Westfälische Wilhelms - Universität zu Münster Slavisch – Baltisches Seminar Proseminar: Russische Wortbildung Leitung: Dr. B. Symanzik Sommersemester 2001 Aktionsartbildung und Aspektbildung als Problem der russischen Wortbildung Vorgelegt von: Martin Stadlbauer Leerer Str. 12 48155 Münster Fachrichtung: Lehramt Sek II/I Russisch, Mathematik, Physik 3. Fachsemester 2 Inhalt I. Einleitung 3 II. Der Verbalaspekt als grammatische Kategorie 4 III. Die Aktionsarten als lexikalische Bedeutungs- 6 gruppen IV. Derivation als zentrales Verfahren der 7 russischen Aktionsart- und Aspektbildung - Qualifizierende, modifizierende und grammatische Verbalpräfixe - Sekundäre Imperfektivierung V. Das Zusammenwirken der Aktionsarten mit 9 den Aspekten - Isačenkos Kritik an der traditionellen russischen Aspekttheorie VI. Bildung einiger wichtigen Aktionsarten 11 - Die ingressive Aktionsart - Die evolutive Aktionsart - Die delimitative Aktionsart - Die semelfaktive Aktionsart VII. Schlußbetrachtung 15 VIII. Literaturverzeichnis 16 3 I. Einleitung Das Wesen der Aspekte und Aktionsarten in der russischen Sprache hat wohl schon so manchen Sprachwissenschaftler in seinen Bann ziehen können. Sicherlich dürfte ein Grund dafür in der Komplexität dieses Themas zu finden sein. Dieser ist aber wiederum der Grund, Sprachschülern, die bislang keiner slavischen Sprache mächtig waren, das Erlernen zu erschweren. Doch vor allem liegt hier ja ein Gebiet vor, auf dem so mancher Linguist „auf seiner eigenen Art und Weise“ geforscht hat und somit heute eine Vielzahl von Theorien vorliegen, die sich wahrlich nicht decken. Es besteht wohl Einigkeit darüber, den Aspekt als grammatische Kategorie und die Aktionsarten als lexikalische Bedeutungsgruppen aufzufassen. Doch da es nicht immer leicht ist, grammatische Funktion und lexikalische Bedeutung auseinanderzuhalten – man denke nur an die grammatischen Präfixe – kommt es zu großen Unterschieden in den Aspekttheorien einzelner Linguisten. Ausgehend von der Frage, was die Merkmale des Aspektes und der Aktionsarten denn überhaupt sind und wie beide unterschieden werden können sollen hier die zwei wichtigsten Phänomene, die durch das Wortbildungsverfahren der Derivation verursacht werden, behandelt werden, nämlich die Perfektivierung durch Präfigierung und die sekundäre Imperfektivierung durch Suffigierung. Daß das Wesen der Präfigierung einen großen Streitpunkt innerhalb der Aspektologie bildet, soll an Hand der Theorie des Linguisten Isačenko verdeutlicht werden. Obwohl ein jeder Sprachschüler sehr schnell mit dem Wesen der Aspekte konfrontiert wird, bleiben die Aktionsarten doch oft ein unbekanntes Gebiet. Dieses ist klar, da es zum einen unabdingbar ist, zwischen dem Gebrauch von Perfektiva und Imperfektiva zu unterscheiden, aber jede Aktionsart eines Ausgangsverbes doch für sich gelernt werden muß, was an der eingeschränkten Produktivität der betreffenden Affixe liegt. (Daher ist es für den Gebrauch einer gelernten Aktionsart nicht mehr so wichtig zu wissen, in welcher Beziehung es zu seinem Ausgangsverb steht.) Wenn man die russische Sprache aber nicht nur gebrauchen, sondern ihr Wesen verstehen möchte, ist es dennoch unabdingbar sich genauer mit den Aktionsarten auseinander zu setzten. Nicht nur ihre Wechselwirkung mit den Aspekten, sondern auch ihre Bildung soll anhand einer kleinen Auswahl, wie z. B. der Ingressiva, gezeigt werden. 