Krachtconcept (Muckenfus)

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Unterrichtsmodell
Bewegungsarten von Körpern als
Zugang zum Kraftbegriff
Ein einführender Unterrichtsgang in die Newtonsche Mechanik
Von Heinz MuckenfuB* (Bron: Naturwissenschaften im Unterricht Physik/Chemie; Heft 34:Kraftbegriff;
Mai 1988; Fachzeitschriften bei Friedrich in Velber in Zusammenarbeit mit Klett, 3016 Seelze)
1. Wesentliches
als Vorbemerkung
- "Welcher Körper treibt ein beschleunigtes Auto an (Abbildung 1)?"
Schuier und Studenten antworten meist
spontan: "der Motor". Geht man der Frage weiter nach, etwa mit dem Hinweis,
ob das nicht vielleicht dasselbe ware,
wie wenn sich Münchhausen am eigenen Schopt aus dem Sumpfzieht.sowird
meist deutlich, daB die Differenzierung
von Wechselwirkungskraften und
Gleichgewichtskraften nicht gerade zu
den jederzeit abruf- und anwendbaren
Denkstrukturen gehort. Die Idee, daB der
Wechselwirkungspartner des Autos ja
wohl schwerlich der Motor sein kann
(sonst müBte er sich in der zum Auto
entgegengesetzten Richtung verabschieden), ist offenbar nicht sehr naheliegend.
Der Kraftbegriff gehort scheinbar nach
wie vor zu den schwer zu lernenden
Konzepten der klassischen Physik.
Sind die betreffenden Sachstrukturen
wirklich so schwierig, oder liegt das Problem an anderer Stelle, namlich in der
etablierten Didaktik zum Kraftbegriff und
damit in den methodischen Konventionen des Physikunterrichts?
Dem folgenden Beitrag liegt die These
zugrunde, daB der konventionelle Unterricht die Lernprobleme zum Kraftbegriff
unbeabsichtigt versterkt, die er beheben
sollte. Zur naheren Begründung dieser
These sei auf den Basisartikel von R. Duit
verwiesen.
Das vorliegende Unterrichtskonzept
geht davon aus, daB die Anwendung des
Kraftbegriffes für die Vorhersage physikalischer Wirkungen ohne Kenntnis der
"Newtonschen Axiome" spekulativ und
damit unphysikalisch ist.
DieEinheit wurde u.a. im Unterricht einer
8. Realschulklasse (Baden-Württemberg) erprobt. Für diese Klasse war das
Thema zugleich der Einstieg in den
Physikunterricht überhaupt. Varianten
Abb. 1: Der Fahrer trilt auf's Gaspedal, die
StraBe spurt das allemal! S/e schiebt das
Auto
samt Motor (zum Glück kommt Glatteis se/ten
des Unterrichtsganges wurden auch in
vor)!
einigen Hauptschulklassen realisiert,
ohne daB wesentlich verschiedene Ergebnisse bezüglich der Motivation und
des kognitiven Lernerfolges festgestellt
wurden.
Abb. 2: Der Körper ist im Gleichgewicht, die
Seele anerkennt das nicht!
Langlich verformt und zornesrot
bleibt auch das Ohr in groBer Not.
Die Themenübersicht auf der folgenden
Seite zeigt die Abfolge der Unterrichtsschritte. Die Überschriften deranschlieRenden Darstellung entsprechen dieser
Übersicht. lm weiteren Text sind die
einzelnen Unterrichtseinheiten nur insoweit ausführlicher dargestellt, als der
Unterrichtsgang von den üblichen Vorgehensweisen abweicht.
2. Die Unterrichtseinheiten
Themenübersicht:
2.1 Bewegung von Körpern
- Klassifikation von Bewegungen
- Geschwindigkeit als physikalische
GröRe
- Graphische Darstellung von Bewegungen
2.2 Die Anderung von Bewegungszustanden
- Eine Kraft auf einen Körper,
Tragheitssatz
- Mehrere Krafte auf einen Körper:
Kraftegleichgewicht und ungleichgewicht an einem Körper
- Verformung von Körpern als Begleiterscheinung von Kraften.
