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„Geistesdurst“ - Das Motiv der Gier in Herman Hesses Siddharta
"Geiz ist Geil"1 lautet einer der berühmtesten deutschsprachigen Werbeslogans des
neuen Jahrtausends. Dieser Spruch, kurz, griffig und wohlklingend scheint dem
postmodernen Lebensgefühl gut zu entsprechen. Der vordergründig negativ
konnotierte Begriff wird offensiv zum Positiven umgewertet. Hierin wiederspiegelt
sich das konstruktivistische Weltbild der postmodernen Gesellschaft. Es ist aber nicht
nur oberflächlich die rhetorisch griffige Form aus Alliteration und Assonanz, die
diesen Spruch so einprägsam und erfolgreich macht, sondern es ist davon
auszugehen, dass auch der tiefere semantische Zusammenhang über die
etymologische Verbindung beider Wörter aus der Wortbedeutung „Begehren“2
entscheidend zum Erfolg dieses Werbekonzeptes beigetragen hat: Geiz stammt von
mhd.: giten, nach etwas begierig sein, das Wort geil stammt von mhd: geilen, was
ebenfalls nach etw. gierig sein, bedeutet.
Der Begriff der Gier ist zur Zeit in aller Munde und so werde ich mich heute mit dem
Motiv der Gier in Hermann Hesses "Siddharta" beschäftigen. Ausgehend von der
anthropologischen Definition der Gier als relationales Konzept, der christlichen
Bezeichnung der Gier als Todsünde einerseits und der Grundlage der
buddhistischen Lehre, den Vier Edlen Wahrheiten andererseits, welche die Gier als
Ursache des Leidens und Handlungsantrieb der Menschen im Daseinskreislauf
betrachtet, werde ich untersuchen, wie das Motiv der Gier in Hesses Siddharta
dargestellt wird.
„Greed is a human universal“3, stellt der Anthropologe Alexander Robertson fest. Er
erfasst die Gier als menschliche Grundkonstante und als relationales Konzept. Es
verbindet existentielle Bedürfnisse mit exzessivem (zunächst körperlichem)
Wachstum4, und öffnet also somit einen Raum zwischen zu wenig und zu viel. Für
den Menschen ist es unumgänglich das zum Überleben Notwendige zu begehren,
und mehr als das zu begehren schafft Freiräume durch und verhilft so zu einem
1
Werbeslogan der Elektrohandelskette Saturn aus dem Jahr 2003- 2007, der Slogan wurde von Constantin
Kaloff von der Werbeagentur Jung von Matt kreiert. Vgl: Alfred Pfabigan: Nimm 3, zahl 2! Wie geil ist Geiz?.
Wien 2004. S. 3-21.
2
Geiz stammt von dem mittelhochdeutschen Wort giten, nach etwas begierig sein, das Wort geil stammt von
geilen, was ebenfalls nach etw. gierig sein, bedeutet. Vgl.: Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des
Deutschen. &. Aufl. München 2003. S. 414, 415.
3
Alexander F. Robertson: Greed. Gut Feelings, Growth, and History. Camebridge. 2001. S. 65.
4
Vgl.: Robertson: Greed. S. 2.
1
evolutionären Vorteil5. Setzt man also das Begehren, zum Beispiel von Nahrung, in
Bezug zur physischen Präsenz des eigenen Körpers, gibt es eine Grenze des
Wachstums, die, wenn sie überschritten wird, den durch Überschüsse zunächst
erreichten evolutionären Vorteil wieder zunichte macht. Ähnlich verhält es sich, wenn
man das Individuum in Bezug zu seiner sozialen Gemeinschaft setzt6. Der Raum
zwischen gesellschaftlich anerkanntem Streben nach einer Sache aus
Eigeninteresse und der als moralisch verwerflich angesehen Gier bemisst sich rein
aus Vergleichen heraus. So verschiebt sich die Einschätzung darüber, was Gier ist,
in Abhängigkeit vom Wohlstand einer Kultur parallel zum ökonomischen Wachstum
einer Gesellschaft7.
An dieser Stelle fällt auf, dass die Relationalität des Konzeptes der Gier sich in der
Bedeutungsunterscheidung der etymologisch verwandten deutschen Wörter
"Begehren" und "Gier" spiegelt: Während das Wort „begehren“8 gerade auch in der
Bedeutung von „sexuellem Begehren“ als Ausdruck der Notwendigkeit der
Überlebenssicherung im Vergleich zur Gier moralisch neutraler bewertet wird,
bezeichnet Gier stark negativ wertend eine in Relation zum gesellschaftlich
anerkannten Standard ausgedrückte Einschätzung des Übermaßes. Die das
Wachstum beschränkende Funktion ergibt sich dabei aus der moralisch stark
negativen Bewertung des Begriffes „Gier“.
Gier ist aus anthropologischer Sicht also einerseits eine menschliche
Grundkonstante, die in Relation zum Körper ( des Menschen oder der sozialen
Gemeinschaft) das Potential für Wachstum beinhaltet und evolutionsgeschichtlich
erklärbar ist, andererseits ist Gier ein moralisches Konzept, dessen Aufgabe darin
5
Vgl.: Robertson: Greed. S. 3.
