Sprachliche Neuerungen in Kiezdeutsch

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Kiezdeutsch
Sprachliche Neuerungen in Kiezdeutsch
Wir finden in Kiezdeutsch grundsätzlich nicht bloß sprachliche Vereinfachung, sondern auch eine produktive
Erweiterung des Standarddeutschen: Kiezdeutsch nutzt die Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich von
Grammatik und Wortschatz bietet, und baut sie aus. Besonders genutzt werden hierbei Entwicklungen des
Deutschen, die sich in der gesprochenen Sprache und in informellen Situationen zeigen.
Kiezdeutsch ist zwar auch charakterisiert durch verschiedene grammatische Vereinfachungen, wie sie für
Kontaktsprachen typisch sind, etwa im Bereich der Wortstellung und der Flexion und dem Gebrauch von
Funktionswörtern wie Artikeln und Pronomen oder auch dem Verb sein. Es bleibt jedoch nicht bei diesen
Vereinfachungen; bei genauerer Betrachtung zeigt sich ergänzend dazu in Kiezdeutsch die Entstehung neuer
sprachlicher Formen und eigener Konstruktionsmuster. So finden wir beispielsweise neue Fremdwörter, neue
Wörter und feste Wendungen und auch neue grammatische Muster.
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Wortstellung
Flexion
neue Fremdwörter
so mit Artikelfunktion
Artikel & Pronomen
neue Wörter & feste Wendungen
produktive Funktionsverbgefüge
Wegfall des Verbs sein
neue grammatische Muster
Nomen als Orts- und Zeitangaben
Wortstellung
Während im Standarddeutschen das finite Verb in Aussagesätzen an zweiter Stelle steht, ist in Kiezdeutsch
die Worstellung freier. Hier kann das Verb auch in der Reihenfolge Adverbiale Bestimmung – Subjekt – Verb
– Objekt (Adv SVO) auftreten oder aber an erster Stelle stehen (V1).
Adv SVO:
Im Kiezdeutsch finden wir mitunter Sätze wie die folgenden :
„Früher
ich
„So die ersten zwei Wochen wir
„Morgen
ich
Adverbiale Bestimmung
Subjekt
hab’
haben
geh
uns
Faxen
mit denen
Kino.“
gemacht.“
verstanden.“(16)
Verb
Diese Sätze ähneln in ihrer Wortstellung Sprachen, die eine feste Abfolge Subjekt-Verb-Objekt vorschreiben,
wie z.B. das Englische, d.h. das Subjekt bleibt auch dann vor dem Verb, wenn ein Adverbial am Satzanfang
steht (so genannte SVO-Sprachen):
„Tomorrow I go to the cinema.“
Im Standarddeutschen haben wir dagegen in solchen Sätzen eine Verbzweitstellung, d.h. das finite Verb steht
fest an zweiter Stelle, und vor dem Verb (= im Vorfeld) kann nur ein Element stehen, also entweder ein
Adverbial, das Subjekt oder auch ein Objekt (siehe z.B. Dürscheid 2007) Dürscheid, Christa (2007). Syntax.
Grundlagen und Theorien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kap.6.
„Morgen
gehe
ich
ins Kino.“
„Ich
„Ins Kino
gehe
gehe
ich
morgen
morgen.“
ins Kino.“
V1:
Bei der Verberststellung bleibt das Vorfeld (die Position vor dem finiten Verb im Standarddeutschen)
unbesetzt:
„Geh’ ich schwimmen mit Freunde.“
Durch diese Verbstellung wird etwas für den Sprecher Wichtiges vorangestellt oder auch ein engerer
Kontextbezug zum vorhergehenden Satz hergestellt (der Satz oben wurde z.B. als Antwort auf die Frage Was
machst du in deiner Freizeit? benutzt).
Ähnliche Beispiele finden sich mitunter auch in anderen Varietäten des gesprochenen Deutschen, besonders
in informellen Situationen (siehe z.B. Schwitalla 1997) , vgl. das folgende Beispiel, das nicht aus Kiezdeutsch
stammt:
Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kapitel 6.
„Meistens auf der Fahrt zu irgendwie ham paar angerufen, hammer was andres
ausgemacht.“ (aus: Auer 1993: 213)
Auer, Peter (1993). „Zur Verbspitzenstellung im gesprochenen Deutsch“. In: Deutsche
Sprache 21, S. 193-222.