4 II. Der Verbalaspekt als grammatische Kategorie Unter dem Terminus (Verbal-)Aspekt, (glagol’nyj) vid versteht man zweierlei: zum einen ist es die Bezeichnung der grammatischen Kategorie, zum anderen kann es Bezeichnung sein für jedes Mitglied dieser Kategorie.1 Die Kategorisierung bedeutet, daß jede konkrete Verbform eines Verbs nur in einem Aspekt existiert und entweder perfektiv oder imperfektiv sein kann. Viele Verben besitzen beide Verbformen, wenn ein Verb aber nur in einer Verbform vorliegt, so spricht man von einem Perfektivum tantum bzw. Imperfektivum tantum. Hinweise, daß diese Kategorie eine grammatische darstellt, sind unter anderem: - jede Verbalform ist an den Aspekt gebunden, unabhängig von der Bedeutung des Verbs - es gibt keinen lexikalischen Unterschied bei den Gliedern eines Aspektpaares - die Existenz von Verben mit zweiaspektigen Verbalstämmen Die Kategorie des Aspekts stellt – besonders im Fremdsprachenunterricht – eine große Schwierigkeit dar. Das liegt nicht nur daran, daß in Sprachen, wie z. B. dem Deutschen es eine solche Formenkategorie nicht gibt, sondern daß unter den Aspektologen noch immer die verschiedensten und widersprüchlichsten Meinungen existieren. Ein Problem dieser Art möchte ich später noch anhand Isačenkos Auffassung von Aspektkorrelation und Aktionsart näher verdeutlichen. Doch es beginnt schon bei der Frage, wie der perfektive und der imperfektive Aspekt unterschieden werden können. Dies ist sehr wichtig, um beurteilen zu könne, ob es sich bei einer Verbform tatsächlich um den Aspektpartner handelt oder vielleicht doch eher um eine Aktionsart. Man sagt, innerhalb der Aspektkategorie stünden sich zwei grammatische Bedeutungen gegenüber, die eine binäre Opposition bilden2. Es gibt denn auch eine Menge Versionen, diese Opposition als Modell darzustellen. Viele von ihnen mögen didaktisch sinnvoll sein, auch wenn sie in der sprachlichen Wirklichkeit ihre Grenzen haben und zu Widersprüchen führen können (z. B. die äquipollente Opposition; Gegenüberstellung von Vollendung und Dauer). Widerspruchsfrei (allerdings für Lernende, die womöglich das erste Mal in ihrem Leben mit Aspekten konfrontiert werden, didaktisch nicht ergiebig oder gar zu komplex) ist die Darstellung der asymmetrischen Opposition. Dem perfektiven 1 2 Maslov 1965 : 55. Mulisch 1996 : 158. 5 Glied wird dabei die Bedeutung des als ganzheitlich aufgefaßten und in sich geschlossenem Ereignisses zu Teil3. (Diese Darstellung bietet eine Verbindung der Vorstellungen von Ju. S. Maslov (nedelimaja celostnost’ ‚unteilbare Ganzheitlichkeit’) und A. V. Bondarko (ograničennost’ dejstvija vnutrennim predelom ‚Begrenzung der Handlung durch ihre innere Grenze’))4. Dem imperfektiven Glied fehlt eben diese Bedeutung. Verben können korrelative Aspektformen besitzen, d. h . es existiert sowohl eine perfektive, als auch imperfektive Verbform. Dabei können folgende Typen von Aspektpaarbildungen unterschieden werden: - Bei der präfixalen korrelativen Aspektform wird aus einem Imperfektivum (meist einem Simplex) durch Präfigierung ein Perfektivum erzeugt. (pisat' – napisat' ‚schreiben’). Manchen Linguisten zufolge , wie z. B. Isačenko, wird hier zwar ein Perfektivum erzeugt, aber eben kein korrelatives Aspektpaar, sondern eine Aktionsart. - Bei der suffixalen korrelativen Aspektform wird durch Suffigierung aus einem bereits präfigierten Perfektivum, das bereits aus einem Imperfektivum entstanden war, ein neues Imperfektivum. Sekundäre Imperfektivierung wird dies Verfahren genannt. (pisat' ‚schreiben’ => zapisat' – zapisyvat' ‚aufschreiben; notieren’) - Suppletive korrelative Aspektformen sind nicht voneinander abgeleitet, sondern weisen verschiedene Wurzeln auf. (brat' – vzjat' ‚nehmen’) - Wenn eine Verbform mehr als nur einen Aspektpartner besitzt, so spricht man von der variativen