Marienberger Seminare

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Niederschrift [PROTOKOLL]
über das Seminar am 21.04.07, 10.30 - 18.00 Uhr
Lebensphilosophie
Die moralistischen Essays von Montaigne
Referent: Professor Dr. Rudolf Lüthe
Allgemeine Einführung
(Hinweis darauf, dass dieses Thema bzw. dieses Seminar Teil eines Buchprojektes
ist, welches sich in Vorbereitung befindet. Titel dieses Werkes soll lauten:
„Mundanität und Spiritualität. Zur Lebensphilosophie von Montaigne und Pascal“).
Das heutige Seminar ist gegliedert in vier Abschnitte:
1. Humanismus
2. Mundanität („mundan“ innerweltlich).
3. Individualismus
4. Skeptizismus
Vorspann
1) Beschreibung der Perspektiven Montaignes
2) In der deutschsprachigen und in der englischen Philosophie spielt Montaigne
keine Rolle; mit anderen Worten: Montaigne war fast vergessen.
Seit etwa 15 Jahren kommt es in der europäischen Philosophie zu einer
Renaissance des Montaigne, er selbst ist auch noch der Renaissance zuzuordnen.
Es stellt sich die Frage, wie kommt es in unserer Zeit zu einer Renaissance der
Renaissance? Oder anders gefragt, warum hat die deutsche Philosophie bis zum
Beginn des 21. Jahrhunderts gebraucht, um Montaigne zu entdecken?
Eine der Ursachen könnte der Zusammenbruch des philosophischen Idealismus im
19. Jh. sein.
Ein weiterer Erklärungsversuch:
Die deutsche Philosophie hat sich (über lange Zeit) für eine Wissenschaft gehalten
und hat dabei die eigentliche Philosophie und vor allem das Philosophieren
vergessen.
Hinweis auf
Edmund Husserl
[1859 – 1938, Begründer der „Phänomenologie“ („Wesenswissenschaft“) die mit der
Methode der „reinen Wesensschau“ die Bedeutung logischer Sätze aufweisen will]
sah und wollte die Philosophie als strenge Wissenschaft, seine Denkrichtung der
Phänomenologie sah Philosophie nur als Wissenschaft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg (vermutlich unter dem Eindruck dieser schrecklichen
Ereignisse) vollzog sich die Wiederentdeckung der sozialen und politischen Aspekte
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der Philosophie auch durch die Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer) und ihre
Gegner (Ritter, Marquard, Lübbe).
Auch die Existenzphilosophie ist nahe an Montaigne, sie ist damit die einzige
philosophische Schule in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich auf
ähnliche Weise mit Philosophie beschäftigt und die dabei dem Denken Montaignes
nahe kommt (allerdings ohne auf ihn nennenswerten Bezug zu nehmen).
[Anmerkung:
Existenzphilosophie ist eine vor allem in Deutschland und Frankreich nach
dem ersten Weltkrieg durchgebrochene philosophische Strömung, eine
ähnlich der Lebensphilosophie und zum Teil auf Grund der
Wiederentdeckung KIERKEGAARDS entstandene Denkrichtung. Sie geht
vom Menschen (dem menschlichen Dasein) als einem in der Welt
stehenden aus und will ihn aus seiner Entfremdung und Selbstentfremdung
befreien].
Es handelt sich um ein Selbstmissverständnis der Philosophie, dass sie sich nicht mit
der drängenden Frage beschäftigt, wie der Mensch leben soll; denn seit der Antike
stand im Mittelpunkt des philosophischen Denkens immer die Frage: Wie soll ich (der
Mensch) leben?
Die Existenzphilosophen (M. Heidegger, K. Jaspers, J. P. Sartre, G. Marcel, R. M.
Rilke, F. Kafka) sind diesem Denken näher gekommen (dies erklärt vielleicht die
große Popularität dieser Denkrichtung in weiten Kreisen der Bevölkerung).
Der große Immanuel Kant (1724 - 1804) stellte bereits die drei bzw. vier berühmten
Fragen:
Was kann ich wissen? (Erkenntnis-Philosophie)
Was soll ich tun? (Praktische Philosophie/Ethik)
Was darf ich hoffen? (Metaphysik)
Zusammengefasst in der zentralen Frage:
Was ist der Mensch?
…und die Beantwortung dieser Fragen ist die einzige Aufgabe der Philosophie.
Die Existenzphilosophen knüpfen hier an. Sie fragen “Wie soll ich leben?“ Sie
erreichen bei der Frage und ihrer Beantwortung allerdings nicht den Geist bzw. die
geistige Höhe, welche Montaigne vorgibt.
Montaigne würde fragen:
Wie soll ich leben?
Wie will ich leben?
Die Antworten darauf drücken den Geist Montaignes aus.
Die Existenzphilosophie ist unter dem Eindruck und in der Folge des Zweiten
Weltkrieges entstanden.
Das Lebensgefühl der Existenzphilosophie ist tragisch:
Wir sind zum leben (zu dem Leben) verdammt!
Wir sind ins Dasein geworfen!
Wir haben Angst!
Dieses Lebensgefühl passt nicht wirklich zu Montaigne;
These des Referenten:
2
Der Gegensatz, der sich abzeichnet, ist der gleiche wie zwischen der sog. Moderne
und der Postmoderne, wobei die Moderne für die Existenzphilosophie steht und
Montaigne mehr die Postmoderne verkörpert.
Dazu gehört eine besondere Bestimmung:
Die Existenzphilosophie würde sagen:
Die Lage ist ernst - aber nicht hoffnungslos,
Montaigne würde sagen:
Die Lage ist hoffnungslos – aber nicht ernst.
Montaigne versucht zu klären: Wie will ich leben?
Dabei entwickelt sein Denken eine heitere, selbstironische Färbung, er ist der
tragische, melancholische, depressive Grübler, der heitere Grübler, postmodern
eben, sein Credo: Man spekuliert nicht auf Erlösung.
Dadurch ist es angebracht, Montaignes Denken als eine „mundane Philosophie“ zu
bezeichnen.
[mundan = weltlich, die Welt betreffend, zur Welt gehörig; mundus = Welt]
Sein Motto könnte lauten:
„Hoffnung gibt es nicht, dennoch haben wir keinen Grund zur Verzweiflung.“
Der Geist seiner Philosophie ist keine Wissenschaft, er ist keine christliche
Philosophie und er ist auch nicht existenzielle Philosophie.
Montaigne atmet den Geist des ironischen, „postmodernen“ Skeptikers. Man nähert
sich Montaigne nicht, um zu lernen, sondern um (geistreich) zu plaudern.
Montaigne ist ein Meister der Abschweifung und seine Werke sind keine (strengen)
Lehrbücher.
Empfehlung des Referenten:
Man möge versuchen, sich in den Geist Montaignes zu versetzen und ein ironischer
Skeptiker zu werden.
Montaigne will (modern gesagt) kein Guru sein; man sollte gedanklich (und nach
allen Seiten) immer offen sein, sich mit einer Flasche Bordeaux an den Kamin
setzen, und (wenn möglich) dem Freund, den Freunden zuhören; man wird dadurch
heiterer und persönlicher und damit wiederum sieht man sich selbst besser. Mit der
bei dieser dabei entstehenden Stimmung verspürt man große Lust mit ihm, dem
Freund, ins Gespräch zu kommen und damit auch mit sich selbst.
[Anmerkung zu dem Begriffen Postmoderne/Moderne:
Als philosophische Richtung wendet sich der Postmodernismus gegen den
Fortschrittsoptimismus und die utopischen Züge der Ideologien.