Ein typisches Beispiel für Verb-erst-Sätze im informellen Sprachgebrauch sind Sätze, in denen Modalverben
an erster Stelle stehen. Das Subjekt ist hier typischerweise ein Pronomen, das direkt an das Verb angehängt
wird (sog. „Klitisierung“ [Verweis auf Klitika unten] des Pronomens). Solche Konstruktionen treten in
verschiedenen Dialekten des Deutschen auf:
„Musstu
„Miassns
„Musstu
halt noch mal hingehen.“
fei net traurig sei.“
im Ordner unter ’Config’ einstellen.“
(aus: Lehmann 1991)
(Bairisch; aus: Simon 1998)
(aus einem Internetforum)
Lehmann, Christian (1991). „Grammaticalization and related changes in contemporary German”. In: Closs
Traugott, Elizabeth, & Heine, Bernd (Hrsg.): Approaches to Grammaticalization. Vol. II. Amsterdam:
Benjamins, S. 493-535.
Simon, Horst J. (1998). „KinnanS Eahna fei heid gfrein“. – Über einen Typ von Verb-Erst-Aussagesätzen im
Bairischen. In: Donhauser, Karin, & Eichinger, Ludwig M. (Hrsg.): Deutsche Grammatik – Thema in
Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag. Heidelberg: Winter, S. 137-153.
Die Verberststellung, die wir in Kiezdeutsch finden, ist dagegen nicht nur für Sätze mit Modalverben
typisch, sondern tritt auch in anderen Sätzen auf. Dies ist eine Erweiterung des Sprachgebrauchs:
Kiezdeutsch baut hier Möglichkeiten weiter aus, die im Deutschen bereits bestehen.
Flexion
Die Flexion in Kiezdeutsch entspricht nicht immer der im Standarddeutschen, z.T. fallen Flexionsendungen
auch völlig weg. Das betrifft vor allem Endungen mit dem so genannten Schwa-Laut (phonetisch: [ə],
gemurmeltes „e“) und Nasalen (n oder m). Auch im gesprochenen Standarddeutsch sind diese Endungen oft
verkürzt: einen wird zu einn oder ein, einem zu eim, geben zu gebm etc. (siehe z.B. Schwitalla 1997; Zifonun et
al. 1997)
Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kapitel 4.
Zifonun, Gisela; Hoffmann, Ludger, & Strecker, Bruno (1997). Grammatik der deutschen Sprache. Band 1. Berlin/New
York: Walter de Gruyter. S. 170.
Hier einige Beispiele aus Kiezdeutsch:
„...
„...
„Wir
„Die
auf kein Fall ...“
die Wärme aus mein Land.“
kenn uns schon vom Fitness.“
deutschen Fußballer, die gewinn immer in der allerletzten Minute.“
Diese Tendenz wird in Kiezdeutsch im Vergleich zum Standarddeutschen noch ausgeweitet, und es entfallen
z.T. auch Schwa-Laute, die nicht vor einem Nasal stehen, so dass z.B. meine zu mein werden kann:
„Das ist mein Hose.“
„Also mein Schule ist schon längst fertig.“
„Man sieht es später halt, wenn man kein Arbeit hat.“
Da die Flexionsendungen keinen Inhalt beisteuern, sondern nur grammatische Information transportieren,
bleibt der Satz trotzdem verständlich (ähnlich wie z.B. im Englischen, wo eine Entwicklung hin zu einem
reduzierten Flexionssystem statt gefunden hat).
Ein weiteres Phänomen aus dem Bereich der Flexion betrifft die Pronomina: Sie bleiben z.T. in der
Grundform (Nominativ), statt nach Kasus dekliniert zu werden:
„Darum hab ich auch Sie im Netcafé gesagt: ’Nein, ich möchte nicht.’“
„Bei sie ist gemischt.“
„Sie ist eigentlich egal, welche Nationalitäten die anderen sind.“
„Man chattet mit die.“
Zum Teil finden sich bei Vergleichen mit als und wie auch flektierte Formen, wo man sie im
Standarddeutschen nicht erwarten würde:
„Früher war er so wie uns.“
„Wir gehen zu den älteren Leuten, die älter als uns sind.“
„Ja, die sind so wie uns.“
Artikel und Pronomen
Artikel und Pronomen entfallen mitunter; vor allem dort, wo der Satz trotzdem verständlich bleibt (siehe z.B.
Wiese 2006):
Wiese, Heike (2006). „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). In:
Linguistische Berichte 207, S. 245-273.
„Ich sag: ’Hast du Handy bei?’“
„Er hat schon eigene Wohnung.“
„Ich mache Ausbildung als Fachlagerist“
[ähnlich auch im Standarddeutschen: Ich mache Abitur!)
