Wilber-Gesellschaeftstheorie

Werbung
Auszug
Ken Wilber :
"Halbzeit der Evolution"
Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum
kosmischen Bewußtsein
Kapitel 19
Gesellschaftstheorie von morgen: humanistisch-marxistisches,
konservatives oder mystisches Denken?
In diesem Buch habe ich die These aufgestellt, der Kern einer wirklich
vereinigten kritischen Sozialtheorie ließe sich am besten auf eine ins einzelne
gehende multidisziplinäre Analyse der Entwicklungslogik und der
hierarchischen Austauschebenen aufbauen, aus denen sich das vielschichtige
Individuum zusammensetzt. Das müßte als Minimum folgendes einbeziehen:
1. Die physisch-uroborische Ebene materiellen Austauschs, deren Paradigma
Nahrungsaufnahme und -entnahme aus der natürlichen Umwelt ist; die
dazugehörige Sphäre ist die der Handarbeit (oder technologischer Arbeit); ihr
archetypischer Analytiker ist Karl Marx.
2. Die emotional-typhonische Ebene pranischen Austauschs, deren
Paradigma Atem und Sexualität ist; ihre Sphäre ist gefühlsbasierter Verkehr vom reinen Gefühl über Sex bis zum Machtgefühl -, ihr archetypischer Analytiker
ist Sigmund Freud.
3. Die auf verbaler Gruppenzugehörigkeit beruhende Ebene symbolischen
Austauschs, deren Paradigma das Gespräch (Sprache), deren Sphäre
Kommunikation (und der Beginn der "Praxis"), und deren archtypischer
Analytiker Sokrates ist.
4. Die mental-ichhafte Ebene des Austauschs von auf Gegenseitigkeit
beruhender Selbstachtung, deren Paradigma Ichbewußtsein oder
Selbstreflexion ist; ihre Sphäre ist die gegenseitiger persönlicher Anerkennung
und Wertschätzung (der Höhepunkt der "Praxis"), und ihr archetypischer
Analytiker ist Hegel (in seinen Schriften über die Beziehung zwischen Herr und
Sklave),
5. Die psychische Ebene intuitiven Austauschs, deren Paradigma Siddhi (oder
psychische Intuition in ihrem weitesten Sinne) ist; ihre Sprache ist schamanische
Kundalini und ihr archetypischer Analytiker Patanjali.
6. Die subtile Ebene des GOTT/LICHT-Austauschs, deren Paradigma
Transzendenz zum Heiligen und Offenbarung ist (Nada); ihre Sphäre ist subtiler
HIMMEL (Brahma.Loka), ihr archetypischer Analytiker Kirpal Singh.
7. Die kausale Ebene allerhöchsten Austauschs, deren Paradigma völlige
Versenkung ins Ungeschaffene und als das Ungeschaffene (Samadhi) ist; ihre
Sphäre ist die LEERE/GOTTHEIT und ihr archetypischer Analytiker
Buddha/Krishna/Christus.
Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, in diesem Schlußkapitel solch eine umfassende
Theorie in einer mehr ins einzelne gehenden Darstellung zu präsentieren, wobei ich
mich vor allem auf die Arbeiten der Frankfurter Schule stützen wollte, die - vor allem
durch Habermas - für die Ebenen 1 bis 4 schon das Fundament gelegt hat. Dann
aber wurde mir klar, daß dies ein allzu detaillierter Abschluß für ein Buch gewesen
wäre, das ansonsten versucht hat, nur allgemeine Zusammenhänge und erste
Annäherungen aufzuzeigen. Mir schien es deshalb angemessener, die Diskussion
hier auf die drei grundlegenden "Kategorien" zu konzentrieren, in denen das
Bewußtsein selbst existieren kann, nämlich das Subjektive, das Objektive und das
Nicht-Dualistische (oder Atman selbst). Diese drei Kategorien umspannen die
gesamte große Kette des Seins, weshalb die wesentlichen Thesen durch
2
Bezugnahme auf diese drei Kategorien viel einfacher dargestellt werden können.
Was wir untersuchen wollen, sind die Arten von Gesellschaftstheorien, die innerhalb
dieser drei Kategorien entstanden sind. Darüber hinaus soll die Frage gestellt
werden, wie sie in einem umfassenderen Rahmen zu einer Synthese
zusammengebracht werden können.
