Kategorialgrammatische Funktion im Sprachkontrast

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Zur Semantik und Kategorialfunktion gotischer Präverben
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung……………………………………………………..……………………...5
2. Die Präfixbildung im Verbalsystem des Gotischen: Kategorialgrammatische
Funktion im Sprachkontrast
2.1 Die Goten: Herkunft, Geschichte, Sprache .......................................................8
2.2 Gotisches Verbalsystem........................................................................................9
2.3 Die gotischen Präfixe und Suffixe.............................................................. .......12
2.4 Die Diskussion um die„ga-Komposita“.............................................................14
2.5 ga- und andere gotische Präfixe als Marker der Aspektualität: Grammatik
vs. Semantik...............................................................................................................23
2.6 Bilanz...................................................................................................................26
3. Die Präverb-Ableitungen im gotischen Verbalsystem und im gotischen Bibeltext:
eine empirische Untersuchung.....................................................................................29
4. Schlussbetrachtungen................................................................................................69
Literaturverzeichnis......................................................................................................71
2
1. Einleitung
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine komplexe Untersuchung der Semantik und
der
Kategorialfunktionen
der
gotischen
Präverben,
darunter
auch
eine
Charakterisierung der gotischen Präfixbildung, wobei eine spezielle Aufmerksamkeit
den ‚ga- Komposita’ geschenkt wird. Die Analyse soll den Zustand der Präfixbildung
im Gotischen skizzieren, seine weiteren Stadien präsentieren und die daraus folgenden
Konsequenzen schildern, die für die gegenwärtigen germanischen Sprachen (am
Beispiel des Deutschen) von großer Bedeutung sind.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen konkrete Aufgaben gelöst werden:
1. Die Präsentation der Literatur nach den Schwerpunkten: Bevor dem
tatsächlichen Untersuchungsgegenstand auf den Grund gegangen wird, soll man
zuerst
den
allgemeinen
Bereichabriss
darstellen,
der
eine
gewisse
Forschungsbasis bildet.
2. Diskussion durchführen: Auf Grund der präsentierten Literatur werden verschiedene
Thesen ausführlich erläutert, um die Möglichkeit zu schaffen, diese später zum
Vergleich heranziehen zu können.
3. Kritische Sichtung der dargestellten Materialien: Eine kritische Betrachtung der
Fakten ist ein wichtiger Bestandteil jeder Forschung, deshalb wird auch hier ein
Versuch unternommen, die eventuellen Zweifelsfälle, wie auch die stichfesten
Beweisgründe zu schildern.
4. Argumentation der dargestellten Thesen: Die Beurteilung der vorgeführten Thesen
wird mit den bewiesenen Fakten und entsprechenden Beispielen begründet.
Die Arbeit hat zum Gegenstand die gotischen Präverben, darunter insbesondere die
gotischen Präfixe mit einer grammatischen Bedeutung. In der Arbeit werden folgende
Forschungsmethoden angewandt:
 eine korpusbasierte Forschung (auf der Grundlage der gotischen Bibel),
 eine synchrone und diachrone kategorial-grammatische Analyse,
 Analyse der kategorialen Schnittstellen zwischen Semantik und Grammatik,
3
 eine synchrone und diachrone Wortbildungsanalyse, darunter insbesondere die
Analyse der präfixalen Derivationen bzw. die Korpusanalyse,
 eine kontextuelle Analyse.
Angesichts der Spezifik der vorliegenden Arbeit werden eingangs keine Hypothesen
formuliert. Stattdessen soll im Laufe der Analyse des Sprachmaterials auf folgende
Fragen geantwortet werden:
1. Wie kann die Präfixbildung im gotischen Verbalsystem allgemein charakterisiert
werden?
2. Wie kann der Status der gotischen Präverben bestimmt werden?
3. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen der Funktion der Modifizierung der Semantik
und der kategorialgrammatischen Funktion der gotischen Präverben bestimmen?
4. Welsche Möglichkeiten gibt der Kontext bei der Untersuchung der Funktion
gotischer Präverben?
5. Wie können die gotischen Präverben auf dem Hintergrund der weiteren Entwicklung
der Verbalpräfigierung im Germanischen (am Beispiel des Deutschen) beurteilt
werden?
6. Lassen sich beweisbare Ähnlichkeiten bei der Kodierung der Aspektualität mittels
der Präverben (Präfixe) der gotischen und der polnischen Sprache nachweisen?
Die vorliegende Arbeit weist folgende Komposition auf: der theoretische Teil, der
empirische Teil, das Schlusswort, das Literatur- und Quellenverzeichnis.
Im theoretischen Teil Die Präfixbildung im Verbalsystem des Gotischen: kategorialgrammatische Funktion im Sprachkontrast wird die gotische Präfixbildung untersucht
und charakterisiert. Als Hauptgegenstand der Untersuchung fungieren die gotischen
Präfixe mit grammatischer Bedeutung. Einen besonderen Platz nehmen die ‚ga-Komposita’ ein, denen ein Großteil des Kapitels gewidmet wird. Es wird ferner der
Frage nach der Aspektualität nachgegangen, um die Klarheit zu bringen, ob die Präfixe
als Marker dafür fungieren.
Im praktischen Teil Die Präverb-Ableitungen im gotischen Verbalsystem und im
gotischen Bibeltext: eine empirische Analyse wird eine Forschung auf Grund eines
Untersuchungskorpuses durchgeführt, die nach dem auf der Grundlage des
theoretischen Kapitels geschaffenen Modell folgt. Im Folgenden werden die
kategorialen Affinitäten und Konvergenzen zwischen Semantik und Grammatik anhand
der Beispiele analysiert. In diesem Teil wird auch nach den Ähnlichkeiten bei der
Kodierung der Aspektualität mit Hilfe von den Präfixen im Gotischen und im
4
Polnischen gesucht. Das Untersuchungskorpus bilden hier der Text der gotischen Bibel
und sein polnisches Äquivalent.
Das Schlusswort beinhaltet nicht nur das Resümee der dargestellten Inhalte. Es
werden hier auch die aus der Gesamtanalyse gezogenen Schlussfolgerungen ausführlich
dargestellt und entsprechend begründet.
Das Literaturverzeichnis enthält die Titel der Werke der Sekundärliteratur, die in der
vorliegenden Arbeit zitiert, erwähnt oder im irgendeiner Weise benutzt werden.
Das Quellenverzeichnis enthält die Titel der benutzten Textquellen.
5
2. Die Präfixbildung im Verbalsystem des Gotischen:
Kategorialgrammatische Funktion im Sprachkontrast
2.1 Die Goten: Herkunft, Geschichte, Sprache
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Untersuchung der Semantik und der
Kategorialfunktionen der gotischen Präverben. Eingangs muss also die Herkunft und
die Geschichte der Sprachträger dargestellt werden.
Die Goten bilden einen Zweig der ostgermanischen Stämme, deren Ursprung man
wahrscheinlich in Skandinavien platzieren kann (Kotin 2012, 13f.). Im 1. Jh. sollen sie
auf der Suche nach fruchtbarerem Land zu wandern begonnen haben. Sowohl Jordanes
als auch Ptolemäus und Tacitus (Streitberg 1910, 6) wiesen auf die Weichselgebiete als
Ansiedlungsort hin, wobei die weitere Wanderung vermutlich durch Südrussland bis
zum Schwarzen Meer führte. Ursprünglich waren die Goten in Väster- und Östergoten
aufgeteilt, was mit der skandinavischen Herkunftsvariante verglichen werden kann
(Kotin 2012, 14). Eine andere Gliederung unterscheidet noch zwischen Trevingi und
Greutungi. Es betrifft einen Stammesverbund, der sich um das 3. Jahrhundert an der
Donmündung und dem Dnestr niederlassen hatte. Die Nennung weist auf die Art des
bewohnten Gebietes: germ. *terva ‚Wald’ und *greuta ‚steiniger Boden’ (Kotin 2012,
14). In der Geschichte treten die Goten erstmals 238 vor, als sie zum ersten Mal das
römische Reich stark angegriffen haben. Jedoch aus unbekannten Gründen und in
unbekannter Zeit erfolgt die Trennung der Goten in zwei selbständige Stämme,
Ostrogothae und Wisigothae (Streitberg 1910, 6), die trotzdem ähnliches Schicksal
getroffen hat. Unter Alarich haben die Westgoten 410 Rom erfolgreich angegriffen, was
nur der Beginn der Entstehung des Westgotenreiches war. Sie dehnten ihre Herrschaft
auf Südfrankreich und einen Teil Spaniens aus. Dieser Zustand dauerte bis 711, als die
Araber Europa angestürmt haben. Die Ostgoten haben auch eine bedeutende Rolle in
der Geschichte. Obwohl ihr Reich nach dem Sturm der Hunnen im Jahre 375 zerfällt
und deren Vasallen geworden sind, erscheinen sie nach 453 (Binnig 1999, 23) wieder
als selbständig. Besonders wichtig ist das Jahr 493, als der Ostgotenkönig Theoderich
den Hunnenkönig Odoaker eigenhändig getötet hat und somit das Ostgotenreich mit
dem Zentrum in Ravenna wiederaufbaut. Im Jahre 552 wurde der letzte Ostgotenkönig
6
Teja im Kampf zwischen Salerno und Neapel besiegt und das Königreich ist
untergegangen. Der letzte Gote soll im 15. Jh. auf der Krim gestorben sein.
Wegen der geringen Anzahl von Sprachdenkmälern ist es schwer, die gotische Sprache
vollständig zu rekonstruieren. Als das bedeutendste Forschungskorpus fungiert die
gotische Bibel, die in verschiedenen Ausgaben erhalten geblieben ist, wie z. B. Codex
Argenteus, Codex Carolinus, die Codices Ambrosiani und einige andere, kleinere
Quellen. Um 350 übersetzt der gotische Bischof Wulfila die Bibel aus dem
Griechischen ins Gotische. So ist die Christianisierung der Goten von großer
Bedeutung, denn sie hatte zur Entstehung der berühmten Quelle der gotischen Sprache
geführt – der Bibeltexte. Die Goten haben das Christentum wahrscheinlich im 4.
Jahrhundert angenommen und wurden durch arianische griechische Geistliche getauft.
