Brecht, Bertolt

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Brecht, Bertolt
LEBEN DES GALILEI
Schauspiel in fünfzehn Bildern von Bertolt Brecht. Die erste Fassung entstand 1938/39 im dänischen Exil;
Uraufführung: Zürich, 9. 9. 1943, Schauspielhaus. Die zweite, »amerikanische« Fassung entstand 1945–
1947; Uraufführung: Los Angeles, 30. 7. 1947. Die letzte Fassung schrieb Brecht 1954–1956 in Berlin;
Uraufführung: Berlin, 15. 1. 1957, Theater am Schiffbauerdamm (Musik: H. Eisler). – Brecht verfaßte das
Stück über den italienischen Astronomen und Physiker Galileo Galilei (1564–1642) mit der Absicht »das
ungeschminkte Bild einer neuen Zeit zu geben – ein anstrengendes Unternehmen, da jedermann überzeugt
war, daß unserer eigenen alles zu einer neuen fehlte« (Anmerkungen). Den Anstoß gab offensichtlich ein
Ereignis, das als Vorzeichen einer neuen Zeit gedeutet werden konnte: »Die Zeitungen hatten die Nachricht
von der Spaltung des Uran-Atoms gebracht.« Ein Vergleich der verschiedenen Fassungen macht deutlich,
wie Brecht den historischen Stoff benutzt, um eine aktuelle Problematik zu erhellen. Die Fassungen
unterscheiden sich vor allem in der vierzehnten Szene. Sie zeigt den gealterten Galilei, der nach dem
Widerruf seiner Lehre als Gefangener der Inquisition zwar zu eigenem Vergnügen forschen, aber nicht
publizieren darf. Sein früherer Schüler Andrea Sarti, der Italien verläßt, um in Freiheit arbeiten zu können,
besucht den alten Lehrer. In der ersten Fassung stellt sich Galileis Widerruf als kluge List heraus.
Augenschwäche vortäuschend, hat er hinter dem Rücken der Kirche heimlich eine Abschrift der Discorsi
hergestellt und veranlaßt den Schüler, das Manuskript ins Ausland zu bringen. Sarti: »Sie versteckten die
Wahrheit. Vor dem Feind. Auch auf dem Gebiet der Ethik waren sie uns um Jahrhunderte voraus.« – In der
zweiten Fassung stellt sich Galileis Widerruf völlig anders dar. Brecht sagte dazu: »Das ›atomarische‹
Zeitalter machte sein Debüt in Hiroshima in der Mitte unserer Arbeit. Von heut auf morgen las sich die
Biografie des Begründers der neuen Physik anders.« In einer »mörderischen« Selbstanalyse erkennt Galilei
nun: »Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die
Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große
Erschütterungen hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie
den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der
Menschheit anzuwenden.« Aber wie auch in der dritten, nach Entwicklung der H-Bombe entstandenen
Fassung, die letztlich eine Übertragung der zweiten Fassung ins Deutsche darstellt und in der der Vorwurf
gegen den »negativen Helden« noch mehr verschärft ist, bejaht Galilei dennoch die Frage, ob er noch an
ein neues Zeitalter glaube – was nicht als Optimismus Brechts, sondern als Aufruf an die eigene Zeit zu
verstehen ist.