Zu Beginn dieses Versuchs möchte ich einfach feststellen, daß die kritischen
Theoretiker der Gesellschafts- und der politischen Wissenschaft immer wieder vor
dem zentralen Problem gestanden haben: "Warum sind Männer und Frauen
unfrei?"
Die Antworten, die im Abendland darauf gegeben werden, fallen ungefähr in zwei
Kategorien. Die einen suchen die Ursache der Unfreiheit in objektiven, die anderen
in subjektiven Kräften. Die Antworten der ersten Kategorie kamen etwa von
Rousseau, und es folgten weitere bis zu Karl Marx und anderen Sozialreformern; sie
alle bildeten heute die Basis dessen, was man locker als "liberale" Weltanschauung
bezeichnet. Dazu gehören alle Formen humanistischer Psychologie und
Philosophie. Deren Grundanschauung ist: Der Mensch wird seinem Wesen nach frei
geboren und ist von Natur aus gut und liebesfähig. Er wird jedoch in eine
gesellschaftliche und politische Welt, eine "objektive" Welt hineingeboren, die
ihrerseits soziale Ungleichheit, Unterdrückung und bösen Willen lehrt und verewigt.
Wenn auch die Menschen unterschiedlich mit Talenten, Intelligenz und Initiative
ausgestattet sind, so besteht doch eine so unerhört unfaire Verteilung des
Reichtums, daß diese nicht allein auf subjektive Unterschiede zurückgeführt werden
kann. Vielmehr muß man dafür einen objektiven politischen Überbau verantwortlich
machen, der es einigen begünstigten Individuen gestattet, die Arglosen
auszubeuten und zu unterdrücken.
Um ein abgedroschenes Beispiel zu geben: John D. Rockefeller kann eine Million
Male mehr Geld machen als ein durchschnittlicher Arbeiter verdient. Und dennoch
arbeitet er nicht eine Million Male härter, ist nicht millionenfach intelligenter,
anständiger oder mutiger. Mit anderen Worten: Etwas anderes als John D. (etwas
für ihn "Objektives") ist für einen großen Teil seines Erfolges verantwortlich, und
dieses "andere" ist ein Umfeld, in dem wirtschaftliche Ausbeutung erlaubt oder
sogar ermutigt wird. Auf keine andere Weise, so heißt es in dieser Theorie, läßt sich
die Tatsache erklären, daß zum Beispiel in den Vereinigten Staaten etwa 10 % der
Einwohner über 60 Prozent des nationalen Reichtums verfügen. Diese 10 % mögen
wie John D. helle Köpfe, intelligent und voller Initiative sein, doch sind sie nicht um
so viel mehr mit diesen gaben ausgestattet, als ihre Mitbürger. Vielmehr kann eine
kleine Gruppe infolge eines gegebenen Überbaus wirtschaftlicher und politischer
Ausbeutung aus der Arbeitsleistung anderer einen unverhältnismäßig großen Anteil
am nationalen Wohlstand abzweigen.
Da der Umfang des nationalen Wohlstands begrenzt ist, müssen alle anderen sich
mit viel weniger günstigen Bedingungen abfinden. Das ist nach Ansicht dieser
Theorie der Grund, warum Menschen unfrei sind - sie werden unterdrückt,
ausgebeutet und mit Füßen getreten. Etwas in der objektiven äußeren Welt zwingt
dem Subjekt Unfreiheit auf. Dieses Argument läuft wie ein roter Faden durch die
humanistische Psychologie und Philosophie: Die Menschen sind wirtschaftlich
unfrei, weil sie unterdrückt, psychologisch unfrei, weil sie geistig eingeschränkt
werden. Das ist die eine Seite der im Abendland gegebenen Antworten.
Da nach dieser Meinung die objektive Welt die Unfreiheit verschuldet, muß sie
zwecks Verbesserung der Lage erheblich geändert werden. Wie diese Gruppe die
Lösung des Problems Unfreiheit sieht, ist klar:
3
Aufhebung der Unterdrückung durch Umverteilung des Wohlstandes;
Aufhebung der Verdrängung durch Vermittlung mentaler Gesundheit an
alle; Abschaffung der ausbeuterischen politischen und wirtschaftlichen
Strukturen, damit alle freien Zugang zum Überfluß der Natur haben.
