Kiezdeutsch Sprachliche Neuerungen in Kiezdeutsch Wir finden in Kiezdeutsch grundsätzlich nicht bloß sprachliche Vereinfachung, sondern auch eine produktive Erweiterung des Standarddeutschen: Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus. Besonders genutzt werden hierbei Entwicklungen des Deutschen, die sich in der gesprochenen Sprache und in informellen Situationen zeigen. Kiezdeutsch ist zwar auch charakterisiert durch verschiedene grammatische Vereinfachungen, wie sie für Kontaktsprachen typisch sind, etwa im Bereich der Wortstellung und der Flexion und dem Gebrauch von Funktionswörtern wie Artikeln und Pronomen oder auch dem Verb sein. Es bleibt jedoch nicht bei diesen Vereinfachungen; bei genauerer Betrachtung zeigt sich ergänzend dazu in Kiezdeutsch die Entstehung neuer sprachlicher Formen und eigener Konstruktionsmuster. So finden wir beispielsweise neue Fremdwörter, neue Wörter und feste Wendungen und auch neue grammatische Muster. [Designvorschlag: Buttons, bei denen sich die einzlnen Texte zu den Themen öffnen] Wortstellung Flexion neue Fremdwörter so mit Artikelfunktion Artikel & Pronomen neue Wörter & feste Wendungen produktive Funktionsverbgefüge Wegfall des Verbs sein neue grammatische Muster Nomen als Orts- und Zeitangaben Wortstellung Während im Standarddeutschen das finite Verb in Aussagesätzen an zweiter Stelle steht, ist in Kiezdeutsch die Worstellung freier. Hier kann das Verb auch in der Reihenfolge Adverbiale Bestimmung – Subjekt – Verb – Objekt (Adv SVO) auftreten oder aber an erster Stelle stehen (V1). Adv SVO: Im Kiezdeutsch finden wir mitunter Sätze wie die folgenden : „Früher ich „So die ersten zwei Wochen wir „Morgen ich Adverbiale Bestimmung Subjekt hab’ haben geh uns Faxen mit denen Kino.“ gemacht.“ verstanden.“(16) Verb Diese Sätze ähneln in ihrer Wortstellung Sprachen, die eine feste Abfolge Subjekt-Verb-Objekt vorschreiben, wie z.B. das Englische, d.h. das Subjekt bleibt auch dann vor dem Verb, wenn ein Adverbial am Satzanfang steht (so genannte SVO-Sprachen): „Tomorrow I go to the cinema.“ Im Standarddeutschen haben wir dagegen in solchen Sätzen eine Verbzweitstellung, d.h. das finite Verb steht fest an zweiter Stelle, und vor dem Verb (= im Vorfeld) kann nur ein Element stehen, also entweder ein Adverbial, das Subjekt oder auch ein Objekt (siehe z.B. Dürscheid 2007) Dürscheid, Christa (2007). Syntax. Grundlagen und Theorien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kap.6. „Morgen gehe ich ins Kino.“ „Ich „Ins Kino gehe gehe ich morgen morgen.“ ins Kino.“ V1: Bei der Verberststellung bleibt das Vorfeld (die Position vor dem finiten Verb im Standarddeutschen) unbesetzt: „Geh’ ich schwimmen mit Freunde.“ Durch diese Verbstellung wird etwas für den Sprecher Wichtiges vorangestellt oder auch ein engerer Kontextbezug zum vorhergehenden Satz hergestellt (der Satz oben wurde z.B. als Antwort auf die Frage Was machst du in deiner Freizeit? benutzt). Ähnliche Beispiele finden sich mitunter auch in anderen Varietäten des gesprochenen Deutschen, besonders in informellen Situationen (siehe z.B. Schwitalla 1997) , vgl. das folgende Beispiel, das nicht aus Kiezdeutsch stammt: Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kapitel 6. „Meistens auf der Fahrt zu irgendwie ham paar angerufen, hammer was andres ausgemacht.“ (aus: Auer 1993: 213) Auer, Peter (1993). „Zur Verbspitzenstellung im gesprochenen Deutsch“. In: Deutsche Sprache 21, S. 193-222. Ein typisches Beispiel für Verb-erst-Sätze im informellen Sprachgebrauch sind Sätze, in denen Modalverben an erster Stelle stehen. Das Subjekt ist hier typischerweise ein Pronomen, das direkt an das Verb angehängt wird (sog. „Klitisierung“ [Verweis auf Klitika unten] des Pronomens). Solche Konstruktionen treten in verschiedenen Dialekten des Deutschen auf: „Musstu „Miassns „Musstu halt noch mal hingehen.