2.3 Tragheit und Schwere, Masse
und Gewichtskraft
- Zusammenhang zwischen Tragheit, Schwere und Masse
- Masse und Gewichtskraft
2.4 Kraftmessung und Kraftmesser
2.5 Das Wechselwirkungsgesetz
- Kraft und Gegenkraft
- Gleiche Krafte, verschiedene Wirkung
2.1 Bewegungen von Körpern
Klassifikation von Bewegungen
lm Pausenhof der Schule werden viele
unterschiedliche Spielzeuge in Bewegung gesetzt (Z.B. Schwungradauto,
Uhrwerkauto, Windrad, Eisenbahn auf
Kreisbahn und auf gerader Schienenstrecke, Luftballon, u.v.a.m.). Die Schuier haben den Auftrag, die Bewegung
jedes einzelnen Spielzeugs in Stichworten schriftlich zu beschreiben. In der
anschlieBenden Gruppenarbeit werden
die Bewegungen von den Schülern nach
Kriterien geordnet, die ihnen sinnvoll
erscheinen.
Unterrichtsmodell
Die Klassifikationen der Schuler entsprechen sicher nicht spontan der physikalischen Einteilung der Bewegungsarten.
Die anfallenden Beobachtungsergebnisse und Begriffe fordern aber eine
Strukturierung der Bewegungsarten mit
Hilfe vereinbarter Oberbegriffe heraus.
Begriffskonventionen wie gleichförmige
und ungleichförmige Bewegungen werden dazu mitgeteilt.
Der Geschwindigkeitsbegriff wurde
nicht in seiner umfassenden Bedeutung
als VektorgröBe eingeführt, um den Unterricht nicht von Anfang an theoretisch
zu überladen. Vielmehr schien es uns
zweckmaBig, vorlaufig der Alltagssprache zu folgen, in der "konstante Geschwindigkeit" M= const. bedeutet.
Richtungsanderungen werden also
nicht als Geschwindigkeitsanderungen
bzw. Beschleunigungen aufgefaBt.
Sprachlich bedeutet dies, daB ein Körper sowohl seine Geschwindigkeit andern kann (schneller oder langsamer
werden) als auch seine Richtung.
Geschwindigkeit als
physikalische Grosse
Einzelheiten dieses Abschnittes - Z.B.
der Weg der Begriffsbildung - können
hier nicht weiter erörtert werden. Am
Ende dieser Einheit kennen die Schuier
die Definition der Geschwindigkeit, ihre
Berechnung aus MeBwerten, sowie
Umrechnungen von Geschwindigkeitsangaben in verschiedene Einheiten.
Graphische Darstellung
von Bewegungen
Um Bewegungen eines Körpers symbolisch charakterisieren zu können, werden "Bewegungspfeile" eingeführt. Es
wird vereinbart, daB diese immer blau zu
zeichnen sind, um sie spater von den rot
gezeichneten Kraftpfeilen zu unterscheiden, und daB sie in den Abbildungen über oder unter den bewegten Körper eingetragen werden. Die Richtung
des Pfeils zeigt die Bewegungsrichtung,
die Lange ist ein MaB für die (Momentan)
-Geschwindigkeit. Damit ergeben sich
Z.B. für verschiedene Spielzeuge die
Bewegungsablaufe der Abbildungen 3,
4 und 5. Die Bildlegenden entsprechen
den Sprachregelungen des Unterrichts.
Man gewinnt die Diagramme dadurch,
daB man neben den Spielzeugen eine
Papierrolle (Kassenzettel) ausrollt. Auf
dem Papierstreifen werden im Takt des
Metronoms Wegmarken am jeweiligen
Ort des Fahrzeuges eingezeichnet.
AnschlieBend werden die Streifen gemaB den Zeiteinheiten zerschnitten und
an die Tafel in das Diagramm geklebt (s.
dazu auch [1 ]). Eine Testaufgabe zu dieser Unterrichtseinheit zeigt Abbildung 6.
NiU-PC 36(1988) Nr.34
2.2 Die Anderung von
Bewegungszustanden
Eine Kraft au f einen Körper,
Tragheitssatz
Ich skizziere diesen zentralen Unterrichtsabschnitt knapp gemaB der Abfolge einzelner Erkenntnisschritte:
1. Schritt
Experimentelle Problemstellung: Ein mit
Wagestücken beladener Wagen der
Spielzeugeisenbahn(Spurweite45mm!)
wird auf einem langen (6m!) geraden
Schienenstück angestoBen. Er rollt mit
kaum beobachtbarer Verzögerung. Wie
laBt sich verhindern, daB der Wagen am
Schienenrand von den Gleisen rollt?
(Abbildung 7).
Ergebnisse (Beispiele): Man muB den
Wagen mit der Hand anhalten; am Schienenrand muB ein Bremsklotz angebracht
werden, u.a.