Diese politische Methode umfaßt das ganze Spektrum von den reinen Marxisten
über die Sozialisten und die Liberalen bis zu den Demokraten.
Im psychologischen Bereich müßte die repressive Familie abgeschafft werden mit
all ihren überlieferten Erziehungsmethoden und traumatischen Erfahrungen, die
durch repressive Kindererziehung entstehen. Man sollte Liebe, Freundlichkeit und
Mitleid lehren, um auf diese Weise die dem Menschen eingeborene subjektive Güte
ans Licht zu holen. Das ist die psychologische Methode, die heute groß in Mode ist,
von Marcuse über die humanistische Psychologie bis zu den "Encounter-Groups",
von Horney, über Maslow, Fromm und wie sie alle heißen bis zur PermissivitätsBewegung. Für die beiden Flügel dieser Gruppe, den politischen und den
psychologischen, entsteht alles Böse aus der Unterdrückung des ursprünglich
vorhandenen oder angeborenen Guten: Übel ist das verdrängte Gute. Mit anderen
Worten: Übel ist ein objektives Verdrehen des subjektiven Guten.
Die zweite Gruppe beginnt bei Hobbes und Burke und verläuft von da über Leute
wie Freud und die traditionellen Ethnologen bis hin zu den politisch Konservativen.
Diese behaupten, der Mensch sei nicht so sehr wegen objektiver gesellschaftlicher
Institutionen unfrei, sondern wegen etwas, das von Anbeginn zur Natur des
Menschen gehöre. Das Subjekt trage dafür vor allem die Verantwortung, nicht das
Objekt. Psychologisch wird diese Anschauung am besten von der mit "niederen
Instinkten" arbeitenden Denkschule von Männern wie Darwin, Lorenz und auch
Freud repräsentiert. Sie behaupten ganz allgemein, der Mensch werde, um Freuds
besondere Ausdrucksweise zu übernehmen, mit drei - und nur diesen drei Begierden geboren: Inzest, Kannibalismus und Mord. Das ist der subjektive Kern
der Menschheit. Diese subjektive Natur und nicht irgendeine objektive Erziehung
bilde das Fundament von Unfreiheit, Grausamkeit, Bosheit und Ungleichheit. Aus
dieser eigenartigen Sicht ist es das beste, was die Gesellschaft und die Familie tun
können, sehr früh mit dem Auftragen des "Lacks" zu beginnen. Man soll Schicht für
Schicht von Kontrolle, Gesetz und Ordnung auftragen, dem Menschen Rationalität
und allerlei Beschränkungen "aufpfropfen", alles in der Hoffnung, aus geborenen
Killern gesellschaftliche Konformisten zu machen.
Während also für die erste Gruppe das Böse verdrängtes Gutes ist, faßt die zweite
Gruppe das Gute als verdrängtes Böses auf. Für die erste ist das Böse ein
objektives Verdrehen subjektiven Gutseins; für die zweite ist das Gute eine objektive
Beherrschung des subjektiven Bösen. Der Mensch wird nach dieser letzteren
Meinung als bösartiges Wesen geboren, und das Gute, was man aus ihm
herausholen kann, erhält man nur durch Unterdrückung des Tiers im Menschen.
Gelingt diese Verdrängung nicht, dann ist der Teufel los.