Wulfila bzw. Ulfila betrachtet man als den „Schöpfer eines neuen gotischen Alphabets
wie einer gotischen Literatur“ (Dieter 1900, 14). Vor Wulfila war ein Runenalphabet
mit 24 Zeichen bekannt, der sog. Fuþark. Die wulfilanische Variante besteht aus 27
Zeichen, für die das griechische Zeichensystem Vorbild war. An den unterschiedlichen
Formen erkennt man auch den Einfluss der anderen Sprachen, wie z. B. des
Kaukasischen oder des Lateinischen, doch die Mehrheit der Wörter ist ‚rein’ gotisch
(Herwig 2001, 121-123), denn nicht nur Wulfila, sondern auch seine Schüler und
Nachfolger haben an dem Bibeltext gearbeitet. Man muss in Betracht ziehen, dass der
Text wahrscheinlich nicht in der ursprünglichen Form erhalten wurde. Relevant ist hier
die Rolle der Mönche, die ihn abgeschrieben haben und die verschiedene
Veränderungen, gemäß ihrer schriftlichen Tradition, einführen konnten.
2.2 Gotisches Verbalsystem
In diesem Kapitel wird das gotische Verbalsystem zum Thema gebracht, d.h. die
Kategorien des Numerus, Modus, der Person, Genera verbi und des Tempus.
Das Gotische unterscheidet zwischen Singular, Dualis und Plural. Als die einzige
germanische Sprache besitzt das Gotische Dualformen in allen Tempora und Modi
(Schmitt 1970, 117). Der Dual wurde aber inkonsequent markiert:
„nur an Verben in der 1. u. 2. Person, nie an Nomina außer den Personalpronomina der
1. und 2. PS. Nom. wit, Gen., Dat. ugkis >>wir zwei<< und Nom. *jut, Gen., Dat. igkis
>>ihr zwei<<.“ (Speyer 2007, 72)
7
Es kann ein Beleg dafür sein, dass der Dual schon im Gotischen im Verfall war. Der
Dual fällt später mit dem Plural zusammen.
Das Gotische besitzt in der Kategorie der Person folgende Formen: erste, zweite und
dritte Person sowohl im Singular als auch im Plural. Beim Dual fehlt aber die dritte
Person, was ihn als die Erzählform ausschließt – deshalb tritt er nur „in der Rede“
(Streitberg 1910, 190) auf. Dieses Fehlen der 3. Person wurzelt im „Verschwinden des
Duals in der nominalen und pronominalen Deklination.“ (Braune/ Heidermanns 2004,
142)
In der Kategorie des Modus’ unterscheidet man drei Möglichkeiten, die mit den
gegenwärtigen Formen zusammenfallen: Indikativ, Optativ (Konjunktiv) und Imperativ,
der nur im Präsens vorhanden ist. Die Funktion von Indikativ im Gotischen
unterscheidet sich nicht von seiner Funktion in der gegenwärtigen Sprache und bringt
„den Begriff des Verbums als gewiss, wirklich und bestimmt“ (Heyne/Stamm 1865,
271). zum Ausdruck. Der Optativ drückt nicht nur die Vermutung, sondern auch eine
Aufforderung aus, z.B. Luk. 18, 20: ni hlifais, ni maurþrjais ‚du sollst nicht stehlen, du
sollst nicht töten!’. Optativ steht auch u.a. nach der Konjunktion faurþizei ‚ehe, bevor’:
Mt. 6, 8: faurþizei jus bidjaiþ ina ‚noch ehe ihr ihn bittet’ (siehe Heyne/Stamm 1865,
271). Der Imperativ wird zur Bildung der Sätze verwendet, die Befehl, Aufforderung
oder eine Bitte ausdrücken. Oft wird Imperativ durch Optativ ersetzt, vor allem wegen
seiner pragmatischen Funktion – einen Wunsch auszudrücken:
(1) Lk 2, 15 [...] þairhgaggaima ju und Beþlahaim jah saiƕaima waurd þata
waurþano, [...] ,Lasst uns nun gehen gen Betlehem und die Geschichte sehen, die da
geschehen ist’
Die 1. Person Plural Imperativ der dargestellten Verben sollen folgendermaßen lauten:
þairhgaggan (redupl. Vb.) – þairhgaggam
saiƕan (st. Vb.) - saiƕam
Im Bereich der Genera verbi unterscheidet man Aktiv und Passiv, das oft auch
Mediopassiv genannt wird. Obwohl das Passiv nur in wenigen Formen des Indikativs
und Optativ Präsens erhalten blieb, wird es nicht selten verwendet. Für die fehlenden
Formen vom Passiv treten gewöhnlich die Umschreibungen durch das Partizip
Präteritum mit Hilfe von den „entsprechenden Formen von wairþan und wisan auf, z.B.
daupjada ‚werde getauft’“ (Mk. 10, 38). (Braune/Heidermanns 2004, 141) Nach
Braune/ Heidermanns habe Wulfila die Medialformen im Ausgangstext falsch
verstanden und „in einigen Fällen das „Mediopassiv“ fehlerhaft in aktiver Bedeutung
verwendet.“ (Braune/Heidermanns 2004, 141)
8
Für das gotische Verbalsystem sind zwei Tempusformen charakteristisch: im Aktiv sind
es das Präsens und das Präteritum und im Mediopassiv gibt es nur die präsentische
Form. Diese geringe Zahl von Tempusformen ist für viele altgermanische Sprachen
kennzeichnend. Präsens ist nach Kotin „eine universelle Kodierungsform gegenwärtiger
und zukünftiger Sachverhalte“ (Kotin 2012, 291):
(2) Lk 2, 10 [...] jah gaþ du im sa aggilus: ni ogeiþ, unte sai, spillo izwis faheid mikila,
sei wairþiþ allai managein, [...] ‚und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!
Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird’
spillo – spillôn, sw. V.2, 1. Pers. Sg., Präsens
wairþiþ – waírþan, st. V.3., 3. Pers. Sg., Präsens
Im Gotischen wie im Deutschen bezeichnet das Präsens nicht nur eine gegenwärtige
Tätigkeit, sondern auch eine fortdauernde und eine allgemein gültige. Daneben bringt es
auch die Zukunft und zukünftig vergangene Handlung zum Ausdruck:
(3) Joh. 14, 29: [...] ei, biþe wairþai, galaubjaiþ [...] ‚damit ihr glaubt, sobald dies
geschieht.’
Obwohl Präsens für die Bezeichnung des Futurum im Allgemeinen genügt, ist es auch
möglich die Zukunft mit Hilfe von der Umschreibung oder Optativ auszudrücken
(Streitberg 1910, 199-202):
(4) 2 Kor 1, 5, 10: [...] ei ganimai ƕarjizuh þo swesona leikis, afar þaimei gatawida,
jaþþe þiuþ jaþþe unþiuþ. ‚Dann wird jeder das bekommen, was er für sein Tun auf
dieser Erde verdient hat, mag es gut oder schlecht gewesen sein.’
Streitberg erwähnt auch das historische Präsens, das nach dem griechischen Original
verwendet wurde, aber oft durch das Präteritum ersetzt wird (Streitberg 1910, § 299).
Präteritum bringt die Handlung, die auf dem Reichenbach-Schema den Bereich „Aktzeit
vor Sprechzeit“ umfasst, zum Ausdruck. Nach der Reduktion der indogermanischen
Tempusformen kann das Präteritum das indogermanische Perfekt und den Aorist (auch
ein Vergangenheitstempus) ersetzen. Im Gotischen wird es vor allem „als Erzähltempus
verwendet“ (Zeman 2010, 123). Wenn es um die Bildung der Präterita geht, erfolgt es
bei den starken Verben durch Ablaut und bei den schwachen durch das Dentalsuffix.
Zum Ausdruck der Perfektivität dienten auch die sog. ‚ga-Komposita’, die nach Krause
(1953, § 207) die perfektive Bedeutung bei dem Präteritum zum Ausdruck bringen. Die
Frage nach den ‚ga-Komposita’ ruft noch heute rege Diskussionen zum Thema hervor,
ob sie in der Tat „eine Tempus-bestimmende Funktion inne“ haben (Zeman 2010, 124).
9
2.3 Die gotischen Präfixe und Suffixe
Das Gotische verfügte über ein stark entwickeltes System von Präfixen. Weil die
germanischen Präfixe ihren Ursprung in den Adverbien oder Präpositionen haben
(Kusmenko 2011, 34), kennt die gotische Sprache u.a. solche Präfixe, die (später auch
im Ahd.) auch frei als Präpositionen auftraten, wie z.B. bi oder and (Hempel 1980,
159). In den Zusammensetzungen mit den Verben oder Nomina treten solche Präfixe
auf, wie: (sowohl nominale als auch verbale Zusammensetzungen) af, afar, ana, and, at,
bi, faúra, hindar, in, inn, miþ, uf, ufar, us, wirþa, (nur mit den Verben) du, þaírh, und,
nur (mit den Nomen) fram, inna, undar (siehe Braune 2004, 179). Andere Präfixe
werden in den Wortbildungen verwendet: dis-, faír-, fra-, ga-, id-, twis-, tuz-, unþaoder das Negativpräfix un-. Im Gotischen sind die Präfixe nicht so fest an das Verb
angebunden und stehen in Proklise (Kuroda 2010, 334). Viele von den gegenwärtigen
deutschen Verbpräfixe finden im Gotischen ihren Beleg, obwohl die fehlende
Transparenz von vielen gotischen Verbformen keine eindeutige Gegenüberstellung
ermöglicht. Laut Max Leopold (1907) sind die deutschen Präfixe ver-/ vor- mit den
gotischen Formen faír-, faur-, fra- verwandt. Vier gotische Präfixe and(a)-, und-, unthaund in- sind die Entsprechungen des gegenwärtigen ent-, die später alle in Ahd. intaufgingen. Beim Präfix bi- wie z.B. im Wort bi-qiman ist die ursprüngliche Bedeutung
des ‚bi’, d.h. ‚rings umher’, die in Verbindung mit dem Verb qiman soviel wie
‚umkreisen’ zum Ausdruck bringt „und später den semantischen Zuwachs einer
dynamischen Handlung bekam“ (Kotin 2012, 383).
1) Bedeutung ‚rings umher’
[CA] jah galaiþ in Iarusaulwma Iesus jah in alh; jah bisaiƕands alla, [...] (mk 11,
11) – ‚Und er zog in Jerusalem ein, in den Tempel. Und als er über alles
umhergeblickt hatte, [...]’; pln. ‚Tak przybył do Jerozolimy i wszedł do świątyni.
