Psychiatrische Notfälle: Überblick, Umgang, Kommunikation Weiterbildung Interdisziplinäre Notfallmedizin, 16.4.2016, Luzern Dr. Dr. Stefan Weinmann Ärztlicher Leiter Kriseninterventionsstation und Psychiatrischer Konsiliardienst am Universitätsspital Basel, Petersgraben 4, 4031 Basel Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | 16.04.2016 | 1 Was ist ein psychiatrischer Notfall? 1. Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen haben „normale“ Notfälle 2. Psych. Erkrankung kann NotfallBehandlung erschweren 3. Notfall im Rahmen oder durch die psych. Erkrankung 4. Notfall durch bestehende Therapie psychischer Erkrankung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 2 Notfall? Krise? Psychiatrische Krise Psychiatrischer Notfall ›selten durch direkte vitale Bedrohung gekennzeichnet › Rasches Handeln zur Abwendung von Lebensgefahr oder anderen Folgen ›Fehlen/Zusammenbrechen individueller u./o. sozialer Bewältigungsstrategien im Rahmen belastender KrankheitsUmgebungsbedingungen Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | › An der akuten Symptomatik orientierte Therapie › Meist auf dem Boden einer psychiatrischen Erkrankung | 3 Herausforderungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen …. › Patienten mit einzubeziehen, › zur Mitarbeit zu bewegen, › ein therapeutisches Bündnis herzustellen, › Absprachefähigkeit und shared decision making zu gewährleisten. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 4 Psychiatrischer Patient = schwieriger Patient? › Oft zeitaufwendig - Ruhe gefragt › Akzeptanz bei Betroffenen und Umgebung › Manchmal fehlt Behandlung-Krankheitseinsicht, Hilfe wird abgelehnt › Manchmal Handeln gegen Willen des Patienten erforderlich › Im Gegensatz zum somatischen Fall kann auch Gefährdung anderer Personen bestehen › Die Diagnose ist oft nur auf Syndromebene möglich Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 5 Häufigste psychiatrische Krankheitsbilder auf Notfallstationen (15% aller Notarzteinsätze aufgrund psychischer Erkrankungen) › Alkoholintoxikation (32%) › Suizidalität (17%) › Alkoholentzugssyndrome (11%) › Hyperventilation und andere Paniksymptome (10%) › Drogennotfälle (9%) › Akute Belastungsreaktionen bei Trauma (ca. 3%) › Depressionen (2%) › Psychosen (2%) › Psychiatrische Erkrankung als Begleiterscheinung (35%) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | Kardels et al. 2003| | 6 Psychiatrische Notfalluntersuchung ›Bewusstsein: quantitativ/ qualitativ? ›Kognition/ Denkfähigkeit ›(Psycho-)Motorik ›Stimmung/ Affekt ›„Produktive“ Symptome ›Suizidalität ›Fremdgefährdung ›Krankheitseinsicht Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 7 Merke ›Solange eine organische (Mit-) verursachung nicht ausgeschlossen/geklärt ist, sollte eine psychiatrische Erkrankung nur unter Vorbehalt diagnostiziert werden. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 8 Algorithmus – 1 Ursachen psychiatrischer Syndrome Orientierung und Merkfähigkeit vorhanden? NEIN Fieber, vegetative Symptome, Symptomwechsel? JA Delirante Symptomatik: -Meningitis - Intoxikationen - Sepsis - Schlaganfall - postiktal - post-OP Delir Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | NEIN Dementielles Syndrom -Hirn-Tumor - MS - M. Parkinson - Amnest. Syndrom - Anämie - Vitamin-Mangel - hepatische(renale Enzephalopathie | 9 Algorithmus – 2 Ursachen psychiatrischer Syndrome Orientierung und Merkfähigkeit vorhanden? JA Stimmung/ Affekt beeinträchtigt?? JA Depressives/ Manisches Syndrom: - zerebraler Insult - Malignom - Herzinsuffizienz - M. Parkinson - HIV - Medikamenten-NW Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | NEIN Wahn vorhanden? JA Psychose -Medikamente - Drogen - Delir - Intox. - Enzephalitis - Schilddrüse - kardial NEIN - Angsterkrankung - Zwangserkrankung - somatoforme/ hypochondrische Störung - Essstörung - Persönlichkeitsstörung - Substanzabhängigkeit - Schlafstörung | 10 Typische Krankheitsbilder › Benommener, verwirrter Patient (Delir) › Unruhiger, wahnhafter Patient › Aggressiver, konfliktbereiter Patient (Erregungszustand) › Suizidaler Patient Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 11 Erregungszustand/psychiatrische Ursachen › Intoxikationen und Entzugssyndrome › Affektive Störungen: manische Zustände, agitierte Depression › Schizophrene Psychosen › Akute und chronische Psychosyndrome › Psychogene Reaktionen › Persönlichkeitsstörung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 12 Fremdgefährdungsmerkmale ›Psychomotorische Erregung, Anspannung ›Misstrauen ›Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen ›Aggressives Verhalten, Unkooperativität ›Subjektives Angstempfinden Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 13 Verhaltensmassnahmen medikamentöse Behandlung typische Fehler Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 14 Psychomotorischer Erregungszustand › Ruhiges, sicheres Auftreten, ruhig bleiben › Absolute Priorität: Selbstschutz, bzw. Schutz Dritter › Echtheit, positive Wertschätzung, Transparenz › Zuhören, Patient sprechen lassen › Nicht alleine ins Gespräch gehen, rechtzeitig Hilfe holen (Personal, Polizei) › Abstand halten › Geschützten Rahmen schaffen › Fluchtweg bereithalten › Ruhig, klar und verständlich sprechen › Sich nicht provozieren lassen › Orale Medikation anbieten › weiteres Vorgehen erklären Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 15 Deeskalierende Wirkung › Nonverbale Kommunikation › Gesenkte Arme und offenen Handflächen › Lautstärke, Tonhöhe › Selbstwertgefühl und das Vertrauen der anderen Person fördern › Nutzung offener Fragen › Vermeidung «Kommunikationskiller»: Moralisierung, Zurechtweisung, Beschuldigen Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 16 Medikamentöse Behandlung allgemein › Typische Notfallmedikamente: Benzodiazepine, Antipsychotika › Syndromgerichtet › Ziel: «rasche Wirksamkeit bei gleichzeitig geringer Beeinträchtigung von vitalen und vegetativen Funktionen»(Pajonk, 2003) › Wenn möglich Monitoring › Anpassung der Dosis bei Älteren, Leber-Niereninsuffizienz › Nebenwirkungen beachten(Atemdepression, Blutdruckabfall, paradoxe Wirkung, extrapyramidale Wirkung, QT-Verlängerung), verfügbare Gegenmittel vorhanden? (Anexate, Biperidin) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 17 Medikamente › Lorazepam p.o. /s.l. (1-2,5mg), Diazepam p.o.,i.m.,i.v. cave: nicht bei Sedativa-Alkoholintoxikation! Mit produktiver/psychotischer Symptomatik: › Risperidon 2-4mg p.o.,Schmelztbl. (Quicklet) bei Älteren 0,5mg › Olanzapin 5-10mg p.o.,i.m., Schmelztbl.(Zyprexavelotab 5,10,15mg), bei Älteren 2,5mg. › Haloperidol 2-10mg p.o., i.m. ,bei Älteren 1-3mg Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 18 Fehler im Umgang mit erregten, angespannten Patienten › Zögerliches Auftreten und unklare Entscheidungen › Missachten essentieller Sicherheitsvorkehrungen › Zu lange, fruchtlose Diskussionen › Keine ausreichende Überwachung › Übersehen «berechtigter» Erregung des Patienten › Unterlassen der somatischen und Fremdanamnese › Bagatellisierung von Krisen, vorwurfsvolles Verhalten Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 19 Suizidalität › Nach WHO-Statistik sterben pro Jahr 1 Million Menschen an Suizid. › Weltweite Suizidrate: 16/100000. › Hohe Dunkelziffer an SV. › Suizide häufiger als alle durch Verkehrsunfälle, AIDS und Drogen bedingten Todesfälle zusammen. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 20 Risikogruppen für Suizidalität › Vorangegangene SV › Vorangegangene psychiatrische Behandlungen › Suchterkrankungen › Persönlichkeitsstörung › Ältere Männer: für Suizide › Jüngere Frauen: für SV › Soziale Isolation › Körperliche chronische Erkrankungen Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 21 Indikatoren für eine akute Suizidalität Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 22 › Fehlende Distanzierung von Suizidideen, Suizidversuch › Erleben von drängenden Suizidgedanken › Ausgesprochene Hoffnungslosigkeit, Fehlen von Zukunftsperspektiven › Schwere depressive Verstimmung, depressive Wahnideen › Akute psychotische Symptomatik › Hinweise auf mangelnde Impulskontrolle › Fehlen eines tragfähigen Gesprächsrapports Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 23 Verhaltensmassnahmen medikamentöse Behandlung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 24 Der suizidale Patient «die wirksamste Hilfe bei Suizidgefährdeten ist das Gespräch..» (Wedler, 2004). › › › › Empathie, Wertschätzung, Authentizität danach fragen, geduldiges Zuhören, Erkennen Behandeln Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 25 Umgang mit Suizidäußerungen Wer an Selbstmord denkt, empfindet es als Entlastung, wenn man ihn darauf anspricht Innenwelten mit naher Bezugsperson kommunizieren Spielräume erweitern, Handlungsdruck abschwächen Rat zu professioneller Hilfe oder gemeinsame Suche Indikationen zur stationären Behandlung › Ausgeprägte depressive Störung mit deutlicher Angst, Agitiertheit, Wahnideen, Selbstvorwürfen. › Psychotische Symptomatik, paranoide Ideen, Halluzinationen, Erregung. › Chronischer Alkohol-, Medikamenten-, Drogenmissbrauch mit depressiver Verstimmung und suizidalen Äusserungen. › Einengung des Denkens auf suizidale Inhalte › Mangelhafte/fehlende Einbindung in soziale Strukturen Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 27 Medikamente › Bei akuter Suizidalität zur Sedierung Benzodiazepine (z.B. Lorazepam 1-2,5mg p.o.) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 28 Fehler beim Umgang mit Suizidalen › Nichtansprechen › Hinweis auf Zeitmangel › Belehrungen › Bagatellisierung suizidalen Verhaltens › Negative Gegenübertragung (gereizte Atmosphäre) › Fehlinterpretation, Unterschätzung von Suizidalität, Nichterkennen von Dissimulation › Fehlende Überwachung Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 29 Rechtliche Aspekte › Jede ärztliche Handlung bedarf der Rechtfertigung › Liegt Gefahr im Verzug vor, ist jeder zur Berufsausübung zugelassene Arzt zuständig. › Einweisung gegen den Willen muss immer ultima ratio bleiben, da massive Einschränkung der persönlichen Rechte und ggf. Beeinträchtigung der späteren Therapie. › Voraussetzung ist, dass auf Grund diagnostizierter psychischer Störung eine erhebliche Gefährdung für die eigenen Person oder Dritte besteht und eine Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. › Schweiz: Fürsorgliche Unterbringung (FU) kantonal geregelt. › Grundsätzlich zuständig: Kinder-Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 30 Fall 1 › 51-jähriger Patient, Handverletzung mit Fraktur. › Fremdanamnese durch Ehefrau: zunehmende Aggressivität in den letzten Tagen. Er schlafe kaum noch und sei nächtelang ausser Haus, Konto überzogen, mehrere Autos gekauft. › «Tobsuchtsanfall» nachdem Ehefrau vorgeschlagen habe zu seinem Psychiater zu gehen. Dabei Geschirr und Möbel zertrümmert. › Zudem ist ihr aufgefallen, dass Schlüssel zum Waffenschrank fehle. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 31 Fall 2 › Vorstellung 43- jährige Verkäuferin auf Drängen und in Begleitung des Ehemannes mit diffusen somatischen Beschwerden. › Seit Wochen Freud-Antriebslosigkeit, zudem Schlafstörungen. › Probleme am Arbeitsplatz, vor einigen Tagen Kündigung. › Äusserung suizidaler Gedanken. › Ablehnende, bagatellisierende Patientin. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 32 Fall 3 › 45-jähriger LKW-Fahrer, einige Stunden zuvor mit seinem LKW Passanten überfahren. › Patient ist ängstlich getrieben, weinerlich, beschäftigt sich ununterbrochen mit seiner Schuld am Tode des Passanten. › Berichtet über sich aufdrängende Bilder. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 33 Traumata › Ruhige Atmosphäre, emotionale Präsenz («ich bleibe bei Ihnen») › Sprechen, aktives Zuhören › Abschirmen von Unbeteiligten › Soziale Hilfe (jdm. benachrichtigen) › Psychoedukation über mögliche posttraumatische Symptome und Hilfen. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 34 Fall 4 › Sehr beeinträchtigte 60-jährige Patientin in Begleitung der Tochter. › Tochter berichtet, dass ihre Mutter seit Wochen über starke Schmerzen in den Gelenken klage. › Daher regelmässige Einnahme von Diclofenac. › Seit Jahren wiederkehrende depressive Phasen, weswegen sie Medikamente bekomme. › Seit 5 Tagen Schwindel, Übelkeit, Durchfall. › Seit Morgen sei ihre Mutter durcheinander und spreche verwaschen, Zittern der Hände. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 35 Allgemeine Ansätze aktiver Gesprächsführung EWE-Prinzip: ›Empathie, Wertschätzung und Echtheit im Verhalten. › 1.Ebene: wohlwollendes und wertschätzendes Interesse zeigen: «Erzählen Sie mal…» › 2.Ebene: Inhaltliches Verständnis herstellen (aktives Zuhören) : »ich fasse mal zusammen..» › 3.Ebene: emotionales Verständnis signalisieren: »das war bestimmt sehr unangenehm». Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 36 CALM-Modell › C-Contact: ruhig, sachlich bleiben, respektieren dass sich Pat. in einer schwierigen Situation befindet, freundlich zugewandtes Verhalten. › A-Appoint: die vom Pat. gezeigte Emotion direkt benennen («Sie sind wütend/enttäuscht»). › L-Look ahead :(falls Patient noch nicht beruhigt werden konnte) klären,wie beide gemeinsam weitermachen können (Angebot machen), ggf. Grenzen/Spielregeln benennen, keine Drohungen! › M-Make a decision: einen «Vertrag» anbieten, den der Patient akzeptieren kann oder nicht. Alternative Angebote machen (sofern möglich). Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 37 VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT !! Stefan Weinmann Kriseninterventions-Station Universitätsspital Basel www.upkbs.ch Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel | www.upkbs.ch | | 38