Das Stück gliedert sich in fünfzehn bzw. vierzehn Szenen, die zwar im ganzen der historischen Chronologie
entsprechen, aber doch nicht im Sinne einer Lebenschronik aneinandergereiht sind. Die Bilder folgen in sehr
unregelmäßigen Zeitabständen – von einem Tag bis zu mehreren Jahren – aufeinander, gelegentlich bleibt
ihr zeitliches Verhältnis zueinander unklar. Das Prinzip ihrer Anordnung ist thematisch bestimmt. Das Stück
hebt an mit der Begrüßung des neuen Zeitalters durch Galilei: »Denn wo der Glaube tausend Jahre
gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel.« Der Neubeginn wird auf eine Formel gebracht, in der sich die
das ganze Stück charakterisierende Lust am Widersprüchlichen versteckt: »Aber jetzt heißt es: da es so ist,
bleibt es nicht so.« Im Gegensatz zu dieser revolutionären, umfassenden Perspektive stehen die
beengenden finanziellen Verhältnisse. Galilei löst sie vorübergehend durch einen Schwindel mit einem
keineswegs ganz originären Fernrohr. Dann entdeckt er die Jupitermonde und damit einen entscheidenden
Beweis für das von Kopernikus theoretisch formulierte Weltsystem. Im Gegensatz zu Galileis
wissenschaftlicher Erkenntnisschärfe steht seine politische Blindheit, die indes beide denselben Ursprung
haben: den Glauben an die Vernunft. Galilei wechselt aus der Republik Venedig an den Rom hörigen Hof in
Florenz, wo die Gelehrten seine Forschungen nicht einmal überprüfen und ihn vor der Inquisition
denunzieren. Die folgenden Szenen enthüllen Galilei als ebenso mutigen wie geschickten Verteidiger seiner
Lehre gegenüber der kirchlichen Obrigkeit. Obwohl seine Ergebnisse sich bestätigen, wird die neue Lehre
auf den Index gesetzt. Nach achtjährigem Schweigen, ermuntert durch die Wahl des Wissenschaftlers
Barberini zum Papst (Urban VIII., 1623–1644), nimmt Galilei die verbotenen Untersuchungen wieder auf und
zerstört dadurch das Glück seiner Tochter Virginia, die weiter ein unerfülltes Leben an der Seite ihres Vaters
verbringen muß. Die neue Lehre findet im Volk Widerhall; in einer burlesken Marktszene zieht ein
Bänkelsänger die Moral aus der neuen Wissenschaft: »Auf stund der Doktor Galilei / Und sprach zur Sonn:
Bleib stehn! / Es soll jetzt die creatio dei / Mal andersrum sich drehn. / Jetzt soll sich mal die Herrin, he! / Um
ihre Dienstmagd drehn.« Galilei wird erneut von der Inquisition nach Rom geholt, wo der Papst es zuläßt,
daß man ihm mit der Folter droht. Galilei widerruft. Die Szene zeigt nicht den Widerruf selbst, sondern die
Erschütterung, die er bei Galileis Schülern hervorruft. In ihrem Aufbau ist die – allerdings besonders
dramatische – Szene für das ganze Stück typisch. Zwar löst sich die Spannung des Handlungsablaufs, aber
die Gegensätze bleiben unauflösbar: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat« (Sarti) – »Nein,
unglücklich das Land, das Helden nötig hat« (Galilei).
Von den späten Dramen Brechts ist Leben des Galilei das schwierigste, seine Interpretation und Bewertung
sind bis heute heftig umstritten, wobei die westliche Forschung lange dazu neigte, den Konflikt des Galilei zu
personalisieren und damit seines gesellschaftlichen Problemgehalts zu entkleiden. Es ergibt sich die
merkwürdige Tatsache, daß gerade diejenigen, die das Stück gegen Brechts ausdrückliche Intentionen
deuten, es für sein bedeutendstes halten. Ohne Zweifel wollte der Autor aus dem ziemlich frei behandelten
historischen Stoff die These gewinnen, Galilei habe ohne echte Lebensgefahr der Obrigkeit Widerstand
leisten können, da er eine Zeitlang stärker gewesen sei als sie. Geleugnet von einem Teil der Forschung