Konventionen: In der Physik sagt man,
auf den Wagen muB eine Kraft ausgeübt
werden, urn ihn zu verzögern. Die Kraft
muB entgegen der Bewegungsrichtung
wirken.
Krafte werden mit Kraftpfeilen darge-
stellt. Kraftpfeile werden immer rot gezeichnet, urn sie deutlich von den Bewegungspfeilen zu unterscheiden.
Die Symboleigenschaften Lange, Pfeilrichtung und Angriffspunkt werden erlautert (s. dazu auch die Bemerkungen
im Basisartikel). Es wird vereinbart, den
Angriffspunkt an der Stelle des Körpers
einzuzeichnen, an der die Kraft angreift
(Abbildung 8). Ist diese Stelle nicht bekannt oder für das Problem unwichtig, so
kann der Kraftpfeil auch in der Mitte des
Körpers eingezeichnet werden.
2. Schritt
Problem: Ein anderer Wagen ist so vorbereitet, daB er nur ein kurzes Stück weit
13
Unterrichtsmodell
ist eine regelmaBig zu beobachtende
Reaktion vieler Schuier auf diesen Gedankengang.
Es wird das Planetensystem an die Tafel
gezeichnet. Die Reise von Voyager 2
wird beschrieben (Abbildung 11): 10
Jahre unterwegs, über 3 Milliarden Kilometer zurückgelegt, Durchschnittsgeschwindigkeit ca. 40 000 km/h (ausrechnen lassen) - also soviel wie 1 mal urn die
Erde in jeder Stunde und das seit zehn
Jahren
- Treibstoffverbrauch: so gut wie
des Fahrradfahrens und ahnlichen Erkeiner (!), lediglich für Richtungsanderollt und dabei stark verzögert wird. (Die fahrungen wird diskutiert, daB die Bewerungen wurde etwa soviel Sprit verReibung wird an den Achsen mit Plastilin gungswiderstande und damit die Kraft
braucht, wie ein Autotank faBt.
künstlich erhöht). Auf dem Wagen ist
entgegen der Bewegungsrichtung in der
Bilder von Voyager 2 werden gezeigt
eine Hartschaumplatte quer zur FahrtRegel gröBer werden, wenn die Gedie Aufgaben der Sonde werden erlaurichtung befestigt (Abbildung 9). Wie
schwindigkeit eines Körpers wachst
tert [3]. In einigen Jahren wird sie weitere
können wir erreichen, daB der Wagen
(Abbildung 10).
1,5 Milliarden Kilometer zurückgeleg
besser rollt?
4. Schritt
haben und am Planeten Neptun vorbei
Möglichkeiten: Styroporplatte in LangsDie Idee der reibungsfreien Bewegung
fliegen - antriebslos, mit unvorstellba
richtung stellen oder entfernen, um den
(Klassengesprach): Lassen sich BewegroBer Geschwindigkeit!
Luftwiderstand zu verringern. Radachgungswiderstande vollstandig ausDie Informationen über Voyager 2-Wor
sen ölen, um die Reibung zu verkleinern.
schalten? Was ware die Folge davon?
te, Bilder, Berechnungen- machen die
Es gelingt, den Wagen so weit zu prapaEs werden Bilder vom Curling gezeigt.
kraftefreie Bewegung vorstellbar. Wem
rieren, daB er nur noch minimal verzöDie Bemühungen der Wintersportler in
im spateren Unterricht immer wieder die
gert wird.
allen möglichen Sportarten werden disscheinbare Erfahrung durchbricht, das
Folgerung: Es gibt Bewegungswiderkutiert, die Bewegungswiderstande zu
kraftefreie Körper "von sich aus" zu
stande (Lagerreibung, Rollreibung, Luftminimieren. Verkleidungen von SolarRuhe kommen, hat sich das Beispiel de
widerstand) die zur Verzögerung des
mobilien, Rennwagen u.a. werden disRaumsonde bisher glanzend bewahr
Wagens führen. Sie haben dieselbe
kutiert. Die Einsicht ist schnell erzielt, daB
Irgend ein Schuler ruft mit dem Stichwort
Wirkung, wie Z.B. die Hand oder der
sich in der Praxis Bewegungswiderstan"Voyager!" immer wieder insGedachtni
Bremsklotz, mit denen der Wagen angede nie vollstandig ausschalten lassen.
zurück, daB sich antriebslose Körper mit
halten wird. Die Bewegungswiderstande
Aber was ware wenn...??