Vgl.: Robertson: Greed. S. 29.
7
Vgl.: Robertson: Greed. S. 31.
8
Der französische Psychoanalytiker Jaques Lacan hatte mit seiner Beschreibung des Subjektes als stets
Begehrendes grossen Einfluss auf die Begriffsgeschichte des Begehrens. Grundsätzlich erscheint das Subjekt bei
Lacan als von Geburt an mit einem irreduziblen Mangel behaftet. Dieser Mangel ergibt sich aus der
traumatischen Erfahrung der Geburt, in der das Kind aus dem vollkommenen Zustand des embryonalen
Daseins herausgerissen wird. Dieses Trauma wiederholt sich dann durch die Trennung von der Mutterbrust. Im
Spiegelstadium, dem Zeitpunkt des Erkennens des eigenen Spiegelbildes, also der Geburt der Ich- Vorstellung
des Subjekts erlebt das Kind die Wahrnehmung des Mangels zum dritten Mal: Durch den Blick in den Spiegel
erfährt das Subjekt sein Körperbild als von sich selbst getrennt. Damit fühlt es sich unvollständig und begehrt
danach diesen Mangel im Subjekt durch Objekte aufzufüllen. Ein solches Objekt, in der Lacanschen
Terminologie Objekt klein a genannt, wird zum „Grund des Begehrens“ und zum Handlungsantrieb des
Subjektes. Jedoch beschreibt Lacan den Mangel, den das Subjekt erlebt als letztlich nicht aufhebbar, das Objekt
klein a bleibt stets unerreichbar. Vgl.: Bernard Baas: Das reine Begehren. Wien 1995.
6
2
besteht, übermässiges Wachstum zu beschränken und so den Zusammenhalt der
sozialen Gemeinschaft zu sichern9.
Die beiden Aspekte der Gier als anthropologische Grundkonstante einerseits und als
moralisches Konzept finden sich auch in den religiösen Beschreibungen der Gier
wieder:
Im Christentum erscheint die Gier als moralisches Konzept, das Übermass im
Vergleich zur sozialen Gemeinschaft eindämmen soll: So gilt der Geiz (lat. avaritia)
als eines der Hauptlaster, aus denen die Sünden entstehen. Vor allem im
Katholizismus, gilt die Habgier als Todsünde10. Im Alten Testament bezeichnet das
zehnte Gebot des Dekalogs das unrechtmässige Begehren der Güter, oder der Frau
eines Nächsten als Sünde11. Im Alten Testament handelt es sich streng genommen
also um die Regelung von konkurrierenden Besitzansprüchen innerhalb der sozialen
Gemeinschaft und nicht um ein rein das übermässige Wachstum beschränkendes
moralisches Verbot.
Das Neue Testament hingegen ächtet die Gier explizit: Im Lukasevangelium heisst
es: „Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier, denn niemand
lebt davon, daß er viele Güter hat.12“ Der Brief an die Epheser wird diesbezüglich
noch deutlicher: „Ihr könnt sicher sein, dass kein unzüchtiger, unreiner oder
habgieriger Mensch je das Reich Christi und Gottes miterben wird.13“ Diese Stelle
bezieht in die Bezeichnung des moralisch Verwerflichen neben dem übermässigen
Besitz auch das unmässige sexuelle Begehren mit ein. Dabei fällt auf, dass hier
ebenfalls der Aspekt des Vergleichs stark betont wird, wodurch sich die das
Wachstum beschränkende Funktion der Gier als moralisches Konzept durch die
zusätzliche Bewertung als Sünde noch verstärkt.
Im Buddhismus14 erscheint die Gier zunächst als anthropologische Grundkonstante,
die jedoch durch die Betonung der Leidhaftigkeit des Daseins ebenfalls moralisch
9
Vgl.: Robertson: Greed. S.
Vgl.: Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Bd. 2: Leben aus dem Glauben. Freiburg im Breisgau u.a.:
Herder u.a. 1995.
11
Vgl.: 1 Kön. 21,1-19.
12
Die Bibel. NT. Luk. 12. 15.
13
Die Bibel. NT. Eph. 5.5.