wird diese Intention Brechts nicht nur für den historischen Galilei, sondern auch für die Galilei-Figur. Dann
würde auch für die Endfassung die Möglichkeit freibleiben, den Widerruf als kluge List zu verstehen. Scheint
Galileis unerbittliche Selbstkritik diese Deutung auszuschließen, so ist sie dafür selbst als Widerspruch
angelegt: Sie setzt die Kenntnis des weiteren Geschichtsverlaufs voraus, verlagert also eine
Gegenwartsperspektive in die historische Figur. Doch gerade diese »falsche« Perspektive verleiht dem
Drama seine Aktualität. Für Galilei zu spät, kann die Erkenntnis der Kräfteverhältnisse zwischen
Wissenschaftler und Obrigkeit für die eigene Zeit noch fruchtbar werden. Das Stück enthält so die
unausgesprochene Prämisse, das aus der Geschichte gelernt werden könne; mit ihr steht und fällt die
These, allerdings nicht das Drama, das im Grunde kein Thesenstück ist. In sich widerspruchsvoll ist die
Hauptfigur. Galilei begründet die neue Wahrheit und verrät sie zugleich, beides aus einem anderen
Widerspruch. Die sinnlichen, unintellektuellen Züge seiner Forschernatur begründen sowohl seine
empirische, allgemeinverständliche Wissenschaftlichkeit wie auch sein soziales Versagen: sein
Epikureertum bedingt seine Angst vor der Tortur. Das Stück behandelt aber nicht einen persönlichen
Konflikt Galileis, sondern zeigt ein gesellschaftliches Problem. War der Galilei der ersten Fassung von der
Überzeugung beseelt, daß wissenschaftlicher Fortschritt letztlich auch den allgemeinen Fortschritt der
Menschheit bewirkt, so ist dieser Optimismus in den späteren Fassungen angesichts der Erfindung
atomarer Massenvernichtungsmittel gebrochen; Wissenschaft scheint sich der Unterordnung unter den
Staat nicht entziehen zu können.
Auch in formaler Hinsicht entzieht sich das Stück jeder Eindeutigkeit. Seine epische Struktur ist nur schwer
durchschaubar. Durchgehend in Prosa geschrieben, fehlen Songs und kommentierende Monologe fast
völlig. Die Hauptmomente der von Brecht entwickelten epischen Dramaturgie: Dialektik, Didaktik und
Explikation sind im Leben des Galilei bereits der Fabel und dem Stoff immanent, sie erscheinen als
spezifische Fähigkeiten der Hauptfiguren, gehören zum Gelehrtenmilieu und gehen in die Dialoge ein. So
entsteht, thematisch bedingt oder zumindest begünstigt, die für den Galilei typische Dialogform: der Disput.
Streitgespräche tragen mehr noch als die Fabel die Dramatik des Schauspiels und füllen ganze Szenen
(hervorzuheben ist vor allem die achte). Auch das anti-aristotelische Element der Brechtschen Theaterform
ist in diesem Stück inhaltlich-thematisch gebunden: Das neue, kopernikanische tritt gegen das alte,
aristotelische Weltbild auf.
Wie keine andere dramatische Figur ist der Galilei Sprachrohr seines Autors und daher für das Gesamtwerk
aufschlußreich. Mit anderen monumentalen »Heldenfiguren« wie der Mutter Courage und dem Schweyk teilt
der Galilei die Problematik, daß er die überpersönliche, gesellschaftliche Thematik zugleich sichtbar macht
und verdeckt. Nach Brecht haben vor allem Karl Zuckmayer (vgl. Das kalte Licht), Heinar Kipphardt (vgl. In
der Sache J. Robert Oppenheimer) und Dürrenmatt (vgl. Die Physiker) die Frage nach der Verantwortung
des Wissenschaftlers in einer durch seine Erkenntnisse bedrohten Welt neu untersucht.
Knut Nievers/KLL
AUSGABEN: Bln. 1955 (in Versuche, H. 14; 1. Fassg.; Nachdr. Ffm. 1977). – Bln./Ffm. 1957 (in Stücke,
12 Bde; 1956–1959, 8, 3. Fassg.). – NY 1961 (in Seven Plays, Hg. E. Bentley; 2. Fassg.). – Ffm. 1967 (in
GW in 20 Bdn., 3; es). – Ffm. 1976 (es). – Ffm. 1978 (in Die Stücke von B. B. in einem Bd.; 31981).
VERFILMUNG: Großbritannien/Kanada 1974 (Re%-gie: J. Losey).