unverminderter Geschwindigkeit weite
rufen also eine Kraft auf den Wagen
Es ist interessant zu beobachten, daB
bewegen, wenn auf sie keine Kraft en
entgegen der Bewegungsrichtung herSchuler in dieser Phase des Unterrichts
gegen der Bewegungsrichtung ausge
vor. Je gröBer diese Kraft ist, desto grössich immer wieder über ihre eigenen
übtwird.
ser ist die Verzögerung. Man kann die
SchluBfolgerungen wundern: Klar, die
Die Stabilitat dieser Einsicht hangt sich<
Bewegungswiderstande sehr klein maGeschwindigkeit des Wagens würde
nicht zuletzt davon ab, wie plastisch un
chen, dann wird der Wagen kaum noch
immer gleich bleiben. Körper-einmal in
, anschaulich die Schilderung reibung;
verzögert.
Bewegung gesetzt- würden sich ohne
freier bzw. reibungsarmer Bewegunge
3. Schritt
Bewegungswiderstande immer weitergelingt. Eine Unterstützung durch Die
Geschwindigkeit und Bewegungswiderbewegen!?-"Das kann ja gar nicht sein",
stand (Klassengesprach): Am Beispiel
z
Unterrichtsmodell
oder Bilder scheint unerläßlich. Gegenüber den 70-er Jahren konnte ich bei 1214-Jährigen auch wieder ein gesteigertes Interesse an Vorgängen im Weltall
feststellen. Die Mondflüge sind für sie
bereits Geschichte, kaum realer als
Science-fiction-Darstellungen und entsprechend interessant.
5. Schritt
Kräfte in Bewegungsrichtung: Es ist sicher der schwierigere Teil, zu vermitteln,
daß Körper nur unter dem Einfluß einer
Kraft zur Ruhe kommen, die entgegen
der Bewegungsrichtung ausgeübt wird.
Ist dies eingesehen, so hat die Frage,
wie denn eine beschleunigte Bewegung
zustande kommt, fast nur noch rhetorischen Charakter. "Von alleine wird nichts
schneller" ist eine Alltagserfahrung. Daß
eine Kraft in Bewegungsrichtung auf den
Körper wirken muß, kann an vielen Beispielen plausibel gemacht werden
(Abbildung 12).
6. Schritt
Kräfte schräg zur Bewegungsrichtung:
An Stahlkugeln, die über eine ebene
Tischplatte rollen, wird gezeigt, daß die
Kugeln -sich selbst überlassen- ihre
Richtung nicht ändern. Das Experiment
wird unterstützt durch stroposkopische
Aufnahmen von Billiardkugeln. (Hervorragende Bilder hierzu finden sich z.B. in
[4]).
7. Schritt
Formulierung des Trägheitssatzes: Der
Trägheitssatz wird nicht in der allgemein
üblichen "Merkform" fixiert. Lernpsychologisch sind das Verharren in Ruhe einerseits und das Beibehalten des Bewegungszustandes andererseits zwei
ziemlich verschiedene Aspekte; denn
die Phänomene von Ruhe und Bewegung stehen im Alltagsdenken nicht in
einer Teilklassenbeziehung, sondern
bilden Gegensätze. Den Ruhezustand
als Sonderfall eines Bewegungszustandes zu begreifen, ist eine Abstraktion,
die im Grunde erst nach der Einsicht in
das Trägheitsgesetz sinnvoll erscheint.
Die ausführliche Formulierung soll dem
Rechnung tragen und außerdem den
definitorischen Charakter des Trägheitsgesetzes für den Kraftbegriff verdeutlichen.
An dieser Stelle wird der Unterrichtsfilm
"Mit voller Wucht" gezeigt (FWU Nr. 32
3242). Dieser Film enthält eine Reihe
eindrucksvoller Szenen zum Trägheitsgesetz, überwiegend in verkehrserzieherischer Absicht. Bei Gesprächen mit
den Schülern zeigte sich noch ein Jahr
später, daß der Film bis in Details hinein
in Erinnerung geblieben war. Er bildete
somit einen zentralen assoziativen "Aufhänger" für die Unterrichtsinhalte.
Mehrere Kräfte auf einen Körper:
Kräftegleichgewicht und
- Ungleichgewicht an einem Körper
Kräfte oder Körper im Gleichgewicht?
Vor der Schilderung des Unterrichtsgangs möchte ich auf einige Probleme
methodischer und sprachlicher Art hinweisen: Sehr absichtsvoll hat der bisherige Unterrichtsgang immer den Körper
in den Mittelpunkt der Betrachtung ge-
stellt, auf den eine Kraft ausgeübt wird.