14
An dieser Stelle grundsätzlich darauf hingewiesen werden, dass die hier gegebenen Erklärungen zu den Vier
Edlen Wahrheiten, dem Achtfachen Pfad und dem Abhängigen Entstehen lediglich stark vereinfachte
10
3
gewertet wird. Das Prinzip der Gier erscheint im Buddhismus als Ursache des
Leidens und des immerwährenden Kreislaufes von Dasein und Wiedergeburt15 in der
Lehre von den „Vier edlen Wahrheiten“16. Sie bildet die Grundlage der
buddhistischen Lehre:
Die Erste Wahrheit, „Die Wahrheit vom Leid“17 besagt „Alles Dasein ist leidvoll und
letztlich unbefriedigend: Geburt, Alter, Tod, Trennung von dem, was man liebt; NichtErlangen dessen, was man begehrt ist leidvoll.“18
Die zweite Wahrheit, „Die Wahrheit von der Leidens- Entstehhung“19„ gibt als
Ursache des Leidens die drei Arten von Begehren, den Durst (pali: tanha) nach
erstens der Sinneslust, zweitens dem Werden und drittens dem Vergehen an. Dieses
Begehren, das sich auf die Annahme einer festen Ich- Identität gründet, bindet die
Wesen an den Daseinskreislauf (Samsara).20
Die dritte Wahrheit, „Die Wahrheit von der Leidens- Erlöschung“21, „besagt, daß
durch die restlose Aufhebung des Begehrens dem Leiden ein Ende gesetzt werden
kann.“22
Die vierte Wahrheit, „Die Wahrheit von dem zur Leidens- Erlöschung führenden
Pfad“23 „gibt als Mittel zur Beendigung des Leidens den Achtfachen Pfad 24an“25, der
detailliert darstellt, welche verschiedenen Komponenten zur Loslösung vom
leidverursachenden Begehren gehören: Im Hinayana Buddhismus, den Hesse auf
Darstellungen der in den verschiedenen Schulen des Buddhismus unterschiedlich interpretierten Grundsätze
sind und weder den Anspruch von Vollständigkeit noch begrifflicher Genauigkeit erheben.
15
Dalai Lama: Einführung in den Buddhismus. Die Harvard Vorlesungen. Freiburg u.a. 1993. S. 44.
16
Franz- Karl Erhard, Ingrid Fischer- Scheiber: Lexikon des Buddhismus. 2. Aufl. Bern, München, Wien 1993. S.
238. Vgl. auch: Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine systematische Übersicht der Lehre des Buddhas in
seinen eigenen Worten. Konstanz. 1978.
17
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 17.
18
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 238.
19
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 32.
20
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 238.
21
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 38.
22
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 238.
23
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 42.
24
Der achtfache Pfad beinhaltet: 1. vollkommene Erkenntnis in die Vier Edlen Wahrheiten und die
Unpersöhnlichkeit des Daseins (Atman), 2. vollkommener Entschluß zur Entsagung der Schädigung von
Lebewesen, 3. vollkommene Rede, Vermeidung von Lüge und Geschwätz, 4. vollkommenes Handeln,
Vermeiden von unsittlichen Handlungen, 5. vollkommener Lebenserwerb, Vermeiden von Berugen wie
Schlächter, Jäger, Vermeiden von Rauschmitteln, 6. Vollkommene Anstrengung, Vermeiden von karmisch
schädlichen und Fördern von karmisch heilsamen Handlungen, 7. Vollkommene Achsamkeit, beständige
Achtsamkeit auf Körper, Rede und Geist,8. Vollkommene Sammlung, Sammlung des Geistes in der Meditation.
Vgl.: Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 20.
25
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 238.
4
seiner Asienreise kennen gelernt hatte, wird die vollkommene Erkenntnis der Vier
Edlen Wahrheiten durch die Überwindung der drei Arten von Gier als das Erreichen
von Erleuchtung betrachtet26. Dabei erreicht der Erleuchtete ein Verständnis davon,
dass das Selbst des Individuums und das Selbst der Phänomene nicht wahrhaft
existiert.27
In den vier Edlen Wahrheiten, dem Basistext des Buddhismus spielt das Konzept der
Gier also eine Schlüsselrolle, es erscheint einerseits als Handlungsantrieb der
Menschen im als Leidvoll begriffenen Daseinskreislauf (Samsara), andererseits führt
die völlige Aufgabe des Begehrens zum Ausgang aus dem Daseinskreis und somit
zum Erreichen des Nirvana.28
Der Begriff des Begehrens als Ursache des Leidens wird in den buddhistischen
Schriften je nach Kontext mit den Worten „Gier“, „Begehren“ oder oft mit „Durst“
übersetzt, wobei der metaphorische Begriff „Durst“ dadurch, dass er nicht negativ
wertet, sehr schön die anthropologische Bedeutung des Begehrens als menschliche
Grundkonstante und die biologische Rückbindung des Konzeptes der Gier an den
Körper verdeutlicht. Im Buddhismus erscheint die Gier also zunächst wertfrei als
anthropologische Grundkonstante, die sich im Gegensatz zum Christentum nicht
hauptsächlich um eine allgemeine Beschränkung des Übermasses in der sozialen
Gemeinschaft bemüht. Die das übermässige Wachstum beschränkende Funktion
des moralischen Konzeptes ergibt sich im Buddhismus nicht aus der negativen
Wertung sondern aus der logischen Einsicht in Leidhaftigkeit des Daseins und die
Funktionsweise des Karma im Kreislauf des abhängigen Entstehens.