Obejrzał wszystko, [...]’
Dem deutschen Präfix er- ordnet man das gotische us- zu. Die Rolle der Präfixe beim
Prozess der Grammatikalisierung wurde zur heftigen Diskussion gestellt. Von der
Verwendung unterschiedlicher Präfixe hängt die Bedeutung eines Wortes ab, wie z.B.
gaqiman ‚sich sammeln’ und fraqiman ‚ausgeben, verbrauchen’ (Kusmenko 2011,
34f.). Die Präfigierung im Gotischen wurde vor allem aufgrund der Untersuchungen des
10
wulfilanischen Bibeltextes und seinem Vergleich mit der griechischen Fassung
erforscht, die eine Basis für Wulfila bildete.
„ Bei der gr. Bewegungsverben wird die Aktionsart vorwiegend durch den
Tempusstamm ausgedrückt. Das Präfix gibt die Bewegungsrichtung an. Bei
den got. Bewegungsverben drückt das Präfix in der Regel entweder
Bewegungsrichtung oder Aktionsart aus, in einigen Fällen sogar beides
gleichzeitig. Dabei betont meistens das Simplex den Verlauf der Bewegung
(Ausnahme: qiman), während die Komposita ihren Beginn oder Abschluss
hervorheben.“ (Götti 1974, 134)
Im Gotischen wie im modernen Deutschen funktioniert auch ein gut entwickeltes
Suffixsystem. Die gotischen Suffixe erfüllen selbstverständlich auch grammatische
Rollen, wie z.B. die Suffixe bei der Steigerung der Adjektive: -iz und -ôz im
Komparativ z.B.:
manags (a-Stamm) Sg. N. mask. managiza fem. managizei nautr. managizô, und
Superlativ mit dem Dentalsuffix -ist- oder -ôst-, z.B. :
goþs (a-Stamm)
mask.
fem.
neutr.
batists
batista
batist
schwach: batista
batistô
batistô
stark:
(siehe Binnig 1999, 82f.)
oder die Ortsadverbiensuffixe, wie z.B.: Adverbien mit -r- oder -a- Suffix, die auf die
Frage ‚wo?’ antworten: afta ‚hinten’, faúra ‚vorne’, jainar ‚dort’ oder þar ‚dort, da’.
Suffixe spielen auch eine Rolle bei der Bildung der Abstrakta, wie z.B. das Suffix -ida-iþa- bei den femininen Abstrakta der ô-Stämme: waírþida ‚Würde’, afgrundiþa
‚Abgrund’ oder -eins-Suffix bei den femininen Abstrakta der i-Stämme: galaubeins
‚Glaube’, naseins ‚Rettung’. Die andere Gruppe der Abstrakta bilden die maskulinen þu- Abstrakta, z.B. kustus 'Versuchung'. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen
liegt auch daran, dass die -þu- Abstrakta nur von den unpräfigierten Verben abgeleitet
werden konnten (siehe Kotin 2012, 390). Das Suffix kann auch auf den Kasus
hinweisen, z.B. -u-Suffix bei sunu (Sg. Akk./Vok.) von sunus (mask., u-Stamm) oder
faíhu (Sg. Akk./Nom.) von faíhu (neutr., u-Stamm). Im Gotischen bildet man mittels
11
des Dentalsuffixes -da „das Präteritum aller [...] schwachen Verben und der
Präteritopräsentia“ (Kotin 2012, 254), wie z.B. laistida oder skulda. Auch die Partizip
II-Formen werden mittels „konstanter Exponenten“ (Kotin 2012, 281) gebildet. Bei der
starken Verben folgt es mit Hilfe vom -n- Suffix, wie z.B. numa-n-s 'genommener' und
bei den schwachen vom -þ- Suffix, z.B. nasi-þ-s 'geretteter'. Produktiv erscheint auch
das Suffix -l, das zur Bildung der Diminutiva diente, z.B. Barnilo 'Kindlein' oder
mawilo 'Mädchen'. Reiner Grill (2009, 6) erwähnt noch eine andere Funktion der
Suffixe, nämlich die Imperfektivierung der perfektiven Verben. Im Gegensatz dazu
sollen die Präfixe dazu dienen, die nichtpräfigierten Verben perfektiv zu machen. Die
Präfixe haben also nicht nur die Aktionsart, sondern auch den Aspekt beeinflussen
sollen. Doch Habermann (1991) und Frank (1994) weisen in ihren Untersuchungen über
die Präfixe in der russischen Sprache darauf hin, dass sie „bedeutungsleer“
(Tauscher/Kirschbaum 1968, 255) sein konnten und nur die Rolle bei der Veränderung
des Aspekts spielten. Von großer Bedeutung ist hier das Präfix ga-, dem die heftigen
Diskussionen gewidmet wurden. Das Präfix ga- wurde zum Streitpunkt bei der
Untersuchung des Aspekts im Gotischen.
2.4 Die Diskussion um die „ga-Komposita“
Wegen des auffallenden Auftretens der ga-Komposita im Gotischen wurde das Präfix
ga- zu einem der zentralen Forschungsgegenstände. Dem Suffix wird eine Rolle beim
Prozess der Perfektivierung der Verben zugeschrieben und sein Anteil beim
Ausdrücken des Aspekts im Gotischen wird intensiv untersucht. Die ersten Ergebnisse
erschienen schon im 19. Jh. 1824 veröffentlichte Jacob Grimm seine Arbeit „Die
althochdeutschen Präpositionen“, in der er das Thema der Präfixe und ihre Rolle am
Beispiel des althochdeutschen Tatians aufgegriffen hat. Grimm äußerte seine Meinung,
dass die präfigierten Verben perfektiv und die nicht präfigierten imperfektiv sind (Grill
2009, 8). Drei Jahrzehnte später untersuchte August Schleicher germanische und
slavische Morphologie und beschäftigte sich mit Perfektivität/Imperfektivität, wobei er
sich der Begriffe vollendet/unvollendet bediente. Eine gewisse Aufmerksamkeit
schenkte er den ga-Komposita und erklärte sie für Surrogat der fehlenden
Zeitstufenformen. Seine These erfreute sich großer Rezeption und fand sowohl ihre
Befürworter als auch ihre Gegner. Einer der Befürworter, Heinrich Martens, war der
12
Meinung, dass das Präfix ga- seine soziative Bedeutung verloren hat und ein Mittel zum
Ausdruck der Perfektivität wurde:
„Sie [= ga-] hat sich [...] ihrer speciellen function ‚mit, zusammen’ so sehr
entäußert, dass sie meist nur zum zwecke dieser allgemeineren function, zum
zwecke des ausdrucks perfectiver beziehung angewandt wird.“
(Martens1863, 330)
Doch Tobler kritisiert Martens’Ansichten und führte solche Argumente an, wie z.B. die
Tatsache, dass Martens eine falsche Verbliste zusammengestellt hatte, indem er die
Verben, „wo ge- mit der ganzen bedeutung des wortes untrennbar verwachsen
erscheint“ (Tobler 1865, 116) mit denen die mal mit mal ohne ge- auftauchen in einer
Reihe stellte. Der schwerste Fehler Martens’ war nach Tobler seine Theorie, dass er die
ge- Zusammensetzungen für solche Ersatzformen der nichtentwickelten Zeitstufen hielt.
Dagegen war er der Meinung, dass ga- die „erfüllung und abrundung der handlung in
sich selbst“ (Tobler 1865, 138) kodiert.
Von großer Bedeutung ist hier auch die Arbeit von Dorfeld (1885), in der er drei
Hauptthesen in Bezug auf die Funktion des ga-Präfixes aufstellte: 1. die Soziativität, 2.
die Vollständigkeit und 3. die temporale Vollendung (siehe Dorfeld 1885, 7). Er
befürwortete also die Theorie über die soziative Funktion des Präfixes und die
Modifikation der Bedeutung, relativierte aber seine Rolle bei der Bezeichnung des
Futurs und Plusquamperfekts.
Eine der bedeutendsten Arbeiten ist aber die Untersuchung von Streitberg „Perfective
und imperfective Actionsart im Germanischen.“ Wilhelm Streitberg stützte sich in
seinen Untersuchungen auf den Vergleich der germanischen Bildungen mit dem Präfix
got. ga-, ahd. gi-, as. gi-, ags. je- mit „den slawischen aspektualen Präfigierungen mit
so, sЪ [...], die übrigens auch etymologisch verwandt sind“ (Kotin 2012, 294). Er kam
zum Schluss, dass dieses Präfix ursprünglich eine soziative Rolle spielte, indem es das
‚Zusammensein’, etwas ‚Gemeinsames’ oder eine ‚soziative Bedeutung’ zum Ausdruck
brachte. Etymologisch gesehen ist das gotische Präfix ga- mit dem lateinischen coverwandt:
„[...] composite ajectives with prenominal *ga- » ‘being with something, some quality’
composite nouns with prenominal *ga- » a) ‘person sharing something, some function,
quality with others’
13
b) ‘person, thing being together with others
of the same kind’
In other words, composites of the type [*ga- + NOMINAL (+ SUFF)]NOMINAL mean
‘being with something, some function, quality (together with others)’. Thus, *gaoriginally meant ‘(together) with’ and can therefore (at least semantically) be compared
to Lat. co(m/n)- (coniux f., cognomen n., compotor m., concolor adj. etc.) or Orl. com-,
co-n (e.g. com-arbe m.).”
(C. Gante 2012)
Für das Gotische postuliert Streitberg aber eindeutig die perfektivierende Funktion von
ga-:
„Die
perfectiva
werden
durch
zusammensetzung
des
verbums
mit
praepositionaladverben aus den imperfectiven simplicia gebildet“ (Streitberg 1891,
176).
Die Soziativität des ga- Präfixes demonstrieren z. B. folgende Wortpaare: qiman
‚kommen’ und gaqimqn ‚sich versammeln’, niman ‚nehmen’ und ganiman ,sammeln’.