Zwangsläufig kamen auch immer wieder
die Körper in den Blick, welche die jeweilige Kraft ausüben. In solchen Fällen
wurden die Schüler angehalten, beide
Körper streng zu unterscheiden. Außerdem wurde darauf verwiesen, daß wir
uns später noch ausführlich mit der Frage befassen, wie denn eine Kraft auf
einen Körper überhaupt erst zustande
kommt (Wechselwirkungsgesetz, s.u.).
15
Unterrichtsmodell
Konsequenterweise führt diese Betrachtung zu der Aussage, ein Körper (nicht
die Kräfte!!) befinde sich im Gleichgewicht, nämlich dann, wenn sich die Kräfte, die auf ihn ausgeübt werden, kompensieren. Der Begriff "Kräftegleichgewicht" ist insofern etwas unglücklich,
aber kaum zu vermeiden. Umso eindeutiger müssen die experimentellen und
bildhaften Darstellungen zeigen, daß
sich die Gleichgewichtssituation auf
einen bestimmten Körper bezieht.
Im Gegensatz dazu zeigen die Abbildungen 15 und 15a Beispiele für ungeeignete Darstellungen der Gleichgewichtssituation. Hier tritt nämlich der
Körper im Gleichgewicht sowohl optisch
als auch psychologisch in den Hintergrund. Beim Tauziehen befinden sich
alle Körper des Systems im Gleichgewicht, also z.B. beide Mannschaften,
das Seil und der Fußboden. Die Situation
ist am einfachsten noch dann zu durchschauen, wenn man die Betrachtung auf
das Seil reduziert, an welchem Kräftegleichgewicht herrscht. Genau dieses
Seil ist aber das psychologisch unbedeutendste Element des Bildes.
Solange sich das System in Abbildung
15a im Gleichgewicht befindet, greifen
an jedem (Teil-)Körper mindestens zwei
Kräfte in entgegengesetzter Richtung
an, wobei jede Kraft zugleich Gleichgewichtspartner und Wechselwirkungspartner einer jeweils anderen Kraft ist.
Diese komplexe Situation erschwert die
Differenzierung von Gleichgewichtsund Wechselwirkungskräften.
Kernpunkte der Unterrichtssequenz
Es mag zunächst widersprüchlich anmuten, das Kräftegleichgewicht vor der Kraftmessung zu behandeln. Denn Gleichheit
stellen wir i.d.R. über den Vergleich mit
einer Norm fest. Aber das Kräftegleichgewicht ist ein Postulat für den Fall der Ruhe
oder gleichförmigen Bewegung, das sich
aus dem axiomatischen Charakter des
Trägheitssatzes als Folgerung ergibt.
Experimente haben dann den Status, die
Behauptung eines Kräftegleichgewichts
sinnvoll und plausibel erscheinen zu lassen, nicht dieses zu beweisen. Insofern
sind Messungen entbehrlich bzw. sogar ir^
reführend, weil sie eine "Beweisführung"
suggerieren.
Abbildung 16 zeigt eine experimentelle
Situation zum Kräftegleichgewicht, in
dem sich der Güterwagen befindet.
Die Schüler wissen bereits, daß eine
Lokomotive alleine den Wagen in die
jeweilige Richtung beschleunigen würde. Die Lokomotive symbolisiert insoweit
die Kraft, die auf den Wagen ausgeübt
wird. Soll der Wagen von beiden Lokomotiven in jeweils entgegengesetzte
Richtung beschleunigt werden, dann
passiert garnichts; Der Wagen bleibt in
Ruhe, an ihm herrscht Kräftegleichgewicht. Der entscheidende Punkt bei diesem Versuch ist, daß der Wagen expressis verbis der Körper ist, der betrachtet
wird. Die Lokomotiven symbolisieren
lediglich die Kräfte.
(Experimenteller Hinweis: Beide Lokomotiven befinden sich auf elektrisch getrennten Gleisstücken, die mit vertauschter Polung an einen Trafo angeschlossen sind.)
Dieser Darstellung schließen sich ausführliche Diskussionen zu dynamischen
Situationen des Kräftegleichgewichts
an. Beispiele zeigen die Abbildungen
17, 18 und 19. Selbstverständlich werden auch Situationen zum statischen
Gleichgewicht erörtert (Abbildung 20.)