Ausgehend von dem Postulat vom Ende der Geschichte will der
Postmodernismus die Möglichkeiten öffnen, Elemente vergangener
Theoriebildungen frei zu kombinieren. Betont wird die Notwendigkeit bzw.
Willkürlichkeit der Fragmentierung. Philosophisch gesehen kann der
Glaube des Postmodernismus an diese Verbindungsmöglichkeiten als
Ersatz für den Glauben der Moderne an eine Ganzheit verstanden
werden.]
Leben
Michel Eyquem de Montaigne
geboren am 28. Februar 1533 auf Schloss Montaigne in der Dordogne;
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gestorben am 13. September 1592 am gleichen Ort;
er war Philosoph und Begründer der Essayistik.
[Essay = „Versuch“ = literarische Kunstform; Abhandlung in knapper, geistvoller,
allgemein verständlicher Form].
Sein eigentlicher Name war Michel Eyquem; seine Familie stammte aus Portugal,
sein Vater kaufte in der Nähe von Bordeaux das Gut Montaigne, von dessen Namen
sich der Name des Denkers ableitet, mit dem er berühmt wurde.
Sein Vater führte mit dem jungen Michel einige Erziehungsexperimente durch, zum
Beispiel verbot er mit dem Jungen anders als in Latein zu kommunizieren. Dafür
stellte er extra einen (deutschen!) Lateinlehrer als Hauslehrer für den Jungen ein.(Er
wird 1535 dem Hofmeister „Horstanus“ anvertraut, der, des französischen unkundig,
ihn in lateinischer Sprache erzieht).
Seine Muttersprache(n) waren Latein und Griechisch. (Daraus erklärt sich vielleicht
auch die starker Hinwendung und der große Einfluss der griechischen und römischen
Antike auf sein Denken!).
Der Vater wollte ferner verhindern, dass sein Sohn zu sehr verwöhnt wurde und gab
ihn deshalb zu einer Bauernfamilie in Pflege, um dort zu leben und aufzuwachsen.
Montaigne studiert Jura und geht zunächst in die Politik (Parlamentsrat, später
Bürgermeister von Bordeaux). Daneben erhielt er eine umfassende
geisteswissenschaftliche Ausbildung.
Er lernt Étienne de la Boëtie kennen;
Anmerkung:
Montaigne lernt seinen Amtskollegen und Schriftsteller Étienne de la Boëtie (15301563) über dessen Schrift "Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen" kennen.
Dieses kleine Werkchen ist von Boëtie wahrscheinlich 1548 verfasst worden, also mit
knapp 18 Jahren.
Boëtie war am 1. November 1530 gut zwei Jahre vor Montaigne in der Bischofsstadt
Sarlat geboren worden. Er hatte wie Montaigne die Rechtswissenschaften studiert.
Er wird ihm zu einem idealen Gesprächspartner und Freund im antiken Sinne. Auch
in den Essais wird er diesem engsten Vertrauten ein Denkmal setzen: "Wir haben,
solange es Gott gefiel, diese Freundschaft so restlos und innig zwischen uns
gehalten, dass sich kaum in der Überlieferung ähnliche finden und unter den
heutigen Menschen sicherlich keine Spur davon anzutreffen ist. Es muss soviel
zusammentreffen, um dergleichen zu erreichen, dass es viel ist, wenn das
Schicksal es einmal in drei Jahrhunderten zustande bringt.“
Er gibt zudem einige der Werke seines Gefährten, der bereits vier Jahre nach dem
Beginn der Bekanntschaft am 18. August an der Ruhr stirbt, heraus. Montaigne
verfällt in tiefe Melancholie über den Verlust dieses Geistes- & Seelenverwandten.
Wie bereits gesagt, es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft und daraus wiederum
entwickelten sich seine Ideen des Lobes der Freundschaft, wie sie von ihm in
wunderbaren Worten in dem Essay „Von der Freundschaft“ wiedergegeben sind:
Zitat:
Zu nichts schein uns die Natur so sehr bestimmt zu haben wie zur Geselligkeit.
Und Aristoteles sagt, dass die guten Gesetzgeber mehr Sorge für die
Freundschaft als für die Gerechtigkeit trugen. In ihr aber findet die Geselligkeit
den letzten Grad ihrer Vollendung. Denn insgeheim sind alle Freundschaften,
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die Wollust oder Eigennutz, öffentlich oder häusliche Notwendigkeit errichten
oder erhalten, um so weniger schön und edel, und um so weniger
Freundschaften, als sich andere Gründe, Zwecke und Gewinste als die
Freundschaft in sie mengen. Eben sowenig schicken sich die vier Gattungen
des Altertums: natürliche, gesellige, gastfreundliche und geschlechtliche
Verbindungen, weder einzeln noch zusammen genommen, zu ihr.
Das heißt für ihn: “Nichts ist so wichtig, wie die Freundschaft“.
1570 gab er seine politischen Ämter auf und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Auf seinem Herrensitz – er lebte hier in seinem berühmten Turm – beschäftigte er
sich nur noch mit Büchern und dem Schreiben.
Hier schrieb er seine Essais (d.h. Versuche), eine neue literarische Gattung, die
Urteilskraft, Analyse, Kritik und Moralisieren miteinander verbindet, sehr beeinflusst
von den Sympathien und Antipathien des Autors. Montaigne formuliert in seinen
Schriften moralphilosophische Betrachtungsweisen und Problemstellungen, auch
unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie. Sein Hauptthema ist er selbst, d.h.
der Mensch. Genau wie sein großes Vorbild Sokrates wendet er den Blick hin zu der
Welt der Menschen.
Montaigne bekam für seine Schriften Anerkennung vom Papst und dem König, den
beiden (geistlichen und weltlichen) Herrschern der damaligen Welt.
Kurze Geschichte seiner Essays:
1588 erscheint die Gesamtausgabe seiner Werke (3 Bände) erstmals.
100 Jahre nach dieser Zeit kommt sein Werk auf den Index (solange hat die Kirche
gebraucht um zu erkennen, dass die Gedanken Montaignes nicht in allem mit der
offiziellen Kirchenideologie in Einklang zu bringen sind und wie viel intellektueller
Sprengstoff in seinen Worten verborgen war).
170 Jahre nach der ersten Veröffentlichung erscheint die erste deutsche Ausgabe.
Von der Schulphilosophie wurde Montaignes Werk nicht ernst genommen. In der
verblendeten Arroganz der „Kathederphilosophen“ wurde übersehen, dass die
Anfänge der Philosophie genau den Fragen galt, welche von Montaigne in seinen
Schriften behandelt wurden.
Die „Moralistik“ der antiken Weisheitsschulen (Skeptiker, Epikureer, Stoa) suchten
den Sinn des Lebens im Leben, im hier und im jetzt.
Die Ergebnisse und die Erfolge ihres Denkens wurden abgelöst durch die christlich
geprägte Philosophie. Dies führte zu einem mehr als tausendjährigem Intermezzo, in
dem vor allem die Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tode im Mittelpunkt stand.
Man wollte nicht erkennen oder einsehen, dass die Frage nach dem Sinn des
Lebens eine der wichtigsten Fragen nach dem Sinn der Philosophie beinhaltet.
Die Philosophie kehrte an den Beginn des philosophischen Denkens zurück und
„benutzte“ dabei Montaigne als Brücke. Dieser wiederum bezieht und orientiert sich
(wie bereits o. erwähnt) an dem großen Denker der Antike, Sokrates.