Eindrücke aus der indischen Kultur und Philosophie hatten Hermann Hesse seit
seiner Kindheit begleitet, seine Eltern hatten im Auftrag der Basler Mission als
Missionare in Indien gearbeitet und ihren Sohn schon früh mit Gedanken aus der
buddhistischen und hinduistischen Philosophie vertraut gemacht.29 Diese Einflüsse
verarbeitet er künstlerisch in seinem "Siddharta. Eine Indische Dichtung"30 aus dem
Jahr 1922. Die Verwendung des Namens "Siddharta" im Titel als Paratext verweist
26
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 45.
Vgl.: Manfred Seegers. Buddhistische Grundbegriffe. Sulzberg. 2000. S. 29-30.
28
Vgl.: Seegers: Buddhistische Grundbegriffe. S. 40.
29
Vgl.: H. Hesse: Über mein Verhältnis zum geistigen Indien und China. (undatiert). In: Ders.: Aus Indien.
Aufzeichnungen, Tagebücher, Gedichte, Betrachtungen und Erzählungen. Hrg. von Volker Michels. Frankfurt
a.M. 1981, S. 259-265.
30
Hermann Hesse. Siddharta. In: Ders.: Die grossen Romane und Erzählungen. 4. Band. Frankfurt a.M. 2002.
27
5
auf Buddha und damit direkt auf den buddhistischen Pali Kanon, der die Lehrreden
des Buddha und seine Lebensbeschreibung enthält, als bedeutende Referenztexte
der Dichtung. Die Verwendung des weltlichen Namens des Buddha als Titel des
Textes betont dabei die nicht religiöse Ausrichtung des Textes. Obwohl die
bestehende Forschung bereits ausführlich die Differenzen zwischen Hesses Werk
und der buddhistischen Überlieferung analysiert und dargestellt hat und sich auch
Hesse selbst nach der Publikation des Siddharta vom Buddhismus als Religion
distanzierte, stellt der Text doch, wie durch den Paratext zu sehen ist eine
künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema dar. Grundlage dieser
Auseinandersetzung bildet die Basis der buddhistischen Philosophie, die Vier Edlen
Wahrheiten,die zu einer Rezeptionsfolie des gesamten Textes werden. Und so gehe
ich davon aus, dass das Prinzip der Gier, das in der buddhistischen Lehre als
Ursache des Leidens und Handlungsantrieb der Menschen erscheint, im Text eine
wichtige Rolle spielt. Der Untertitel "Eine Indische Dichtung" kennzeichnet durch die
Verwendung des Wortes "Dichtung" den Text jedoch explizit als literarischen, nicht
als spirituellen Text.
Der Name "Siddharta", der weltlichen Namen Buddhas, bedeutet im Deutschen so
viel wie " der sein / das Ziel erreicht hat"31 , diese Wortbedeutung beinhaltet das
thematische und poetologische Programm des Textes: Siddharta ist eine nach dem
Muster des Bildungsromans entwickelte Dichtung, die den Protagonisten im Prozess
der persönlichen Entwicklung hin zur absoluten Selbsterkenntnis begleitet. In
buddhistischer Terminologie also gelangt der Held als Alleinverwirklicher
(Pratyekabuddha), der ohne die direkte Hilfe eines Lehrers, nur durch Inspiration die
Erleuchtung verwirklicht, im Verlauf der Geschichte zur Erkenntnis der Natur des
eigenen Geistes durch die Einsicht in die Vier Edlen Wahrheiten und erreicht durch
die Überwindung der drei Arten von Gier den Ausgang aus dem leidvollen
Daseinskreislauf: „Pratyekabuddhas untersuchen ihren Zustand und gehen rückwärts
immer von der Wirkung zur Ursache […] Dadurch können sie […] die Natur ihres
Geistes verstehen.32
Gleich zu Beginn des Texts präzisiert sich die Rezeptionsfolie des Textes auf den
Grundsatz von der Gier als Ursache des Leidens und Handlungsantrieb der
31
32
http://www.buddhanet.de/e-learning/buddhism/lifebuddha/3bud.htm (Stand 16.06.09)
Manfred Seegers. Buddhistische Grundbegriffe. Sulzberg. 2000. S. 30.
6
Menschen: Trotz positiver äusserer Umstände im Vaterhaus erfährt der Held
Siddharta einen Mangel, eine leidvolle Unruhe, einen "Geistesdurst"33, der ihn
antreibt:"Ihn musste man finden, den Urquell im eigenen Ich. (…) So waren
Siddhartas Gedanken, dies war sein Durst, dies sein Leiden. "34 Es ist dieser "Durst",
diese Gier nach der Erkenntnis des eigenen Geistes, was ihn dazu veranlasst, sein
Vaterhaus zu verlassen und sich auf die Suche zu machen. In diesem „Geistesdurst“
lässt sich bereits die erste der drei Formen der Gier, das „Begehren nach Werden“
oder „Daseins-Begehren“ erkennen, „ es ist das Begehren nach fortgesetztem oder
ewigem Dasein […] Es beruht auf der Ewigkeits- Ansicht […] d.i. dem Glauben an
eine auch nach dem Tode fortbestehende Ichwesenheit.“35
Diese Gier erfährt Siddharta als leidvoll und hat damit bereits Einsicht in die Erste der
Vier Edlen Wahrheiten, die Wahrheit von der Leidhaftigkeit der Welt36 erlangt. Der
„Geistesdurst“ ist es auch, der Siddharta antreibt, aus dem Hause seiner Eltern
fortzugehen, und somit seinem Vater Leid zuzufügen und es ist dasselbe Leid, das
Siddharta selbst am Ende mit dem eigenen Sohn widerfährt.