Bei der Diskussion von Beispielen wie in
Abbildung 19 und 20 wird das Wort
"Gewichtskraft" noch nicht verwendet.
Daß die Erde Körper anzieht, muß dennoch nicht unerwähnt bleiben. Die Schü-
Ergebnis dieses Gesprächs ist, daß der
Begriff Gewicht in der Alltagssprache in
zwei unterschiedlichen Bedeutungen
verwendet wird. Einmal im Sinne der
Masse (Trägheit) zum anderen jedoch
auch im Sinne der Kraft, die von der Erde
auf einen Körper ausgeübt wird. Mehrdeutige Begriffe versucht man in der
Physik zu vermeiden. Für den Unterricht
wird daher vereinbart, das Wort Gewicht
durch den Begriff zu ersetzen, der jeweils gemeint ist, also entweder durch
Gewichtskraft oder Trägheit bzw. Masse. Die Gewichtskraft wird als besonderer Fall der Gravitation bzw. Auswirkung
der Schwere erläutert. Weil alle Körper
aufgrund ihrer Schwere Kräfte auf andere Körper ausüben, zieht auch die Erde
alle Körper an. Die Anziehungskraft der
Erde auf andere Körper ist umso größer,
je größer deren Masse ist. Man nennt
diese Kraft auch Gewichtskraft (Die Formulierung "der Körper hat eine Gewichtskraft" wird vermieden). An unterschiedlichen Stellen der Erde kann die
Gewichtskraft auf einen Körper verschieden sein. Auch mit wachsender
Entfernung von der Erde wird sie kleiner.
Die Masse (Trägheit) eines Körpers ist
jedoch unveränderlich.
2.4 Kraftmessung und Kraftmesser
Im Unterrichtsgespräch wird erörtert,
daß die Messung der Kraft mit Hilfe einer
der Wirkungen erfolgen muß, die beobachtbar sind. Prinzipiell könnte man jede
Wirkung heranziehen, also Beschleunigung, Verzögerung, Richtungsänderung und Verformung. Es werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Die
Schüler erkennen rasch, daß die Bewegungsänderungen nicht ganz einfach
quantitativ zu erfassen sind. Die Verformung eines Gummis, einer Feder o.a.
könnte man leichter messen. Sie hat
außerdem den Vorteil, daß sie auch noch
im Falle des Kräftegleichgewichts auftritt, bei dem ja die anderen Wirkungen
verschwinden. Es werden Federkraftmesser verschiedener Belastbarkeit
ausgeteilt, mit der Aufforderung zu versuchen, mit diesen Kraftmessern Kräfte
zu bestimmen. Die Schüler kommen
schnell auf die Idee, verschiedene
Gewichtskräfte zu ermitteln (Schulmappe, Kugelschreiber, Jacke usw.). Rasch
taucht die Frage auf, was denn das "N"
bedeutet. Die Krafteinheit "1 Newton"
wird den Schülern als Gewichtskraft auf
einen Normkörper verdeutlicht. Als solcher Normkörper kann eine Tafel Schokolade (m = 100g) füngieren. Daraufhin
werden jeder Gruppe mehrere Wägestücke mit m = 100g ausgeteilt (als
Normkörper für 1N). Auf jedes Wägestück übt die Erde eine Kraft von etwa 1 N
aus. In üblicher Weise kann damit das
NiU-PC 36 (1988) Nr.34
18
Verhalten elastischer Federn und der
Aufbau von Kraftmessern besprochen
werden.
2.5 Das Wechselwirkungsgesetz
Kraft und Gegenkraft
Bis zu dieser Stelle des Unterrichts
kommen unvermeidlicherweise immer
wieder auch diejenigen Körper ins Blickfeld der Schüler, welche die Kräfte ausüben.
(In der Realschulklasse waren es z.B. folgende Situationen, bei denen Schüler bereits Fragen zur Wechselwirkung stellten:
- Die filmische Darstellung eines Crashtests
löste die Vermutung aus, daß die Kraft auf
die Wand größer ist als die auf das Auto.
- Bei der Besprechung der Gravitation
ergab sich das Problem, ob ein Apfel auch
an der Erde ziehe,
- Bei der Besprechung des Kräftegleichgewichts vermuteten die Schüler, daß der
Ast, an dem der Apfel hängt, mit größerer
Kraft am Apfel ziehe als der Apfel am Ast.)