LITERATUR: B. Brecht, Anmerkungen zu »Leben des Galilei« (in Studien [Beil. zu Theater der Zeit, 1956,
H. 11], Nr. 2, S. 3–5). – B. Brecht u. H. Eisler, Aufbau einer Rolle. 1: Laughtons Galilei 2: B.s Galilei 3: B.
»Leben des Galilei« [Text], Bln. 1956 (3 Hefte in Mappe; Modellbücher des Berliner Ensembles, 2). – K.
Rülicke, »Leben des Galilei«, Bemerkungen zur Schlußszene (in SuF, 9, 1957, S. 269–321). – W.
Mittenzwei, B. B. Von der »Maßnahme« zu »Leben des Galilei«, Bln. 1962, S. 253 ff. – Materialien zu B.s
»Leben des Galilei«, Hg. W. Hecht, Ffm. 1963 (es). – S. Veca, B. e la contradizione di Galileo (in Aut Aut,
1964, Nr. 81, S. 89–101). – D. Wattenberg, Galileo Galilei. Werk und Tragödie im Umbruch seiner Zeit; D.
Herrmann, Galilei und B. B., Bln. 1964. – E. Schumacher, Drama u. Geschichte. B. B.s »Leben des Galilei«
und andere Stücke, Bln. 1965; 21968. – W. Zimmermann. B.s »Leben des Galilei«. Interpretationen u.
didaktische Analyse, Düsseldorf 1965 (WW, Beih. 12; ern. 1970; erw.). – Ch. R. Lyons, »The Life of
Galileo«. The Focus of Ambiguity in the Villain Hero (in GR, 41, 1966, S. 57–71). – G. Szczesny, »Das
Leben des Galilei« u. der Fall B. B., Ffm./Bln. 1966 (Dichtung u. Wirklichkeit). – H. Kästner, B.s »Leben des
Galilei«. Zur Charakterdarstellung im epischen Theater, Diss. Mchn. 1968. – H. Gehrke, B. B. »Der gute
Mensch von Sezuan«. »Leben des Galilei«, Hollfeld/Ofr. 1973. – P. Deghaye, Galilée marxiste et le
mysticisme astral. Essai sur »La vie de Galilée« de B. B., Paris 1977. – P. Beyersdorf, B. B.s »Leben des
Galilei«. Zur Problematik des Stoffes«, Hollfeld/Ofr., 1977. – A. D. White, B. B.'s Great Plays, NY 1978. –
B.s »Leben des Galilei«, Hg. W. Hecht, Ffm. 1981 (st). – »Leben des Galilei«. Eine Dokumentation der
Aufführungen des Berliner Ensembles 1978, Bearb. G. Hof, Bln./DDR 1982. – W. Busch, Cäsarismuskritik
und epische Historik. Zur Entwicklung der politischen Ästhetik B. B.s 1936–1940, Ffm./Bern 1982. – D.
Suvin, To B. and Beyond. Soundings in Modern Dramaturgy, Brighton 1984. – R. Grimm, Verfremdung in