„Und dann kam die Mutter rein, kann da im Zimmer nicht mal rauchen. Kannst
dir vorstellen, ja?“
Eine im Standarddeutschen übliche Zusammenziehung von Präposition und Artikel (vor allem in so
genannten generischen Kontexten, in denen das Nomen etwas Generelles bezeichnet; siehe z.B. Wiegand 2000;
Nübling 1992) wird häufig durch die Präposition allein ersetzt:
Wiegand, Herbert E. (2000). „Verschmelzungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen“. In:
Kramer, Undine (Hrsg.). Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Max
Niemeyer, S. 59-96.
Nübling, Damaris (1992). Klitika im Deutschen. Schriftsprache, Umgangssprache, alemannische Dialekte. Tübingen:
Gunter Narr.
„Zum Beispiel wenn wir in Unterricht sind.“
„Ich kenn ihn von Fitness.“
Im Standarddeutschen werden Artikel häufig auf Hinweisschildern (Ausfahrt freihalten!) oder bei
Überschriften in Zeitungen (Kunstsammlung eröffnet) weggelassen. Dieser telegrammartige Stil wird dort
aus Gründen der Sprachökonomie verwendet und dient der schnelleren Informationsverarbeitung für den
Leser (siehe z.B. Dürscheid 2003).
Dürscheid, Christa (2003). „Syntaktische Tendenzen im heutigen Deutsch“. In: Zeitschrift für germanistische
Linguistik, Nr. 31, S. 327-342. www.ds.unizh.ch/lehrstuhlduerscheid/docs/Antrittsrede.pdf
In Kiezdeutsch ähneln viele Sätze durch das Weglassen von Artikeln dem Telegrammstil. Der Artikel kann
dann aber leicht ergänzt werden. Im gesprochenen Deutsch treten solche Einsparungen dagegen seltener auf,
oft werden aber Pronomen stark verkürzt: Wenn sie direkt nach dem finiten Verb stehen, verschmelzen sie
mit diesem (so genannte Klitisierung); kannst du wird dann z.B. zu kannste, musst du wird zu musste oder
musstu, aus gehen wir wird gehnwa oder gemma, haben wir wird zu hammwa usw.
Der Ländername Türkei: Eine Stelle, an der in Kiezdeutsch häufig der Artikel fehlt, ist vor dem
Ländernamen Türkei. Hier handelt es sich um eine Übertragung einer allgemeinen Regel des
Standarddeutschen (siehe z.B. Thieroff 2000).
Thieroff, Rolf (2000). „’*Kein Konflikt um Krim’: Zu Genus und Artikelgebrauch von Ländernamen“. In:
Hess-Lüttich, Ernest W. B., & Schmitz, H. Walter (Hrsg.). Botschaften verstehen. Kommunikationstheorie und
Zeichenpraxis. Festschrift für Helmut Richter. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 271-284.
Die meisten Länder- und Städtenamen im Deutschen stehen tatsächlich ohne Artikel (z.B. Deutschland,
England, Frankreich, Berlin usw.). Es gibt jedoch einige Ausnahmen, zu denen auch der Ländername Türkei
gehört (die Türkei, die Schweiz, der Iran, der Irak). In Kiezdeutsch wird diese Ausnahme häufig
regularisiert, d.h. Türkei wird ohne Artikel benutzt, so wie Deutschland, England etc:
„Weil ich in Türkei geboren bin.“
„Ja, viel wohler als in Türkei.“
[auf die Frage „Fühlst du dich wohl in Berlin?“]
„Also ich würde gern in Berlin wohnen als in Türkei.“
Wie andere Ländernamen ohne Artikel wird Türkei daher in Kiezdeutsch oft auch mit der Präposition nach
benutzt (statt in die Türkei), also entsprechend dem standarddeutschen Muster für nach Deutschland:
„Und danach ist meine Mutter zurück nach Türkei gegangen.“
Hier führt die Veränderung in Kiezdeutsch somit zu einer systematischeren Behandlung von Ländernamen;
Ausnahmen des Standarddeutschen werden in das generelle System eingeordnet.
Wegfall des Verbs „sein“
Ein Verb, das in Kiezdeutsch z.T. wegfällt, ist das Verb sein in seinem Gebrauch als Kopula, also in Sätzen
wie Sie ist eine Lehrerin., Der Zug ist noch in Köln. etc. In Kopula-Sätzen liefert das Verb keinen vollen
Bedeutungsbeitrag, sondern dient in erster Linie dazu, das Prädikat zu bilden (siehe z.B. Eisenberg 2006;
Maienborn 2003; Steinitz 1999)
Eisenberg, Peter (2006). Der Satz. Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler. Kapitel 3.3.