Es ist sehr zu empfehlen, Schüleräußerungen hierzu mit dem Versprechen
festzuhalten, daß die entsprechenden
Fragen zu gegebener Zeit behandelt
werden. Dieser Stand des Unterrichts ist
nun erreicht:
Zwei Schüler werden jeweils auf ein Brett
gestellt, an dem vier Möbelrollen befestigt sind (Abbildung 21).
Beide Schüler sind über ein Seil verbunden, an dem jeweils ein Kraftmesser
befestigt ist, den die Schüler in der Hand
halten. "A" wird aufgefordert an "B" zu
ziehen. "B" wird ermahnt, nach Möglichkeit nicht an "A" zu ziehen. Beide Kraftmesser zeigen jedoch die gleiche Kraft
an. Die Klasse fordert von "B" nicht zu
ziehen. Dieser protestiert, das gehe
nicht. "B" wird ausgewechselt, aber
andere Mitschüler schaffen es auch
nicht. Die Gleichheit beider Kräfte wird
zunächst von den Schülern damit begründet, "daß 'A' und 'B' ungefähr gleich
schwer sind." Nun besteigen der
schwerste und der leichteste Schüler
jeweils ein Brett. Auch hier ist es unmöglich, auf einen der beiden Schüler eine
größere Kraft auszuüben, als sie der
andere erfährt. Selbst wenn ein Schüler
auf dem Boden steht, ändert sich daran
nichts. Wir können sogar noch weiter
gehen und einen Schüler durch eine
Wand ersetzen (Abbildung 22): Die
Wand zieht am Schüler immer mit derselben Kraft, wie dieser an ihr.
Die Schüler werden nicht müde, weitere
Modifikationen der Versuchsanordnung
vorzuschlagen mit dem Ziel, doch noch
eine Situation zu finden, bei der die Kraft
auf den einen Körper größer ist als auf
den anderen. Man sollte sich die Zeit
nehmen, allen Vorschlägen nachzuge-
NiU-PC36(1988) Nr.34
hen, um die Universalität des Wechselwirkungsgesetzes plausibel werden zu
lassen.
Gleiche Kräfte, verschiedene Wirkung
Im vorangegangenen Unterrichtsabschnitt kommt es auch dazu, daß die
Schüler unterschiedliche Kräfte vermuten, weil die Wechselwirkungspartner
unterschiedlich stark beschleunigt werden. (z.B. wenn ein schwerer und ein
leichter Schüler auf dem Rollbrett stehen). Lediglich die Anzeige des Kraftmessers scheint dem zu widersprechen.
Dieses Problem wird nun mit der Anordnung in Abbildung 23 genauer analysiert.
Die Feder in der Mitte der Wagen hat
einen Saugnapf, der sie einige Sekunden lang zusammenhält (im Spielwarenhandel erhältlich). Entspannt sich die
Feder, und hatten die Wagen eine gleich
große Masse, so bewegen sich diese mit
gleicher Geschwindigkeit auseinander.
Sie wurden also gleich stark beschleu-
nigt. Vergrößert man die Masse eines
Wagens, so ist bei diesem trotz gleicher
Kraft eine kleinere Beschleunigung zu
erwarten. Denn es ist ja bereits bekannt,
daß Körper mit größerer Masse auch
größere Kräfte für bestimmte Bewegungsänderungen erfordern. Das Versuchsergebnis entspricht dieser Erwartung. Nun kann die Masse des einen
Wagens beliebig vergrößert werden. Er
wird dann trotz gleichbleibender Kraft
immer weniger beschleunigt. Diese Situation läßt sich z.B. auf einen anfahrenden Radfahrer übertragen: Er stößt die
Erde nach hinten weg, und diese schiebt
ihn mit gleicher Kraft nach vorne. Die
Erde bewegt sich aber praktisch nicht,
weil sie eine unvorstellbar viel größere
Masse als der Radfahrer hat. Ein Apfel
zieht an der Erde mit gleicher Kraft wie
diese an ihm. Daß die Erde auf den Apfel
zufällt, kann trotzdem nicht beobachtet
werden, weil die riesige Masse eine
merkliche Geschwindigkeitsänderung
nicht zuläßt. Es empfiehlt sich, möglichst
19
Unterrichtsmodell
viele Beispiele dieser Artzubesprechen.
Begrifflich erscheint das Wort "Wechselwirkungskraft" umständlich. Es wird von
den Schülern nicht gerne aufgenommen. Wir haben uns damit beholfen, daß
wir die Wechselwirkungskraft als Gegenkraft von der Gleichgewichtskraft
sprachlich unterschieden haben.
