DER STREIT DER LEHRMEINUNGEN – Klassik gegen Keynes 3 Klassik und Keynes im wirtschaftspolitischen Vergleich Beide Modelle führen nun zu ganz verschiedenen Aussagen über die Wirtschaftspolitik, insbesondere über die Sinnhaftigkeit von Staatseingriffen. Eine direkte Gegenüberstellung beider Modelle ermöglicht eine Analyse, die zeigt, was passiert, wenn die aggregierte Nachfrage oder das aggregierte Angebot verändert werden. KEYNES Preisniveau aggregierte Nachfrage 1 KLASSIK Preisniveau aggregierte Nachfrage 2 aggregierte Nachfrage 1 aggregierte Nachfrage 2 aggregiertes Angebot aggregiertes Angebot INFLATION durch Nachfrageerhöhung Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung reales BIP Kapazitätsgrenze reales BIP Kapazitätsgrenze WACHSTUM durch Nachfrageerhöhung Abb. 92.1: Keynes oder Klassik? Im Diagramm links, welches das Modell Keynes’ wiedergibt, sehen wir, dass es ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung gibt. Es herrscht also Arbeitslosigkeit und die Maschinen sind nicht voll ausgelastet. In dieser Situation müsste die gesamtwirtschaftliche Nachfrage angekurbelt werden (dies entspricht einer Rechtsverschiebung der aggregierten Nachfragekurve). Diese Nachfrage kann entweder durch mehr Konsum, mehr Investition, mehr Staatsausgaben oder höhere Nettoexporte erfolgen. Können die Privaten, also die Haushalte und die Unternehmen aber diese Nachfrage nicht schaffen, dann kann und soll es der Staat machen. Durch eine Erhöhung der Nachfrage steigen das BIP und damit auch die Beschäftigung und das Einkommen. Die keynesianische Wirtschaftspolitik wird deshalb auch nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik genannt. Inflation bleibt aus, solange die aggregierte Nachfrage sich nicht zu stark verschiebt und über die Kapazitätsgrenze hinaus reicht. Wie aber wirkt eine Erhöhung der aggregierten Nachfrage, egal ob von Privaten oder dem Staat ausgelöst, im Modell der Klassiker? Wir sehen, dass jede positive Änderung der Nachfrage nur zu einer Erhöhung des Preisniveaus, also zu Inflation führt. Die klassische Theorie lehnt daher alle Maßnahmen ab, die auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wirken (staatliche Maßnahmen werden auch deshalb abgelehnt, weil sie unterstellen, dass der Staat weniger effizient als die Privaten wirtschaftet). Eine Erhöhung des BIP bzw. des Potentialproduktes wird nach klassischer Lehre nur durch eine Erhöhung des Angebotes, also durch bessere oder mehr Produktionsfaktoren erreicht. Da diese aber nur langsam wachsen können, sprechen wir von einer langfristigen, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. 4 Wer hat Recht? In der heutigen Lehre wird häufig die Auffassung vertreten, dass in der kurzfristigen Betrachtung Keynes und in der langfristigen die Klassiker Recht hätten. Dies wird von der so genannten Mainstream Economics vertreten. 92 Kapitel 8 wirtschaftspolitische Fragestellungen Keynes (nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik) Klassik (angebotsorientierte Wirtschaftspolitik) Welchen Nutzen stiften Staatseingriffe? Wenn der private Bereich nicht genügend nachfragt, dann muss der Staat eingreifen und Nachfrage erzeugen. Nur in diesem Fall ist eine „nationalisation of employment“ notwendig. Darunter ist keine Verstaatlichung zu verstehen, denn Keynes stand ganz in der Tradition der Marktwirtschaft, sondern ein Eingreifen des Staates. Eine Erhöhung hung der Nachfrage fführt – solange die Kapazitätsgrenze noch nicht erreicht ist – zu einer Erhöhung des BIP und der Beschäftigung. Die Klassik geht vom Markt aus und ist überzeugt, ü dass die Märkte selbst ein Gleichgewicht herstellen können. Das Eingreifen des Staates ist daher