Warum Sokrates?
Zunächst darf man in den Essays keine Antworten auf drängende Fragen des
Lebens suchen, sondern man soll sich auf ein grüblerisches, heiteres Gespräch
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einlassen mit Montaigne, d.h. man soll sich auf bestimmte Reflexionsbewegungen
über mich selbst bzw. einen Gedanken einlassen, wie es auch Sokrates tat.
[Reflexion = das prüfende, vergleichende Nachdenken, besonders über die eigenen
Handlungen, Gedanken, Empfindungen].
Ich, der Nachdenkende, soll versuchen, mit mir selber in ein heiteres, grüblerisches
Gespräch über mich selbst zu kommen.
Sokrates stellt Fragen! (d.h. er hinterfragt scheinbar fest gefügte „Wahrheiten“). Und
dadurch wird Sokrates das Leitbild für Montaigne.
Dabei ist inhaltlich der berühmte „homo-mensura-Satz“ der entscheidend
Leitgedanke.
Dieser homo-mensura-Satz ist eine These des Sophisten Protagoras von Abdera
(480 – 410 v. Chr.), der zufolge der Mensch (lat. homo) das Maß (lat. mensura) aller
Dinge ist ( „ Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der
Nichtseienden, dass sie nicht sind“). Das bedeutet, dass die Erlebnisse des
Individuums das Kriterium bilden, an dem Wirklichkeit gemessen und bewertet wird.
Außer den Erlebnissen des einzelnen (und den Normen der jeweiligen Gruppe) gibt
es keine Wahrheit und deshalb ist die Wahrheit immer relativ.
Aus dieser These ergibt sich die Begründung des Humanismus:
Im Zentrum steht der Mensch, nicht Gott.
Es gibt kein Maß des menschlichen Lebens außerhalb des menschlichen Lebens.
Es gibt keine Möglichkeit der metaphysischen Bewertung der Welt, es gibt nur das
„mundane“ Maß (das „innerweltliche“ Maß)..
Die wichtigste Aufgabe des Humanismus:
Förderung des Selbstverständnisses des Menschen.
Nicht die Vorbereitung auf das jenseitige Leben des Menschen steht im Mittelpunkt
der Bemühungen, sondern das Erlernen des richtigen Lebens im Diesseits.
Nicht die Verehrung Gottes steht im Mittelpunkt menschlichen Handelns, sondern die
Selbsterkenntnis.
Die zentrale Frage lautet:
„Wie soll ich, wie will ich leben?“
Zitat:
Wir sind große Toren: Er hat sein Leben müßig verbracht, sagen wir; ich habe
heute nichts getan. – Wie? Hast du nicht gelebt? Das ist nicht nur die
wichtigste, sondern auch die rühmlichste deiner Beschäftigungen. – Hätte man
mich an das Steuer der großen Geschäfte gestellt, so hätte ich gezeigt, wessen
ich fähig gewesen wäre. – Hast du dein Leben zu bedenken und zu führen
gewusst? so hast du das größte aller Werke vollbracht. Um sich zu zeigen und
zu vollenden, bedarf die Natur des Glücks nicht: sie zeigt sich gleicher weise in
allen Ständen und hinter dem Vorhang wie ohne Vorhang. Deine Gesittung an
den Tag zu legen, nicht Bücher zu tage zu fördern ist dir aufgetragen, und
nicht, dass du Schlachten und Provinzen, sondern dass du die Ordnung und
Ruhe deiner Lebensführung gewinnest. Unser großes und herrliches
Meisterwerk ist: richtig leben. Alle anderen Dinge, Herrschen, Schätze
sammeln, Bauen, sind höchstens nur Anhängsel und Beiwerk. ´
Von der Erfahrung
Die Kunst, das Leben richtig und erfüllt zu leben ist das einzig Richtige, das einzig
Erstrebenswerte. Lebenskunst ist es deshalb, weil es sehr schwierig ist, sie zu leben,
es geht dabei nicht um die Existenz (= existieren kann und muss jeder), sondern um
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das L e b e n. Das Maß dafür kann nur im Leben gefunden werden, niemals im
Jenseits.
Maßstäbe sind beispielsweise nicht nur der Humor oder die Gelassenheit, mit dem
man dem Leben begegnen kann, sondern auch, ganz subjektiv, mein persönlicher
Maßstab, den ich finden muss. Es gibt keine Schemata.
Wichtigste Aufgabe auf diesem Wege ist es zu lernen durch ständige
Selbstbeobachtung zu erkennen, was das Leben von uns will: Der Mensch sollte
ständig darüber nachdenken, wie will ich leben!
Das wesentliche dabei ist das (ständige) Nachdenken (Reflexion) als Maßstab der
Kunst des Lebens:
Wie will ich leben?
wie
= steht für das Wort wozu, wie es die Philosophie formuliert, im Sinne von
Zweckbestimmung
will
= statt s o l l , denn dazu müsste ich (bereits) ein Maß haben (Schopenhauer z. B.
kritisiert an Immanuel Kant die „Sollensethik“; er will eine „Wollensethik!).
ich
= die Betonung liegt auf ICH, wie will ICH leben, nicht die anderen, nicht die
Mehrheit, nicht die Masse, „nicht wie alle“ wie es Montaigne formuliert
leben
= auf Plato und später Cicero geht die Formulierung zurück „Philosophieren heißt
sterben lernen“. (In Abwandlung sollte das heißen: Zunächst, bevor ich sterben lerne,
muß ich leben können.)
In Wirklichkeit sind wir (unser Leben und unser Glück) immer und dauernd bedroht.
Die Unbeständigkeit des Glücks nagt an unserem Leben.
Eine Notlösung, die sich aus dieser Einsicht ergibt, lautet: Wir lassen uns nicht zu
sehr auf diese Leben ein.
Dies wäre eine Gleichung der Stoa und des Skeptizismus: ein gelingendes Leben =
lass dich nicht zu sehr auf das Leben ein = dies ist zwar eine kluge Einstellung, aber
kann nicht wirklich die Lösung (i. S. von Montaigne) sein, denn das wäre
existentieller Minimalismus.
Dies entspricht dem Theorem der Todesverachtung mittels der Lebensverachtung:
ich lebe zu allem in Halbdistanz, dies drückt sich auch in dem Satz aus:
„Philosophieren heißt sterben lernen“.
Dies ist zwar auch eine Art von Lebensklugheit, aber es bedeutet auch mit Verlust
leben lernen, immer auf Distanz zu allem Leben, dies erscheint aber als
lebensfeindlich, ja sogar als lebensverachtend.
Für Montaigne gilt die Gewissheit der Unbeständigkeit, keine Todesverachtung.
Er ist ein „Vitalist“, er genießt das Leben in vollen Zügen; ihm gelingt es Lebensnähe
zu kultivieren und uns von Todesangst zu befreien.
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Montaigne ist (modern gesagt) ein „dialektischer“ Denker, er mischt in seinem
Denken und in seinen Schriften alles bunt durcheinander, seine Essays sind
gewissermaßen „Potpourris“ (= alles durcheinander). Dies wiederum ist sehr
„postmodern“ und gleicht einem „Lieblingsessen, in dem alles miteinander, mit allem
drauf“ serviert wird.
Das „Reinheitsgebot“ der Philosophie ist nach Meinung von Montaigne (und von
Lüthe) lebensfeindlich.
