Arbeitsplatzängste und Arbeitsplatzphobie Prof. Dr. Michael Linden Abt. Verhaltenstherapie und Psychosomatik am Rehabilitationszentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund, Teltow/Berlin und Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Universitätsmedizin Berlin So beurteilen Arbeitnehmer und Beamte ihren Arbeitsplatz Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Arbeitsplatz? Besteht bei Ihnen keinerlei Gedanke an Kündigung? Ist die Stimmung in Ihrem Betreib generell gut? Fühlen Sie sich angemessen bezahlt? Ist Ihre Firma kinderfreundlich? Sind Sie mit dem Umgang unter den Kollegen zufrieden? Fühlen Sie sich von Ihrem direkten Vorges. gerecht behandelt? Sind Sie alles in allem mit Ihrem Arbeitgeber zufrieden? Gehen Sie gerne zur Arbeit? Entspricht Ihre Arbeit im Großen und Ganzen Ihren Fähigkeiten? Sind Sie zufrieden mit Ihrer derzeitigen berufl. Tätigkeit? 0% 50% ja 100% nein Stern-Umfrage, 1000 Angestellte und Beamte, 21.-23.4.10, Stern 18/2010 Arbeitsorganisation und psychische Be- oder Entlastung Belastungsfaktoren – quantitative ÜberUnterforderung – qualitative ÜberUnterforderung – Raumsituation – interaktionelle Situation Schutzfaktoren – Arbeitskompetenz – klare Arbeitsstrukturen – Selbstbestimmung – Raumsituation – interaktionelle Situation Gesellschaft und Individuum Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen Anpassungsreaktion des Unternehmung Neue Arbeits- und Organisationsstrukturen Anpassungsreaktion der Mitarbeiter Überforderungen sind möglich Arbeits- und Leistungsprobleme Ausbildung von Psychopathologie (Über-) Wertigkeit der Lohnarbeit 1. Die protestantische und sozialistische Arbeitsethik ist gekennzeichnet durch die Vorstellung von Arbeit als Pflicht, die man nicht in Frage stellen darf. Der Mensch lebt um zu arbeiten, er arbeitet nicht um zu leben. Menschen definieren sich über ihre Arbeit. Arbeitsloser, Hausfrau oder Rentner sind Problembegriffe. 2. Arbeitsformen werden „intrinsisch-selbstbestimmt und selbstverstärkend“ organisiert i.S. einer Arbeitssucht Anforderungs- und Leistungsbeurteilung durch Führungskräfte Neun von zehn Führungskräften erwarten, dass sich ihr Unternehmen in den nächsten fünf Jahren gravierend verändert. Neun von zehn Managern meinen, dass ihr Job nur noch mit perfekter Vorbereitung, präzisem Vorgehen und Beharrlichkeit zu schaffen ist. Dreiviertel der Manager berichten von permanent steigenden Anforderungen Jeder Zweite hält seine Mitarbeiter wegen des herrschenden Drucks nicht mehr für voll leistungsfähig. Umfrage des Managementzentrums St. Gallen unter 526 Führungskräften in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2003 Arbeitsplatzängste im Kontext primärer psychischer Erkrankungen Demenzielle Syndrome Leistungsprobleme und Überforderung schizotype Störung und Schizophrenie, Unstetigkeit, Mißtrauen Depression Insuffizienzerleben und -erinnerung Angststörungen Phobie, GAD, Zwang Anpassungsstörungen und Posttraumatische Störungen PTSD, PTED Neurasthenie Erschöpfbarkeit und fehlende Erholungsfähigkeit (Burn out) Persönlichkeitsstörungen inadäquates Interaktionsverhalten Somatische Störungen Hypertonie, Lumbago Generalisierte