KANTS BEGRIFF DER ERFAHRUNG Arvydas Šliogeris 1. Selbst der erhabenste Denker kann nicht das weitere Schicksal seiner Ideen voraussehen. Allenfalls kann er ihren Platz im intellektuellen Pantheon der Vergangenheit erahnen. Kant bildet keine Ausnahme. Er selbst sah als “kopernikanischen Umsturz” der Philosophie folgende These: „Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten.“1 Tatsächlich ist diese Intuition mehr als nur der Beginn einer rationalistischen Philosophie/Philosophie der Vernunft in der Neuzeit, die durch Descartes verkündete, Grundbedingung und Basis jeglicher Existenz sei das auf Erfahrung basierende Denken/das erkennende Denken (cogito ergo sum). Sie bedeutet auch den Anfang der gesamten abendländischen Metaphysik, die folgsam Platos Basisintuition verbreitete: Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge existieren nur so weit, wie sie an Ideen beteiligt sind, d.h. die gedachte Wesenheit, und nur sie, eines unbeseelten Gegenstandes bewirkt dessen Existenz als reine Totalität. Dasselbe behauptet Kant. 2. Den wahren Kopernikanischen Umsturz initiiert Kant meiner Meinung nach mit einem anderen seiner Gedankengänge: erstmalig in der abendländischen Metaphysik verankert er die für die Erkenntnis der Wirklichkeit einzigartige Bedeutung der Sinneswahrnehmung sowie die Vorrangstellung der sinngebundenen Erfahrung vor der reinen Vernunft. Kant bricht die verhältnismäßig gleichmäßige Entwicklung der abendländischen Metaphysik – von Parmenides bis Hume und Leibniz - mit folgender These auf: “Der Zeit nach, geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alles an” (Ibid. S.45). Nur die sinngebundene Erfahrung entspringt einer transzendentalen Quelle, daher ist allein die Erfahrung eine notwendige, wenn auch nicht ausreichende Bedingung, damit der Mensch sich den Gegenständen (der Wirklichkeit par excellence) gegenüber öffnen kann. Eben diese Art von Offenheit bezeichnet Kant als Erfahrung, und eben dies ist der wahre Inhalt der Kantschen These. Die Grundlage der 1 Kritik der reinen Vernunft, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1979, S.22 gesamten Philosophie vor Kant war eine offene oder versteckte Geringschätzung der Sinne und der Sinneswahrnehmung. Sogar die Nachfolger der mittelalterlichen Nominalisten, die englischen Empiristen Locke, Hume, Berkeley, die die Augenfälligkeit der Sinnesempfindungen anerkennen, halten diese jedoch nicht nur für kein Erleben der Dinge selbst, sondern betrachten die Sinneswahrnehmungen lediglich als Produkt des Bewusstseins, das keine Wirklichkeit jenseits der sinnlichen Gegebenheiten erschließt. Der Skeptizismus Humes, der Solipsismus Berkeleys und die Doktrin der illusionären “sekundären Qualitäten” Lockes beruhen auf eben dieser Geringschätzung der Sinne. Es gibt nur einen Denker in der gesamten Metaphysik vor Kant, der die außerordentliche Wichtigkeit der Sinneswahrnehmung und deren Vorrang gegenüber der reinen Vernunft erkannte. Sein Name ist Heraklit, und er formulierte folgendermaßen: “Ich gebe den Vorrang dem, was ich sehe, höre, also erfahre (Hervorhebung von mir - A.Š.)”. So gesehen erscheint Kant als jüngerer Bruder Heraklits. 