Frühstückspause
Nach der Pause kurze Zusammenfassung des bisher Gesagten, dann folgte ein
Hinweis auf den frühen „Frauenrechtler“ Montaigne:
Zitat:
„Die Frauen haben nicht unrecht, wenn sie die in der Welt geltenden
Sittengesetze ablehnen, zumal es die Männer sind, die diese Regeln ohne ihr
Zutun aufgesetzt haben. Es ist natürlich, dass es Umtriebe und Zank zwischen
ihnen und uns gibt; das innigste Einvernehmen, das wir mit ihnen haben, bleibt
doch immer wirrselig und stürmisch“.
Über die Verse des Vergil
Unterstrichen, wenn nicht sogar initiiert wird diese Haltung durch die Tatsache, dass
Montaigne mit der frühen Frauenrechtlerin und Autodidaktin Marie de Gournay
befreundet war, der er auch die Verwaltung seines literarischen Nachlasses übertrug.
Der Referent verwendete zur Neueinstimmung auf die nächste Stunde zur Erhellung
noch mal ein schönes Bild um darzulegen, wo das Ungewöhnliche in den Essays
Montaigne im Verhältnis zur „üblichen“ philosophischen Vorgehensweise deutlich
wird:
Montaignes Denken gleicht einem englischen Garten oder einer Parklandschaft, in
dem alles durcheinander wächst ohne klare, strenge Strukturen, während die
sonstige Philosophie (vor allem seit KANT) einem französischem Garten gleicht, in
dem alles streng geordnet und beschnitten ist.
Literaturhinweis auf Stefan Zweigs Schrift über „Montaigne“ , Fischer Taschenbuch
Verlag:
„Mein Beruf, meine Kunst ist es zu leben“.
Montaigne vollzieht den großen Umbruch (in dem er sich zurück zieht); er will
niemandem mehr dienen als sich selbst; er ist müde von der Öffentlichkeit; er ist
desillusioniert; er stellt sich die Frage: was ist er nun wirklich? War das bisherige
Leben falsch?
Dies sind zentrale Fragestellungen der philosophischen Lehren der Stoa und des
Epikureismus.
Er befindet sich in einer Lebenskrise. Er hat nicht auf sein Leben gehört, obwohl er
das Leben leben wollte.
Auf die Desillusionierung antwortet er mit einer neuen Illusion.
Er macht sich an seine Essays. Er wollte seine Lebenskrise meistern durch zwei
Elemente: Studium der Weisheitslehren und Niederschrift seiner Überlegungen.
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Zu Beginn seiner Niederschriften streute er in seine Essays zahlreiche Zitate aus den
von ihm studierten Werken der Antike ein, im Laufe der Zeit befreite er sich immer
mehr von den Vorgaben der „Alten“ und immer mehr streute er seine eigenen
Lebenserfahrung mit ein, dadurch wurden nach und nach die Zitate immer weniger.
Er kam aus der Lebenskrise heraus bzw. er bewältigte diese (mit Hilfe der antiken
Weisheitslehren und seinen Darstellungen in seine Schriften). Zunächst hatte er
geglaubt, dies allein mit Hilfe des Studiums seiner Bücher lösen zu können, aber erst
das Niederschreiben brachte ihm die erhoffte Befreiung.
Mundanität
Montaigne wurde bald klar: alle wichtigen Fragen der Philosophie werden
beantwortet jenseits der Fragen und der Wirklichkeit des gelebten Lebens. Sein
zentraler Gedanke: Die diesseitige Existenz des Menschen hat einen eigenen Wert,
einen Wert an sich.
Die diesseitige Existenz hat ihren eigenen Wert, sie dient nicht der Vorbereitung auf
das jenseitige Leben (damit befindet er sich ganz nahe bei der Philosophie Epikurs!).
Diese „Mundanität“ (d.h. Weltzugewandtheit) seines Denkens ist der damaligen
Kirche ein Dorn im Auge, obwohl sie ihm zunächst sehr wohlwollend gegenübertrat,
hundert Jahre nach dem Erscheinen seines Werkes wurde es auf den Index gesetzt.
Seine Essays, also seine „Versuche“ – hier steckt das Wort „suchen“ darin – weisen
ihn als Skeptiker aus. Seine Galionsfigur ist der griechische Philosoph SOKRATES
(469 – 399 v. Chr.)
Einer seiner wichtigsten „Ratgeber“ war Marcus Tullius Cicero
(geboren am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum; gestorben/ermordet am 7. Dezember
43 v. Chr. bei Formiae), er war ein römischer Politiker, Anwalt und Philosoph, der
berühmteste Redner Roms und Consul im Jahr 63 v. Chr.; er gilt als Popularisator
der stoischen Ethik und Schöpfer der philosophischen Terminologie für die Römer, er
war bis ins 18. Jh. ein sehr geschätzter Klassiker.
Skepsis heißt „Suche“, nicht „Zweifel“, wie häufig behauptet wird.
Der Geist der Essays wird vom „Weg“ bestimmt (d.h. “auf dem Weg sein, auf der
Suche sein, nicht ankommen am Ziel“). Entscheidend ist: wir haben darüber (über
dieses oder jenes Problem des Lebens) nachgedacht, aber vielleicht ist auch alles
ganz anders (als unser Denken ergeben hat).
Ganz entscheidend ist: nach der Reflexion ist der Denkende/der Suchende nicht
mehr derselbe; moderner gedacht: unser Denken ist ein Experiment, ganz im Sinne
des französischen Wortes „l´essai“ = die Probe, der Versuch, hier in der Bedeutung:
sich versuchen (an einem Gedanken).
Montaigne probiert sich aus, er lässt uns teilhaben am Experiment, er sagt aber nicht
was richtig ist!! Die Unbeständigkeit ist das Hauptthema seiner Philosophie: Nichts ist
sicher!!
Zitat:
„Andere bilden den Menschen; ich schildere ihn und stelle einen einzelnen dar,
der gar übel gebildet ist und den ich, wenn ich ihn neu zu formen hätte,
wahrlich ganz anders erschaffen würde, als er ist. Doch es ist getan…….Die
Welt ist nichts als eine nimmer ruhende Schaukel. Alle Dinge in ihr schwanken
fort und fort: die Erde, die Felsen des Kaukasus, die Pyramiden Ägyptens, im
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allgemeinen Schwanken der Dinge und in ihrem eigenen. Die Beständigkeit
selbst ist nichts anderes als ein zauderndes Schwanken. Ich kann meinen
Gegenstand nicht festhalten. Er geht taumelnd und schwankend in natürlicher
Trunkenheit einher. Ich ergreife ihn in diesem Zustand wie er ist, in dem
Augenblick, in dem ich mich mit ihm beschäftige. Ich zeige nicht das Sein, ich
zeige den Übergang; nicht einen Übergang von einem Alter zum anderen, oder,
wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von
Minute zu Minute. Ich muß meine Erzählung nach der Stunde richten. Ich
könnte alsbald ein anderer werden, nicht nur äußerlich, sondern auch anderen
Sinnes. Es ist eine Aufzeichnung verschiedener und veränderlicher Zufälle,
unbestimmter, und wenn es sich trifft, auch gegensätzlicher Einfälle: sei es,
dass ich selber anders geworden bin, sei es, dass ich die Dinge unter anderen
Umständen und anderm Winkel betrachte. Indessen gilt, dass ich mir wohl
mitunter widerspreche, der Wahrheit aber, widerspreche ich nicht.“
Von der Reue
Wie aus dem Zitat zweifelsfrei zu erkennen ist, ist die UNBESTÄNDIGKEIT für
Montaigne sehr wichtig. Die Philosophie kennt dafür einen eigenen Begriff:
Kontingenz = Zufall; = Möglichkeit, dass eine Sache anders beschaffen sein könnte,
als sie es tatsächlich ist; in der Philosophie erschließt sich so eine Möglichkeit, sich
selbst zu erkennen.
aber
(bei Montaigne heißt das auch): Ich suche nach dem, was mein Leben ausmacht, ich
versuche identisch zu sein mit meinem Leben.