Bildung der Aspektformen. izgotovljat'/izgotovlivat' (impf.) ‚herstellen, produzieren’) 3 4 Isačenko 1962 : 387. Mulisch 1996 : 159. (izgotovit' (pf.) – 6 III. Die Aktionsarten als lexikalische Bedeutungsgruppen Es ist heute in der Slavistik üblich zwischen den Aspekten, die eine grammatikalische Kategorie sind, und den Aktionsarten, die lexikalische Bedeutungsgruppen darstellen, zu unterscheiden. Die Trennung beider Begriffe geht auf den schwedischen Slavisten S. Agrell zurück. Er bezeichnet mit dem Terminus Aktionsart jene Verbbedeutungen, die „die Art und Weise der Ausführung von Verbalhandlungen“ ausdrücken.5 Semantisch gekennzeichnet sind die Aktionsarten durch die Modifizierung eines konkreten Verbs, welches „Ausgangsverb“ genannt wird. Die lexikalische Bedeutung des Ausgangsverbs bleibt dabei unverändert, aber gleichzeitig erhält das neugebildete Aktionsartverb eine zusätzliche Bedeutungsnuance. Sie bezieht sich entweder auf einen Abschnitt (eine „Phase“) innerhalb des Gesamtgeschehens (Anfang, zeitliche Begrenzung, Ende), auf quantitative oder intensitätsmäßige Abstufungen des Prozeßablaufes, oder auf seine innere Gegliedertheit. Formal sind die Aktionsarten als deverbale Ableitungen zu bestimmen, d. h. sie werden mit Hilfe von Affixen von Verben gebildet.6 Beispiel: Zum Ausgangsverb čitat' ‚lesen’ wird eine delimitative Aktionsart počitat' ‚ein bißchen, eine Weile lesen’ gebildet. Die lexikalische Bedeutung des Ausgangsverbs bleibt ja unverändert (das ‚Lesen’), doch ist hier die Aufmerksamkeit auf Einzelheiten innerhalb des Gesamtvorganges des ‚Lesens’ gerichtet.7 Als weiteres formelles Merkmal der Aktionsarten wird bei manchen Linguisten die aspektmäßige Unpaarigkeit angeführt. Die Aktionsarten liegen immer nur in einem Aspekt vor und sind somit „unpaarig“ (Perfektiva oder Imperfektiva tantum). (Isačenko 1962 : 387) Andere betrachten dies jedoch nicht als Notwendigkeit: Das Zusammenwirken der Aktionsarten mit den Aspekten zeigt sich nicht nur darin, daß sie teilweise Perfektiva tantum [...] oder Imperfektiva tantum [...] sind. (Mulisch 1996 : 181) Isačenko 1962 : 385. Mulisch 1996 : 180. 7 Isačenko 1962 : 386. 5 6 7 IV. Derivation als zentrales Verfahren der russischen Aktionsart- und Aspektbildung Das morphologische Wortbildungsverfahren der Derivation ist als wichtigstes Verfahren zu nennen, wenn es um die Bildung von Aspektpaaren und Aktionsarten geht. Durch Affigierung eines „Ausgangsverbs“ kann ein neues Verb gebildet werden, das entweder den korrelativen Aspektpartner, eine Aktionsart des Ausgangsverbs oder ein neues Verballexem darstellt. Aufmerksamkeit soll hier besonders der Präfigierung und Suffigierung geschenkt werden. Qualifizierende, modifizierende und grammatische Verbalpräfixe Wie auch in anderen indogermanischen Sprachen hat das Russische die Möglichkeit von unpräfigierten Verben (Simplizia) zahlreiche Präfixderivationen zu bilden. Diese sind immer perfektiv. Wenn die Eigenbedeutung des Präfixes nun mit der Eigenbedeutung des Verbs zu einer neuen Einheit verschmilzt, so kommt es zur Entstehung eines neuen Verballexems. Dieses macht sich von seinem Ausgangsverb selbständig und besitzt gar die Möglichkeit – in der Regel durch sekundäre Imperfektivierung – einen korrelativen Aspektpartner zu bilden, d. h. ein vollständiges Verbalparadigma zu bilden. Daher nennt man das Präfix lexikalisches Präfix (oder auch qualifizierendes Präfix, da es die Bedeutung des Ausgangsverbs einengt, dieses also in einer ganz bestimmten Weise qualifiziert.8) Doch ruft nicht jedes Präfix eine lexikalische Bedeutungsänderung, d. h. äußere Qualifizierung