“ fei net traurig sei.“ im Ordner unter ’Config’ einstellen.“ (aus: Lehmann 1991) (Bairisch; aus: Simon 1998) (aus einem Internetforum) Lehmann, Christian (1991). „Grammaticalization and related changes in contemporary German”. In: Closs Traugott, Elizabeth, & Heine, Bernd (Hrsg.): Approaches to Grammaticalization. Vol. II. Amsterdam: Benjamins, S. 493-535. Simon, Horst J. (1998). „KinnanS Eahna fei heid gfrein“. – Über einen Typ von Verb-Erst-Aussagesätzen im Bairischen. In: Donhauser, Karin, & Eichinger, Ludwig M. (Hrsg.): Deutsche Grammatik – Thema in Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag. Heidelberg: Winter, S. 137-153. Die Verberststellung, die wir in Kiezdeutsch finden, ist dagegen nicht nur für Sätze mit Modalverben typisch, sondern tritt auch in anderen Sätzen auf. Dies ist eine Erweiterung des Sprachgebrauchs: Kiezdeutsch baut hier Möglichkeiten weiter aus, die im Deutschen bereits bestehen. Flexion Die Flexion in Kiezdeutsch entspricht nicht immer der im Standarddeutschen, z.T. fallen Flexionsendungen auch völlig weg. Das betrifft vor allem Endungen mit dem so genannten Schwa-Laut (phonetisch: [ə], gemurmeltes „e“) und Nasalen (n oder m). Auch im gesprochenen Standarddeutsch sind diese Endungen oft verkürzt: einen wird zu einn oder ein, einem zu eim, geben zu gebm etc. (siehe z.B. Schwitalla 1997; Zifonun et al. 1997) Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kapitel 4. Zifonun, Gisela; Hoffmann, Ludger, & Strecker, Bruno (1997). Grammatik der deutschen Sprache. Band 1. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 170. Hier einige Beispiele aus Kiezdeutsch: „... „... „Wir „Die auf kein Fall ...“ die Wärme aus mein Land.“ kenn uns schon vom Fitness.“ deutschen Fußballer, die gewinn immer in der allerletzten Minute.“ Diese Tendenz wird in Kiezdeutsch im Vergleich zum Standarddeutschen noch ausgeweitet, und es entfallen z.T. auch Schwa-Laute, die nicht vor einem Nasal stehen, so dass z.B. meine zu mein werden kann: „Das ist mein Hose.“ „Also mein Schule ist schon längst fertig.“ „Man sieht es später halt, wenn man kein Arbeit hat.“ Da die Flexionsendungen keinen Inhalt beisteuern, sondern nur grammatische Information transportieren, bleibt der Satz trotzdem verständlich (ähnlich wie z.B. im Englischen, wo eine Entwicklung hin zu einem reduzierten Flexionssystem statt gefunden hat). Ein weiteres Phänomen aus dem Bereich der Flexion betrifft die Pronomina: Sie bleiben z.T. in der Grundform (Nominativ), statt nach Kasus dekliniert zu werden: „Darum hab ich auch Sie im Netcafé gesagt: ’Nein, ich möchte nicht.’“ „Bei sie ist gemischt.“ „Sie ist eigentlich egal, welche Nationalitäten die anderen sind.“ „Man chattet mit die.“ Zum Teil finden sich bei Vergleichen mit als und wie auch flektierte Formen, wo man sie im Standarddeutschen nicht erwarten würde: „Früher war er so wie uns.“ „Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.“ „Ja, die sind so wie uns.“ Artikel und Pronomen Artikel und Pronomen entfallen mitunter; vor allem dort, wo der Satz trotzdem verständlich bleibt (siehe z.B. Wiese 2006): Wiese, Heike (2006). „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). In: Linguistische Berichte 207, S. 245-273. „Ich sag: ’Hast du Handy bei?’“ „Er hat schon eigene Wohnung.“ „Ich mache Ausbildung als Fachlagerist“ [ähnlich auch im Standarddeutschen: Ich mache Abitur!) „Und dann kam die Mutter rein, kann da im Zimmer nicht mal rauchen. Kannst dir vorstellen, ja?