B. B.s »Leben des Galilei«, Ffm. 1986.
Kindlers neues Literaturlexikon © CD-ROM 1999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag
GmbH
Dürrenmatt, Friedrich
DIE PHYSIKER
Komödie in zwei Akten von Friedrich Dürrenmatt, entstanden 1961, Uraufführung: Zürich, 20. 2. 1962,
Schauspielhaus; 1980 fand eine zweite Fassung Aufnahme in die Werkausgabe. – Die unausweichliche
Gefährdung der Welt durch die moderne Kernphysik ist zentrales Thema dieser Komödie, die streng die drei
klassischen Einheiten der Zeit, des Orts und der Handlung wahrt. Das Stück, der Schauspielerin Therese
Giehse gewidmet, spielt irgendwo in der Schweiz in einem privaten Nervensanatorium, wo die weltbekannte
Psychiaterin Dr. h.c. Dr. med. Mathilde von Zahnd drei Kernphysiker, harmlose, liebenswerte Irre,
behandelt: Ernst Heinrich Ernesti, der sich für Einstein hält, Herbert Georg Beutler, der sich mit Newton
identifiziert, und Johann Wilhelm Möbius, dem König Salomon aufsehenerregende Erfindungen diktiert. In
der Villa geschehen merkwürdige Dinge, die auch die Polizei beschäftigen. Inspektor Voss untersucht in
kürzester Zeit drei Morde an Krankenschwestern. Der parallele Bau der beiden Akte kommt darin zum
Ausdruck, daß Dürrenmatt sie jeweils mit der Untersuchung des zuletzt erfolgten Mordes einleitet. Die
überraschende Wendung geschieht erst in der Mitte des zweiten Akts: Keiner der drei Patienten ist wirklich
krank. Die Schwestern mußten sterben, weil sie Verdacht geschöpft hatten. Sie wurden das Opfer einer
höheren Notwendigkeit. Möbius hatte mit einer genialen Dissertation die beiden größten Geheimdienste der
Welt auf sich aufmerksam gemacht, die zwei Kernphysiker, Kilton alias Newton und Eisler alias Einstein, als
Agenten in das Irrenhaus schickten, wo Möbius, dessen Handeln allein von der Verantwortlichkeit der
Wissenschaft bestimmt ist, Zuflucht gesucht hat. Denn Möbius, dem größten Physiker der Welt, ist es
gelungen, das System aller möglichen Erfindungen, die Weltformel, zu entdecken, aber er hat aus Gründen
der Verantwortung den vorgetäuschten Wahnsinn als einzige Alternative zu einer glänzenden
wissenschaftlichen Karriere gewählt. Er entscheidet sich für die Narrenkappe, denn das Irrenhaus garantiert
ihm die Sicherheit, von Politikern nicht ausgenutzt zu werden. Die beiden gleichfalls Wahnsinn
simulierenden Agenten versuchen, jeder mit anderen ideologischen Gründen, die Weltformel für ihr Land zu
erwerben. Möbius aber überzeugt seine beiden Kollegen, daß es keinen anderen Ausweg als die Flucht aus
der Welt gibt. »Wir müssen unser Wissen zurücknehmen . . . Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die
Welt wird eines.« Seiner Erkenntnis folgend, hat er die Manuskripte längst verbrannt. Da erscheint Mathilde
von Zahnd, die mißgestaltete Anstaltsleiterin, und erklärt die drei Physiker zu Gefangenen. Sie hat das Spiel
durchschaut, die Manuskripte rechtzeitig photokopieren lassen und mit der Auswertung des »Systems aller
möglichen Erfindungen« in ihrem Welttrust begonnen, denn auch ihr ist König Salomon erschienen, um
durch sie die Weltherrschaft zu ergreifen. Die Welt fällt in die Hände einer verrückten, buckligen, alten
Irrenärztin. Hinter den drei Kernphysikern aber schließen sich die Anstaltsgitter für immer. Als Einstein,
Newton und Salomon erscheint ihnen der selbstgewählte Wahnsinn als die einzig sinnvolle Existenzform in
einer Welt, die dem eigenen Untergang entgegentaumelt; als Mördern bleibt ihnen keine andere Wahl als
das Paradoxon vernünftiger Schizophrenie.