3. Leider hält Kant selbst nicht der Macht der tausendjährigen Tradition stand und führt seinen Umsturz nicht zum logischen und sachlichen Ende: mit der linken Hand nimmt er wieder, was die rechte gibt. Betrachten wir Kants These zur außerordentlichen Bedeutung der Sinneswahrnehmung als intellektuelle Revolution, so müssen wir den zweiten Schritt Kants, die Interpretation des Inhalts der Sinneswahrnehmung, als eine Gegenrevolution betrachten, die die traditionellen Götzen der Metaphysik vor Kant, die geheiligten Abstraktionen der reinen Vernunft, wiederaufleben ließ. Das Kantsche Verständnis von Erfahrung wird ja durch die berühmte These aus dem entscheidenden Kapitel der “Kritik der reinen Vernunft” ausgedrückt, dessen Überschrift lautet „Von dem oberstem Grundsatze aller synthetischen Urteile“. Dieser “oberste Grundsatz” besagt: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ (Ibid. S. 254). Dies bedeutet, dass das Objekt der Erfahrung vom Verstand konstruiert wird, jedoch die Erfahrung an sich noch keine transzendentalen Objekte eröffnet. Tatsächlich behauptet Kant, dass die Sinneswahrnehmung das “Ding an sich” nicht erfassen kann, d.h. den Menschen auch nicht zur Berührung irgendeiner bezüglich des Subjekts transzendentalen Wirklichkeit führt. Folglich ist der “oberste Grundsatz” Kants lediglich eine Variante der These des Parmenides: “Dasselbe ist Begriff und das was zu begreifen ist”. Die Wirklichkeit an sich wird nicht erfahren, sie kann nur erdacht werden. Ihr 2 alleiniger Aufenthaltsort ist die Sprache. Dasselbe vertreten sowohl Parmenides als auch Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquino, Descartes, Leibniz, Berkeley und sogar Hume. Erlaubt die Sinneswahrnehmung nur ein “Phänomen”, erschließt aber nicht das Ding an sich, so verliert der Erfahrungsbegriff selbst (definiert als etwas, was das Transzendentale für das Erfahrungssubjekt erschließen soll) jeglichen Sinn. Die Erfahrung führe den Menschen in Berührung mit einem Phantom, denn die wahre Wirklichkeit sei nur dem Verstande oder der Vernunft gegeben – so lautet die Schlussfolgerung Kants. So wird Kant seinem “Kopernikanischen Umsturz” untreu und kehrt zurück auf den Weg der traditionellen Metaphysik. 4. Warum setzt Kant mit seiner Verachtung der Sinneswahrnehmung die tausendjährige Geschichte des metaphysischen Fehlers fort und unterliegt dabei einem so verhängnisvollen Irrtum? Der wichtigste Grund hierfür liegt meiner Meinung nach in Kants erkenntnistheoretischem Fundamentalismus oder in einer sozusagen technowissenschaftlichen wissenschaftlich-technischen? Religion. Kant erhebt eine einzige Art der Sinneswahrnehmung technowissenschaftlichen zum Experimentes Fetisch, nämlich herstellbare die im künstliche Rahmen eines Erfahrung. Die Sinneswahrnehmung wird bei Kant fälschlicherweise zu einem technowissenschaftlichen Experiment reduziert, das sein Objekt geradezu selbst herstellt. Eben deswegen ignoriert er – wenn auch unbegründeterweise - die unwissenschaftliche oder vor-wissenschaftliche Sinneswahrnehmung, deren Bereich sich bis ins Unendliche erstreckt: Sie umfasst die gesamte uns vor Augen liegende Welt der Sinne mit ihrer Vielfalt, die nicht auf technowissenschaftliche Sprachmodelle reduzierbar ist, die unmittelbar erlebte Wirklichkeit, die in den Gegebenheiten/duotims eines technowissenschaftlichen Experimentes in nichts nachsteht, gleich ob wir von ihrer metaphysischen Stellung, von ihrer Intensität, von ihrer praktischen Bedeutung oder ihrer “Wahrheit” sprechen. Überdies stellt die aus dem technowissenschaftlichen Experiment resultierende Erfahrung nur einen verschwindend geringen, unbedeutenden, peripheren Teil der absoluten Sinnesempfindung dar und ist damit nur ein Teil von einer ihrer unzählbaren Gestalten. Ein Urbild derartig reduzierter Erfahrungen sind die mit den Sinnen wahrnehmbaren Gegebenheiten auf dem Bildschirm oder dem Armaturenbrett. Durch die Reduzierung der Sinneswahrnehmung zu einem bloßen 3 technowissenschaftlichen Experiment – wie sie Kant vornimmt – bedeutet