“ Eine im Standarddeutschen übliche Zusammenziehung von Präposition und Artikel (vor allem in so genannten generischen Kontexten, in denen das Nomen etwas Generelles bezeichnet; siehe z.B. Wiegand 2000; Nübling 1992) wird häufig durch die Präposition allein ersetzt: Wiegand, Herbert E. (2000). „Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen“. In: Kramer, Undine (Hrsg.). Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Max Niemeyer, S. 59-96. Nübling, Damaris (1992). Klitika im Deutschen. Schriftsprache, Umgangssprache, alemannische Dialekte. Tübingen: Gunter Narr. „Zum Beispiel wenn wir in Unterricht sind.“ „Ich kenn ihn von Fitness.“ Im Standarddeutschen werden Artikel häufig auf Hinweisschildern (Ausfahrt freihalten!) oder bei Überschriften in Zeitungen (Kunstsammlung eröffnet) weggelassen. Dieser telegrammartige Stil wird dort aus Gründen der Sprachökonomie verwendet und dient der schnelleren Informationsverarbeitung für den Leser (siehe z.B. Dürscheid 2003). Dürscheid, Christa (2003). „Syntaktische Tendenzen im heutigen Deutsch“. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, Nr. 31, S. 327-342. www.ds.unizh.ch/lehrstuhlduerscheid/docs/Antrittsrede.pdf In Kiezdeutsch ähneln viele Sätze durch das Weglassen von Artikeln dem Telegrammstil. Der Artikel kann dann aber leicht ergänzt werden. Im gesprochenen Deutsch treten solche Einsparungen dagegen seltener auf, oft werden aber Pronomen stark verkürzt: Wenn sie direkt nach dem finiten Verb stehen, verschmelzen sie mit diesem (so genannte Klitisierung); kannst du wird dann z.B. zu kannste, musst du wird zu musste oder musstu, aus gehen wir wird gehnwa oder gemma, haben wir wird zu hammwa usw. Der Ländername Türkei: Eine Stelle, an der in Kiezdeutsch häufig der Artikel fehlt, ist vor dem Ländernamen Türkei. Hier handelt es sich um eine Übertragung einer allgemeinen Regel des Standarddeutschen (siehe z.B. Thieroff 2000). Thieroff, Rolf (2000). „’*Kein Konflikt um Krim’: Zu Genus und Artikelgebrauch von Ländernamen“. In: Hess-Lüttich, Ernest W. B., & Schmitz, H. Walter (Hrsg.). Botschaften verstehen. Kommunikationstheorie und Zeichenpraxis. Festschrift für Helmut Richter. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 271-284. Die meisten Länder- und Städtenamen im Deutschen stehen tatsächlich ohne Artikel (z.B. Deutschland, England, Frankreich, Berlin usw.). Es gibt jedoch einige Ausnahmen, zu denen auch der Ländername Türkei gehört (die Türkei, die Schweiz, der Iran, der Irak). In Kiezdeutsch wird diese Ausnahme häufig regularisiert, d.h. Türkei wird ohne Artikel benutzt, so wie Deutschland, England etc: „Weil ich in Türkei geboren bin.“ „Ja, viel wohler als in Türkei.“ [auf die Frage „Fühlst du dich wohl in Berlin?“] „Also ich würde gern in Berlin wohnen als in Türkei.“ Wie andere Ländernamen ohne Artikel wird Türkei daher in Kiezdeutsch oft auch mit der Präposition nach benutzt (statt in die Türkei), also entsprechend dem standarddeutschen Muster für nach Deutschland: „Und danach ist meine Mutter zurück nach Türkei gegangen.“ Hier führt die Veränderung in Kiezdeutsch somit zu einer systematischeren Behandlung von Ländernamen; Ausnahmen des Standarddeutschen werden in das generelle System eingeordnet. Wegfall des Verbs „sein“ Ein Verb, das in Kiezdeutsch z.T. wegfällt, ist das Verb sein in seinem Gebrauch als Kopula, also in Sätzen wie Sie ist eine Lehrerin., Der Zug ist noch in Köln. etc. In Kopula-Sätzen liefert das Verb keinen vollen Bedeutungsbeitrag, sondern dient in erster Linie dazu, das Prädikat zu bilden (siehe z.B. Eisenberg 2006; Maienborn 2003; Steinitz 1999) Eisenberg, Peter (2006). Der Satz. Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler. Kapitel 3.3. Maienborn, Claudia (2003). Die logische Form von Kopulasätzen. Berlin: Akademie-Verlag. Steinitz, Renate (1999): „Die Kopula werden und die Situationstypen“. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 18/1, S. 121-151. Kiezdeutsch kommt in solchen Fällen dann oft ohne Verb aus: „Was denn los hier?“ „Ja, ich aus Wedding.“ Sätze ohne Kopulaverb, auch Nominalsätze genannt, sind auch aus anderen Sprachen bekannt, z.B. aus dem Russischen (siehe z.B. Müller-Ott 1982) und dem Arabischen (siehe z.B. Haywood & Nahmad 1962). Müller-Ott, Dorothea (1982). Russische Grammatik. Tulln: Ott. Kap. 8.3. Haywood, John A., & Nahmad, Hayim M. (1962). A New Arabic Grammar. London: Humphries & Co., S.32. Neue Fremdwörter Kiezdeutsch benutzt eine Reihe neuer Fremdwörter, die das Standarddeutsche nicht hat. Dies sind oft Wörter, die aus den Herkunftssprachen der jugendlichen Sprecher/innen stammen, z.B. lan (türkisch Typ / Kerl) oder wallah (arabisch, wörtlich bei Gott): „Ey, rockst du, lan, Alter.“ „Und da stand_und hat mir seine Hand gegeben. Wallah.“ [vgl. auch oben zum fehlenden Pronomen] [Link zu „Artikel und Pronomen“] (Zum Gebrauch von Alter in der Jugendsprache siehe z.B. Schlobinski et al. 1993; Androutsopoulos 1998) Schlobinski, Peter; Kohl, Gaby, & Ludewigt, Irmgard (1993): Jugendsprache: Fiktion und Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag. III.4. Androutsopoulos, Jannis K. (1998). „Forschungsperspektiven auf Jugendsprache: Ein integrativer Überblick“. In: Androutsopoulos, Jannis K., & Scholz, Arno (Hrsg.): Jugendsprache - langue des jeunes - youth language. Linguistische und soziolinguistische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 3-34. Neue Wörter und feste Wendungen Das Deutsche besitzt, wie alle Sprachen, feste Wendungen und sogenannte Partikeln, d.h. Wörter, die im Satz nicht verändert/flektiert werden, z.B. Gott sei Dank (Gott sei Dank hat er dich gesehen.), so (Ich habe ihr so eine Puppe gegeben.) oder bitte (Gib mir bitte das Buch.). Partikeln haben sich oft aus Wörtern entwickelt, die ursprünglich veränderlich waren. So ist z.B. im Standarddeutschen die Partikel bitte aus der Verbform (ich) bitte entstanden. In Kiezdeutsch entstehen auf ganz ähnliche Weise neue Partikeln. Hier einige Beispiele: gibs: „Gibs auch ’ne Abkürzung.“ „Gibs auch Jugendliche, die einfach aus Langeweile viel Mist machen.“ Das standarddeutsche Pendant hierzu ist die Wendung es gibt / (da) gibt’s. In Kiezdeutsch wird gibt’s ein festes Wort, das dann auch mit einem zusätzlichen Pronomen es benutzt werden kann: „Aber es gibs ja auch Gründe, warum Menschen so sind, wie sie sind.“ ischwör: entstanden aus ich schwör(e); wird benutzt, um Aussagen besonders zu betonen „Ischwör, Alter, war so.“ lassma: entstanden aus Lass (uns) mal; wird für Vorschläge benutzt „Sie sagt: ‚Lassma treffen’.“ „Lassma Moritzplatz aussteigen.“ „Mann, ist doch egal, lassma wie ich bei Leila gemacht hab.“ musstu: entstanden aus musst du; wird für Vorschläge benutzt „Musstu Doppelstunde fahren.“ „Ach so, musstu Lampe reinmachen.“ „Musstu einmal Pärchen-Date mit Sascha machen.