unerwünscht und zu vermeiden. Zusätzliche Nachfrage fführt zu Inflation, das reale BIP kann dadurch aber nicht erhöht werden! Das BIP wird in der klassischen Sicht nur durch die Qualität und die Quantität der Produktionsfaktoren bestimmt. Die Klassik geht davon aus, dass verstaatlichte Unternehmen nicht so effizient arbeiten wie private. Sie fordern daher auch die Privatisierung von verstaatlichten Unternehmen. Was bewirken Konsum und Sparen? Zusätzliche Konsumnachfrage erhöht die aggregierte Nachfrage und kurbelt die Wirtschaft an. Zu viel Sparen würgt die Wirtschaft ab. Sparen muss nicht unbedingt zu geplanten Investitionen f hren. fü Zusätzliche tzliche Konsumnachfrage fführt nur zu Inflation. Es wird immer in der richtigen Höhe gespart, denn die Zinsen geben an, wie viel Sparen notwendig ist. Sparen ist positiv ffür die Volkswirtschaft, weil über ü den Kapitalmarkt Sparen zu Investitionen werden. Wie entsteht Arbeitslosigkeit und was ist dagegen zu unternehmen? Arbeitslosigkeit entsteht durch einem Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Um diese Nachfrage zu erhöhen, macht es Sinn, wenn die Beschäftigten hohe Einkommen erzielen, weil sie dadurch die Nachfrage erhöhen können. Arbeitslose sollen Arbeitslosengeld erhalten, weil sie dadurch nicht nur ffür ihren eigenen Haushalt üüber ber finanzielle Mittel verf verfüügen sondern damit auch die aggregierte Nachfrage erhöhen. Kollektivverträge, Mindestlöhne und Gewerkschaften sind zu begr begrüßen, weil sie dazu dienen, die Löhne hoch zu halten. Keynesianer verfolgen also die Erhöhung der Löhne zur Senkung der Arbeitslosigkeit. Um Arbeitslosigkeit zu beseitigen, ist die Senkung der Löhne notwendig. Der Einfluss von Gewerkschaften soll daher zur ckgedrängt werden. zurü Im Modell der Klassik fführt die Senkung der Löhne zu einer Senkung der Arbeitslosigkeit! Soll Wirtschaftspolitik kurz- oder langfristig betrieben werden? Keynes sagte „In the long run we are all dead“ und meinte damit, dass die langfristige Wirtschaftspolitik nicht hilfreich sei, denn die Probleme müssen kurzfristig gelöst werden. Wer heute arbeitslos ist, möchte morgen einen Job und nicht in einem oder mehr Jahren. Langfristig macht es Sinn, die Produktionsfaktoren zu erhöhen, weil nur damit langfristig die Wirtschaft wachsen kann. Wirtschaftswachstum ist nur durch die Erhöhung der Produktionsfaktoren möglich. Produktionsfaktoren wachsen nur langsam. Die Wirtschaftspolitik ist daher eine langfristige. Im Mittelpunkt der angebotsorientierten, klassischen Wirtschaftstheorie stehen also die Nettoinvestitionen, die zur Erhöhung der Produktionsfaktoren fführen. Tab. 93.1: Volkswirtschaftliche Fragen – Antworten der Klassik und von Keynes Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sichtweise von Keynes lange vorherrschend. Der Wiederaufbau der Weltwirtschaftsordnung stützte sich auf seine Ideen. Mit der Weltbank (World Bank) und dem Internationalem Währungsfonds (IWF, International Monetary Fund) wurden Institutionen geschaffen, die für eine stabile, globale Wirtschaftsordnung sorgten. Als Aufgaben wurden definiert: • Der IWF sollte für die Konvertierung, d.h. für das problemlose Umtauschen der Währungen verantwortlich sein. • Die Weltbank sollte Kredite an Länder vergeben, die nicht genügend Mittel zum Bau von wichtigen Infrastrukturprojekten aufbringen können. • Der US-Dollar wurde als Leitwährung eingerichtet, alle anderen Währungen mussten sich an ihm orientieren. Der Dollar selbst war an Gold gebunden. Dieses System musste allerdings Anfang der 1970er-Jahre wieder aufgegeben werden, weil die Vereinigten Staaten durch dieses System mit hohen Handelsbilanzdefiziten kämpfen mussten. 93