Die Essays Montaignes haben eine weitere Bedeutung neben der „Versuchung“:
Worum geht es im Leben eigentlich? Wir müssen lernen, das Leben an uns
herankommen zu lassen: nicht ich führe das Leben, mein Leben führt mich.
Lebensführung ist etwas für manipulative Menschen. Für Montaigne sind seine
Essays seine Bestimmung. Dabei geht er davon aus, dass keine Reflexion bei Null
beginnt, denn es ist immer schon irgendetwas da, wo wir ansetzen, z. B.: eine Krise,
eine Wende im Leben, eine Lebenskrise!
C.G. Jung, der große Schweizer Tiefenpsychologe, hat die Krise in der Lebensmitte
(heute würden wir sagen: Midlifekrisis) der Menschen als erster ausführlich
beschrieben.
Von einer solchen Krise war Montaigne ganz offensichtlich erfasst (vom Ekel an der
Welt, Ekel an den Menschen und Ekel an sich und seinem bisherigen Leben). Viele
Menschen, auch in der Jetztzeit, kennen diesen Zustand!!!
Zunächst muss ich, um mich im Leben zu etablieren, einen Teil meiner Person der
Sozialisation ausliefern, ich spiele Rollen, ich trage Masken (lat. persona = das
„Durchtönende“, die Maske); ich werde beherrscht von dem Gedanken, wie mache
ich mich der Welt angenehm?
Diese Entwicklung ist völlig normal und nicht zu tadeln. Doch dann kommt der
„Schatten“ und schreit auf: Will ich so sein? Von da an geht es um Individuation, um
meine persönliche Individuation.
Die Maßstäbe der Bewertung des Lebens verändern sich. Es geht einem gut und
man ist (dennoch) nicht zufrieden.
Was hat mein bisheriger Maßstab bis jetzt gebracht? Der Schatten winkt mit einem
neuen Maßstab. Maßstab ist nicht mehr die Sozialisation, sondern die Individuation:
ich will verstehen, worum es im Leben (in meinem Leben) eigentlich geht. Hier zeigt
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sich der philosophische Weg. Er startet beim Nullpunkt, dies fordert der neue
Maßstab. Es muss unterschieden werden, was vorher wichtig war, von dem, was nun
wichtig ist oder wird.
Soweit in etwa C. G. JUNG
Drängend wir die Beantwortung der Frage, warum sollen wir das Leben an uns
heranlassen?
Es ist alles eine Frage des Maßes, zu suchen ist das rechte Maß; denn der Mensch
ist das Maß aller Dinge!:
Zentrum eines gelungenen menschlichen Lebens ist die Bildung (Humanismus ist
Mundanität). Es ist zwar nicht das eigentliche Ziel eines Menschen Wissenschaftler
zu werden, aber der gebildete Mensch ist das richtige Maß, und zwar für sich selber
(an sich!) das richtige Maß, (nicht für andere); Lebenskunst heißt also nicht,
wissenschaftliches Wissen (Spezialwissen) zu erlangen, sonder das richtige Maß an
Wissen und Bildung. Humanistische Bildung im Sinne von Montaigne ist nicht
wissenschaftliche Bildung sondern die aus der eigenen Erfahrung kommende
Intuition über das rechte Maß an Wissen.
Es gibt nur individuelle Erfahrungen, es gibt keine Erfahrungen außerhalb meiner
selbst. Bildung heißt bei ihm nicht umfassendes
Wissen (= lexikalische Wissen oder wie heute bei PISA: Nützlichkeitswissen),
sondern: ich weiß, wer ich bin!
Zitat:
„Wir haben mehr damit zu schaffen, die Auslegung auszulegen, als die Sache
selbst, und mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen
Gegenstand: wir tun nichts anderes als uns gegenseitig zu kommentieren.
Alles wimmelt von Kommentaren; an Autoren herrscht große Not.“
Von der Erfahrung
Dieser Ansatz Montaignes bedeutet die Wiederentdeckung des Denkens aus der Zeit
vor dem Christentum; es bedeutet eine Profanisierung und eine Säkularisierung des
Denkens, gewissermaßen ein Zustand der Postmoderne des 16. Jahrhunderts.
Pause
Individualismus
Es entstand der Eindruck als gäbe es eine ungute Verbindung zwischen
Individualismus und Beliebigkeit.
Einspruch des Referenten.
Es geht nicht um Beliebigkeit, es geht ausschließlich um die Richtigkeit des je
eigenen Lebens, des individuellen Lebens, nicht um das Leben in Beliebigkeit.
(Dabei) gibt es eine Institution die die Dimension des Moralischen hervorhebt: = das
Gewissen
Das Gewissen wird von Montaigne emphatisch beschrieben. Die Suche nach dem
rechten Maß ist bei ihm auch eine Frage des Gewissens; unterschiedliche Menschen
halten nun mal das Unterschiedlichste für richtig. Unsere unterschiedlichen
Empfindungen werden geregelt durch das Gewissen, diese Instanz muss besonders
kultiviert werden, denn sie genießt höchste Autorität.
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Zitat:
„Aller Ruhm, den ich für mein Leben beanspruche, ist der, es ruhig durchlebt
zu haben: ruhig nicht nach der Auffassung [anderer Menschen], sondern nach
der meinen. Da die Philosophie keinen Pfad zur Ruhe zu finden vermochte, der
für alle gangbar ist, so suche sie ein jeder auf seinem eigenen.“
Über den Ruhm
Zusammengefasst lautet die Antwort auf die zentrale Frage des Montaigne:
Wie will ich leben?
Ataraxia (d. h. grch. „terassein“ d. h. aufrühren, erregen)
Ich will leben in Seelenruhe, Gleichmut, Unerschütterlichkeit, Schmerzlosigkeit; in
Glückseligkeit, „in der Meeresstille des Gemüts“
Die Philosophie lehrt einem, worum es geht, aber sie schweigt, wenn es um den Weg
geht. Den Weg lehrt sie uns nicht.
Nur in uns selbst finden wir den (richtigen) Weg. Ein erster Schritt ist
Bedürfnislosigkeit, um dem Hamsterrad des ewigen Strebens nach mehr Ruhm,
Macht und Habsucht (so Kant) zu entkommen.
Vermeidbare Fehler kann man lehren, hüten muss man sich vor den vielen falschen
Orten vermeintlicher (innerer) Ruhe (= Meeresstille)
Montaignes Denken ist eine Philosophie, die zum Humanismus gehört, allerdings
eine postmoderne Variante.
Ein Leben, das mit der (allgemeinen) Wertorientierung übereinstimmt, was ist das?
Gefragt ist Individualismus!!
An dieser Stelle (noch) ein Hinweis auf Immanuel Kant, auf seine
„Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“
Vierter Satz (Auszug)
Hier zu der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen:
„Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit des Menschen,
d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen
Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.
Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine
Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als
Mensch, d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen
großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige
Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher
allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, dass er seinerseits
zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher
alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu
überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen
Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen
er aber auch nicht lassen kann.“
Das bedeutet, wir Menschen haben ein zwiespältiges Verhalten untereinander.