Sein Weg zur Selbsterkenntnis bringt Siddharta zuerst zu den Samanas, einer
Gruppe wandernder Asketen. Hier gelangt er durch die Einsicht in die Leidhaftigkeit
der Welt zu dem Wunsch, sich vom Leiden zu befreien: „Ein Ziel stand vor Siddharta,
ein einziges: leer werden, leer von Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von
Freude und Leid.“37 An diesen Wunsch schliesst sich gleich die Einsicht in die Zweite
Edle Wahrheit, die von der Ursache des Leidens an: „Wenn alles Ich überwunden
und gestorben war, wenn jede Sucht und jeder Trieb im Herzen schwieg, dann
musste das Letzte Erwachen, das Innerste im Wesen, das nicht mehr Ich ist, das
Große Geheimnis.“38 Siddharta erkennt somit das Prinzip der Gier, das sich im
Buddhismus in „die drei Arten des Begehrens, das Begehren nach Werden, das
Begehren nach Sinneslust und das Begehren nach Vergehen “39 aufspaltet, als
Ursache des Leidens.
33
Hermann Hesse. Siddharta. S. 159.
Hermann Hesse. Siddharta. S. 161.
35
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 32.
36
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 238.
37
Hermann Hesse. Siddharta. S.166.
38
Hermann Hesse. Siddharta. S.166.
39
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 32.
34
7
Zunächst versucht er die Gier durch noch stärkere körperliche Askese zu bekämpfen.
Die Askese stellt hier eine extreme Verneinung des Begehrens dar, die durch das
Erlernen von Techniken zur Umgehung von körperlichen Bedürfnissen erreicht wird.
Diese Techniken, so muss Siddharta erkennen, führen jedoch nur zu einer
zeitweiligen Loslösung des Bewusstseins vom Körper nicht jedoch zu einer
vollständigen Auflösung des „Durstes“: „Er tötete seine Sinne[…], er schlüpfte aus
seinem Ich in tausend fremde Gestaltungen […] und fand sich jedes Mal erwachend
wieder […] war wieder Ich, schwang im Kreislauf, fühlte Durst, überwand den Durst,
fühlte neuen Durst.“40 Vielmehr entsteht durch asketische Meisterschaft Stolz und
damit Gefühle der Abgrenzung den anderen Menschen gegenüber, was die Bindung
an das Ich und den Daseinskreislauf verstärkt.
Die darauf folgende Begegnung mit Gotama, dem als erleuchtet bezeichneten
Buddha unterstreicht in der Dopplung der Buddhafiguren die Darstellung des
Siddhartas als exemplarischer Mensch und Alleinverwirklicher: „Keinem wird
Erlösung zuteil durch Lehre!“41 hält er dem Erleuchteten entgegen, bevor er seinen
Weg fortsetzt. Siddharta erkennt Gotama zwar als Heiligen42 und hört seine Lehre:
„Gotama lehrte die Lehre vom Leiden, von der Herkunft des Leidens, vom Weg zur
Aufhebung des Leidens. Ruhig floß und klar seine stille Rede. Leiden war das Leben,
voll Leid war die Welt, aber Erlösung war gefunden: Erlösung fand, wer den Weg des
Buddha ging.“43 Die Begegnung mit dem Erleuchteten und die Erkenntnis, dass
dieser dem Daseinskreis entkommen ist, inspiriert Siddharta und ermöglicht ihm die
Einsicht in die Dritte Edle Wahrheit, „Die Wahrheit vom Ende des Leidens“44. Das
reine intellektuelle Verständnis der buddhistischen Lehre, kann ihm jedoch nicht den
Weg zur Erleuchtung zeigen. Gotama, dessen Name ebenfalls aus einem Teil des
Namens des historischen Buddhas hergeleitet ist45, lehrt hier die vier Edlen
Wahrheiten und wird hier im Gegensatz zu Siddharta, dem Alleinverwirklicher , als
Samyak- Sambuddha dargestellt, als Erleuchteter, der sein Wissen altruistisch zum
40
Hermann Hesse. Siddharta. S.167.
Hermann Hesse. Siddharta. S. 182.
42
Hermann Hesse. Siddharta. S. 177.
43
Hermann Hesse. Siddharta. S. 178.
44
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 238.
45
Vgl.: „Gotama: von einem altvedischen Sängergeschlecht abgeleiteter Beiname des Sakya und damit auch
des Buddha.“ Klaus Mylius: Die vier edlen Wahrheiten. Texte des ursprünglichen Buddhismus. Augsburg 2000.
