung, und Duryodana weist seine Schergen
an, den Palast in Brand zu setzen. Er glaubt, die Pandus seien tot, doch
tatsächlich können sie sich in die umliegenden Wälder retten.
Eines Tages sucht ein König der benachbarten Region einen Ehemann für seine Tochter. Wer einen Bogen von enormer Stärke spannen und damit ein winziges Ziel treffen kann, soll sie zur Frau gewinnen. Die Pandus wollen den Versuch wagen und machen sich als
mittellose Brahmins verkleidet in die Stadt des Königs auf. Aus ganz
Indien strömen die heiratswilligen Männer herbei, darunter auch der
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