Ein Ausweg nach Montaigne ist der Individualismus, d. h. die Realisierung von
Autonomie oder wertmäßige Autarkie; sich selber gehören, denn in Wirklichkeit
streben wir alle danach uns selber zu gehören!!!
12
Individualisierung in diesem Sinne heißt nicht, sich vom Leben zurück zu ziehen, es
heißt den Maßstab von sich selbst in sich selber finden.
Ich mach mich nicht von der Zustimmung anderer abhängig sondern von meinem
eigenen Maßstab (z.B. meinem Gewissen).
Zitat:
„So unbegreiflich stark ist die Macht des Gewissens. Es treibt uns dahin, uns
selbst zu verraten, anzuklagen und zu befehden, und wenn es keine anderen
Zeugen hat ruft es uns selbst zu Zeugen wider uns auf…..
…Hesiod berichtet den Ausspruch des Plato, dass die Sühne dem Verbrechen
auf dem Fuße folge: denn, sagt er, sie nimmt im Augenblick des Verbrechens
selbst ihren Anfang. Wer immer der Strafe wartet, erleidet sie; und wer immer
sie verdient hat, wartet ihrer. Die Bosheit schmiedet selbst Folterwerkzeuge
gegen sich, gleich wie die Wespe andere sticht und verwundet, doch am
meisten sich selbst, denn sie büßt dabei ihren Stachel und ihre Kraft ein für
immer.“
Vom Gewissen
Schon in der Antike bei Platon beispielsweise wurde über den „Sühnegedanken“
philosophiert; jeder Missetäter wurde schon nach damaligen Vorstellungen von den
„Erinnyen“ = (in der Unterwelt lebenden Rächerinnen, bes. bei Mord) verfolgt und
geplagt. Wir würden heute sagen, von den Gewissensbissen.
Das Gewissen ist und bleibt ein individuelles Gebilde unabhängig davon, was
„außen“ läuft. Ein gewisses Maß an Beliebigkeit muss dabei sein, allein um eine
bessere Abgrenzung vollziehen zu können.
Kern des nagenden Gewissens sind moralische Zweifel (über meine Tat), Angst vor
Entdeckung (die Meinung der anderen über mich) und die ständige Sorge darüber,
das meine Tat zu einer Verschlechterung meines bisherigen Lebens führen könnte.
Frage?
Ist es denn wahr, dass das Gewissen eine Instanz ist, auf die wir uns verlassen
können?
Montaigne sagt eindeutig: Ja!!
Das Gewissen hindert uns nicht, ein Verbrechen zu begehen, aber es schaltet sich
danach ein und klopft in unserem Inneren: die „Erinnyen“ erwachen und beginnen ihr
Werk.
Die Instanz des Gewissens sorgt nicht dafür, dass Bosheit und Schlechtigkeit
verschwinden, es schaltet sich nämlich meist erst nach der Tat ein.
Nach Auffassung des Referenten verdient diese Auffassung Montaignes eine starke
Verteidigung: denn er hat „etwas mehr Recht“ mit seiner moralphilosophischen
Annahme, als die meisten sonstigen Moralphilosophen der Philosophiegeschichte.
„Ich strebe nach keinem anderen Leben als nach dem in Ruhe (Seelenruhe) gelebt
zu haben, denn das ist das einzige dem Menschen mögliche Glück“. Denn vom
wahren Glück sind die Gewissenlosen ausgeschlossen. Alle Verbrecher werden
dadurch gestraft, dass sie kein glückseliges Leben finden werden (soweit Montaigne
mit Bezug auf Plato).
Das Gewissen ist etwas individuelles (jedes Menschen eigenes Gewissen);
moralische Vorstellungen hingegen sind etwas Soziales, alle betreffend; wobei
Letzteres sicherlich Ersteres beeinflusst.
Montaigne äußert sich über unser, des Menschen, Verhältnis zum Sterben:
13
Zitat:
Doch im Sterben, das die größte Probe ist, die wir zu bestehen haben, kann
uns die Übung nicht helfen. Man kann sich durch Gewöhnung und Erfahrung
gegen die Schmerzen, die Schande, die Entbehrungen und dergleichen andere
Zufälle rüsten; den Tod aber können wir nur einmal erfahren; wir sind alle
Lehrlinge, wenn wir vor ihn treten.
Über geistige Übung
Dies ist die Besonderheit, die den Tod auszeichnet.
14
Zitat:
Lassen wir die weitläufige Vergleichung des zurückgezogenen und des tätigen
Leben beiseite; und was jene schöne Wort betrifft, hinter dem sich der Ehrgeiz
und die Habsucht verbergen: dass wir nicht für uns selber allein, sondern für
die Allgemeinheit geborene sind, wenden wir uns getrost an jene, die in diesem
Reigen tanzen; mögen sie die Hand aufs Herz legen, ob im Gegenteil die
Würden, die Ämter und all diese Plackereien der Welt nicht vielmehr angestrebt
werden, um aus der Allgemeinheit einen eigennützigen Gewinn zu ziehen.
Antworten wir der Ehrsucht, dass es gerade sie selbst ist, die uns Geschmack
an der Einsamkeit finden lässt: denn was flieht sie mehr als die Gesellschaft?
Von der Einsamkeit
Zitat:
Es gibt eine andere Art von Ruhm, nämlich die allzu gute Meinung, die wir über
unseren Wert hegen. Es ist eine unbesonnene Liebe, mit der wir uns herzen
und die uns uns selber anders vorspiegelt, als wir sind: gleich wie die
Verliebtheit dem Gegenstand ihrer Leidenschaft Schönheiten und Reize leiht
und jene, die von ihr ergriffen sind, mit getrübten und verworrenen Sinnen das
Geliebte anders und vollkommener sehen, als es ist.
Über den Dünkel
So äußerte sich Montaigne über den uns Menschen eigenen Ehrgeiz, den Dünkel
und unsere Selbstgefälligkeit.
Seine Frage an die Welt, an das Leben lautete:
Wenn man sagen kann, es geht mir nicht schlecht, warum sollte ich dann etwas tun,
um noch mehr zu kriegen?
Pause
Skepsis
Montaigne fühlte sich der Geistesrichtung des Skeptizismus am ähnlichsten.
[Skeptizismus ist ein philosophischer Standpunkt, der prinzipiell und
methodisch-systematisch an der Erkenntnis von Wahrheit und Wirklichkeit
zweifelt. Die Schule der Skeptiker wurde im Altertum von PYRRHON
begründet (um 300 v. Chr.)]
Skeptische Elemente:
1. der ontologische Aspekt
d. h.: die Unbeständigkeit der Welt; nicht das Sein, sondern der Wandel sind
bestimmend;
2. der erkenntnistheoretische Aspekt
d. h.: wir werden niemals den Zweifel überwinden;
Nach Montaignes eigener Aussage steht er der Weisheitsschule des Sokrates am
nächsten. Laut Meinung des Referenten erinnern die Gedanken Montaignes mehr an
Cicero (siehe oben!!), einem Philosophen, der als existentieller Minimalisierer gilt
und der zu einer philosophischen Meinung zwischen Skeptizismus und Stoa neigte.
Zitat:
15
Ich habe in Deutschland gesehen, dass Luther ebensoviel und noch mehr
Zwist und Streit über die Deutung seiner Meinungen hinterlassen hat, als er
selbst sie über die Meinung der Heiligen Schrift hervorrief. Wir streiten um
Worte. Ich frage was Natur ist, was Wollust, was ein Kreis, was Nacherbfolge.