eine Vereinfachung, Verengung oder sogar Primitivierung der echten Sinneswahrnehmung und zerstört folglich die Wahrnehmung an sich. Ein technowissenschaftliches Experiment ist ein wahres Prokrustesbett für die uneingeschränkte Sinneswahrnehmung. Ich möchte hinzufügen, dass sowohl die Kantische als auch die technowissenschaftliche Reduzierung der Sinneswahrnehmung zum armseligen Modell eines technischen Experiments nur die Fortsetzung eines Fehlers der abendländischen Metaphysik ist, die von Anfang an (siehe das Paradigma des Parmenides) auf eine künstliche Erfahrung oder eine künstliche Gegebenheit ausgerichtet war. Wirklich wahr ist nur, was der Verstand des Menschen erschafft: so lautet die Grundthese der abendländischen Metaphysik, die auf naivste Weise von der modernen Technowissenschaft und daraufhin auch von Kant übernommen wurde. 5. Die Großen irren sich gewaltig. Ihr Fehler ist hierbei nicht nur ihre persönliche Sache: Es handelt sich vielmehr um einen zur persönlichen Idiosynkrasie gewordenen allgemeinen Aberglauben. “experimentellen“ Die Idiosynkrasie Idiosynkrasie und des Kants ist nur eine Variante der metaphysisch-technowissenschaftlichen Reduktionismus von Parmenides, Platon, Galilei und Newton – voller Verachtung für die normale Sinneswahrnehmung. Gleichzeitig handelt es sich um ein Dokument anthropomorpher und anthropozentrischer Naivität. Das Menschliche wird hier “höher” gestellt als das Nichtmenschliche, die Künstlichkeit für “besser” befunden als die Natürlichkeit, Hergestelltes scheint “echter” als das von selbst Entstandene. Die Tatsache, dass abgesehen von Heraklit nur noch ein großer Denker des Abendlandes der Versuchung des “experimentellen” Reduktionismus standhielt, zeigt, wie schwer diese Idiosynkrasie, die Verachtung für die Sinneswahrnehmung zu überwinden ist. Es war Goethe, der mit seiner Farbenlehre bewies, dass die echte, dem “Ding an sich” entsprechende Sinneswahrnehmung nicht zu einer ärmlichen, naiven und reellen “experimentellen” Pseudoerfahrung reduziert werden darf und soll, die vom “Phänomen selbst” diktiert wird und die die Situation völlig entstellt. Parmenides, Plato, Descartes, Galilei, Newton und selbstverständlich Kant (doch nicht nur diesen) ist es zu verdanken, dass diese Art von Erfahrung zum beispielhaften und sogar einzigen wahren Modell der Erfahrung erhoben wurde. Meiner Meinung nach befindet sich Goethe gegenüber Newton und Kant absolut im Recht. Es ist höchst naiv, wenn nicht gar gefährlich zu meinen, eine “echte” Sinneswahrnehmung sei nur im Labor oder nur mit 4 Hilfe eines Apparates (zum Beispiel eines Teleskops, Mikroskops oder eines Computers) möglich. 6. Ist es nicht an der Zeit, die Ansprüche der Technowissenschaft auf das Monopol der “echten” Erfahrung in ihre Schranken zu weisen? Ist es nicht höchste Zeit, den Fehler der abendländischen Metaphysik, der Technowissenschaft, Newtons und Kants (ebenso der Denker aus der postkantischen Epoche wie Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger) zu erkennen und sich ernsthaft neu auf die unschätzbare Lehre Goethes zu besinnen : Das gesamte Feld der echten Sinneswahrnehmung wird hier augenscheinlich (ohne die Brille des “Experiments”) sichtbar, direkt (ohne die Kopfhörer des “Experiments”) hörbar, unmittelbar (ohne die Gasmaske des “Experiments”) riechbar, direkt (ohne die Sensoren des “Experiments”) fühlbar und direkt (ohne den Geschmack des genmanipulierten “Experiments”) schmeckbar. [Dies ist] Eine Welt, die eine endlose qualitative Vielfalt der Sinnesempfindungen eröffnet und diese nicht zu quantitativen Gegebenheiten reduziert. 5