Was als kriminalistische Kolportage begann, endet in einer grotesken Umkehrung. Dramatisches Vehikel
dafür ist der für die Gattung Komödie charakteristische Überraschungseffekt, den Dürrenmatt in virtuoser
Steigerung einsetzt, vom dreifachen Mord an den Krankenschwestern über die Preisgabe der wahren
Identität der Physiker bis zur Aufdeckung der diabolisch-irrwitzigen Pläne der Anstaltsleiterin. Dieser letzte
Überraschungseffekt, mit dem das Stück seine »schlimmst-mögliche Wendung« nimmt, enthüllt die zentrale
Funktion, die der Zufall in Dürrenmatts Theater hat. Am Zufall, dem unerwarteten Manöver einer Irrenärztin,
scheitert das durchdachte, verantwortungsbewußte Vorgehen von Möbius. Damit ist das Paradoxe zum
dramaturgischen Bauprinzip erhoben. »Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag
sie der Zufall zu treffen«, heißt es in den 21 Punkten zu den Physikern, einem lakonischen Kommentar des
Autors zu seiner Komödie. Gerade die heroische Individualethik fällt diesem Paradox zum Opfer. Die in
Brechts Leben des Galilei gestellte Frage nach der Verantwortung des Naturwissenschaftlers wird irrelevant
angesichts der Tatsache, daß der einzelne, selbst wenn er verzichtbereit sein Wissen zurücknimmt, die
Menschheit nicht vor dem drohenden Untergang retten kann. »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr
zurückgenommen werden«, sagt Möbius. Aus dieser These resultiert Dürrenmatts idealistischer Vorschlag
einer universalen, quasi weltumfassenden Lösung des Problems: »Der Inhalt der Physik geht die Physiker
an, die Auswirkung alle Menschen. Was alle angeht, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines einzelnen,
für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern« (21 Punkte zu den Physikern). Dürrenmatts Einsicht in
die Hilflosigkeit des einzelnen hat eine dramaturgische Konsequenz: An die Stelle der Tragödie mit ihren an
das geschichtsmächtige Individuum gebundenen Kategorien der Schuld, des Maßes, der Übersicht, der
Verantwortung tritt die Komödie, die das Tragische als verhängnisvollen Zufall in sich aufnimmt. – Die
scheinbar alltagsnahe Sprache des Stücks erscheint trotz eingestreuter Kolloquialismen bewußt stilisiert und
unterkühlt. So zieht der Autor das Imperfekt dem umgangssprachlichen Perfekt vor und benützt reduzierte
parataktische Satzreihen. Nur der visionär-apokalyptische Furor im Gesang, den Weltraumfahrern zu singen
bzw. die lyrische Bildlichkeit in den kurzen, von gespieltem Wahnsinn motivierten Monologen verläßt die
etablierte Stilebene. In bewußtem, gelegentlich inadäquatem Kontrast zum Tragischen gestaltet Dürrenmatt
das Komische in Form des effektvollen Irrenwitzes, der pointierten Wortwiederholung und des saloppen
Gags. Dank dieser verbalen Komik entspannt sich allerdings der angestrengt intellektuelle Charakter des
Stücks, seine Tendenz zum scharfsinnigen, an szenischer Dynamik relativ armen Diskussionsforum.
C.P.S.
Claus P. Schmid
AUSGABEN: Zürich 1962. – Zürich 1964 (in Komödien II und frühe Stücke). – Bln. 1965 (in Komödien, Hg.
u. Nachw. A.-G. Kuckhoff u. R. Links). – Zürich 1980 (in Werkausgabe, 30 Bde., 7; 2. Fassg.).
VERFILMUNG: Deutschland 1964 (Fernsehspiel; Regie: F. Ungeheuer).
LITERATUR: J. Jacobi, Rez. (in Die Zeit, 9. 3. 1962). – J. Kaiser, Die Welt als Irrenhaus (in Theater heute,
3, 1962, H. 4, S. 5–7). – P. Hübner, Beifall für D.? (in Wort und Wahrheit, 17, 1962, S. 563–566). –
W. Muschg, D. und »Die Physiker« (in Moderna språk, 56, 1962, S. 280–283). – H. Mayer, D. und Brecht
oder Die Zurücknahme (in Der unbequeme D., Hg. R. Grimm u. a., Stg. 1962, S. 97–116). – E. Neis,
Erläuterungen zu D.s »Der Besuch der alten Dame« und »Die Physiker«, Hollfeld 1965. – K. S. Weimar,
The Scientist and Society. A Study of Three Modern Plays (in MLQ, 27, 1966, S. 431–448). –
K. D. Petersen, F. D.s Physiker-Komödie. Eine Interpretation für den Deutschunterricht (in Pädagogische
Provinz, 5, 1967, S. 289–302). – H. Kügler, Dichtung und Naturwissenschaft. Einige Reflexionen zum
Rollenspiel des Naturwissenschaftlers in B. Brecht, »Das Leben des Galilei«, F. D., »Physiker«,
H. Kipphardt »In der Sache J. Robert Oppenheimer« (in H. K., Weg und Weglosigkeit, Heidenheim 1969,
S. 219–235). – J. Müller, Verantwortung im Drama. Brechts »Galilei« und D.s »Physiker« (in J. M., Epik,
Dramatik, Lyrik, Halle 1974, S. 369–377 u. 450). – V. Schüler, D. »Der Richter und sein Henker«. »Die
Physiker«. Dichterbiographie und Interpretation, Hollfeld 1974. – G. P. Knapp, F. D. »Die Physiker«,
Ffm./Mchn. 1979. – H. F. Taylor, The Question of Responsibility in »The Physicists« (in F. D., Hg. B. Fritzen,
Ann Arbor/Mich. 1983, S. 19–35). – G. P. Knapp, F. D. »Die Physiker«. Grundlagen und Gedanken zum
Verständnis des Dramas, Ffm. u. a., 3. erw. Aufl. 1983.