“ Als flektiertes Verb in standdarddeutschen Konstruktionen wie Da musst du eine Lampe reinmachen. ist musst eine Singularform, kann sich also nur an einen einzelnen Hörer richten. In Kiezdeutsch ist die Entwicklung der festen Form musstu zu einer Partikel schon so weit fortgeschritten, dass musstu mitunter auch gegenüber mehreren Hörern gebraucht wird, also in Kontexten, in denen im Standarddeutschen müsst ihr verwendet würde. Neue grammatische Muster lassma und musstu Im Fall von lassma und musstu entsteht bereits ein neues grammatisches Subsystem: lassma leitet Aufforderungen ein, die den Sprecher selbst einbeziehen (wir-Vorschläge), musstu leitet dagegen Aufforderungen ein, die nur dem Hörer bzw. den Hörern gelten (du/ihr-Vorschläge): Lassma Moritzplatz aussteigen! ist ein Vorschlag, gemeinsam am Moritzplatz aus dem Bus zu steigen; Musstu Doppelstunde fahren! ist ein Vorschlag an den Hörer, in der Fahrschule eine Doppelstunde zu fahren. Konstruktionen mit musstu werden unterstützt durch den Gebrauch von Aussagesätzen mit Verberststellung in Kiezdeutsch (und z.T. auch im Standarddeutschen, vgl. oben das Beispiel Musstu im Ordner unter Config einstellen). musstu und lassma gehen auf zwei Verben zurück, die mit Infinitiven kombiniert werden, nämlich müssen und lassen. Durch die Entwicklung von musstu und lassma zu festen Wörtern erhalten wir in Kiezdeutsch Sätze, in denen diese Partikeln nun von Infinitiven gefolgt werden (Musstu Doppelstunde fahren, Lassma Moritzplatz aussteigen). Dieses Schema passt sehr gut in das grammatische System des Deutschen: Aufforderungen können typischerweise durch Infinitivkonstruktionen ausgedrückt werden, z.B. Den Rasen nicht betreten. Ein Kiezdeutsch-Satz wie Lassma aussteigen. ist damit in seinem Aufbau parallel zu einem standarddeutschen Satz wie Bitte aussteigen, in dem ebenfalls eine Partikel mit einer Infinitivkonstruktion kombiniert wird. „so“ mit Artikelfunktion so wird im Standarddeutschen zur Kennzeichnung von Unschärfe verwendet, also wenn ein Sprecher nicht genau weiß, ob seine Aussage stimmt, oder signalisieren will, dass sie nur ungefähr zutrifft (siehe zu sog. „Heckenausdrücken“ bzw. Vagheitsindikatoren z.B. Schwitalla 1997; zu Jugendsprache auch Androutsopoulos 1998) Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kap. 10.3.3. Androutsopoulos, Jannis K. (1998). Deutsche Jugendsprache: Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Kap. 6.4. In Kiezdeutsch gibt es diese Verwendung auch: „Ich bin nicht oft in der Gegend, so vielleicht einmal in der Woche.“ Im nächsten Beispiel wird so ebenfalls wie im Standarddeutschen verwendet, nämlich in der Verschmelzung von so und einem indefiniten Artikel vor einem Substantiv: „Der hat son Lied über Ausländer geschrieben.“ Diese Verschmelzung findet im gesprochenen Deutschen so regelmäßig statt, dass sprachwissenschaftliche Analysen z.T. von der Entstehung eines neuen Artikels son im Standarddeutschen ausgehen (siehe z.B. Hole & Klumpp 2000). Hole, Daniel, & Klumpp, Gerson (2000). „Definite type and indefinite token: the article ‘son’ in colloquial German“. In: Linguistische Berichte 182, S. 231-244. Das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass so auch vor Substantiven ohne Artikel auftreten kann, wenn im Standarddeutschen eigentlich ein Artikel stünde: „Ich bin mehr so Naturtyp für Natur, Dorf.“ Kiezdeutsch nutzt hier also ein bereits bestehendes Muster des Standarddeutschen (häufiger Gebrauch von so vor Substantiven mit Artikel) und weitet es aus. Wenn diese Entwicklung weiter geht, könnte so in Kiezdeutsch Artikelfunktionen übernehmen; es könnte sich zu einem Signal: Jetzt kommt ein Substantiv! entwickeln. Produktive Funktionsverbgefüge In Kiezdeutsch finden wir z.T. Sätze wie die folgenden: „Machst du rote Ampel.“ [= Du gehst bei „rot“ über die Straße.; vgl. auch oben zur Verberststellung] „Ich mach dich Messer.“ [= Ich greife dich mit dem Messer an.] „Wir sind jetzt anderes Thema.