S. 504.
41
8
Wohle der Wesen weitergibt.46 Diese Dopplung der Buddhafiguren spiegelt die
buddhistische Auffassung wieder, dass Erleuchtung durch die Einsicht in die Vier
Edlen Wahrheiten nicht an Religion gebunden ist, jeder kann sie erreichen, auch
ohne die Lehren Buddhas gefolgt zu sein. Siddharta erkennt also dass, man die Gier,
den „Durst“ und damit die Ich- Anhaftung weder durch körperliche Askese, noch
durch das rein intellektuelle Verständnis einer Lehre überwindet. Nach der für ihn
inspirierenden Begegnung mit dem Buddha geht Siddharta nun den für die
Alleinverwirklicher typischen Weg der Erkenntnis von der Wirkung zur Ursache:
Somit wird seine erstarkte Erfahrung vom Ich zum Ausgangspunkt seiner weiteren
Suche: „Aus diesem Augenblick […] tauchte Siddharta hervor, mehr Ich als zuvor,
fester geballt."47
Von diesem Ich ausgehend beginnt er nun einen eigenen Weg zur Erkenntnis zu
beschreiten:„Sich selbst musste er jetzt erleben. […]“48Einsichten verspricht er sich
durch das Eintauchen in die bedingte Welt. Damit begibt er sich in den Bereich der
Gier nach sinnlichen Objekten, der zweiten Art des Begehrens. Die leibhaftige
Erfahrung dieser Gier nach Sinnlichem macht Siddharta bei der Kurtisane Kamala,
deren Name aus dem Sanskrit Wort „Kama“ (skt. Pali) abgeleitet ist, was
„Sinnesverlangen, Wünsche, geschlechtliche Lust“ bedeutet. Im buddhistischen
Kontext bezeichnet „Kama“ das „Begehren nach Objekten der sinnlichen
Befriedigung und die Freude an diesen Dingen. […] Kama bezeichnet eine der drei
Arten von Durst.“49, die Sinneslust nämlich, die zusammen mit der Gier nach Werden
und der Gier nach Vergehen die Ursache des Leidens darstellen. Die Kurtisane
Kamala, die den ehemaligen Asketen nur empfangen will, wenn er Geld und schöne
Kleider hat, wird somit zur Personifikation des Prinzips des „Durstes nach
Sinnenfreuden“, der Gier nach sinnlichen Genüssen. Der Begriff „Kurtisane“
verdeutlicht dabei wiederum die Rückbindung dieses Prinzips an den Körper und
vereint gleichzeitig die Konzepte des sexuellen Begehrens und der Habgier in sich,
welche im Christentum als Sünde bezeichnet werden. Kamala zuliebe geht Siddharta
nämlich zum Kaufmann Kamaswami und arbeitet als Händler. Auch der Name
46
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S. 45.
Hermann Hesse. Siddharta. S. 188.
48
Hermann Hesse. Siddhatra. S. 190.
49
Erhard, Fischer- Schreiber: Lexikon des Buddhismus. S.118.
47
9
Kamaswami ist von "Kama"50 und dem Wort "Swami" (skt: Lehrer) abgeleitet und
bezeichnet die Figur, welche Siddharta das Weltliche Leben jenseits der Sexualität
lehrt. Siddharta lernt schnell, wird reich und geniesst alle sinnlichen Freuden.
Unbeteiligt zunächst, nimmt ihn mit der Zeit dieses Leben gefangen: „Die Welt hatte
Ihn eingefangen, die Lust, die Begehrlichkeit, die Trägheit, und zuletzt auch noch
jenes Laster, das er als das törichteste stets am meisten verachtet und gehöhnt
hatte: die Habgier. Auch das Eigentum, der Besitz und Reichtum hatte ihn schließlich
eingefangen, war ihm kein Spiel und Tand mehr, war Last und Kette“51.
An dieser Stelle erscheint die Habgier wie aus christlicher Sicht als das schlimmste
der Vergehen, da hier ein Ungleichgewicht im Vergleich zur sozialen Gemeinschaft
der Stadt entstanden ist. An dieser Stelle lässt sich die christliche Wertung der Gier
erkennen.
Schließlich fühlt Siddharta Ekel vor sich selbst und seiner Hingabe an weltliche
Genüsse, und er verlässt die Stadt, Kamala und Kamaswami, ohne zu wissen, dass
Kamala einen Sohn von ihm erwartet. Er erkennt, dass im Ausleben des sinnlichen
Begehrens im Daseinskreis keine Möglichkeit zur Erkenntnis des eigenen Geistes
liegt, da sinnliche Freuden vergänglich sind und Alter, Krankheit und Tod nicht
aufhalten können: „Dieses Spiel hieß Sansara, ein Spiel für Kinder, vielleicht hold zu
spielen, einmal, zweimal, zehnmal- aber immer wieder? Da wusste Siddharta, dass
das Spiel zu Ende war, daß er es nicht mehr spielen könne.“52 Somit überwindet er
die Gier nach sinnlichen Objekten.