Im politischen Bereich ist diese Gruppe der Ansicht, Ungleichheit und soziale
Ungerechtigkeit seien absolut unvermeidlich. Dies sei so aus positiven Gründen
(den Menschen seien unterschiedliche Fähigkeiten angeboren, und man könne
entweder Gleichheit oder gleiche Chancen haben, niemals aber beides) und auch
aus negativen (den Menschen sind auch böse Potentiale eingeboren). Edmund
Burke würde in diesem Zusammenhang sagen, eine Revolution, die zu einer
unterschiedlichen objektiven Gesellschaftsstruktur führe, wäre nutzlos, weil sie
weiterhin die grundlegende subjektive menschliche Natur intakt ließe. Und
tatsächlich könnte es sogar noch schlimmer werden. Denn wenn der Staat selbst
und sein restriktive politische Maschinerie ein Teil der notwendigen Tünche sind, mit
der man Tollheit und Anarchie übermalt, dann bringt eine Revolution nicht
4
Befreiung, sondern den kollektiven Nervenzusammenbruch. Sind objektive
Institutionen relativ fair, relativ demokratisch und relativ human, dann sollte man
nicht daran rühren - das ist die politische Philosophie des Konservatismus. So wie
orthodoxe Psychiater und Psychoanalytiker die humanistischen "EncounterGruppen" überhaupt nicht billigen (denn wenn ihre Individuen kollektiv "ihre Masken
vom Gesicht nehmen" und immer tiefere Schichten ihres subjektiven Ich zur Schau
stellen, dann kommt ihrer Meinung nach am Ende nur eine Gruppe irrationaler Killer
zum Vorschein), so mögen Konservative nicht irgendwelches progressives und
liberales Herummanipulieren an gesellschaftlichen Institutionen, da sehr viel dafür
spräche, daß dabei nur noch Schlimmeres herauskomme (Standardbeispiel: Die
Französische Revolution unter dem Banner der "Aufklärung")

Für die erste Gruppe, die wir die humanistischen Marxisten nennen wollen,
sind die Menschen unfrei, weil das Subjekt, das "wahre Ich" von objektiven
Faktoren verdrängt und unterdrückt wird.

Für die zweite Gruppe, die wir die freudianischen Konservativen nennen
wollen, sind die Menschen unfrei, weil das "wahre Ich" verdrängt und
unterdrückt werden muß: Das Subjekt hat an allem Schuld.

Nun tritt unsere dritte Gruppe auf den Plan, die der Mystiker. Wer sich - wie ich
es tue - zu dieser Gruppe zählt, ist der Ansicht, der Mensch sei vor allem
deshalb unfrei, weil es den Glauben an die Existenz eines "wahren Ich" gibt.
Unfreiheit, Leiden und Ungleichheit entstehen demnach nicht, weil das Objekt
dem Subjekt irgend etwas antut oder umgekehrt, sondern allein schon wegen
des ursprünglichen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt. Wir sollen
demnächst das Ich weder verdrängen noch unterdrücken, sondern es
unterminieren, es transzendieren, es durchschauen.
Diese drei Kategorien psychologisch/politischer Philosophie sind es, deren
Verschmelzung wir anstreben. Bemerkenswert ist, daß sich diese Theorien meines
Erachtens nicht gegenseitig widersprechen, sondern komplementär sind. Lassen
Sie uns das einmal näher anschauen.
Zunächst einmal trifft es nicht zu, was die Humanisten/Marxisten uns glauben
machen wollen: daß ein Ich ohne Verdrängung oder Unterdrückung existieren kann.
Das "freie Ich" ist ein formaler und logischer Widerspruch und hat nicht mehr
Bedeutung und Wirklichkeit als die Quadratur des Kreises. Ein "freies Ich" und ein
"quadratischer Kreis" existieren nur als Worte, nicht als Wirklichkeit. Wo es ein
Anderes gibt, da gibt es auch Furcht; wo es ein Ich gibt, da gibt es Angst - das ist
eine buddhistische und auch in den Upanishaden zu findende absolute Wahrheit.
In der Politik wird sich das marxistische Argument von selbst erledigen: Eine
Revolution nach der anderen wird das Ich in Angst, Schmerzen und Ketten belassen
- ganz einfach weil sie das Ich nicht beseitigen wird. Zwar trifft es zu, daß eine faire
Verteilung der Gaben der Natur viel Gutes tun kann (und bereits getan hat), doch
bleiben die fundamentalen Probleme davon unberührt, weil die Struktur des
Bewußtseins selbst unverändert bleibt. Das gilt auch für die humanistische
Psychologie und Psychotherapie: Auch da wird der Elan schließlich verkümmern.
Nach allen Encounters, Urschreien, dem Herauskehren der Eingeweide und nach
aller Katharsis bleibt das Ich immer noch das Ich, und die Angst kommt immer
wieder.