Kindlers neues Literaturlexikon © CD-ROM 1999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag
GmbH
Kipphardt, Heinar
IN DER SACHE J. ROBERT OPPENHEIMER. Ein szenischer Bericht
Schauspiel in neun Szenen von Heinar Kipphardt, in einer ursprünglichen Fassung als Fernsehspiel
gesendet am 23. 1. 1964; Uraufführung der erweiterten Bühnenfassung: Berlin und München, 11. 10. 1964,
Freie Volksbühne bzw. Kammerspiele. – Dem Stück dient als Handlungsgrundlage ein 1954 von der
Atomenergiekommission der Vereinigten Staaten von Amerika angestrengtes Verfahren gegen den
amerikanischen Physiker Julius Robert Oppenheimer, das die sogenannte »Sicherheitsgarantie« des
Wissenschaftlers zu überprüfen und sich mit Vorwürfen auseinanderzusetzen hatte, die Oppenheimer – von
1943 bis 1945 in Los Alamos Leiter der staatlichen Laboratorien, in denen die erste Atombombe entwickelt
wurde – für die Verzögerung des amerikanischen Dringlichkeitsprogramms zum Bau einer
Wasserstoffbombe verantwortlich machten. Die Ermittlungen gegen ihn wurden vom
Untersuchungsausschuß im Mai 1954 in Form eines mehr als 3000 Seiten umfassenden
Verhandlungsprotokolls veröffentlicht, auf das als Quelle sich Kipphardts Stück bezieht. Sein »szenischer
Bericht« hält sich weniger streng an die pure Faktizität protokollierter Aussagen als etwa die AuschwitzDokumentation von Peter Weiss – Die Ermittlung –, wenn auch beide Stücke den Begriff und den Typus des
Dokumentartheaters in Deutschland entscheidend geprägt haben.
Die mehr als vierwöchige Verhandlung, in der über vierzig Zeugen gehört wurden, wird in neun Szenen
konzentriert, zwischen denen kurze, zusammenfassende Berichte eines Sprechers vermitteln. Die
Verhandlung kreist zunächst um Oppenheimers frühere Verbindungen zu kommunistischen Kreisen, die
langsame Abschwächung dieser Sympathien bis zur Beteiligung an einem geheimen militärischen Projekt
der USA und das Entsetzen, das der erste Atompilz über Hiroshima bei ihm auslöste. Ein zweideutiger
Spionagefall, den Oppenheimer, um einen Freund zu schützen, anzuzeigen unterließ, wirft das
Loyalitätsproblem und die Frage der vollkommenen Sicherheitsgarantie auf. Im Fortgang der Untersuchung
konzentrieren sich die Fragen der Anklagevertreter auf das Kernproblem: Besteht ein Zusammenhang
zwischen Oppenheimers »linken Verbindungen« und seinem passiven Verhalten angesichts des
Dringlichkeitsprogramms, und, wenn ja, wäre es möglich gewesen, mit seiner Unterstützung schon 1948
eine Wasserstoffbombe herzustellen, die das »Gleichgewicht des Schreckens, das uns heute lähmt«
entbehrlich gemacht hätte? Oppenheimer wird schließlich von der Mehrheit des Untersuchungsausschusses
die Sicherheitsgarantie verweigert. Sein Gewissenskonflikt aber, der sich im Verlauf des Verhörs enthüllt,
hat tiefere Hintergründe als nur den der fragwürdigen Treue gegenüber der eigenen Regierung: es ist ein