Maienborn, Claudia (2003). Die logische Form von Kopulasätzen. Berlin: Akademie-Verlag.
Steinitz, Renate (1999): „Die Kopula werden und die Situationstypen“. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 18/1, S.
121-151.
Kiezdeutsch kommt in solchen Fällen dann oft ohne Verb aus:
„Was denn los hier?“
„Ja, ich aus Wedding.“
Sätze ohne Kopulaverb, auch Nominalsätze genannt, sind auch aus anderen Sprachen bekannt, z.B. aus dem
Russischen (siehe z.B. Müller-Ott 1982) und dem Arabischen (siehe z.B. Haywood & Nahmad 1962).
Müller-Ott, Dorothea (1982). Russische Grammatik. Tulln: Ott. Kap. 8.3.
Haywood, John A., & Nahmad, Hayim M. (1962). A New Arabic Grammar. London: Humphries &
Co., S.32.
Neue Fremdwörter
Kiezdeutsch benutzt eine Reihe neuer Fremdwörter, die das Standarddeutsche nicht hat. Dies sind oft
Wörter, die aus den Herkunftssprachen der jugendlichen Sprecher/innen stammen, z.B. lan (türkisch Typ /
Kerl) oder wallah (arabisch, wörtlich bei Gott):
„Ey, rockst du, lan, Alter.“
„Und da stand_und hat mir seine Hand gegeben. Wallah.“
[vgl. auch oben zum fehlenden Pronomen] [Link zu „Artikel und Pronomen“]
(Zum Gebrauch von Alter in der Jugendsprache siehe z.B. Schlobinski et al. 1993; Androutsopoulos 1998)
Schlobinski, Peter; Kohl, Gaby, & Ludewigt, Irmgard (1993): Jugendsprache: Fiktion und Wirklichkeit. Opladen:
Westdeutscher Verlag. III.4.
Androutsopoulos, Jannis K. (1998). „Forschungsperspektiven auf Jugendsprache: Ein integrativer Überblick“. In:
Androutsopoulos, Jannis K., & Scholz, Arno (Hrsg.): Jugendsprache - langue des jeunes - youth language.
Linguistische und soziolinguistische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 3-34.
Neue Wörter und feste Wendungen
Das Deutsche besitzt, wie alle Sprachen, feste Wendungen und sogenannte Partikeln, d.h. Wörter, die im
Satz nicht verändert/flektiert werden, z.B. Gott sei Dank (Gott sei Dank hat er dich gesehen.), so (Ich habe
ihr so eine Puppe gegeben.) oder bitte (Gib mir bitte das Buch.). Partikeln haben sich oft aus Wörtern
entwickelt, die ursprünglich veränderlich waren. So ist z.B. im Standarddeutschen die Partikel bitte aus der
Verbform (ich) bitte entstanden.
In Kiezdeutsch entstehen auf ganz ähnliche Weise neue Partikeln. Hier einige Beispiele:
gibs:
„Gibs auch ’ne Abkürzung.“
„Gibs auch Jugendliche, die einfach aus Langeweile viel Mist machen.“
Das standarddeutsche Pendant hierzu ist die Wendung es gibt / (da) gibt’s. In Kiezdeutsch wird gibt’s ein
festes Wort, das dann auch mit einem zusätzlichen Pronomen es benutzt werden kann:
„Aber es gibs ja auch Gründe, warum Menschen so sind, wie sie sind.“
ischwör:
entstanden aus ich schwör(e); wird benutzt, um Aussagen besonders zu betonen
„Ischwör, Alter, war so.“
lassma:
entstanden aus Lass (uns) mal; wird für Vorschläge benutzt
„Sie sagt: ‚Lassma treffen’.“
„Lassma Moritzplatz aussteigen.“
„Mann, ist doch egal, lassma wie ich bei Leila gemacht hab.“
musstu:
entstanden aus musst du; wird für Vorschläge benutzt
„Musstu Doppelstunde fahren.“
„Ach so, musstu Lampe reinmachen.“
„Musstu einmal Pärchen-Date mit Sascha machen.“
Als flektiertes Verb in standdarddeutschen Konstruktionen wie Da musst du eine Lampe reinmachen. ist
musst eine Singularform, kann sich also nur an einen einzelnen Hörer richten. In Kiezdeutsch ist die
Entwicklung der festen Form musstu zu einer Partikel schon so weit fortgeschritten, dass musstu mitunter
auch gegenüber mehreren Hörern gebraucht wird, also in Kontexten, in denen im Standarddeutschen müsst
ihr verwendet würde.