Diese Modifikation der Bedeutung ist noch im gegenwärtigen Deutschen bei den
Substantiven vorhanden: Bild - Gebilde, Stern - Gestirn. Die zentrale Aufmerksamkeit
wird aber auf die Streitfrage des Aspekts im Gotischen gerichtet, die die ga-Komposita
„aspektverdächtig“ (Kotin 2012, 295) machte. Die Forscher suchten nach der Antwort
auf die Frage, wie stark das Präfix ga- grammatikalisiert ist und was es modifiziert,
sowohl im grammatischen als auch semantischen Sinne. Fokussieren wir uns auf
einigen Theorien zur Funktion des Präfixes ga- und ihrer Rezeption. Hier kommen wir
nochmal auf die Theorie von Streitberg. Streitberg wies darauf hin, dass die einfachen
Verben prinzipiell durch die Zusammensetzungen mit Präfixen perfektiv wurden. Die
Bedeutung einer Zusammensetzung hing von drei Komponenten ab: 1. von der
Bedeutung des Simplex; 2. von der Bedeutung des Präfixes; 3. von dem Endeffekt der
Zusammensetzung der beiden oben genannten Komponente – der Änderung der
Aktionsart (siehe Grill 2009, 11). Er war der Ansicht, dass diese Änderung auf zweierlei
Art und Weise verlaufen konnte: entweder verursacht die Komposition nur die
Modifikation der Aktionsart und sie wirkt sich nicht bei der allgemeinen Bedeutung des
Verbs aus (so würde das Präfix als der perfektivierende Faktor fungieren), wie z.B.
niman - ganiman, oder es entsteht eine neue Bedeutung des Verbs (das Kompositum
bleibt aber imperfektiv), wie z.B. hafjan ('heben') – andhafjan (antworten'). Im ersten
Fall verhält sich das ga-Präfix genau so, wie das Präfix z- im Polnischen, d.h., es
bewirkt die Änderung der Aktionsart – der durativen Aktionsart in eine resultative, wie
14
z.B. pln. robić – z-robić. Vor allem diese perfektivierende Funktion des ga- (so wie
auch anderer Präfixe) wurde von Streitberg postuliert:
„Diese sämtliche praepositionaladverbien verleihen, wie die untersuchung ergibt,
deren resultat ich der übersichtlichkeit halber in dogmatischer form vorauszustellen
mir erlaube, dem verbum bei der zusammensetzung perfective actionsart im sinne
der oben genannten definition.” (Streitberg 1891, 80f)
Dabei war er der Ansicht, dass es im Gotischen auch eine kleine Gruppe von Verben
gibt, die von Natur aus eine perfektive Aktionsart erkennen lassen, wie z.B. qiþan,
qiman, niman (siehe Streitberg 1891, 103ff). Dabei betont er aber, dass soweit sich das
ga- Präfix in erster Reihe auf seine soziative Bedeutung beschränkt, bleibt das
neuentstandene Kompositum imperfektiv. Viele Forscher postulieren aber auch die
Möglichkeit, dass die Präfixe „bedeutungsleer“ sind. So verhält sich z.B. das bi-Präfix
im
Wort
kukjan
/
bi-kukjan
'küssen'. Solche
'leeren' Präfixe bilden nur
Zusammensetzungen, die „als perfektive Dubletten zum imperfektiven Simplex
betrachtet werden“ (Grill 2009, 7). Als ein solches Mittel fungiert z.B. das Präfix po- im
Polnischen, z.B. jechać – pojechać. In diesem Fall erfüllt das Präfix rein grammatische
– aspektbildende – Funktion. Streitberg sprach sich auch gegen Dorfelds Meinung aus,
dass ga- auch eine Art Verstärkung ausdrückt und allgemein gegen die Theorie über
verschiedene Benutzungsmöglichkeiten von ga-:
„Wie ist es überhaupt denkbar, dass eine einzige partikel zugleich so verschiedene
functionen wie die genannten in sich vereinige und bald die eine bald die andere
beliebig hervorkehre, ohne dass innere oder äussere bedingungen ein regelmäßiges
gesetz erschliessen lassen?“ (Streitberg 1891, 92)
Dagegen
meint
Piergiuseppe
Scardigli
(1973),
dass
das
ga-
vor
allem
Intensivierungsfunktion ausübt. Auch Hans Pollak schreibt ga- eine 'verstärkende'
Bedeutung zu und nennt es ein „abgeschwächtes verstärkendes ga-“ (Pollak 1971, 26).
Die Theorie von Streitberg fand sowohl ihre Befürworter, als auch ihre Gegner. Die
perfektivierende Funktion von ga- wurde u.a. von Krause, Leiss, Kieckers, Feist im
Ganzen befürwortet, andere wie z.B. Marache, Pollak oder Lloyd entwickelten ihre
eigenen Theorien. Es erhoben aber auch die ablehnenden Stimmen, die nicht an die
15
Beweiskraft der Streitbergschen Ansichten glauben. Zu diesem Kreis gehört u.a.
Antonin Beer, der auf Grund von der ins Tschechische (aber auch Altkirchenslawische)
übersetzten Sätze die These von dem Vorhandensein des Aspekts im Gotischen
widerlegen wollte. Er war der Meinung, dass ga- nicht aus den grammatischen
(aspektbildenden), sondern aus den stilistischen Gründen verwendet wurde. Er
postulierte dazu noch, dass kein Präfix im Gotischen perfektivierende Funktion zu
Grunde hat. Doch seine These wurde scharf kritisiert auch u.a. von einem anderen
Gegner Streitbergscher Theorie – Anatol Mirowicz, der bei Streitberg kritisierte, dass er
„die slavischen Aspektunterschiede aufs Gotische [...] übertragen [hatte], dass er sich
über das Wesen der slavischen Aspekte nicht vollständig im klaren war, sie mit der
Aktionsart verwechselte und die Frage der Verwendung der Aspekte überhaupt außer
acht liess.“ (Mirowicz 1935, 10f). Auch Jurij Maslov negierte die perfektivierende
Funktion von ga-, indem er postulierte, dass es nur die 'begrenzte' Handlung zum
Ausdruck bringt.
Maslov
nennt
offen
Streitbergs
Schlussfolgerungen
„false
conclusions“ (Maslov 1985, 41). Er listete die Verbpaare im Russischen wie pisat’
(impf.) und napisat’ (pf.) auf, die von ihm nicht als Aspektpaare, sondern als sehr nahe
Synonyme verstanden wurden. Beim perfektiven Aspekt wird nach Maslov „die
Handlung als unteilbares Ganzes“ dargestellt (Leiss 1992, 57). Die reinen Aspektpaare
entstehen durch die sekundäre Imperfektivierung, die im Gotischen nicht vorhanden ist.
Die Aspektkategorie im Russischen besteht aus zwei Arten der Opposition:
Determiniertheit/Indeterminiertheit und Terminativität/Aterminativität, wobei Maslov
postulierte, dass im Gotischen nur die Terminativität/Aterminativität vorhanden ist und
nicht mit der Kategorie des Aspekts gleichgestellt sein kann:
„Der Vorgang, den man gewöhnlich ’Perfektivierung’ nennt, d.h. die Anfügung
eines Präfixes oder des Nasalsuffixes an den Verbalstamm, bewirkt nicht weiter als
bloß eine Vorbedingung für die spätere Entwicklung zur Aspektkategorie. Dieser
Vorgang hat zur Entstehung der Gruppe der terminativen Verben geführt, die die
slavischen Sprachen mit vielen nicht-slavischen gemein haben. Erst aus der
Spaltung dieser Gruppe ging die spezifisch slavische Erscheinung des Aspekts
hervor.“ (Maslov 1959, 568)
So verfügt das Gotische nach der Leningrader Schule über keinen Aspekt, sondern nur
über Aktionsarten.
16
Eine interessante Theorie stellte 1951 Josef Raith auf, in der er postulierte, dass gakeine grammatische Kategorie kodiert, sondern dass die perfektiven und die
imperfektiven
Verben
unterschiedliche
Tätigkeiten
bezeichnen: „es sind zwei
verschiedene Verben“ (Raith 1951, 25).
Bei der Streitbergschen Theorie ist es relevant anzudeuten, dass Streitberg unter dem
Begriff 'Aktionsart' eigentlich den Aspekt verstanden hatte. Diese Tatsache und
Streitbergs Annahme, dass auch andere grammatischen Mittel, wie die Syntagmen
duginna + Infinitiv, skal + Infinitiv oder haba + Infinitiv die Aktionsart zum Ausdruck
bringen konnten, waren Faktoren der Verundeutlichung der beiden Begriffe, Aspekt und
Aktionsart. Erst später wird zwischen den beiden Termini unterschieden. 1908
veröffentlichte Sigurd Agrell seinen Beitrag, in dem der Problem der Unterscheidung
der beiden Begriffe enthalten war. Unter dem Begriff Aktionsart verstand er die Art und
Weise der Handlungsvollendung. Der Aspekt bezeichnet dagegen die Vollendung und
Unvollendung der Handlung. Nach Leiss (2000) spricht man vom Aspekt, wenn sich
zwei Verben in einem Verbpaar „einzig“ oder „mindestens primär“ mittels des
Perfektivität- oder Imperfektivität-Merkmals voneinander unterscheiden lassen. Die
Frage des Aspekts im Gotischen quält viele Forscher noch heutzutage. Streitberg musste
die Vorwürfe, z.B. vonseiten der Slawisten zurückweisen, dass das Gotische über keine
Kategorie des Aspekts verfügte. Dieser Gruppe gehörte z.B. Maslov oder Schemerényi
an. Der letzte war davon überzeugt, dass „Streitbergs Ansicht nicht aufrechtzuerhalten
ist“ (Schemerényi 1990, 334). Derselben Meinung war Marchand, der aber (ähnlich zu
Maslov) der Ansicht war, dass die Aspektualität jedenfalls in jeder Sprache ausgedrückt
wird (Marchand 1970, 118). Eine eigene Theorie entwickelte Maurice Marache, der das
ga- nicht in der Kategorie des Aspekts oder der Aktionsart platzierte, sondern für eine
grammatische Erscheinung hielt, deren Wurzeln schon in früheren germanischen
Sprachstufen zu finden sind und ihren Höhepunkt im Mittelhochdeutschen hat. Marache
war der Meinung, dass das präfigierte Verb u.a. beim Berichten des vergangenen oder
zukünftigen Geschehens vorkommt oder „wenn der Erzähler zur Feststellung der
Tatsache übergeht“ (Marache 1960/61, 22). Das Simplex wird dagegen von dem
Erzähler zur Betonung seines Ziels benutzt. Marache sieht aber keinen Unterschied in
der Kategorie der Aktionsart zwischen Simplex und Kompositum. Das Kompositum
drückt denselben Handlungsverlauf wie das Simplex aus. Marache fehlte auch bei
Streitberg die Unterscheidung zwischen der subjektiven und objektiven Aktionsart. Der
Unterschied entsteht in der Bedeutung nur dann, wenn das Präfix ga- seine
17
ursprüngliche Bedeutung behält (Marache 1960/61, 4) – in dieser Hinsicht deckt sich
seine Theorie mit den Streitbergschen Ansichten.