Es scheint also, als hätten die freudianischen Konservativen das letzte Wort, daß
Unfreiheit und Ungleichheit in den Menschen selbst liegen, nicht in menschlichen
Institutionen. Damit haben sie aber nur zur Hälfte Recht. Denn Unfreiheit,
Aggression und Ängste sind nicht charakteristisch für die Natur des Menschen,
5
sondern für das menschliche separate Ich. Nicht die Instinkte ruinieren den
Menschen, sondern sein psychischer Appetit, der seinerseits ein Produkt seines
Eingegrenztseins ist, nicht seiner Biologie.
Die Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen verursacht Furcht, die Grenze
zwischen dem Vergangenen und der Zukunft verursacht Ängst, die Grenze
zwischen Subjekt und Objekt verursacht Begierden. Während die Biologie nicht
zerstört werden kann, lassen Grenzen sich transzendieren.
Es sind die exklusiven Grenzen in der Bewußtheit und für die Bewußtheit, die die
ursprüngliche Unfreiheit begründen, und nicht spezifische Aktionen innerhalb dieser
Grenzen oder über sie hinaus. Solange die Seele sich vom All abgrenzt, wird sie
gleichzeitig Angst und Verlangen, Thanatos und Eros, Schrecken und Durst
verspüren. Die Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen ist der Schrecken des
Lebens; die Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein der Schrecken des Sterbens.
Solange Menschen Sklaven ihrer Grenzen sind, werden sie in Kämpfe verwickelt
sein; jeder Militärexperte wird bestätigen, daß dort, wo es keine Grenze gibt, ein
Krieg unmöglich ist. Das Ziel der Mystik ist es, die Menschen aus ihren Kämpfen zu
befreien, indem sie sie von ihren Grenzen befreit - weder das Subjekt noch das
Objekt zu manipulieren, sondern beide in nichtdualistischem Bewußtsein zu
transzendieren.*
Die Entdeckung des höchsten Ganzen ist das einzige Gegenmittel gegen Unfreiheit
und die einzige medizinische Verordnung, die die Mystiker anbieten.
Also hat der Buddha - oder später Christus oder Padmasambhava oder Rumi oder
Meister Eckhart oder Ramana Maharshi oder wen man sonst als mystisches Vorbild
nehmen will - recht, weshalb wir ihn zum Fundament der von uns angestrebten
Verschmelzung machen. Potentiell sind die Menschen vollkommen frei, weil sie
Subjekt und Objekt transzendieren und in ein unverstelltes Einheitsbewußtsein
durchbrechen können, das vor allen Welten existiert, aber kein anderes ist. Die
letzte Lösung für das Problem der Unfreiheit ist also weder humanistischer
Marxismus noch freudianischer Konservatismus, sondern buddhistisches, d.h.
allgemein "mystisches" Erwachen, Erlösung, Satori, Moksha, Wu, Metanoia.
Und nun zum zweiten Kapitel unserer angestrebten Verschmelzung. Sobald eine
Grenze zwischen Subjekt und Objekt, dem Ich und dem Anderen, dem Organismus
und der Umwelt errichtet ist, ist das Ichempfinden von innen her unfrei und von
innen her imstande, aus einem Gefühl reiner Panik (wegen seiner Sterblichkeit und
Verwundbarkeit) gegenüber sich selbst und anderen bösartig zu sein. Das ist für
menschliche Bewußtheit nicht natürlich, aber normal, weil alle "Normalen" ein
separates Ichempfinden besitzen. Und für das Ichempfinden sind Verdrängung und
Unterdrückung zwingend. Das Ich muß sich nicht nur selbst verdrängen und jedes
Bewußtsein von Verwundbarkeit und Sterblichkeit aushalten, es muß in seinem
Trieb nach separater Selbsterhaltung auch andere mehr oder weniger unterdrücken.
Hier treffen die freudianischen Konservativen auf den Plan. Denn greift man nicht
nach der buddhistischen Lösung, muß es die freudianische sein: Das Ichempfinden
(nicht etwa die ganze menschliche Natur, sondern nur die des Ichempfindens) ist
von innen her böse und unfrei, weshalb Verdrängung und Unterdrückung
unvermeidlich und bis zu einem gewissen Maße sogar wünschenswert sind.