Neue grammatische Muster
lassma und musstu
Im Fall von lassma und musstu entsteht bereits ein neues grammatisches Subsystem:
lassma leitet Aufforderungen ein, die den Sprecher selbst einbeziehen (wir-Vorschläge),
musstu leitet dagegen Aufforderungen ein, die nur dem Hörer bzw. den Hörern gelten (du/ihr-Vorschläge):
Lassma Moritzplatz aussteigen! ist ein Vorschlag, gemeinsam am Moritzplatz aus dem Bus zu
steigen;
Musstu Doppelstunde fahren! ist ein Vorschlag an den Hörer, in der Fahrschule eine Doppelstunde zu
fahren.
Konstruktionen mit musstu werden unterstützt durch den Gebrauch von Aussagesätzen mit Verberststellung
in Kiezdeutsch (und z.T. auch im Standarddeutschen, vgl. oben das Beispiel Musstu im Ordner unter Config
einstellen).
musstu und lassma gehen auf zwei Verben zurück, die mit Infinitiven kombiniert werden, nämlich müssen
und lassen. Durch die Entwicklung von musstu und lassma zu festen Wörtern erhalten wir in Kiezdeutsch
Sätze, in denen diese Partikeln nun von Infinitiven gefolgt werden (Musstu Doppelstunde fahren, Lassma
Moritzplatz aussteigen). Dieses Schema passt sehr gut in das grammatische System des Deutschen:
Aufforderungen können typischerweise durch Infinitivkonstruktionen ausgedrückt werden, z.B. Den Rasen
nicht betreten. Ein Kiezdeutsch-Satz wie Lassma aussteigen. ist damit in seinem Aufbau parallel zu einem
standarddeutschen Satz wie Bitte aussteigen, in dem ebenfalls eine Partikel mit einer Infinitivkonstruktion
kombiniert wird.
„so“ mit Artikelfunktion
so wird im Standarddeutschen zur Kennzeichnung von Unschärfe verwendet, also wenn ein Sprecher nicht
genau weiß, ob seine Aussage stimmt, oder signalisieren will, dass sie nur ungefähr zutrifft (siehe zu sog.
„Heckenausdrücken“ bzw. Vagheitsindikatoren z.B. Schwitalla 1997; zu Jugendsprache auch Androutsopoulos 1998)
Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Kap. 10.3.3.
Androutsopoulos, Jannis K. (1998). Deutsche Jugendsprache: Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen.
Frankfurt a.M.: Peter Lang. Kap. 6.4.
In Kiezdeutsch gibt es diese Verwendung auch:
„Ich bin nicht oft in der Gegend, so vielleicht einmal in der Woche.“
Im nächsten Beispiel wird so ebenfalls wie im Standarddeutschen verwendet, nämlich in der Verschmelzung
von so und einem indefiniten Artikel vor einem Substantiv:
„Der hat son Lied über Ausländer geschrieben.“
Diese Verschmelzung findet im gesprochenen Deutschen so regelmäßig statt, dass sprachwissenschaftliche
Analysen z.T. von der Entstehung eines neuen Artikels son im Standarddeutschen ausgehen (siehe z.B. Hole &
Klumpp 2000).
Hole, Daniel, & Klumpp, Gerson (2000). „Definite type and indefinite token: the article ‘son’ in colloquial
German“. In: Linguistische Berichte 182, S. 231-244.
Das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass so auch vor Substantiven ohne Artikel auftreten kann, wenn im
Standarddeutschen eigentlich ein Artikel stünde:
„Ich bin mehr so Naturtyp für Natur, Dorf.“
Kiezdeutsch nutzt hier also ein bereits bestehendes Muster des Standarddeutschen (häufiger Gebrauch von so
vor Substantiven mit Artikel) und weitet es aus. Wenn diese Entwicklung weiter geht, könnte so in
Kiezdeutsch Artikelfunktionen übernehmen; es könnte sich zu einem Signal: Jetzt kommt ein Substantiv!
entwickeln.
Produktive Funktionsverbgefüge
In Kiezdeutsch finden wir z.T. Sätze wie die folgenden:
„Machst du rote Ampel.“
[= Du gehst bei „rot“ über die Straße.; vgl. auch oben zur Verberststellung]
„Ich mach dich Messer.“
[= Ich greife dich mit dem Messer an.]