1954 erschien die Theorie von Philip Scherer, der einerseits nicht das Vorliegen des
Aspekts allgemein im Gotischen abgelehnt hatte, andererseits war er der Ansicht, dass
diese grammatische Kategorie in keinem Zusammenhang mit dem Präfix ga- steht.
Dieses Verhältnis stellte er auf Grund von vier Kategorien dar:
1) Verben, die nur eine Bedeutung und einen Aspekt haben
2) Verben, die mehr als eine Bedeutung, aber wieder nur einen Aspekt haben
3) Verben, die nur eine Bedeutung haben, der Aspekt hängt aber vom Kontext ab
4) Verben, die mehr als eine Bedeutung haben und der Aspekt hängt vom Kontext
ab (siehe Scherer 1954, 212).
Scherers Definition vom Verbalaspekt spricht von drei Arten des Aspekts: lexikalischer
z.B, 'beat' - 'slay', syntaktischer 'sitzen' – 'sich setzen' und morphologischer 'schlagen' –
'erschlagen' (Grill 2009, 21). Wenn es sich um ga- handelt, gliedert Scherer die mit gapräfigierten Verben in drei Gruppen: A, B und C. In der Gruppe A fungiert das ga- als
Mittel zur Differenzierung der Bedeutung (differentiator of meaning), in der Gruppe B
differenziert es das Tempus (marker of temporal differentiation) und in der Gruppe C
erfüllt es keine der beiden Funktionen. Scherer bemerkt, dass am häufigsten die Verben
der Gruppe B vorkommen: 2127 Verbvorkommen der Gruppe B zu 389
Verbvorkommen der Gruppe A. Scherers Theorie wurde aber auch der Kritik
unterzogen: ihm wurde die Vermischung von Aspekt und Aktionsart und allgemein
Undeutlichkeit und Verwirrung der Theorie vorgeworfen. Zur Gruppe der Kritiker
gehörte u.a. Hans Pollak, für den die eindeutige Erklärung der Verwendung von gaunmöglich ist (Pollak 1971, 10). Obwohl er die Vermischung von Aspekt und
Aktionsart bei Scherer kritisiert hatte, beging er denselben „Fehler“, was in seinem
Aufsatz von 1967 zu finden ist:
„Als 'Aspekte' betrachte ich also bestimmte charakteristische Aktionsarten, durch
die zwei sonst semantisch identische, morphologisch verwandte Sprachformen
(oder Sprachformungen) in ihrer Bedeutungsfunktion voneinander abweichen.
Dann liegt Aspekt vor, wenn die eine dieser Aktionen durativ und die andere
komplexiv ist (ähnlich dem Charakter des konstatierenden Aorists)“ (Pollak 1967,
404)
18
Pollak widmete in seinen Untersuchungen große Aufmerksamkeit dem griechischen
Original. Doch er kam letztendlich zum Schluss, dass in meisten Fällen ga- eine rein
stilistische Rolle spielt oder dem Verb eine neue Bedeutung verleiht. Gleichzeitig
negiert er die Theorie, dass ga- den Aspekt oder die Aktionsart zum Ausdruck bringt,
wo es nicht mehr die Soziativität kodiert. Pollak sprach auch das Thema der
Verstärkungsfunktion an. Er war der Ansicht, dass ga- eine der folgenden
Bestimmungen dem Verb gibt: „unbedingt, gewaltsam, vernichtend, in jeder Weise,
bestimmt
eintreffend,
erfolgreich,
sogar,
vollkommen,
(der
Glaubenstreue)
entsprechend, mit höherer Macht, mit Erreichung des Ziels“ (Pollak 1971, 26),
„Verwandlung der Unähnlichkeit, gewaltiges Zusammenwirken, zusammen“ (Pollak
1974, 14f.). Pollak spricht daneben vom „Inzidenzschema“ - im Verlauf eines
Zustandes erscheint plötzlich die Vollendung oder die Bestimmung - die Handlung im
Verlauf wird durch ein imperfektives Verb ausgedrückt. Falke Josephson stellte seine
Theorie dar, die seine Ansichten über Aspekt, Aktionsart und Perfektivität beinhaltete.
Seiner Meinung nach kann die Perfektivität nur der Kategorie des Aspekts
zugeschrieben werden: „Fundamentally, the perfective form refers to the action as a
totality[...]“ (Josephson 1976, 152). Nach ihm sind die Funktionen von ga- folgend:
1.das Präfix ga- fungiert als Marker der 'Grenzen' der Handlung – sowohl der Anfangsals auch der Endgrenze,
2. Marker des resultativen Charakters der Handlung - hier spielt die Stellung des Verbs
im Satz eine relevante Rolle. Das Präverb am Anfang des Satzes kann als die
Hervorhebung der Handlungsvollendung fungieren.
3. Ausdruck der Fähigkeit zur Vollendung der Handlung.
Zum Thema Aspekt im Gotischen äußerte sich auch Alfred Lloyd, der beim Aspekt drei
Kategorien unterscheidet: den konstativen Aspekt, den komplexiven Aspekt und den
kursiven/ „presentiven“ Aspekt. Bei der ersten Kategorie handelt es sich um einen
Bericht über ein wirkliches vergangenes Geschehen. Beim komplexiven Aspekt kann
der Berichtende sich in jedem Zeitpunkt befinden, deshalb gibt es die Möglichkeit der
unbegrenzten Sicht über eine Handlung. Der komplexive Aspekt wird nach Lloyd
(Lloyd 1979, 77) als perfektiv verstanden. Der kursive/“presentive“ Aspekt kann
dagegen niemals die Perfektivität zum Ausdruck bringen. Wenn der Bericht eine
vergangene Handlung betrifft, heißt der Aspekt kursiv, bei der Gegenwart ist es der
„presentive“ Aspekt. Für Lloyd war es also die Perspektive des Beobachters. So wird
bei
ihm
die
Perfektivität
mittels
Außen19
und
die
Imperfektivität
mittels
Innenperspektive kodiert. Deshalb wurde ihm. u.a. die Gleichsetzung des gotischen mit
dem slavischen Aspektsystem vorgeworfen. Die Präfixe fungieren im Gotischen als
Aspektmarker, der im Gotischen in Form vom komplexiven Aspekt auftritt. Dabei
definiert er die Funktion von ga-, als Marker der Vollendung: „the complexive report of
a complete action; it is therefore the marked form.“ (Lloyd 1979, 85) Die Rolle der
Perspektivierung beim Aspekt wird auch von Elisabeth Leiss befürwortet:
„Versteht man unter Aspekt die Perspektivierung der (lexikalischen) gleichen
Verbalsituation
sowohl
von
einer
Innenperspektive
als
auch
einer
Außenperspektive heraus, dann ist es erlaubt, den aufgeführten gotischen
Verbpaaren Aspektstatus zuzusprechen. Auch in LLOYDS Arbeit zu den Verben
im Gotischen erweist sich die Differenzierung nach Innen- und Außenperspektive
(„view from within“; „view from without“) als elementar (Lloyd 1979: 88). Über
solche Perspektivierungsmöglichkeiten verfügen die Verben im Gotischen.“ (Leiss
1992, 67)
Leiss behauptet dadurch auch, dass das Gotische sowohl über die Aspektkategorie, als
auch über die Aktionsarten verfügt. Sie teilt u.a. dem Präfix ga- die Rolle bei der
Aspektkodierung zu, wobei sie auch nicht außer Betracht lässt, dass es bereits
’perfektive’ Verben gibt (wie z.B. ga-qiman), wo das ga- seine Grundbedeutung
’zusammen’ ausdrückt. Die Aktionsarten sind nach Leiss Verben wie fra-qiman
(vertun), us-qiman (umbringen), ana-meljan (aufschreiben), die keine Aspektpartner
haben (Leiss 1992, 67f.). Die Verwendung von
ga- zum Ausdruck der
Abgeschlossenheit hat sie am Beispiel von zwei Sätzen aus der Gotischen Bibel
bewiesen, wo das ga-Verb nach dem Adverb þan verwendet wurde. Sie postuliert, dass
bei ’dann’ die Nacheinanderrheiung der Handlung erfolgt, was die „aspektuelle
Abgeschlossenheit“ fordert. Sie betont auch den instabilen Zustand des gotischen
grammatischen Systems, was auf die Entwicklung einer neuen Kategorie, des Artikels,
hindeuten kann. Von einem schwachen Aspektsystem spricht auch Jonathan West, der
in seinen Untersuchungen die Aspektdefinition von Comrie übernommen hatte. Comrie
definiert Aspekt als „different ways of viewing the internal temporal constituency of a
situation” (Comrie 1976, 3). Der Aspekt drückt nach ihm die Unterschiede in der
Struktur der Situation auf einer und derselben Zeitebene aus, woraus resultiert, dass er
keine deiktische Kategorie ist. Nach West hat die „proklitische Verbalpartikel“ (Grill
20
2009, 27) eine perfektivierende Funktion. West war der Meinung, dass die perfektiven
Formen auch die Zukunft kodieren können, was schon Schleicher formuliert hatte. Die
telischen Präverben sollen auf den Abschluss der Handlung hindeuten, die das
verwendete Verb ausdrückt. Sie können aber auch den Anfang der Handlung zum
Ausdruck bringen. Das markierte perfektive Glied kann nur die perfektive Bedeutung
kodieren, wobei das unmarkierte Glied die imperfektive Bedeutung zum Ausdruck
bringen kann. Daraus resultiert, dass die Zukunftskodierung auch mittels unpräfigierter
Verben stattfinden kann.
2.5. ga- und andere gotische Präfixe als Marker der Aspektualität: Grammatik vs.
Semantik
In dem folgenden Kapitel wird eine besondere Aufmerksamkeit der Untersuchung der
Bedeutung von den Komposita im Bereich der Grammatik und Semantik gewidmet. Der
Streit um die Bedeutsamkeit zwischen dem Ausdruck der Sozialisation oder des
Aspekts scheint die erste Geige zu spielen. Seit Streitbergs Arbeit untersuchte man die
„aspektverdächtigen“
Oppositionen
Sprachwissenschaftler,
vor
allem
im
der
Gotischen.