Aber nur bis zu einem gewissen Ausmaß, und hier kommen die humanistischen
Marxisten ins Spiel. Solange es nämlich separate Ich gibt, sind Verdrängung und
Unterdrückung unvermeidlich und notwendig, überschüssige Verdrängung und
Unterdrückung jedoch nicht. Die Trennungslinie zwischen Verdrängung und
überschüssiger Verdrängung ist natürlich schwer auszumachen, und niemand wird
je die richtige Formel finden, wo diese Linie zu ziehen sei.
6
Aber wir verfügen immerhin noch über ein zusätzliches Verständnis, das uns die
Entscheidung erleichtern kann, da wir wissen, daß die Menschen nicht von Natur
aus oder instinktiv böse sind, sondern daß Bösartigkeit für sie lediglich Ersatz ist.
Die Verdrängung des eigenen Buddhawesens schafft Böses, und dieses Böse muß
dann verdrängt werden, um "sozial Gutes" zu schaffen. Da Böses von Natur aus
Ersatz ist, können wir zumindest die Art des Ersatzes objektiv auswählen, solange
jemand noch nicht fähig ist, zu wahrer Transzendenz durchzubrechen. Wären die
Menschen vom Instinkt her böse, dann bestünde keine Hoffnung. Ist Bösartigkeit für
sie aber nur Ersatz, dann haben wir zwei Möglichkeiten zur Auswahl: ihnen
tatsächliche Transzendenz oder hilfreiche Formen des Ersatzes anzubieten.
So sonderbar es zunächst klingen mag, aber eine einigermaßen annehmbare und
mitfühlende Gesellschaft muß nicht unbedingt massive Verwirklichung von Atman
bieten (das wäre eine utopische Gesellschaft oder Sangha); sie muß vielmehr die
einzelnen Atman-Projekte so arrangieren, daß sie sich gegenseitig überlappen und
stützen. Geschieht das, so kommt der Gewinn aus dem individuellen Atman-Projekt
der Gemeinschaft insgesamt zugute. Ein Beispiel: In manchen typhonischen (ES)
Jagdgesemeinschaften konnte man ein großer Held sein und damit sein AtmanProjekt mit Glanz und Glorie ausspielen, wenn man mehr Wild erlegte als die
anderen - und dann alles verschenkte. Je größer das Atman-Projekt, desto größer
der Nutzen für die Allgemeinheit. Diese Art von Arrangement bildet den Kern
dessen, was die Ethnologin Ruth Benedict synergetische Gesellschaft nennt - und
das waren genau die Gesellschaftsformen, die sie am edelsten, "liebenswertesten"
und segensreichsten fand. Hilfreich synchronisierte Illusionen sind zumindest keine
tödlichen. Wenn wir also schon kein Atman anbieten können, dann sollten wir
zumindest sorgsam die Strukturen unserer Ersatzbefriedigungen anschauen und
überlegen, ob man sie nicht humaner und synergetischer anordnen kann.
Wenn wir nun zu den drei Ausgangsfragen dieses Buches zurückkehren, dann
werden wir feststellen, daß sie von Anfang an darauf abgestellt waren, genau diese
drei Grundkategorien - nicht dualistisch, subjektiv und objektiv (Atman plus die
beiden Seiten des Atman-Projektes) - sowie die drei grundlegenden
Gesellschaftstheorien abzudecken, die von diesen Kategorien befruchtet wurden die mystische, die konservative und die marxistisch/humanistische. Die Frage
Nummer eins - "Welche Wege zu wirklicher Transzendenz stehen uns offen?" bezieht sich auf die mystische Position, auf die Transzendenz von Subjekt und
Objekt. Die Frage Nummer zwei - "Wenn Transzendenz nicht gelingt, welche
Ersatzbefriedigungen werden dann angeboten?" - bezieht sich auf die freudianischkonservative Position, auf alle sich daraus ergebenden Wünsche, Haßbezeugungen
und Ängste, die als Ergebnis des eingeengten Ichempfindens einfach entstehen
müssen (weil sie der Struktur des separaten Ich inhärent sind und nicht von
objektiven gesellschaftlichen Institutionen aufgezwungen werden). Die Frage
Nummer drei - "Welchen Preis müssen unsere Mitmenschen für diese
Ersatzbefriedigungen zahlen?" - bezieht sich auf die humanistisch-marxistische
Position, auf die Tatsache, daß zwar eine gewisse Unterdrückung/Verdrängung
unvermeidlich ist, überschüssige Verdrängung/Unterdrückung jedoch nicht.