Schliesslich wünscht er sich, von der Sinnlosigkeit des Daseinskreislaufes und dem
Ekel vor sich selbst übermannt, den Tod: „Nein, es gab keine Ziele mehr, es gab
nichts mehr als die tiefe, leidvolle Sehnsucht, diesen ganzen wüsten Traum von sich
zu schütteln, diesen schalen Wein von sich zu speien, diesem jämmerlichen Leben
ein Ende zu machen.“53 Dieser Todeswunsch entspricht der dritten Form der Gier,
die im Buddhismus als Ursache des Leidens angesehen wird, dem Begehren nach
„Vergehen“ oder „Nichtseins- Begehren“. Es beruht auf dem nihilistischen Wunsch
nach Selbstvernichtung und der Ansicht, dass „es zwar ein Ich gebe, daß dieses aber
50
Gemäss der Rigveda ist das Prinzip des Kama, das Verlangen also, der Ursprung aller weltlichen Dinge. Vgl.:
Robert c. Zaehner. Hinduism. 1966.
51
Hermann Hesse. Siddharta. 213, 214..
52
Hermann Hesse. Siddharta. S. 218.
53
Hermann Hesse. Siddharta. S. 220.
10
nach dem Tode der Vernichtung anheimfalle.“54 Siddharta jedoch gibt sich nicht
lange diesem Todeswunsch hin. Er hört das heilige „Om“ in seinem Inneren und
erkennt seinen Irrtum55. Damit überwindet er das nihilistische Begehren nach NichtSein. Nunmehr hat Siddharta alle drei Arten der Gier als Ursache des Leidens erlebt,
die Gier nach Werden, die Gier nach Sinneslust und die Gier nach Vergehen. Durch
seine Einsicht in die Sinnlosigkeit von Samsara, den Ekel und die Einsicht in den
Irrtum des Todesbegehrens erkennt der Alleinverwirklicher Siddharta den Fehler
seines Stolzes, der ihn bis dahin immer gehindert hatte, seine Anhaftung an die IchVorstellung aufzugeben: „War es nicht sein Ich, sein kleines, banges, stolzes Ich, mit
dem er so viele Jahre gekämpft hatte, das ihn immer wieder besiegt hatte, das nach
jeder Abtötung wieder da war, Freude verbot, Furcht empfand? War es nicht dies,
was heute endlich seinen Tod gefunden hatte, hier im Walde an diesem lieblichen
Flusse?“56
Siddharta hat nunmehr bereits zwei der drei Arten von Gier, die als Ursache des
Leidens angesehen werden, überwunden. Er beschließt am Fluss zu bleiben und von
ihm zu lernen. Es bleibt ihm nur noch die Gier nach Werden, „nach ewigem Dasein,
den Glauben an eine nach dem Tode fortbestehende Ichwesenheit“57 zu überwinden,
um Erleuchtung zu erreichen. Auch vom Fährmann Vasudeva wird der
Alleinverwirklicher Siddharta inspiriert. Er bestärkt ihn, vom Fluss zu lernen: „Er weiß
alles, der Fluß, man kann alles von ihm lernen.“58 Und Siddharta lernt vom Fluss,
dass es keine Zeit gibt und folglich auch kein keine ewige überzeitliche Ichwesenheit:
„Es waren Siddhartas frühere Geburten Keine Vergangenheit, und sein Tod und
seine Rückkehr zu Brahma keine Zukunft. Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles
hat Wesen und Gegenwart. […]Siddharta sprach mit Entzücken, tief hatte diese
Erleuchtung ihn beglückt.“59 Sein Weg als Alleinverwirklicher führt Siddharta nicht wie
seinen Freund Govinda über die Zuflucht zu den Lehren des Gotama, sondern über
die direkte Erfahrung und Befreiung von den drei Arten des Begehrens als Ursache
für das Leiden.
54
Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 32.
Hermann Hesse. Siddharta. S. 221.
56
Hermann Hesse. Siddharta. S. 230.
57
Vgl.: Nyanatiloka: Das Wort des Buddhas. Eine S. 32.
58
Hermann Hesse: Siddharta. S. 235.
59
Hermann Hesse. Siddharta. S. 236.