Slawisten,
das
Obwohl
viele
Vorhandensein
der
dieser
grammatischen Kategorie im Gotischen kategorisch abgelehnt hatten, konnte man nicht
die Anwesenheit solcher Verbpaare wie ‚taujan (impf.) – gataujan’ (pf.), ‚helpan –
gahelpan’, fraujinon – gafraujinon’ (Leiss 2000, 19f.) ignorieren oder übersehen. Die
Opposition „präfixloser Imperfektiva und präfigierter Perfektiva“ (Kotin 2007, 24)
wurde mehrmals als ein Argument für die Existenz des Verbalaspekts angeführt. Kotin
betont aber auch die „häufige[n] Irregularitäten“, die die Semantik modifizieren, wie
z.B. ‚qiman – gaqiman’ (kommen – sich versammeln) oder ‚saiƕan – gasaiƕan’ (sehen
– die Sehfähigkeit bekommen) (Kotin 2007, 24). Neben dem Ausdruck der Soziativität
wie bei ‚qiman – gaqiman’ findet man auch die Modifikation der Bedeutung wie bei
‚qiman – usqiman’ ‚kommen – töten’. Beispiele, die auf demselben Prinzip aufgebaut
sind, kann man auch im Deutschen finden: stehen – verstehen oder im polnischen:
chodzić – pochodzić. Zu der Modifikation der Bedeutung äußerte sich schon 1864
Ludwig Tobler, der in seiner Arbeit „Ueber die bedeutung des deutschen ge- vor
verben“, die 1865 in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung erschien,
folgendes schrieb:
21
„Aus der ursprünglichen, sinnlich klaren bezeichnung des zusammen = σύν,
entwickelt sich, wie bei lat. con-, eine speciell modificierende, aber meist zugleich
allgemein verstärkende bedeutung. Unter den neuhochdeutschen compositis
verdienen neben den obligaten genesen, gebühren, gewähren, gebahren, gestatten,
geschehen, gewinnen, g-lauben, g-önnen besondere beachtung diejenigen verba,
welche auch ohne ge- vorkommen, und diese müssen abermals unterschieden
werden in solche, welche auf historischem wege durch ge- eine vom simplex
wesentlich verschiedene bedeutung angenommen haben – gehören, gehaben,
gelangen, gefallen, gerathen, geloben, gestehen, gereichen [...].“ (Tobler 1865,
135)
Die Verwendung des Begriffs ‚Aktionsart’ von Streitberg in Bezug auf den Aspekt hat
zur Entwicklung der Theorie von der Aktionsart im Gotischen geführt. So schrieb 1977
Sanae Ukyo von der „perfektiven“ und „imperfektiven Aktionsart“. Die Unterscheidung
zwischen der perfektiven und imperfektiven Aktionsart folgt auf Grund der Anfügung
des ga- Präfixes: die perfektive Aktionsart wird durch das Präfix erkennbar. Ukyo zählt
auch wie Streitberg drei Arten von den Aktionsarten auf: imperfektive, perfektive und
iterative, wobei er ununterbrochen die perfektivierende Funktion von ga- betont. Das
kann darauf hinweisen, dass er entweder unter dem Begriff Aktionsart den Aspekt
versteht oder die Streitbergsche Theorie falsch interpretiert. Ukyo erwähnt auch andere
semantische Funktionen von ga-. Er ist der Meinung, dass dieses Präfix „öfters als
Mittel gebraucht ist, den Verbalbegriff kräftiger hervorzuheben oder zu verstärken“
(Ukyo 1977, 3). Den deutlichsten Unterschied sieht er zwischen dem Simplex und dem
Kompositum, wobei das Simplex den „Ruhestand“ und das Kompositum die
„Herstellung dieses Zustandes“ zum Ausdruck bringt, wie z.B. bei þahan ‚schweigen’
und gaþahan ‚verstummen’ (Ukyo 1977, 8). Das Aspektsystem sagen dem Gotischen
auch die Slawisten, vor allem Maslov, ab.
Er postuliert auf Grund von den
Aspektpaaren im Russischen, dass der reine Aspekt nur dank der sekundären
Imperfektivierung möglich ist. Doch dieser Prozess kann im Gotischen nicht stattfinden.
Elisabeth Leiss findet aber die Antwort auf die Frage, warum es im Gotischen keine
sekundäre Imperfektivierung möglich ist. Sie erklärt es durch das „ausgeprägte
perfektive Potential von ga-“ (Leiss 2000, 122). Die sekundäre Imperfektivierung in den
slawischen Sprachen ist ihrer Meinung nach die Reaktion auf das allmähliche
Verschwinden des Aspektsystems. Sie postuliert dabei auch, dass der Aspekt in den
22
germanischen Sprachen im Verfall begriffen ist, doch infolge davon entsteht der
Artikel. Leiss ist der Meinung, dass neben dem hohen Grammatikalisierungsgrad des
ga- Präfixes es auch relevant ist, dass es „semantisch weit mehr entleert ist“ (Leiss
2000, 122). Sie postuliert auch, dass jedes Verb im Gotischen mit ga- präfigiert werden
kann und dass die Verbpaare Simplex und das ga-Kompositum als Aspektpaare
betrachtet werden können. Die ursprüngliche Bedeutung von ga- erscheint nach Leiss
nur dann, wenn das Simplexverb schon perfektiv ist. So ist es z.B. beim Verb haftjan –
ga-haftjan – ga-ga-haftjan. Ein schon perfektives Simplex, in diesem Fall ga-haftjan,
wird noch einmal mit dem Präfix ga- präfigiert. Infolge dessen bekommt das Präfix
seine ursprüngliche Bedeutung wieder. Diesen Prozess nennt sie „ein zuverlässig
prognostizierbarer Reinterpretationsprozess“ (Leiss 2000, 122) und schreibt den
anderen Präfixen wie z.B. us- und bi- die Rolle bei den Aktionsartdifferenzierungen zu.
Leiss betont die ‚Neutralität’ der ga- Präfigierung, die keine grammatische Reaktion
verursacht, wie es im Fall der Abhängigkeit der Bedeutung des Simplexverbs von der
Aktionsartmodifizierung ist und stellt die These ‚präfigierbar = perfektivierbar’ auf, d.h.
jedes im Gotischen präfigierbare Verb ist im Prinzip auch perfektivierbar.
Semantisch gesehen ist die Rolle von ga- nicht so stark entwickelt, wie der
Grammatikalisierungsgrad von diesem Präfix. Ukyo nennt neben der Perfektivierung
auch andere Funktionen von ga-, wie z.B. Verstärkung und Rhythmisierung (Ukyo
1977, 33). Die Funktion von der Verstärkung wird nach Ukyo in den Verneinungssätzen
realisiert, in denen die ga- Komposita keine Perfektivität zum Ausdruck bringen. Solche
Sätze sind z.B. ni galeiþai nih laistjaiþ ‚wo ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht
verlöscht’ (Ukyo 1977, 17f.). Von der „unterschiedliche[n] kategoriale[n] Attribution
der ga-Komposita“ schreibt auch Kotin (Kotin 2007, 39) und zählt neben der
Perfektivität/Resultativität, Inchoativität, Sukzessivität und Mutativität auf. Er bestätigt
aber auch die Funktion der Verstärkung bzw. Modifikation, die oft zusammen mit der
Perfektivierung auftritt: „Das Präfix ga- nimmt eine Sonderstellung ein, es tritt sowohl
als lexikalischer Verstärker bzw. Modifikator als auch als grammatisches Mittel der
Perfektivierung auf, nicht selten werden durch ga- beide Funktionen zugleich kodiert:
niman ‚nehmen’, ganiman ‚mitnehmen’, ‚bekommen’ [...] (Kotin 2012, 395). Der hohe
Grammatikalisierungsgrad von ga- und seine unbestrittene perfektivierende Funktion
lässt die ForscherInnen die Aspekttheorie postulieren. Nach Leiss war das
Aspektsystem im Gotischen „intakt“ (Leiss 2000, 128), aber entwickelte sich nicht,
23
sondern löste sich langsam auf, was im Resultat zur Entstehung und Entwicklung vom
Artikel geführt hatte.
Bilanz
Obwohl nur ein relativ geringes Textkorpus überliefert wurde, lässt sich eindeutig
feststellen, dass das Gotische über ein entwickeltes grammatisches System verfügte.
Einen besonderen Platz in diesem System haben die Suffixe und Präfixe eingenommen.
Die Suffixe erfüllten verschiedene grammatischen Funktionen, wie z.B. bei der
Steigerung der Adjektive oder die Ortsadverbiensuffixe, bei der Bildung der Abstrakta
oder des Präteritums schwacher Verben (Kotin 2012, 281). Doch das größte Interesse
stellt das Präfixsystem dar. Die gotischen Präfixe, die ihren Ursprung in den Adverbien
oder Präpositionen haben, treten frei als Präpositionen oder in den Zusammensetzungen
mit den Verben oder Nomina auf. Sie sind nicht so fest an das Verb angebunden und
stehen in Proklise (Ziegler 2010, 334). Viele der deutschen Präfixe zeigen eine
Verwandtschaft mit den gotischen auf, wie z.B. dt. ver-/vor- und got. faír-, faur-, fraoder dt. ent- und got. and(a)-, und-, int-. Das Basiskorpus bei der Untersuchung der
gotischen Präfixe war vor allem die wulfilanische Fassung der Bibel. Den gotischen
Präfixen wurden mehrere Funktionen zugeschrieben, wie z.B. Kodierung des Aspekts
oder der Aktionsart, Ausdruck der Soziativität oder eine Art Verstärkung der Aussage,
ein Mittel, mit dem man „einer Handlung besondere Bedeutung [...] verleihen“ kann
(Grill 2009, 52). Die Grundfrage der heftigen Diskussionen war vor allem die
Kodierung des Aspekts. Die Frage, ob das Gotische überhaupt über Aspekt verfügte,
war das Thema zahlreichen sprachwissenschaftlicher Publikationen. Aspektverdächtig
waren die ga-Komposita. Den Ausgangspunkt mehrerer Debatten bildet die Theorie von
Wilhelm Streitberg, der sich in seinen Untersuchungen auf den Vergleich der
germanischen Bildungen mit dem Präfix got. ga-, as. gi- mit „den slawischen
aspektualen Präfigierungen mit so, sЪ [...], die übrigens auch etymologisch verwandt
sind“ (Kotin 2012, 294) stützte. Streitberg berücksichtigte einerseits die ‚soziative
Bedeutung’ von ga-, andererseits postulierte er eindeutig seine perfektivierende
Funktion. Er war aber gegen die Theorie über verschiedene Benutzungsmöglichkeiten
von ga-. Seine Theorie hat ihre Befürworter und Gegner gefunden, die sie
weiterentwickeln oder widerlegen wollten. Der stärkste Widerspruch kam von Seiten
der Slawisten, die das Vorhandensein des Aspekts im Gotischen abgelehnt haben.