„Wir sind jetzt anderes Thema.“
[= Wir sind jetzt bei eineam anderen Thema. / Wir behandeln jetzt ein anderes Thema.]
Auf den ersten Blick fehlt hier lediglich der Artikel beim Nomen. Bei näherer Betrachtung stellt sich aber
heraus, dass es sich hier um eine viel interessantere Konstruktion handelt: Neben der Veränderung in der
Nominalgruppe (= fehlender Artikel) sind auch die Verben verändert, sie tragen kaum noch Bedeutung. Man
spricht hier auch von einer semantischen Bleichung der Verben.
Solche Verbindungen aus semantisch gebleichten Verben und grammatisch vereinfachten, oft artikellosen
Nomen oder Nominalgruppen kennt auch das Standarddeutsche; es handelt sich um die so genannten
Funktionsverbgefüge, (siehe z.B. Heidolph et al. 1981)
Heidolph, Karl Erich; Flämig, Walter, & Motsch, Wolfgang et al. (1981). Grundzüge einer deutschen
Grammatik. Berlin: Akademie-Verlag. Kap.2.3.2.7.
Konstruktionen wie Angst machen, Pfötchen geben, Krawatte tragen (außerdem gehören hierzu noch
Konstruktionen mit Präpositionen, z.B. zur Aufführung bringen).
In Funktionsverbgefügen finden wir eine ökonomische sprachliche Arbeitsteilung zwischen Verb und
nominaler Ergänzung: Das Nomen liefert den Hauptinhalt, während das Verb die wesentlich grammatische
Arbeit leistet und das Nomen in den Satz integriert.
Kiezdeutsch macht sich diesen Mechanismus zu Nutze, indem es das Muster der Funktionsverbgefüge
produktiv ausbaut. Wir finden hier neue, spontane Bildungen neben den schon vorhandenen
Funktionsverbgefügen des Deutschen (siehe z.B. Wiese 2006)
Wiese, Heike (2006). „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). In:
Linguistische Berichte 207, S. 245-273.
Weil diese Bildungen nicht zum Standardlexikon gehören (wie Angst haben etc.), sondern aus der Situation
heraus entstehen, sind sie oft auch stark an eine bestimmte Situation gebunden und erfordern für ihr
Verständnis das entsprechende Kontextwissen. Beispielsweise ist ein Satz wie Machst du rote Ampel! kaum
verständlich, wenn er aus dem Kontext gerissen ist. Diese starke Abhängigkeit vom Kontext finden wir nicht
nur in Kiezdeutsch, sie ist typisch für Kontaktsprachen allgemein.
Orts- und Zeitangaben ohne Artikel und Präposition
In Kiezdeutsch findet man häufig Orts- und Zeitangaben, die aus bloßen Nominalgruppen bestehen, ohne
Artikel und/oder Präposition:
„Um sieben Uhr steh ich auf, geh Schule.“
„Wo ich Grundschule war…“
„Nachher acht Uhr ich hab Dienst.“
Ähnliche Wendungen findet man in bestimmten Kontexten auch in der gesprochenen Sprache außerhalb von
Kiezdeutsch. Regelmäßig treten sie bei der Bezeichnung von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel auf.
Hier einige Beispiele aus Antworten, die wir bekommen haben, als wir in Berlin nach dem Weg gefragt
haben:
„Da müssen Sie Jakob-Kaiser-Platz umsteigen.“
„Dann steigen Sie Mollstraße aus.“
„Da musst du bis U-Bahnhof Hermannplatz fahren und dann bis Mehringdamm.“
Hier finden wir also wieder eine Neuerung in Kiezdeutsch, die entsteht, indem Möglichkeiten, die das
Deutsche sowieso schon bietet, noch weiter ausgebaut werden: Kiezdeutsch ist eine neue Varietät des
Deutschen, die – wie alle neuen Varietäten - die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache
weiterentwickelt.
Zurück zur Homepage des Infoportals „Kiezdeutsch“ [Link -> „InfoportalIndex.doc“]
Was ist Kiezdeutsch? [Link -> „Was ist Kiezdeutsch.doc“]
Kiezdeutsch ist kein gebrochenes Deutsch [Link -> „KeinGebrochenesDeutsch.doc“
„Lassma Grammatik machen“: Kiezdeutsch an der Schule! [Link -> „LassmaGrammatikMachen.doc“]
Zum Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart der Universität Potsdam
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