Angsterkrankung: Sorgen machen kann man sich über alles Hilfe, ich habe zu viel zu tun! Hilfe, ich habe zu wenig zu tun! von der Hand- zur Kopf- zur kontrollierten Arbeit Arbeitsmarkt und Arbeitsfähigkeit ICF: Fähigkeit + Kontext = Partizipation Schädliches Mitarbeiter Ranking Prof. M. Beckmann, Wirtschaftswissen, Univ. Basel • UBS: forced ranking system • 10% Note 5 • Entlassungsturniere (z.B. Infineon, General Electric) • Forciert Konkurrenzkampf und unterminiert Teamfähigkeit • Fördert Mobbing und Sabotage Basler Zeitung 15.11.2011 Arbeit macht Angst: Existenzsicherung – Ungewissheit sachliche Bedrohung – Unfallgefahr Bedrohung durch Dritte – unfreundliche Kunden, Schüler Leistungsanforderungen – berufliches Scheitern soziale Unterordnung/Rudelverhalten – Hackordnung Angst und soziale Hierarchie Der Mensch ist ein „Rudeltier“ In „Rudeln“ gibt es angeborenerweise eine Rangfolge („Hackordnung“) Die Soziale Rangfolge wird angeborenerweise durch Angst gesichert Bedrohung läuft über Blickverhalten (ich behalte Sie im Auge) und Ausdrucksverhalten (Mimik, Tonfall) Soziale Auseinandersetzungen in Gruppen sind unabänderlicher Alltag (z.B. Mobbing) Das Arbeitsrecht u.a. dient der Kanalisierung derartiger Konflikte Nachteile von Rudelverhalten Statussymbole Hackordnung Gruppenbildung und Ausgrenzung Revierverhalten Mobbinghandlungen telefon. Befragung 2001 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Gerüchte, Unwahrheiten 70 60 % falsche Bewertung d. Arbeitsleistung Sticheleien, Hänseleien 50 Vorenthalt von Informationen 40 Arbeit massiv ungerecht kritisiert Ausgrenzung 30 20 10 0 als unfähig darstellen beleidigen Arbeitsbehinderung Arbeitsentzug N=4396: 2,7% aktuelles Mobbing 5,5% Mobbing im vergangenen Jahr 11,3% Mobbingerfahrung Höhe Krankenstand und Betriebsklimaindex 0,35 0,3 0,25 0,2 Korr. Koeff. 0,15 0,1 0,05 0 All Ko ge lle ge me n in Vo Or Inf ga o rm rge nis se ati ati tzt on on e Drupp M., Dtsch Ärzteblatt 2004, 101, 1570-1574 Gerechtigkeit am Arbeitsplatz Die Natur hat alle Menschen so geschaffen, dass Ungrechtigkeit als persönliche Aggression erlebt wird. Lerner (1980) The belief in a just world, a fundamental delusion, Plenum, New York Verbitterung ist eine sich selbst verstärkende „masochistische Anpassungsreaktion“, die ein Gefühl von Kontrolle durch Selbstzerstörung gibt Ausgeprägte Verbitterung ist stets verbunden mit einem brennenden Gefühl von Unfairness und Ungerechtigkeit, einem zur Gegenwehr herausfordernden Gefühl, dass einem grundlos oder zumindest ohne hinreichenden Grund Schlimmes widerfahren ist. Alexander J (1960) The psychology of bitterness. Intern. J. Psychoanal. 41, 514- 520 Soziale Ängste in der Bevölkerung öffentliche Rede 16 Rede vor Gruppe 14 vollen Raum betreten 12 fremde Toilette Schreiben unter Beob. 10 % 8 Essen unter Beob. Angst vor Blamage 6 Reden mit Autoritäten 4 Augenkontakt 2 Besuch einer Party Warenumtausch 0 Stein et al: Arch. Gen. Psychiat. 