des Simplex hervor. Statt dessen kann es zu einer inneren Modifizierung kommen, wodurch nicht selbständige Verballexeme, sondern Aktionsarten entstehen. Von ein und dem selben Ausgangsverb können mit Hilfe verschiedener Präfixe verschiedene Aktionsarten gebildet werden. So ergibt eine Präfigierung des Verbs govorit’ ‚sprechen’ beispielsweise zagovorit’ ‚zu sprechen beginnen’ (ingressive Aktionsart) oder auch prigovorit’ ‚(dabei) sprechen, einen anderen Hauptvorgang begleitendes Sprechen’ (komitative Aktionsart). Da hier die Realbedeutung des Simplex von innen her qualifiziert wird, spricht man bei diesen Präfixen, die die Fähigkeit zur Aktionsartbildung aufweisen, von modifizierenden Präfixen. 8 Isačenko 1962 : 358. 8 Ein großer Streitpunkt innerhalb der Aspektologie stellen die sogenannten grammatischen Präfixe bzw. ihre Existenz dar. Wenn es Präfixe gibt, die dazu fähig sind, selbständige neue Verballexeme und Aktionsarten zu bilden, so liegt es doch nahe, daß Präfigierung auch erlauben könnte, korrelative Aspektpartner zu bilden. Und schließlich zeugt fast jedes Russisch-Lehrwerk davon: pisat’ – napisat’ ‚schreiben’ oder delat’ – sdelat’ ‚tun, machen’ bilden Aspektpaare – so hat es wohl fast jeder Russischschüler gelernt. Da diesen Präfixen die grammatische Funktion der Aspektbildung zufällt, werden sie grammatische Präfixe genannt. Die Bezeichnung ‚leere Präfixe’ kommt daher, da nach Meinung der Befürworter der grammatischen Präfixe sich die Bedeutung des Ausgangsverbs nicht ändert, das Präfix also keine lexikalische Bedeutung trägt und daher als ‚leer’ bezeichnet wird. Wie es kommt, daß viele Aspektologen an der Existenz der grammatischen Präfixe zweifeln, soll im nächsten Kapitel besprochen werden. Man könnte einwenden, daß eine Präfigierung doch nicht unbedingt eine Perfektivierung mit sich ziehen müsse („Jede Präfigierung eines imperfektiven Simplex führt zu seiner Perfektivierung“ (Isačenko 1962 : 363)); als Gegenbeispiel könnte hier „vodit’ (impf.) => perevodit’ (impf.)“ dienen. Aber durch Anwendung folgenden Modells läßt sich der Widerspruch beheben: Die Perfektivierung erfolgt erst vodit’ (impf.) am determinierten vesti. Durch sekundäre Imperfektivierung des so entstandenen perevesti perevodit’ (impf.) Scheinpräfigierung paarige VdF vesti (impf.) sek.Imperfektivierung Präfigierung perevesti (pf.) erhält man nun perevodit’. Um das „Axiom“ ‚Präfigierung führt immer zur Perfektivierung’ beibehalten zu können, darf eine direkte Präfigierung von vodit’ nach perevodit’ nicht zugelassen werden. Sekundäre Imperfektivierung Im Gegensatz zur Präfigierung, die immer zur Perfektivierung führt, kann durch Suffigierung von Verben eine Imperfektivierung erzielt werden. Handelt es sich bei dem zu suffigierendem Ausgangsverb gar um ein bereits präfigiertes Perfektivum, so entsteht ein Imperfektivum, das mit dem Ausgangsverb „stets ein reines Aspektpaar bildet“ (Isačenko 1962 : 366). In diesem Fall spricht man von sekundärer Imperfektivierung. 9 V. Das Zusammenwirken der Aktionsarten mit den Aspekten Man sollte meinen, daß es keine Probleme bereiten dürfte, zu unterscheiden, ob bei der Derivation eines Ausgangsverbs nun ein neues Verballexem, eine Aktionsart oder ein Aspektpartner entstanden ist. Schließlich müßte ein Vergleich der lexikalischen Bedeutung ein klares Ergebnis bringen. Ein neues Verballexem unterscheidet sich deutlich von seinem Ausgangsverb und ist daher leicht zu erkennen. Wenn die lexikalische Bedeutung des Derivats die gleiche bleibt, so handelt es sich um einen Aspektpartner und wenn die ursprüngliche Bedeutung erhalten bleibt, doch