Gleichgewichts- und Gegenkräfte treten
beide paarweise auf. Dies erschwert ihre
Unterscheidung. Es ist deshalb empfehlenswert, folgende Differenzierungsmerkmale zu unterstreichen:
- Gleichgewichtspaare greifen an ein
und demselben Körper an: (Abbildung 24).
- Gegenkraftpaare greifen immer an
zwei verschiedenen Körpern an.
- Gegenkraftpaare treten immer auf,
unabhängig davon, ob sich ein Körper im Kräftegleichgewicht befindet
oder nicht.
- Gleichgewichtspaare sind nur dann
aufzufinden, wenn ein Körper seinen
Bewegungszustand nicht ändert.
3. Ergänzende
Anmerkungen
Pflege der Denkstrukturen
Die dargestellten Unterrichtsinhalte sind
keine schlichten Erfahrungstatsachen,
sondern Folgerungen aus einer Theorie,
für deren Entwicklung eine intelligente
Menschheit mehrere Jahrtausende benötigte. Vielfach scheint die Newtonsche
Mechanik den Alltagserfahrungen zu
widersprechen, insbesondere aber wird
der Kraftbegriff im täglichen Leben in
anderer Bedeutung verwendet, als er
durch das Trägheitsgesetz und das
Wechselwirkungsgesetz definiert wird.
Zum dauerhaften und aktiven Wissensbestand wird der Newtonsche Kraftbegriff nur, wenn die Strukturen -woimmer
möglich- gepflegt, d.h. erinnert und
angewendet werden. Dies gilt natürlich
zunächst für weitere Unterrichtseinheiten aus der Mechanik, z.B. "einfache
Maschinen", "Arbeit, Energie und Leistung". Wie dies im einzelnen erfolgen
sollte, kann in diesem Rahmen nicht
mehr erörtert werden.
Aber auch in anderen Teilgebieten der
Physik ist oft von Kräften die Rede, z.B. in
der Elektrik oder beim Magnetismus. Da
ist dann eine gehörige Portion Wachsamkeit vonnöten, will man verhindern,
daß aufgebaute Denkstrukturen nicht
schon durch einen unangemessenen
Sprachgebrauch zerstört werden. Z.B.
suggeriert die Rede von "starken" oder
"schwachen" Magneten die Kraft als
"Besitzstand" und läßt vergessen, daß
nicht nur der Magnet das Eisen anzieht,
sondern auch umgekehrt, und daß der
"starke" ebenso wie der "schwache"
Magnet eine Nadel nicht stärker anziehen kann wie diese ihn.
Eindrücke und Bewertungen des Unterrichtserfolgs
Eine systematische Erhebung des Lernerfolgs hat bisher in den unterrichteten
Klassen nicht stattgefunden. Aber in allen Klassen wurde der Unterricht neben
dem Unterrichtenden von mindestens
einem weiteren Lehrer oder Fachdidaktiker beobachtet. Der übereinstimmende
Eindruck ist, daß das Unterrichtskonzept
keine Überforderung im Anfangsunterricht Physik darstellt. Dies zeigen nicht
nur die Klassenarbeiten, sondern vor
allem auch die Klassengespräche und
Diskussionen mit den Schülern. Während der Mechanikunterricht oftmals
unter Motivationsproblemen leidet, war
die kognitive und emotionale Beteiligung
der Schüler während dieser Unterrichtseinheit erfreulich groß. Dies berechtigt
zu der Hoffnung, daß der vorgeschlagene Unterrichtsgang manchem Lehrer
und vielen Schülern ein Quentchen mehr
Erfolg und Freude im Physikunterricht
bescheren kann.
Literatur
[1] H. Muckenfuß, Bewegungslehre mit der
elektrischen Eisenbahn. In: Naturwissenschaften im Unterricht Physik/Chemie, 26/
1978, S. 198ff.
[2] H. Muckenfuß, Kritische Bemerkungen
zur etablierten Form des Schulexperiments
in psychologischer und methodologischer
Sicht. In physica didactica, 6/1979, Heft 2,
S. 61 ff.
[3] R.P. Laeser/W.I. McLaughIin/D.M. Woiff:
Fernsteuerung und Fehlerkontrolle von
Voyager 2. In: Spektrum der Wissenschaft,
Januar 1/87, S. 60-70.
[4] Hexerei mit Ball und Bande. In: GEO,
Heft 9, September 1987, S. 122-140.
•Abbildungen 1, 2, 13, 14, 17, 20, 21, 22 von
G. Frank, Ravensburg.
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