“ [= Wir sind jetzt bei eineam anderen Thema. / Wir behandeln jetzt ein anderes Thema.] Auf den ersten Blick fehlt hier lediglich der Artikel beim Nomen. Bei näherer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass es sich hier um eine viel interessantere Konstruktion handelt: Neben der Veränderung in der Nominalgruppe (= fehlender Artikel) sind auch die Verben verändert, sie tragen kaum noch Bedeutung. Man spricht hier auch von einer semantischen Bleichung der Verben. Solche Verbindungen aus semantisch gebleichten Verben und grammatisch vereinfachten, oft artikellosen Nomen oder Nominalgruppen kennt auch das Standarddeutsche; es handelt sich um die so genannten Funktionsverbgefüge, (siehe z.B. Heidolph et al. 1981) Heidolph, Karl Erich; Flämig, Walter, & Motsch, Wolfgang et al. (1981). Grundzüge einer deutschen Grammatik. Berlin: Akademie-Verlag. Kap.2.3.2.7. Konstruktionen wie Angst machen, Pfötchen geben, Krawatte tragen (außerdem gehören hierzu noch Konstruktionen mit Präpositionen, z.B. zur Aufführung bringen). In Funktionsverbgefügen finden wir eine ökonomische sprachliche Arbeitsteilung zwischen Verb und nominaler Ergänzung: Das Nomen liefert den Hauptinhalt, während das Verb die wesentlich grammatische Arbeit leistet und das Nomen in den Satz integriert. Kiezdeutsch macht sich diesen Mechanismus zu Nutze, indem es das Muster der Funktionsverbgefüge produktiv ausbaut. Wir finden hier neue, spontane Bildungen neben den schon vorhandenen Funktionsverbgefügen des Deutschen (siehe z.B. Wiese 2006) Wiese, Heike (2006). „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). In: Linguistische Berichte 207, S. 245-273. Weil diese Bildungen nicht zum Standardlexikon gehören (wie Angst haben etc.), sondern aus der Situation heraus entstehen, sind sie oft auch stark an eine bestimmte Situation gebunden und erfordern für ihr Verständnis das entsprechende Kontextwissen. Beispielsweise ist ein Satz wie Machst du rote Ampel! kaum verständlich, wenn er aus dem Kontext gerissen ist. Diese starke Abhängigkeit vom Kontext finden wir nicht nur in Kiezdeutsch, sie ist typisch für Kontaktsprachen allgemein. Orts- und Zeitangaben ohne Artikel und Präposition In Kiezdeutsch findet man häufig Orts- und Zeitangaben, die aus bloßen Nominalgruppen bestehen, ohne Artikel und/oder Präposition: „Um sieben Uhr steh ich auf, geh Schule.“ „Wo ich Grundschule war…“ „Nachher acht Uhr ich hab Dienst.“ Ähnliche Wendungen findet man in bestimmten Kontexten auch in der gesprochenen Sprache außerhalb von Kiezdeutsch. Regelmäßig treten sie bei der Bezeichnung von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel auf. Hier einige Beispiele aus Antworten, die wir bekommen haben, als wir in Berlin nach dem Weg gefragt haben: „Da müssen Sie Jakob-Kaiser-Platz umsteigen.“ „Dann steigen Sie Mollstraße aus.“ „Da musst du bis U-Bahnhof Hermannplatz fahren und dann bis Mehringdamm.“ Hier finden wir also wieder eine Neuerung in Kiezdeutsch, die entsteht, indem Möglichkeiten, die das Deutsche sowieso schon bietet, noch weiter ausgebaut werden: Kiezdeutsch ist eine neue Varietät des Deutschen, die – wie alle neuen Varietäten - die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt. Zurück zur Homepage des Infoportals „Kiezdeutsch“ [Link -> „InfoportalIndex.doc“] Was ist Kiezdeutsch? [Link -> „Was ist Kiezdeutsch.doc“] Kiezdeutsch ist kein gebrochenes Deutsch [Link -> „KeinGebrochenesDeutsch.doc“ „Lassma Grammatik machen“: Kiezdeutsch an der Schule! [Link -> „LassmaGrammatikMachen.doc“] Zum Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart der Universität Potsdam