das Augenmerk nun auf die Art und Weise des Handelns gelegt wird, so handelt es sich um eine Aktionsart. Da aber diese Bedeutungsnuance „Art und Weise des Handelns“ manchmal sehr klein ist und daher von vielen Menschen (insbesondere Aspektologen) gar nicht wahrgenommen wird, führt dieser subjektive Wahrnehmungsunterschied zu Uneinigkeit und verschiedenen, widersprüchlichen Theorien. Hier ein Beispiel: „delat’ – sdelat’“. Während dies in der „traditionellen russischen Aspekttheorie“ als Aspektpaar gilt (z.B. Gabka 1975 : 103), handelt es sich nach Ansicht von Isačenko um eine resultative Aktionsart (Isačenko 1962 : 393). Isačenkos Kritik an der traditionellen russischen Aspekttheorie Isačenko übte viel Kritik an der –wie er sie selbst bezeichnet- „traditionellen russischen Aspekttheorie“. Seine Thesen hier zu besprechen scheint mir sinnvoll, da er sich sehr intensiv mit dem Verhältnis von Aspektpartnern und Aktionsarten beschäftigt hat und seine Kritik auf „nicht geklärte Kriterien zur Aufstellung von Aspektpaaren“ und „die sich nicht durchgesetzte Theorie der Aktionsarten“ 9 abzielt. Einige seiner Thesen: 1) es gibt keine grammatischen Präfixe10 2) Sekundäre Imperfektivierung soll das eigentliche Feld der Aspektpaarbildung sein. „Die Präfigierung hat an der Bildung echter Aspektpaare [...] keinen Anteil“11 3) Aspektmäßige Unpaarigkeit der Aktionsarten12 Isačenko 1962 : 360f. Ders. 362. 11 Ders. 363. 12 Ders. 386. 9 10 10 Die traditionelle Tendenz - so gut wie jedes russischen Verb bilde beide Aspekteführe dazu, daß Aktionsarten (besonders die resultativen) als Aspektpartner angesehen werden. Beispiel „delat’ – sdelat’“. Der Bedeutungsunterschied sei zugegebenermaßen auf ein Minimum reduziert, doch dürfe die Bedeutung des ‚erreichten Resultats’ nicht in der perfektivischen Aspektbedeutung aufgehen.13 Das Präfix ‚s’ sei also hier auch kein grammatisches, sondern ein modifizierendes. Daß die sekundäre Imperfektivierung das eigentliche Gebiet der Aspektpaarbildung sei, ist eine logische Folgerung aus der Existenzverneinung der grammatischen Präfixe. Ohne diese Präfixe wird die Perfektivierung als Mittel der Aspektpaarbildung ja ausgeschlossen und es bleibt nur noch die Imperfektivierung (und natürlich die Suppletivierung). Die These der aspektmäßigen Unpaarigkeit der Aktionsarten könnte man durch folgendes Gegenbeispiel zu Fall bringen: bolet’ ‘krank sein’ => zabolet’ (pf.) – zabolevat’ (impf.) ‚erkranken’ 14 Mulisch spricht hier im ersten Schritt von der Bildung einer ingressiven Aktionsart und im zweiten von einer sekundären Imperfektivierung. Als Anhänger Isačenkos müßte man nun entweder „zabolet’“ als neues Verballexem und nicht als Aktionsart ansehen, oder „zabolet’ – zabolevat’“ als Aspektpaar verwerfen. Unserer Auffassung nach ist die Aufstellung einer (allgemein-) resultativen Aktionsart in dem angeführten Sinn [u. a. Isačenko] nicht geeignet, die notwendige Scheidung zwischen den Aspekten und Aktionsarten zu fördern. (Gabka 1975 : 227) Die Uneinigkeit über die Aspektänderungsfunktion präfigierter Verben gegenüber den entsprechenden nichtpräfigierten Verben hat ihre Ursache in der verschiedenen Definition des Begriffes Resultativität. Isačenko und Bondarko z. B. betrachten die Resultativität, d. h. das erreichen eines Resultats, als lexikalisches Element eines Tatbestandes, das den Verbalinhalt des Ausgangsverbums verändere und damit für die Aktionsart, nicht für den Aspekt kennzeichnend sei. Das Präfix ist nach dieser Auffassung zugleich Formans und Bedeutungsträger. 