55
11
Doch zur Gier nach Werden gehört auch der Aspekt des Fortbestehens eines Teils
der Persönlichkeit in den Nachkommen und so trennt Siddharta die eigene Erfahrung
der Vaterliebe und des Leidens an ihr von der endgültigen Erleuchtung. Eines Tages
kommt Kamala, die auf dem Weg zu Gotama ist, mit dem gemeinsamen Sohn in das
Haus des Fährmannes. Die Mutter stirbt, der Sohn bleibt beim Vater Siddharta.: „Nun
aber, seit sein Sohn da war, nun war auch er, Siddharta, vollends ein Kindermensch
geworden, eines Menschen wegen leidend, einen Menschen liebend, einer Liebe
verloren, einer Liebe wegen ein Tor geworden.“60 Siddharta liebt ihn, aber er ist nicht
glücklich. Genauso wie einst Siddharta seinen Vater verlassen hatte, flieht der Sohn
und lässt Siddharta zurück. Durch die Liebe zu seinem Sohn und dem daraus
resultierenden Leiden erlangt Siddharta schliesslich Verständnis und Mitgefühl für
alle Menschen: „Anders sah er jetzt die Menschen an als früher. […], er verstand sie
und teilte ihr nicht von Gedanken und Einsichten, sondern von Trieben und
Wünschen geleitetes Leben. […] alle diese Triebe, […]alle dies ungeheuer starken,
stark lebenden, stark sich durchsetzenden Triebe und Begehrlichkeiten waren für
Siddharta keine Kindereien mehr, er sah um ihretwillen die Menschen leben, sah sie
um Ihretwillen Unendliches leisten, Reisen tun, Kriege führen, Unendliches leiden,
Unendliches ertragen, und er konnte sie dafür lieben, er sah das Leben, das
Lebendige […] in jeder ihrer Leidenschaften, jeder ihrer Taten.“61 An dieser Stelle
drückt Siddharta seine Wertschätzung für das Potential der Gier als evolutionäre
Notwenigkeit und Handlungsantrieb des Menschen aus. Das trifft sich mit der
anthropologischen Einsicht in die positiven Wirkungen der Gier als Notwendigkeit
und Antrieb zum Fortschritt.
Nachdem er nun durch die eigene leidvolle Erfahrung mit dem Sohn Mitgefühl mit
seinem eigenen Vater und allen Menschen erreicht hat, überwindet Siddharta
vollständig die Gier nach Werden, die dritte Art des Begehrens und erreicht
Erleuchtung im gemeinsamen Lauschen auf die Geräusche des Flusses mit
Vasudeva: „Seine Wunde blühte, sein Leid strahlte, sein Ich war in die Einheit
geflossen. In dieser Stunde hörte Siddharta auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte
auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille
mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das einverstanden ist mit dem Fluß
des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen
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Hermann Hesse. Siddharta. S. 248.
Hermann Hesse. Siddharta. S. 253.
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hingegeben, der Einheit zugehörig.“62 Er hat nun die Vier Edlen Wahrheiten
verwirklicht und Erleuchtung erreicht, indem er die drei Arten des Begehrens
überwunden hat.
Wie der paratextuelle Verweis des Titels auf die buddhistischen Schriften vermuten
liessen erscheint das Motiv der Gier in Herman Hesses Siddharta als Ursache des
Leidens und Handlungsantrieb der Menschen im Daseinskreislauf. Dieses Prinzip ist
kein explizit buddhistisches, die Idee der Gier als Motor der Welt existiert auch im
Hinduismus63 oder in der Psychoanalyse Lacans. Was überrascht, ist die formale
Genauigkeit mit der im Text die buddhistischen Basisbelehrungen der Vier edlen
Wahrheiten und die Überwindung der drei Arten von Begehren ohne direkte
moralische Wertung umgesetzt werden: Der Held Siddharta bewegt sich dabei als
Alleinverwirklicher ohne religiöse Anbindung stufenweise über die Erkenntnis der Vier
Edlen Wahrheiten und durch die Überwindung der drei Arten von Begehren, dem
Begehren nach Werden, dem Begehren nach Sinneslust und dem Begehren nach
Vergehen hin zur Erleuchtung. Somit erscheint die Gier im Siddharta als
anthropologische Grundkonstante. Im Zustand der Erleuchtung, erkennt Siddharta
auch das Potential des Prinzips der Gier, das dem Menschen einen evolutionären
Vorteil undden Antrieb zu Wachstum und Fortschritt beschert. Diese Sichtweise
findet auch in der seit der Aufklärung in Europa verbreiteten euphemistischen
Ersetzung des negativ konnotierten Wortes „Gier“ durch den Begriff „Eigeninteresse“
seinen Niederschlag. Damit soll die moralisch das Wachstum beschränkende
Funktion umgangen werden64, die sich vor allem durch die Bezeichnung der Habgier
als Todsünde im Christentum verbreitet hatte. Diese euphemistische Neubenennung
der Gier seit der Aufklärung gründet sich auf den Gedanken von der Trennung von
Körper und Geist, der so interpretiert wurde, dass dem Geist und damit der Vernunft
grösseres Gewicht als dem Körper beigemessen wurde. Und der Geist ist im
Gegensatz zum Körper nicht an enge, sichtbare Grenzen des Wachstums gebunden,
was zu einer weitgehenden Neubezeichnung des Konzeptes der Gier führte: Das
Eigeninteresse des Einzelnen wird mit Thomas Hobbes und Alexander Pope zu
einem Grundprinzip der modernen Gesellschaftsordnung65. Die beschränkende
Funktion der Gier als moralisches Konzept, das eine starke negative Wertung in der
62
Hermann Hesse. Siddharta
Robert c. Zaehner. Hinduism. London 1966.
64
Vgl.: Roberton: Greed. S. 48.
65
Vgl.: Robertson: Greed. S. 55-57.
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Wortbedeutung trägt, tritt immer dann in Erscheinung, wenn ein als übermässig
angesehenes Wachstum beschränkt werden soll.
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