200,57,1046-1052 Fremden vorgestellt weren Arbeitsstress nach Berufsgruppen Lehrer Krankenschwestern Management Angestellte Verkehr Bau Pfarrer Gesundheitswesen Landwirtschaft Bandarbeit Catering Lagerarbeit Friseur 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 % Reporting high stress The scale of occupational stress: A further analysis of the impact of demographic factors and type of job. London: HSE, 2000 Krankenstand nach Branchen für 2001 und 2002 (in %) 6,0% öffentliche Verwaltung Baugewerbe Produktion Verkehr Bergbau 5,3% Land- und Forstwirtschaft Dienstleistungen Handel Banken/Versicherungen 3,5% 0 2 4 6 Fehlzeiten-Report 2003, Wissenschaftl. Institut der Ortskrankenkassen 8 % Situation am Arbeitsplatz (KOLA) und psychosomatische Beschwerden (SCL-90) Akzeptierte Verantwortung Nicht honorierte Belastung Angst am Arbeitsplatz Autonomie am Arbeitsplatz Geistige und Körperliche soziale Arbeit Kompetenz Kopfschmerzen Rückenschmerzen + + Magenbeschwerden + Bauchschmerzen + Schlafstörungen + + Müdigkeit + Depression + + + + Durchfall Schwindel + Schwäche + Hauptdimensionen und Subskalen der Job-Angst-Skala (JAS) Stimulusbezogene Ängste und Vermeidungsverhalten -antizipatorische Angst -phobische Vermeidung -konditionierte Angst -globale Arbeitsplatzangst (Globalitems) Soziale Ängste und Beeinträchtigungskognitionen -Ausbeutungsangst -Soziale Ängste -Bedrohungs- und Beeinträchtigungsüberzeugungen Gesundheits- und körperbezogene Ängste -hypochondrische Tendenzen -Panik und körperliche Symptome -Funktionsbezogene Ängste Insuffizienzerleben -allgemeine Insuffizienzgedanken -Veränderungsängste Arbeitsplatzbezogene -Sorgen im Sinne arbeitsplatzbezogener generalisierter Sorgen Angststörung (AP-GAD) -Existenzangst JAS-Subskalenmittelwerte M.I.N.I-Arbeitsangst-Interview: Ängste am aktuellen Arbeitsplatz 40 35 30 25 20 Männer Frauen 15 Gesamt 10 5 0 AP-Panik AP-(Situations- Spez. APunspez. AP)Phobie Sozial-Phobie Sozial-Phobie AP-SozPhobie gesamt AP-GAD AP-PTSD Anteil von Patienten mit Arbeitsplatz-Ängsten, die zugleich an einer identischen allgemeinen Angsterkrankung leiden 70 60 50 40 % 30 20 10 0 AP-(Situations)Phobie AP-Panik Spez. APSozial-Phobie unspez. APSozial-Phobie AP-Soz-Phobie gesamt AP-GAD AP-PTSD Anteil von Patienten mit Arbeitsplatzabwesenheit in Abhängigkeit von unterschiedlichen Formen der Arbeitsplatzangst Arbeitsplatzphobie (N=39) Generalisierte Angst (N=70) Insuffizienzängste (N=61) Hypochondrische Ängste (N=23) Situationsängste (N =46) Unspezifische Soziale Phobie (N=13) Spezifische Soziale Phobie (N=39) Anpassungsreaktion mit Angst (N=45) PTSD (N=4) 0% 20% 40% 60% keine Partizipationsprobleme Kurzzeitiges Fernbleiben Krankschreibung Verlust oder Wechsel des Arbeitsplatzes 80% 100% Sozialmedizinische und therapeutische Sonderprobleme bei Arbeitsplatzängsten und -phobien Phobie: panikartige Angstzustände bei der Annäherung oder beim Gedanken an eine Situation und Nachlassen der Angst bei Vermeidung Arbeitsplatzphobie: der angstauslösende Stimulus ist der Arbeitsplatz, ein Mitarbeiter, der Vorgesetzte u.a. Besonderheit der Störung: sie führt unmittelbar zu erheblichen negativen sozialmedizinischen Folgen Besonderheiten der Therapie: eine Expositionsbehandlung ist bei arbeitsplatzbezogenen Ängsten, anders als z.B. bei einer U-Bahn-Angst, nur bedingt möglich ICD ICF Therapie Symptombehandlung Beschwerden Symptome ICF Funktionsstörung Diagnostischer