13 14 Ders. 363. Mulisch 1996 : 180. (Habermann 1991 : 25) 11 VI. Bildung einiger wichtiger Aktionsarten In diesem Kapitel soll auf die Bildung einiger Aktionsarten eingegangen werden. Die ingressive Aktionsart Bei der ingressiven Aktionsart wird die Aufmerksamkeit auf den Ausgangspunkt der Handlung gelenkt, welche als ganzheitliches, in sich geschlossenes Geschehen aufgefaßt wird: On zagovoril ‚er begann zu sprechen’. (Isačenko 1962 : 388) Die ingressive Aktionsart wird vermittels der Verbalpräfixe za-, vz- (vs-, vzo-), voz- und po- gebildet (Isačenko 1962 : 389). Das Verbalpräfix za- äußert seine ingressive Bedeutung besonders bei - Verben des Sprechens und solchen, die Schallphänomene bezeichnen: zakričat’ ‚losschreien’, zagovorit’ ‚zu sprechen beginnen’ - Verben, die Geruchsempfindungen bezeichnen: zapachnut’ ‚zu riechen beginnen’ - einigen indeterminierten Verben der Fortbewegung: zachodit’ ‚zu gehen beginnen’ - und zahlreichen anderen: zapit’ ‚zu trinken beginnen’, zakurit’ ‚zu rauchen anfangen’ Übrigens hat das Verb zakurit’ die Bedeutung der ingressiven Aktionsart nur dann, wenn es intransitiv gebraucht wird: On opjat’ zakuril. Wird dieses Verb aber transitiv gebraucht, so bedeutet es ‚eine Zigarette anrauchen’ und verliert die ingressive Bedeutung. Zu diesem gibt es dann auch ein sekundäres Imperfektivum zakurivat’.15 Die russischen Ingressiva mit dem Präfix vz-/vs- sind stark expressiv gefärbt und gehören nicht immer dem hochsprachlichen Wortschatz an: vzrevet’ ‚aufbrüllen’. Eine kleine Gruppe bilden Ingressiva altkirchenslavischen Ursprungs mit dem Präfix voz-/vos-: vozljubit’ ‚zu lieben anfangen’. Das Verwendungsgebiet des Präfixes po- zu Bildung der Ingressiva ist äußerst beschränkt und spielt vor allem bei einigen determinierten Verben der Fortbewegung eine Rolle: pobežat’ ‚loslaufen’, poplyt’ ‚losschwimmen’. Die evolutive Aktionsart Die evolutive Aktionsart bezeichnet, im Gegensatz zur ingressiven, die Anfangsphase eines Geschehens, wobei ein Anwachsen der Intensität der Handlung ausgedrückt wird. (Isačenko 1962 : 390) 12 Die Evolutiva werden vermittels des Präfixes raz-/ras- in Verbindung mit dem Reflexivaffix –sja gebildet: raskričat’sja ‚ins Schreien kommen’. Eine etwas andere Einteilung läßt sich bei Zaliznjak finden: Die Aktionsarten, die Isačenko als ingressiv und evolutiv bezeichnet, gehen dort im Načinatel’nyj sposob dejstvija auf, der ganz traditionell in zwei Subtypen aufgeteilt wird: Inchoativnyj sposob dejstvija und Ingressivnyj sposob dejstvija16: V russkoj grammatičeskoj tradizii vnutri načinatel’nogo sposoba dejstvija prinjato različat’ dva podtipa – inchoativnyj i ingressivnyj.17 Zum Inchoativnyj sposob dejstvija werden beispielsweise oben bereits genannte Verben gezählt, die durch das Präfix za- Ingressiva bilden (zapachnut’). Besonders interessant ist, daß hier eingeräumt wird, daß es darunter eine Gruppe (nesobstvenno-inchoativnyj) gäbe, die ungewöhnlicher Weise echte Aspektpartner besitze, wie z.B. zabolet’ – zabolevat’, zakurit’ – zakurivat’. Das Phänomen wird ähnlich wie bei Isačenko gedeutet (siehe oben): „zakurivat’ značit zažigat’ sigaretu i delat’ pervuju zatjažku“ (Zaliznjak 1997 : 90). Zum Ingressivnyj sposob dejstvija zählen eher Verben der Wahrnehmung und innerer Zustände, wie z.B. poljubit’, ponravit’sja, aber auch Verben, die mit dem Zirkumfix paz-...