Sie bezieht sich auf die Tatsache, daß die objektiven Kosten des Atman-Projekts
erschreckend sein können; dann wenn Menschen zu Objekten des negativen
Atman-Projekts werden, dann werden diese Menschen zu Opfern: ausgebeutet,
unterdrückt, geknechtet, versklavt, hingeschlachtet. Das Studium der Arten von
Ausbeutung ist das Studium der verschiedenen Arten negativer Atman-Projekte.
Wird die Ausbeutung verringert, dann verringert man auch die Atman-Projekte
selbst oder ändert sie. Das ist zumindest theoretisch möglich, weil das AtmanProjekt nicht vom Instinkt bestimmt oder eingeboren, sondern Ersatz ist.
7
Die subjektive Unfreiheit und die objektive Ausbeutung sind Abfallprodukte des
Atman-Projektes, Ergebnisse der Suche nach dem Atman in Ersatzform, des SichAbstrampelns in der Welt der Zeit auf der Suche nach Zeitlosigkeit.
Statt die Welt zu sein, versucht das Individuum, die Welt in Besitz zu nehmen und
zu beherrschen - und statt das Selbst (Atman) zu sein, beschützt es lediglich sein
Ich. Das ist etwas, was auch Schopenhauer uns sagen wollte, denn seine ganze
Philosophie konzentriert sich darauf, zu zeigen, daß jedes einzelne Individuum
tatsächlich die ganze Welt ist und "sich deshalb mit nichts weniger zufrieden gibt als
damit, die ganze Welt als Objekt zu besitzen, etwas, das niemandem möglich ist,
weil jedermann es gerne so hätte". Dort liegt die letzte Ursache für Elend und
Unfreiheit! Von einem unersättlichen Appetit angetrieben, haben die Menschen im
Laufe der Geschichte sich gegenseitig überrannt im vergeblichen Versuch, das All
zu besitzen und zu haben, wobei sie sich gegenseitig unbeschreibliche
Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten zugefügt haben, die - und das ist die Ironie
der Geschichte - sämtlich von einem unbewußten Gott geschaffen wurden.
Andererseits könnte man tatsächlich, wie Schopenhauer erklärt hat, durch
Auslöschen des individuellen Willens zum Leben (Eros) in den frühen Zustand
jenseits von Subjekt und Objekt zurückfallen und auf diese Weise das All selbst
sein. Für Schopenhauer und für uns gibt es also einen Ausweg aus der Misere des
Atman-Projekts, einen Ausweg aus dem mörderischen Zwang, "die ganze Welt als
Objekt zu besitzen". Er bestünde darin, Atman selbst wiederzuentdecken, eine
Höchste Identität mit dem und als das ganze Weltgeschehen auferstehen zu lassen.
Schopenhauer selbst hat unter Benutzung von Sanskritbegriffen erklärt, daß man
nur durch Prajna erreichen könne, oder durch transzendentes Erkennen von
Shunyata, des nahtlosen Gewands des Universums, das nichts anderes ist als
Atman, das eigene Wahre-Selbst, der Dharmakaya.
Wir würden zu selben Schlußfolgerung kommen, wenn wir uns der Gedanken von
Rank, Brown und Becker bedienten - daß nämlich Böses und Angst das Ergebnis
des Versuchs sei, den Tod durch Fetischisierung von Unsterblichkeitssymbolen
radikal zu leugnen, "daß die Menschen wahrhaft traurige Kreaturen sind, weil sie
den Tod bewußt gemacht haben". Bei ihrem Versuch, Tod und Sterblichkeit zu
leugnen, hätten sie im Laufe der Geschichte mehr Böses, Zerstörung und mehr
Ängste auf die Welt gebracht, als der Teufel persönlich verkörpern könne.