24
Maslov war der Ansicht, dass im Gotischen nur eine Art der Opposition vorhanden ist –
Terminativität/Aterminativität – wobei die Aspektkategorie (im Russischen) aus zwei
Arten
der
Opposition
besteht:
Terminativität/Aterminativität
und
Determiniertheit/Indeterminiertheit. Das Gotische verfügt nach der Leningrader Schule
nur über Aktionsarten. Leiss behauptet dagegen, dass nur solche Komposita
Aktionsarten sind, die keinen Aspektpartner haben, z.B. fra-qiman oder ana-meljan. Die
perfektivierende Funktion von ga- bleibt nach ihr unbestritten, doch sie betont dabei
den instabilen Zustand des gotischen grammatischen Systems, was die Entwicklung der
Kategorie des Artikels begründen kann. Neben der Aspektkodierung wird oft der
Einfluss von ga- auf die Semantik angesprochen. Vor allem wird die soziative Rolle
betont, wobei die etymologische Sicht und die Verwandtschaft des ga- mit dem
lateinischen co- berücksichtigt wurde. Dieses Präfix kann aber auch zu anderen
Modifikationen der Bedeutung führen, wie im Beispiel saiƕan – gasaiƕan. Tobler wies
auch auf andere Beispiele von Verben hin, die durch ga-mit dem Laufe der Zeit völlig
andere Bedeutung angenommen haben, wie z.B. gehören. Den gotischen Präfixen wird
aber auch ganz umgekehrt die „Leere“ zugeschrieben, d.h. sie haben keinen Einfluss
sowohl auf die Grammatik als auch auf die Semantik ausgeübt (z.B. kukjan – bikukjan). Andere befürworten einerseits die Theorie, dass ga- „semantisch weit mehr
entleert ist“ (Leiss 2000, 122), bestehen aber auf dem hohen Grammatikalisierungsgrad
dieses Präfixes. Das ga- kann die Perfektivierung oder die Verstärkung zum Ausdruck
bringen, oft kann es auch beide Funktionen zugleich kodieren (Kotin 2012, 395). Wann
also kodiert das ga- die Perfektivität und wann die Soziativität? Nach Leiss erscheint
die soziative Bedeutung nur dann, wenn das Simplexverb schon perfektiv ist. In allen
anderen Fällen wird die Perfektivität kodiert. Laut Ukyo (1977, 17f.) wird die
Perfektivität auch nicht in den Verneinungssätzen zum Ausdruck gebracht, wo die
Funktion von Verstärkung oder Rhythmisierung realisiert wird. Unter die Lupe wurden
also „unterschiedliche kategoriale Attribution[en] der ga- Komposita“ genommen, wie
Perfektivität/Resultativität, Inchoativität, Sukzessivität oder Mutativität (vgl. Kotin
2007, 39). Beim Vergleich des Einflusses von ga- auf die Grammatik und Semantik,
stellt man leicht fest, dass die semantische Rolle im Schatten der Grammatik bleibt,
denn der hohe Grammatikalisierungsgrad von ga- bleibt unbestritten. Wenn es sich um
die Frage des Aspekts handelt, wird das ga- mehrmals ein Marker der Perfektivität
genannt, und der ‚Aspektverdacht’ scheint bestätigt zu sein. Obwohl das Gotische über
ein Aspektsystem verfügte, das „intakt“ (Leiss 2000, 128), aber im Verfall begriffen ist,
25
ist der Prozess seiner langsamen Auflösung von großer Bedeutung für die
Sprachwissenschaft. Das Gotische erlaubt den ForscherInnen, den Prozess des Verfalls
der Aspektkategorie und später der Entwicklung des Artikels in einer germanischen
Sprache zu verfolgen.
26
4. Die Präverb-Ableitung im gotischen Verbalsystem und im gotischen Bibeltext:
eine empirische Analyse
Im folgenden Teil werden die im theoretischen Teil dargestellten Tatsachen mit
entsprechenden Beispielen aus dem Untesuchungskorpus (hier ist es der Text der
gotischen Bibel und ihr polnisches Äquivalent) konfrontiert. Auf Grund der Beispiele
werden die kategorialen Affinitäten und Konvergenzen zwischen Semantik und
Grammatik analysiert. Ein besonderer Platz wird hier auch der Suche nach den
Ähnlichkeiten bei der Kodierung der Aspektualität mit Hilfe von den Präfixen im
Gotischen und im Polnischen gewidmet.
Der hohe Grammatikalisierungsgrad der gotischen Präfixe bleibt unumstritten. Das
stark entwickelte Präfix- und Suffixsystem wurde zum beliebten Thema der
sprachwissenschaftlichen Dissertationen. Im Endeffekt der zahlreichen Untersuchungen
erschienen unterschiedliche Theorien. Einerseits wird der Einfluss der Präfixe sowohl
auf die Grammatik als auch auf die Semantik postuliert, andererseits aber schreibt man
ihnen ganz im Gegenteil die semantische „Leere“ zu (Leiss 2000, 122). Den gotischen
Präfixen, vor allem dem ga- Präfix, schreibt man unterschiedliche Funktionen zu. Das
Präfix gilt als Mittel der Perfektivierung, der Bedeutungsmodifikation, Mittel zum
Ausdruck der Soziativität u.a. In diesem Kapitel wird den einzelnen Theorien gefolgt,
wobei eine besondere Aufmerksamkeit dem Präfix ga- gewidmet wird.
Eine der ersten Funktionen, die dem ga- Präfix zugeschrieben wurde, war es, ein
Surrogat für die im Gotischen fehlenden Zeitstufenformen zu sein. Aus den
ursprünglich fünf indogermanischen Tempusformen – Imperfekt, Futur, Aorist, Präsens
und Perfekt (vgl. Förstemann 1869, 172) – kennt das Gotische nur Präsens und
Präteritum. Das Griechische kennt sechs Tempusformen: Präsens, Imperfekt, Aorist,
Futur, Plusquamperfekt und Perfekt. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass die
wulfilanische Fassung der Bibel nach dem griechischen Original entstanden ist, ist es
offensichtlich, dass die fehlenden Tempusformen mit Hilfe von entsprechenden Mitteln
ersetzt wurden. Das gotische Präsens bringt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die
Zukunft und zukünftig vergangene Handlung zum Ausdruck, deshalb ist es ein
Ersatzmittel für das griechische Futur:
bidei mik þisƕizuh þei wileis, jah giba þus (Mk. 6.22) - ‚Bitte von mir, was du
willst, ich will dir’s geben.’
27
giban - st.Verb, V. Ablautreihe; giba - 1. Pers. Sg. Aktiv Präsens Indikativ
aþþan atgaggand dagos þan afnimada at im sa bruþfaþs, jah þan fastand in
jainamma daga (Mk. 2. 20) - ‚Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam
von ihnen weggenommen sein wird, und dann, an jenem Tag, werden sie fasten.’
atgaggan - st. Verb, VII Ablautreihe (reduplizierende Verben); atgaggand - 3. Pers. Pl.
Aktiv Präsens Indikativ
afniman - st. Verb, IV Ablautreihe; afnimada - 3. Pers. Sg. Passiv Präsens Indikativ
fastan - sw. Verb, III Klasse an-Verben; fastand - 3. Pers. Pl. Aktiv Präsens Indikativ
Die Zukunftskodierung erfolgt auch mittels „Hilfszeitwörter“, die schon von Streitberg
erwähnt wurden, d.h. die Umschreibung mit der Konstruktion dugginan/ haban/ skulan/
munan + Inf., die aber selten vorkommen.
unte gaunon jah gretan duginnid (Lk. 6. 25) - ‚[...] denn ihr werdet klagen
und weinen’
þarei im ik, þaruh sa andahts meins wisan habaiþ (J. 12. 26) - ‚und wo ich
bin, da will mein Diener auch sein.’
(vgl. Ukyo 1977, 25)
Birnbaum (1974, 124f.) postuliert im Gegensatz zu Ukyo, dass es im Gotischen noch
eine Möglichkeit zum Ausdruck der Zukunft gibt, und zwar mittels der Konstruktion
wairþan + Partizip Präsens und führt folgendes Beispiel an:
jah stairnons himinis wairþand driusandeins (Mk. 13, 25) - ‚und die Sterne
werden vom Himmel herabfallen’
(vgl. Birnbaum 1974, 124)
Diese Umschreibung zeigt eine große Ähnlichkeit mit der polnischen Konstruktion
będzie bzw. będą + Inf.., wie z.B. im oben dargestellten Beispiel: gwiazdy będą padać z
nieba. Auch im Deutschen fungiert die Konstruktion werden + Inf. als ein
Ausdrucksmittel der Zukunft. Eine andere Art der Zukunftskodierung soll mit Hilfe von
den Präsensformen entsprechender Verben erfolgen, die von Streitberg „von Natur aus
perfektive Verben“ genannt wurden, wie z.B. niman, qiman, wairþan, giban.