Die Frage besteht in Worten und nimmt Worte in Zahlung. Ein Stein ist ein
Körper. Wer sich aber versteifte: und was ist ein Körper? – Stoff. – und was
Stoff?, und so immer fort, der brächte endlich den Erklärer ans Ende seines
Lateins. Man tauscht ein Wort gegen ein anderes, und oft gegen ein
Unbekannteres. Ich weiß besser, was „Mensch“ ist, als was „Wesen“ ist, oder
„sterblich“, oder „vernünftig“. Um einen Zweifel zu befriedigen, geben sie mir
drei dafür: es ist das Haupt der Hydra.
Von der Erfahrung
Der Mensch ist ein anthropologisches Wesen;
[= die philosophische Anthropologie erforscht den Menschen in seinem Sein und
Wesen und in seiner spezifischen Abhebung von dem ihn umgebenden Seienden.
Sie ist Selbstdeutung und Selbstbesinnung des Menschen: alle Fragen der
anthropologischen Philosophie zentrieren um den Menschen];
…und der Mensch will wissen, er ist seinem Wesen nach wissbegierig.
Zitat:
Es gibt keine natürlichere Begierde als die Begierde nach Erkenntnis. Wir
erproben alle Mittel, die uns zu ihr führen können. Wenn uns die Vernunft im
Stich lässt, so wenden wir uns an die Erfahrung, die ein schwächeres oder
minder vornehmes Werkzeug ist; doch die Wahrheit ist eine so große Sache,
dass wir kein Mittel missachten dürfen, das uns zu ihr verhelfen kann. Die
Vernunft hat so viele Gestalten, dass wir nicht wissen, an welche wir uns
halten sollen; die Erfahrung hat deren nicht weniger.
Von der Erfahrung
Es gibt allerdings große Schwierigkeiten bei dem Erkenntnisgewinn; wir werden
immer abstrakter in unseren Argumentationen, wir landen immer nur bei den nächst
höheren Gattungsbegriff (siehe oben über „das Haupt der Hydra“); dadurch wird es
immer schwieriger etwas zu verstehen; wir sind zwar wissbegierig, aber es wird
immer schwieriger zu verstehen, zu erkennen.
Ergebnis: wir werden skeptisch; früher oder später erkennen wir, dass wir nach
Wissen und Erkenntnis zwar streben, aber wir werden es nie erlangen können.
Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer
Erkenntnis: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann,
denn sie sind ihr durch die Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht
beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen
Vernunft.
Immanuel Kant
Erster Satz der „Vorrede zur ersten Auflage“ der „Kritik der reinen Vernunft“.
Dieses Paradoxon der menschlichen Vernunft ist deutlicher nicht zu formulieren.
Natürlich ist bei KANT das metaphysische Wissen (nach Gott, Freiheit,
Unsterblichkeit) gemeint; die Vernunft will wissen, will erkennen, was es damit auf
sich hat; der Skeptiker ist derjenige, der eingesehen hat, dass diese Fragen nicht
beantwortet werden können, der aber – und das ist wichtig – nicht darunter leidet.
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 „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos,“ (preußisch!)
 „die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!“ (österreichisch!)
Wir machen ständig Versuche zu wissen, zu erkennen, (und wir scheitern genau so
häufig); die Auseinandersetzung mit diesem oder jenem Problem ist das
Entscheidende, nicht die Lösung. Dabei ist immer zu bedenken: es gibt immer nur
vorübergehende Lösungen (nie endgültige!).
Unsere Erkenntnisfähigkeit hat zwei Quellen:
1. die Vernunft, sie ist vielgestaltig und/aber widersprüchlich;
2. die Erfahrung, hier ist eine (ständige) empirische Rückbindung erforderlich.
Montaigne erklärt, Erfahrung beruht auf Induktion.
Zitat:
Der Schluß, den wir aus der Ähnlichkeit der Ereignisse folgern wollen, ist
unzuverlässig, zumal sie nie ähnlich sind: es gibt in diesem Schauspiel der
Dinge keine so allgültige Eigenschaft wie die Verschiedenheit und Vielfalt.
Aus der Erfahrung
Basis ist die Induktion in der „Ähnlichkeit“
(Induktion d. h.: Schlussfolgerung vom Besonderen, vom Einzelfall auf das
Allgemeine).
Wir produzieren Bücher über Bücher und verstellen damit den Blick auf die Welt.
Zitat: (Wiederholung)
„Wir haben mehr damit zu schaffen, die Auslegung auszulegen, als die Sache
selbst, und mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen
Gegenstand: wir tun nichts anderes als uns gegenseitig zu kommentieren.
Alles wimmelt von Kommentaren; an Autoren herrscht große Not.“
Von der Erfahrung
Die Beschäftigung mit der Philosophie ist ein gefährliches Unternehmen, es sabotiert
unsere Seelenruhe.
Zitat:
Die Untersuchungen und Betrachtungen der Philosophie dienen nur dazu,
unsere Wissbegier zu ködern. Die Philosophen verweisen uns mit vollem Recht
auf die Gebote der Natur; doch die aber wissen mit so erhabener Erkenntnis
nichts anzufangen: sie entstellen ihr Bild und zeigen uns ihr Antlitz in grellen
Schminken und verzerrten Zügen, woraus so viele verschiedene Darstellungen
eines so unwandelbaren Gegenstandes entspringen. Wie die Natur uns Füße
zum gehen gab, so gab sie uns auch Klugheit, uns im Leben zu leiten; nicht
eine spitzfindige, stattliche, hochfahrende Klugheit, wie jene sie ausklügeln;
aber geschmeidig und heilsam am rechten Ort verrichtet sie trefflich, was die
andere in Worten sagt, wenn einer so glücklich ist, sich ihr ruhig und
unbefangen, das heißt natürlich, zu überlassen. Wer sein Vertrauen am
kindlichsten in die Natur legt, der legt es am weisesten an.
Von der Erfahrung
17
Hinweis
auf David Hume (1711 – 1776, englischer Aufklärungsphilosoph); [„Alle Folgerungen
aus Erfahrungen sind daher Wirkungen der Gewohnheit, nicht des Schließens.“]
und „Buridans Esel“ [d. i.: ein nach dem scholastischen Philosophen BURIDAN (14.
Jh.) benanntes Beispiel für die Unmöglichkeit der Willensfreiheit.]; der Esel
verhungert letztendlich.
All unsere scheinbar rationalen Entscheidungen sind lediglich Sackgassen und
Aporien (d. h.: ausweglos; die Unmöglichkeit, eine philosophische Frage zu lösen.)
Auch Montaigne denkt so, deshalb seine Zuneigung zu Sokrates und dessen
Lebensklugheit.
Er fordert die Selbstdistanzierung der Philosophie, von Vernunft, Erfahrung, Wissen
der Menschheit, den Gurus “Oberschlau!“ – Wenn wir so dumm sind, uns auf unsere
Intelligenz zu verlassen, dann sind wir verloren.
Sinn der Philosophie muss ihre Selbstüberwindung sein, erst dann ist sie heilsam für
die Menschheit.