Algorithmus Mini-ICF-APP ICD-10 Diagnose ICF Fähigkeitsstörung Fähigkeitentraining Krankheitsstatus ICF Kontextfaktoren Kontextänderung Behandlungserlaubnis ICF Partizipationsstörungen Soziale Unterstützung (z.B. AU, EU) Salutotherapie Spezielle diagnostische Interventionen bei Arbeitsplatzproblemen an der Abteilung Verhaltenstherapie und Psychosomatik am Rehabilitationszentrum Seehof – Medizinische Befundung – Standardisierte Leistungs- und Testdiagnostik – Individuelle Diagnostik von Berufsstatus, Berufsproblemen, Anforderungsprofil und Erwerbsprognose – Ergotherapeutische Leistungsbeurteilung – Bewegungstherapeutische Leistungsbeurteilung – Berufliche Belastungserprobung – Beobachtung des Spontanverhaltens Spezielle therapeutische Interventionen bei Arbeitsplatzproblemen an der Abteilung Verhaltenstherapie und Psychosomatik am Rehabilitationszentrum Seehof – Einzel- und Gruppenpsychotherapie zum Angstabbau, zur Depressionsreduktion, Besserung von Selbstwirksamkeit, Belastungsbewältigung – Rehapharmakotherapie – Ergotherapeutisches Leistungstraining (Konzentration, Ausdauer, Funktionstraining) – Therapiegruppe „Konfliktmanagement am Arbeitsplatz“ – Therapiegruppe „Zeitmanagement am Arbeitsplatz“ – Therapiegruppe „Beruf und Chance - Bewerbungstraining“ – Internetsuche – Bewerbung aus der Klinik – berufliche Reha-Beratung – arbeitsplatzbezogene Einzelberatung – Kontakte mit Arbeitgebern – Berufliche Belastungserprobung – nachgehende sozialarbeiterische Betreuung – IRENA Ergebnisse einer kontrollierten Evaluationsstudie 15% 10% 5% 0% - 5% Voll Halb - 10% - 15% Interventionsgruppe Ausb. Hausf. AL. Rente. Voll Halb Δ Erwerbstätigkeit Gesamt: Ausb. Hausf. -4,6% Kontrollgruppe Koch et al 2005: Gruppenunterschiede des Erwerbstätigkeitsstatus Aufnahme vs. 3 Monate nach psychosomatischer Rehabilitation -10,8% AL. Rente. Richtlinie zur Feststellung von Arbeitsunfähigkeit AU liegt vor, wenn ... ... jemand seine ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung seiner Erkrankung ausführen kann ...aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine AU bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Genesung abträgliche Folgen erwachsen, die AU unmittelbar hervorrufen ...ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Krankheit und der dadurch bedingten Unfähigkeit zur Funktionsausübung besteht Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben Zusammenfassung Arbeitsplatzbezogene Ängste und Phobien sind ein häufiges Problem Kluge Mitarbeiterführung geht klug mit Angst um (Mensch-Aufgaben-Passung) Controlling, Zielvereinbarungen u.ä. sind ein neues Thema für die Arbeitsmedizin Arbeitsplatzphobie verlangt eine gründliche Differentialdiagnostik Arbeitsplatzphobie erfordert spezielle Therapiemaßnahmen Arbeitsplatzphobie ist ein besonders komplexes Problem mit bislang ungenügender Forschung zu den Bedingungen, der Diagnostik und der Therapie WORK IS GOOD FOR YOU Some pressures can, in fact, be a good thing. It is often the tasks and challenges we face at work that provide the structure to our working days, keep us motivated and are the key to a sense of achievement and job satisfaction Stress At Work: HSE, 1995