-sja gebildet werden, wie razchochotat’sja (das man doch eigentlich sonst als Evolutivum bezeichnen könnte). Die delimitative Aktionsart Delimitativnyj (=ograničitel’nyj) sposob dejstvija (SB) Formal’nyj pokazatel’: pristavka po-. Glagoly ėtogo klassa opisyvajut nekotoruju „porciju“ dejstvija, ocenivaemuju kak nebol’šuju i ograničennuju vremenem, v tečenii kotorogo ono proizvodiloc’: On poguljal polčasa; Možeš’ popečatat’ na mojom komp’jutere, poka ja govorju po telefonu i t.d. (Zaliznjak 1997 : 94) Die delimitative Aktionsart konzentriert die Aufmerksamkeit auf einen beschränkten Abschnitt des Geschehens, welches als ganzheitliches, in sich geschlossenes Ereignis aufgefaßt wird: On porabotal (pf.) ‚er arbeitete eine Weile, ein bißchen’. (Isačenko 1962 : 391) Die Verben der delimitativen Aktionsart sind Perfektiva tantum. Sie wird vermittels des Präfixes po- von imperfektiven Simplizien gebildet. Dabei ist ihre Isačenko 1962 : 389f. Um Verwechslungen zu vermeiden, halte ich es hier für angebracht, auf Übersetzung der Fachtermini zu verzichten. Schließlich wird es hier ersichtlich, daß z.B. Isačenkos ingressive Aktionsart nicht mit Zaliznjaks Ingressivnyj sposob dejstvija zu verwechseln ist. 17 Zemskaja, E. A., Tipy odnovidovych pristavočnych glagolov v sovremennom russkom jazyke. Issledovanija po grammatike russkogo literaturnogo jazyka, Moskva 1955. In: Zaliznjak 1997 : 89. 15 16 13 Bildungsweise so produktiv, daß selbst in den vollständigsten Wörterbüchern nur ein geringer Bruchteil der vorkommenden Delimitativa registriert werden kann. Die semelfaktive Aktionsart Die Semelfaktiva gehören zu den Aktionsarten mit quantitativer Bedeutung. Zunächst aber sollen zwei große Gruppen von Verben erläutert werden: die dekursiven und die frequentativen Verben. Verben wie dumat’ ‚nachdenken’ bezeichnen Prozesse, die kontinuierlich verlaufen; sie bilden die Gruppe der dekursiven Verben. Dagegen bezeichnen die frequentativen Verben Vorgänge, die sich als Aufeinanderfolge wiederholter Einzelvorgänge auffassen lassen. Als Beispiel sei kolot’ ‚stechen’ genannt. Nun gibt es neben diesem seman- dekursives Verb dumat’ frequentatives Verb kolot’ tischen auch einen grammatischen Unterschied dieser beider Verbgruppen: Von den Frequentativa ist es im Gegensatz zu den Dekursiva möglich die einmalige Aktionsart, Semelfaktiva (von lat. semel ‚einmal’ und facere ‚machen’), zu bilden. So läßt sich aus kolot’ das Semelfaktivum kol’nut’ ‚einen Stich versetzen’ bilden. Semelfaktiva gehören allesamt dem perfektiven Aspekt an. Kennzeichen sind die Suffixe -nut’, -anut’/ -janut’ und das Präfix s-/so-. Verben auf –nut’, denen auf imperfektiver Seite Simplizien ohne dieses Suffix gegenüberstehen sind in der Regel Semelfaktiva. Dieses Suffix ist sehr produktiv. prygat’ – prygnut’ ‚springen’, achat’ – achnut’ ‚ächzen, aufschreien’. Dabei gibt es eine Reihe von Verben auf –nut’, denen auf der imperfektiven Seite keine gleichstämmigen Simplizien (mehr) entgegenstehen. In der heutigen Hochsprache sind diese verloren gegangen und die Verben auf –nut’ können nicht mehr als Aktionsart bezeichnet werden, denn jede Aktionsart bezeichnet ja die Modifizierung eines Ausgangsverbs. Das Suffix –anut’/-janut’ ist bei manchen Verben nichts anderes, als eine Variante des Suffixes –nut’; in der Mehrzahl verbindet es aber die Bedeutung der semelfaktiven (Ausgangsverb), Aktionsart tolknut’ mit der Bedeutung (semelfaktive der Aktionsart), Intensität: tolkanut’ tolkat’ (intensiv- semelfaktive Aktionsart). Das Präfix s-/so- zur Bildung von Semelfaktiva kann beispielsweise an den indeterminierte Verben der Fortbewegung beobachtet werden: so bedeutet chodit’ v školu einen Vorgang, der den Weg zur Schule als auch den Heimweg mit 14 einschließt. Dabei wird dieser Hin- und Rückweg nicht nur einmal beschritten, sondern dieser Vorgang ist ein usueller. Bei Gebrauch des Semelfaktivi in diesem Beispiel, also schodit’ v školu, wird dagegen nur die einzelne