Zitat:
Unter den Meinungen der Philosophie halte ich mich am liebsten an jene, die
am handgreiflichsten sind, das heißt am menschlichsten und uns gemäßesten:
meine Gedanken sind, wie es meinen Sitten entspricht, erdgebunden und
demütig. Es dünkt mich, sie treibt Kinderei, wenn sie sich in die Brust wirft und
uns vorpredigt, das Göttliche mit dem Irdischen, das Vernünftige mit dem
Unvernünftigen, das Strenge mit dem Lässlichen, das Sittliche mit dem
Unsittlichen zu vermählen, die Wollust sei eine tierische Empfindung und
unwürdig, daß der Weise sie koste: die einzige Lust, die aus dem Besitz einer
schönen jungen Gattin erwachse, sei die Lust seines Gewissens, eine der
Ordnung gemäße Handlung zu vollziehen, wie wenn er sich die Stiefel zu einem
nutzbringenden Ausritt anzieht. Hätten doch seine Jünger nicht mehr Anrecht
und nicht mehr Saft und Kraft zur Entjungferung ihrer Gattinnen als seine
Lehre. Nicht also spricht SOKRATES, sein Meister und der unsere. Er schätzt,
wie er soll, die körperliche Lust; aber er stellt die des Geistes höher, da sie
mehr Stärke, Beständigkeit, Leichtigkeit, Vielfalt und Würde besitzt. Sie geht
nach seiner Meinung keineswegs allein (solch ein Schwärmer ist er nicht),
sonder nur voran. Für ihn ist die Mäßigkeit nur die Ordnerin, nicht die Feindin
der Lust.
Von der Erfahrung
SOKRATES hat das Wesentliche entdeckt für die menschliche Lebensführung: „den
Sinn für das rechte Maß“.
Um die Fähigkeit Montaignes nochmals deutlich zu machen, alltägliche
Lebenssituationen intelligent zu durchschauen, seine nahezu modernen
„psychoanalytischen“ Schlüsse aus diesen Beobachtungen zu ziehen und,
gleichzeitig sein Verhältnis zu den Frauen ein wenig deutlich zu machen, rezitierte
der Referent zum Abschluss seines Seminares nochmals ein paar geistreiche und
auch amüsante Sätze aus einem seiner Essays:
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Um die Liebe in Atem zu halten, verordnete LYKURG, dass die Ehegatten sich
nur verstohlenerweise begehen sollten und das es für sie gleich schimpflich
sein solle, im Beilager angetroffen zu werden, wie für Unvermählte. Die
Schwierigkeit, sich ein Stelldichein zu geben, die Gefahr der Überraschung, die
Schande des folgenden Tags, „und das Schmachten, das Schweigen, das
Seufzen aus tiefster Brust „ (Horaz), das ist es, was der Suppe die Würze gibt.
Wie viele sehr unflätig ergötzliche Spiele entstehen aus der züchtigen und
verschämten Weise, von den Werken die Liebe zu sprechen. Die Wollust selbst
sucht sich durch den Schmerz aufzustacheln. Sie ist gar viel süßer, wenn sie
sengt und wenn sie kratzt……..
……und weiter:
Das Verlangen und der Genuss machen uns gleicherweise Beschwerden. Die
Sprödigkeit der Geliebten ist verdrießlich, aber die Willfährigkeit und
Fügsamkeit ist es, die Wahrheit zu sagen, noch mehr; zumal die
Unzufriedenheit und der Zorn aus der Hochschätzung entspringen, in der wir
das Begehrte halten, und die Liebe anspornen und reizen; die Sättigung aber
gebiert Ekel: es ist eine dumpfe, verdutzte, müde und schläfrige
Leidenschaft……
…..Und wozu dienen diese großen Wälle, mit denen neuerdings unsere Frauen
ihre Hüften verschanzen, als dazu, unsere Begierde zu ködern und uns an sie
zu ziehen, indem sie uns fern halten? Wozu dienen die Künste jener
jungfräulichen Verschämtheit? Diese gemessene Kälte, diese gestrengen
Mienen, die vorgeschützte Unwissenheit in Dingen, die sie besser wissen als
wir, die wir sie darin unterrichten, als zur Bestärkung unseres Verlangens, all
diese Förmlichkeiten und Hindernisse zu überwinden, zu bändigen und
unseren Gelüsten untertan zu machen? Denn es ist nicht nur Lust sondern
überdies noch Ruhm dabei, diese ängstliche Sanftheit und kindliche Scham zu
bestricken und zu betören und diese stolze und hochwürdige Strenge der
Gnade und Ungnade unseres Ungestüms zu unterwerfen: es ist ruhmreich,
sagen sie, über die Spröde, die Schüchternheit, die Keuschheit und die
Züchtigkeit zu triumphieren: und wer den Frauen diese Dinge ausreden will,
der erweist ihnen und sich selber einen schlechten Dienst.
Wie die Schwierigkeit unsere Begierde steigert.
Schluss
In der anschließenden Diskussion ging es außer um ein paar wenige Sätze zum
Referatshauptthema vor allem um das Frauenbild, insbesondere auch um das oben
bereits genannte Zitat von Montaigne:
(Wiederholung):
„Die Frauen haben nicht unrecht, wenn sie die in der Welt geltenden
Sittengesetze ablehnen, zumal es die Männer sind, die diese Regeln ohne ihr
Zutun aufgesetzt haben. Es ist natürlich, dass es Umtriebe und Zank zwischen
ihnen und uns gibt; das innigste Einvernehmen, das wir mit ihnen haben, bleibt
doch immer wirrselig und stürmisch“.
Über die Verse des Vergil
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Anschließend lebhafte Diskussion über das Verhältnis der Zeit Montaignes und von
ihm selbst zu dem Geschlechterverhältnis damals und heute (Entwicklung des
Geschlechterverhältnisses damals, im Laufe der Zeit bis heute und gegenwärtige
Haltung: Stichwort Gegenemanzipation)
Die Stellung Montaignes wurde teils kontrovers diskutiert rund um das bereits weiter
oben erwähnte Zitat über dieses Thema
Festzuhalten bleibt, dass Montaigne sich offensichtlich auf Grund seiner
Lebenserfahrungen und der Reflexionen darüber bereits mit diesem Thema
auseinander gesetzt hat, höchstwahrscheinlich auch unter dem Einfluss von der
frühen Frauenrechtlerin und Autodidaktin Marie de Gournay, mit der er
befreundet war.
Auch hier erweist er sich also als ein früher Aufklärer und als sehr „postmodern“.
Kurzzusammenfassung
Mit seinem Hauptwerk, den Essais, begründete der unorthodoxe Humanist, Skeptiker
und Moralphilosoph Michel Eyquem de Montaigne, - geboren 1533 auf Schloss
Montaigne in der Dordogne; gestorben 1592 am gleichen Ort - die Essayistik, die
literarische Kunstform des Essay.
Stoische Geringschätzung von Äußerlichkeiten, Kritik des
Wissenschaftsaberglaubens und der menschlichen Überheblichkeit gegenüber
anderen Naturgeschöpfen sowie Skepsis gegenüber jeglichen Dogmen
kennzeichnen die Essais, in denen sich der Freidenker Montaigne mit einer Vielzahl
von Themen auseinandersetzt: Literatur, Philosophie, Sittlichkeit, Erziehung usw.
Seine vorurteilsfreie Menschenbetrachtung und sein liberales Denken leiteten die
Tradition der französischen Moralisten ein und beeinflussten weltweit zahlreiche
Philosophen und Schriftsteller nach ihm, unter ihnen Voltaire und Friedrich
Nietzsche.
Die verwendeten Zitate Montaignes wurden - mit kleinen Ausnahmen – aus dem
Buch „Michel de Montaigne“ ESSAIS (Auswahl und Übertragung von Herbert Lüthy),
Manesse Bibliothek der Weltliteratur entnommen
(Verfasser der Niederschrift aus den während des Seminares selbst gefertigten
Arbeitsnotizen):
Doris Nicolai
Wolfgang Grätz
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