Doch ist Unsterblichkeitsstreben nur ein Unterprojekt des Atman-Projektes, der
ErSatz der angestrebten zeitlosen Transzendenz durch immerwährende Zeitlichkeit
sowie ein wildes und panikartiges Ausschlagen nach allen Seiten, gegenüber allen
Hindernissen - menschlichen und materiellen -, die die eigenen
Unsterblichkeitsaussichten zu gefährden scheinen.
Wir würden jedoch dieses nur zur Hälfte gültige Argument mit dem Zusatz beenden
müssen, daß es nichtsdestoweniger absolut wahr ist, daß es, wie es der Sufi Inayat
Kahn formuliert hat, "so etwas wie Sterblichkeit überhaupt nicht gibt, außer als
Illusion, und als Eindruck dieser Illusion, den der Mensch sein Leben lang als
ständige Angst in sich trägt". Mit anderen Worten: Das Ichempfinden ist letztendlich
illusorisch, es ist einfach Produkt der Begrenzungen, weshalb der Tod letzten Endes
ebenfalls eine komplexe Illusion ist (ein wesentlicher Punkt, den die Existentiialisten
übersehen haben). Wenn das Ichempfinden stirbt, ist das was sich auflöst nicht ein
wirkliches Sein, sondern eine bloße Grenze, eine Grenze, die niemals real, die stets
eingebildet war.
Hat sich ein Individuum aber erstmal die Illusion des Ich und seiner Grenzen
geschaffen, dann fürchtet es nichts mehr als dessen Auflösung, strebt nach
symbolischer Unsterblichkeit und Kosmoszentrizität. Dieses Streben wird durch das
8
Atman-Projekt motiviert; ihm folgt dann unvermeidlich und gnadenlos die von Rank
und Becker und der ganzen existentialistischen Bewegung beschriebene, von
Schrecken strotzende Logik. Die Existentialisten haben zwar tatsächlich der
Menschheit die Diagnose gestellt - Krankheiten zum Tode, Furcht und Zittern - doch
sind sie nicht bis zur letzten Prognose vorgedrungen, die im Sanskrit nichts anderes
ist, als der weiter oben schon genannte Prajna (prognosis).
Aber auch hier gibt es einen Ausweg. Wenn die Menschen auch unglückliche
Kreaturen sind, weil sie den Tod bewußt gemacht haben, so können sie doch einen
Schritt weiter gehen und durch Transzendenz des Ich auch den Tod transzendieren.
Sich vom Unbewußten zum Ich-Bewußtsein zu bewegen, das heißt, den Tod
bewußt zu machen; sich vom Ich-Bewußtsein zum Überbewußtsein zu bewegen
heißt, den Tod ungültig zu machen.
.............................
Fußnote zu Seite 5:
* Zugleich läßt
der Mystiker die Reformen nicht außer acht, die auf den niederen Ebenen möglich sind.
Der Mystiker transzendiert die niederen Ebenen, bezieht sie aber auch ein, und kein echter Mystiker
würde jemals Erleuchtung für sich selber suchen und dabei Reformen vernachlässigen, die auf den
niederen Austauschebenen durchgeführt werden können und müssen. In der tat ist dies der
Unterschied zwischen dem Arhat, der bei seinem Streben nach der eigenen Erleuchtung
andere vernachlässigt, und dem Bodhisattva, der so lange auf eigene Erleuchtung
verzichtet, bis allen anderen ebenaflls Erleuchtung erfahrbar gemacht werden kann. Der
Bodhisattva läßt sich nicht zu der Illusion verleiten, das separate Ich könne es sich durch
irgendwelche isolierten Aktivitäten oder Reformen in den subjektiven oder objektiven
Bereichen für immer bequem machen. Die mystische Lösung ist eine Endlösung, nicht eine
Zwischenlösung. Obwohl der Mystiker jedoch absolute Befreiung anstrebt, wird er niemals
die als Zwischenschritte erzielbaren relativen Befreiungen zurückweisen. Und das ist das
Schöne am Bodhisattva-Ideal. Während es Subjekt und Obkekt transzendiert, vernachlässigt
es beide nicht, bezieht beides in sich ein und findet darin eine vollendete Einheit.
Herunterladen