Loyalitätskonflikt, in dem die politische Bindung an ein Staatswesen und die – wissenschaftliche –
Verpflichtung der gesamten Menschheit gegenüber einander aufheben. Oppenheimer plädiert in seinem
Schlußwort – im Gegensatz zu seinem als Zeuge auftretenden Kollegen Edward Teller, der die Kategorien
»moralisch« – »unmoralisch« im Bereich von wissenschaftlich-technischen Entdeckungen gänzlich verwirft
– für die limitierende, humane Selbstkontrolle der Naturwissenschaften: »Ganz anders als dieser Ausschuß
frage ich mich . . . ob wir Physiker unseren Regierungen nicht zuweilen eine zu große, eine zu ungeprüfte
Loyalität gegeben haben, gegen unsere bessere Einsicht, in meinem Fall in der Frage der
Wasserstoffbombe . . . Wir haben die Arbeit des Teufels getan, und wir kehren nun zu unseren wirklichen
Aufgaben zurück.«
Der inneren Logik des Dokumentartheaters entsprechend, muß Kipphardt die traditionelle Rolle des
»Theaterautors« auf ein Minimum beschränken – die Straffung und Gliederung von Rohmaterialien –, wenn
er auch sein Stück als »literarischen Text«, nicht als »Dokument« aufgefaßt sehen will. Dennoch gelingt ihm
die Akzentuierung und Herausarbeitung eines Konflikts, der nicht zuletzt darauf beruht, daß individuelle
Skrupel überflüssig zu werden scheinen angesichts der von Oppenheimers Mitarbeiter, dem späteren
Initiator des H-Bomben-Projekts, Teller, formulierten Erfahrung, daß »brillante Ideen organisierbar«
geworden und »nicht an einzelne Leute gebunden« sind.
Hans-Horst Henschen
AUSGABEN: Ffm. 1964 (in Spectaculum, Bd. 7; ern. 1982). – Ffm. 1964 (es). – Köln 1978 (in
Theaterstücke, Bd. 1; ern. Reinbek 1982; rororo). – Reinbek 1987 (in GW in Einzelausgaben, Hg. u. Nachw.
U. Naumann, 10 Bde., 1986–1990).
LITERATUR: C. W. Thomsen, Die Verantwortung des Naturwissenschaftlers in M. Shelleys »Frankenstein«
u. H. K.s »In der Sache J. Robert Oppenheimer« (in LWU, 1, 1971, S. 16–26). – R. Charbon, Die
Naturwissenschaften im modernen Drama, Zürich/Mchn. 1974. – K. H. Hilzinger, Die Dramaturgie des
dokumentarischen Theaters, Tübingen 1976. – W. Ismayr, Das politische Theater in Westdeutschland,
Meisenheim a. Gl. 1977. – F. v. Ingen, H. K.: »In der Sache J. Robert Oppenheimer«. Grundlagen u.
Gedanken zum Verständnis des Dramas, Ffm. u. a. 1978; 31985. – S. Volckmann, Auf ideologischem
Schlachtfeld. H. K.: »In der Sache J. Robert Oppenheimer (in Geschichte als Schauspiel, Hg. W. Hinck,
Ffm. 1981, S. 322–339). – N. Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, Mchn. 1982. –
Materialien H. K., »In der Sache J. Robert Oppenheimer«, Hg. L. Bartelheimer u. M. Nutz, Stg. 1984. –
E. Neis, Erl. zu H. K., »In der Sache J. Robert Oppenheimer«, Hollfeld 41985 [überarb.]. – B. Barton, Das
Dokumentartheater, Stg. 1987.
Kindlers neues Literaturlexikon © CD-ROM 1999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag
GmbH
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