Phase dieses Vorgangs ausgedrückt, also einmal hin und zurück. Indeterminiertes Verb chodit’ v školu Semelfaktive Aktionsart schodit’ v školu Heim Schule Übrigens galten die Semelfaktiva (wie auch die Iterativa) lange nicht als Aktionsarten, sondern es wurde davon ausgegangen, daß es außer dem perfektiven, imperfektiven auch einen iterativen und semelfaktiven Aspekt gab: The iterates and semelfactives were considered to be either seperate aspects or ‚subaspects’. With the recognition of procedurals (Aktionsarten) as a category distinct from aspect, the idea of a multiplicity of aspects can receive no serious support today. (Forsyth 1970 : 29) 15 VII. Schlußbetrachtung Präfigierung und Suffigierung sind als Wichtigste Mittel der Aspekt- und Aktionsartbildung zu nennen. Dabei leistet die sekundäre Imperfektivierung (und damit die Suffigierung) den entscheidenden Beitrag zur Bildung echter Aspektpaare, während die Präfigierung zur Bildung von Aktionsarten und neuen Verballexemen beiträgt. Ob auf diesem Wege auch echte Aspektpaare entstehen können, ist Ansichtssache. Damit eng verbunden ist die Frage nach der Existenz der grammatischen Präfixe. Da wundert es einen doch schon wie verschieden die Vorstellungen der Sprachwissenschaftler sein können. Doch welche Theorie, welches Modell auch immer zu Grunde gelegt wird - man sollte dabei immer beachten, daß ein jedes Modell nur ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit sein kann. Dieses muß allerdings ins sich schlüssig sein. So darf nie gefragt werden, ob ein Modell richtig ist, sondern nur ob es dem jeweiligen Zweck, dem es dienen soll, genüge tun kann. Die Frage der Didaktik sollte daher nie außer Acht gelassen werden. (Einem Schüler, einem Anfänger der russischen Sprache, würde man durch Verweigerung der grammatischen Präfixe sicher keinen Gefallen tun.) Man könnte sich auch die Frage stellen, wie aktuell das hier Beschriebene ist (schließlich ist beispielsweise Isačenkos „Formenlehre“ bereits vor vier Jahrzehnten geschrieben worden, aber gilt noch immer „unbestritten als Standardwerk“18), gerade in Anbetracht neuerer Ansätze, die sehr durch eine semantische Sichtweise geprägt sind, wie z. B. Lehmann19. Doch das könnte Thema einer neuen Hausarbeit werden – aber die jetzige Hausarbeit ist zu Ende. 18 19 Kempgen 1991 : 146. Lehmann 1986. 16 VIII. Literaturverzeichnis FORSYTH 1970 Forsyth, J., A Grammar of Aspect. Usage and meaning in the Russian verb, Cambridge 1970. GABKA 1975 Die russische Sprache der Gegenwart (Hrsg. von einem Redaktionsrat unter Leitung von Kurt Gabka). 4 Bde. Bd. 2: Morphologie. Leipzig 1975. HABERMANN 1991 Habermann, Johanna, Untersuchung von Aktionsart und Aspekt der mit popräfigierten Verben im Russischen, Regensburg 1991. ISAČENKO 1962 Isačenko, A.V., Die russische Sprache der Gegenwart. T. I. Formenlehre, Halle (Saale) 1962. KEMPGEN 1991 Kempgen, Sebastian, „ISAČENKOs Typologie der slavischen Sprachen aus heutiger Sicht“, in: Klaus Hartenstein (u.a.) (Hrsg.), Slavistische Linguistik 1990. Slavistische Beiträge, Bd. 274, München 1991, 146 – 163. LEHMANN 1986 Lehmann, Volkmar, „Satzsemantische oder verarbeitungssemantische Aspektbeschreibung“, in: Renate Rathmayr (Hrsg.), Slavistische Linguistik 1985. Slavistische Beiträge, Bd. 200, München 1986, 147 – 176. MASLOV 1965 Voprosy obščego jazykoznanija, (Hrsg. unter einem Redaktionrat unter Leitung von Ju. S. Maslov), Leningrad 1965. MULISCH 1996 Mulisch, Herbert, Handbuch der russischen Gegenwartssprache, Leipzig 21996. ZALIZNJAK 1997 Zaliznjak, Anna A., Šmeljov, Aleksej D., Lekcii po russkoj aspektologii, München 1997.