28
a) giban
bidei mik þisƕizuh þei wileis, jah giba þus (Mk. 6, 22) - ‚Bitte von mir, was du
willst, ich will dir’s geben.’; giba - (giban) 1. Pers. Aktiv Präs. Indikativ
b) qiman
Qiþa auk izwis þatei nibai managizo wairþiþ izwaraizos garaihteins þau þize
bokarje jah Fareisaie, ni þau qimiþ in þiudangardjai himine (Mt. 5, 20) - ‚Denn
ich sage euch: Wenn nicht eure Gerechtigkeit vorzüglicher ist als die der
Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel
eingehen.’ qimiþ - (qiman) 2. Pers. Pl. Aktiv Präsens Indikativ
c) wairþan
[...], skula wairþiþ stauai (Mt. 5, 21) - ‚[...], der wird dem Gericht verfallen sein’;
wairþiþ - (wairþan) 3.Pers.Sg. Aktiv Präsens Indikativ
Nach Ukyo (1977, 20f.) werden auch die ga-Komposita zur Zukunftskodierung
verwendet. Seiner Meinung nach drücken die ga-Komposita im Präteritum oft den
griechischen Aorist aus, aber die ga-Komposita im Präsens kodieren die Zukunft. Diese
Theorie sollen seiner Meinung nach folgende Beispiele aus der Gotischen Bibel
bestätigen:
[...], jah in karkara galagjaza. (Mt. 5, 25) - ‚und du wirst ins Gefängnis
geworfen’;
ga-lagjan - (lagjan) sw. Verb, I Klasse; galagjaza - 2. Pers., Passiv Präsens
Indikativ
Am Beispiel des Textes aus dem Evangelium des Matthäus (Codex argenteus) Kap. V.
– VI. wurde eine Analyse durchgeführt, um das Auftreten der ga-Komposita als Mittel
der Zukunftskodierung zu untersuchen. In diesem Text treten 26 ga-Komposita auf:
viermal sind das Substantive: zweimal gaqumþim ‚Synagogen’, einmal garunsim
‚Straßen’ und garaihtans ‚Gerechten’; einmal erscheint ein Adjektiv (Komparativ,
Genitiv)
garaihteins
‚gerechter’.
unterschiedlichen Formen.
Die
anderen
Komposita
sind
Verben
in
Obwohl die Zukunft oft mittels Präsens der Simplizia
29
kodiert wird, erscheinen auch mehrere ga-Komposita, sowohl im Indikativ, als auch im
Optativ, die die Zukunft ausdrücken:
jah þande þata hawi haiþjos himma daga wisando jah gistradagis in auhn galagiþ
gþ swa wasjiþ, [...] (Mt. 6, 30) - ‚wenn aber Gott schon das Gras so prächtig
kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen ins Feuer geworfen wird [...]’
galagiþ - 3. Pers. Aktiv Präsens Indikativ
Am meisten aber erscheinen die ‚zukunftskodierenden’ ga-Komposita im Optativ:
jah ni allata leik þein gadriusai in gaiainnan. (Mt. 5, 29) - ‚als dass dein ganzer
Leib in die Hölle geworfen wird’; gadriusai - 3. Pers. Sg. Aktiv Präsens Optativ
ei ni gasaiƕaizau mannam fastands, [...] (Mt. 6, 18) - ,damit du von den Menschen
nicht als Fastender gesehen wirst; gasaiƕaizau - 2. Pers. Passiv Präsens Optativ
Wenn es um die ga-Komposita geht, die im Text im Präteritum stehen, kodieren sie –
wie die Simplizia auch - eindeutig die Vergangenheit:
ju gahorinoda izai in hairtin seinamma. (Mt. 5, 28) - ‚schon Ehebruch in seinem
Herzen begangen hat’; gahorinoda - 3. Pers. Sg. Aktiv Präteritum Indikativ
qiþuh þan izwis þatei nih Saulaumon in allamma wulþau seinamma gawasida sik
swe ains þize. (Mt. 6, 29) - ‚Ich sage euch, dass selbst nicht Salomon in all seiner
Herrlichkeit bekleidet war wie eine von diesen.’;
gawasida – 3. Pers. Sg. Aktiv Präteritum Indikativ
Andere Präfixe, die im oben genannten Ausschnitt aus dem Text des Evangeliums nach
Matthäus auftreten, sind: af- (zwölfmal), us- (elfmal), and- (zehnmal), fra- (siebenmal),
ana- (dreimal), at- (dreimal), an- (zweimal), in- und ufar- (einmal). Das gotische Präfix
us-, das hier auch oft verwendet wurde, kann die Aktionsart oder Bewegungsrichtung
ausdrücken, manchmal auch beides (vgl. Götti 1974, 134). Die Richtung, die hier
gemeint sein soll, ist die „senkrechte [...] zwischen oben und unten[...]“ (Diefenbach
1851, 171). Diese Bedeutung kann im Fall ‚ni usgaggis jainþro’ (Mt. 5, 26) ‚du kommst
von dort nicht heraus’ gemeint werden. In anderen Fällen kann es die
Aktionsartänderung sein.
30
1) ni qam gatairan, ak usfulljan (Mt. 5, 17) - ,ich kam nich um aufzuheben,
sondern um zu erfüllen’
2) und þatei usleiþiþ himins jah airþa, [...] (Mt. 5, 18) - ‚bis Himmel und Erde
vergehen, [...]’
3) unte usgibis þana minnistan kintu. (Mt. 5, 26) - ‚bis du den letzten Pfennig
bezahlst’
4) jah þamma wiljandin af þus leiƕan sis ni uswandjais. (Mt. 5, 42) - ‚und wer von
dir verborgen will, den weise nicht ab.’ (hier kann das Präfix sowohl die
Aktionsart, als auch die Bewegungsrichtung ausdrücken)
Das Präfix er-, das hier in der deutschen Übersetzung (1) auftritt, und seine Urform ussein konnte, wurde am produktivsten im Mittelhochdeutschen. Doch es kodiert in jeder
Form den Wechsel. Nach Barbara Stiebels (1996) hängt die Interpretation des Präfixes
vom Basisverb ab:
„Abhängig vom Basisverb erhält das Präfix eine unterschiedliche Interpretation:
Bei Basisverben, die kontinuierliche Prozesse oder längerfristig gültige Zustände
bezeichnen, denotiert das Präfix den Wechsel in diesen Prozess oder Zustand
(erblühen, erglühen); bei Basisverben, die nur punktuelle Ereignisse (erbeben,
erzittern) oder kurz andauernde Zustände ausdrücken (erschallen, erklingen), wird
nur ein kurzes, momentanes Auftreten des Ereignisses oder Zustandes durch das
Präfix angezeigt. [...]“ (Stiebels 1996, 73)
Das got. us-, ahd. ir- und mhd. er- ist also mit der Aktionsartänderung verbunden. Im
gegenwärtigen Deutschen ist die Präfigierung ein morphologischer Prozess, der den
Aktionsartwechsel ermöglicht. Der Wechsel kann aber auch auf die syntaktischen
Prozesse erfolgen (z. B. mittels Adverbien wie ‚mehrmals’, ‚oft’ u.a. oder Fügungen
wie ‚nach und nach’). Das Gotische hat nur eine Möglichkeit, die Aktionsart
auszudrücken - die Präfigierung. Götti nennt auch andere Beispiele, in denen das Präfix
die Aktionsart oder die Bewegungsrichtung bzw. beides kodiert: inngaggan, in dem sich
das Präfix auf die Bewegungsrichtung bezieht und das doppelt präfigierte innatgaggan,
in dem die beiden Funktionen erfüllt werden (vgl. Götti 1974, 134). Im oben erwähnten
Ausschnitt aus dem Evangelium treten auch die Verben insaiƕan ‚ansehen’ (Mt. 6, 26)
und atsaiƕan ‚zur Schau stellen’ (Mt. 6, 1) auf, bei denen das Präfix sich auf die
Richtung der Handlung bezieht. Nach Götti enthält das Simplex den Verlauf der
31
Handlung bzw. Bewegung (z.B. giban), und das Kompositum betont den Beginn oder
den Abschluss (usgiban – geben, bis man alles gibt). Der Ausdruck der Zukunft mittels
ga-Komposita im Gotischen wurde auch von Tobler postuliert. Er sprach sich für solche
Möglichkeit, dass ga- „als Verstärkung des Futurs“ fungiert (Grill 2009, 38). Rainer
Grill postulierte daneben noch, dass eine präsentische Form mit ga-, in diesem Fall war
es das Verb gasaiƕan, keine abgeschlossene Handlung, sondern eine „im Verlaufe“
(Grill 2009, 31) zum Ausdruck bringen kann.
Wenn es sich um das Präteritum handelt, bringt es die vergangene Handlung zum
Ausdruck, deshalb soll es das Perfekt, Plusquamperfekt und den Aorist ersetzen. Aorist
ist ein Vergangenheitstempus, das sich auf eine momentane Handlung bezieht. Wenn
man es in Betracht zieht, dass „die griechische Sprache [...] eine Vorliebe für den
Aorist“ hat (Ukyo 1977, 26), stellt man sich die Frage, auf welche Art und Weise er im
Gotischen wiedergegeben wird? Die Vergangenheit wird mittels Präteritums kodiert.
Außerdem erfolgt im Gotischen die Perfektivierung der Verben mit Hilfe vom Präfix
ga-. Aoristische Bedeutung wird entweder durch die Präterita oder durch ga-Komposita
im Präteritum zum Ausdruck gebracht. Das ga- hat aber ursprünglich eine andere,
soziative Bedeutung. Diese Soziativität besteht darin, dass man eine Handlung zum
Ausdruck bringt, die mit den anderen Menschen ‚zusammen’ gemacht wird, das
‚Zusammensein’, etwas ‚Gemeinsames’.
[Speyer] iþ jainai usgaggandans meridedun and allata miþ fraujin gawaurstwin
jah þata waurd tulgjandin þairh þos afargaggandeins taiknins. (Mk 16, 20) – ‚Jene
aber gingen aus und predigten überall, während der Herr mitwirkte und das Wort
durch die darauf folgenden Zeichen bestätigte.’; pln. ‚Oni zaś poszli i głosili
Ewangelię wszędzie, a Pan współdziałał z nimi i potwierdził naukę znakami, które
jej towarzyszyły.’
Nach Streitberg wird diese Bedeutung dann gemeint, wenn das Präfix ihre
perfektivierende Funktion nicht übernimmt. So ist es im Fall der ‚perfektiven
Simplizia’, wie z.B. des Verbs qiman:
jah suns gaqemun managai (Mk. 2, 2) - ‚und es versammelten sich viele’; pln.
‚zebrało się tyle ludzi,’
32
[CA] iftumin þan daga, saei ist afar paraskaiwein, gaqemun auhumistans gudjans
jah Fareisaieis du Peilatau (Mk 27, 62) – ‚Am nächsten Tag aber, der auf den
Rüsttag folgt, versammelten sich die Hohenpriester und die Pharisäer bei Pilatus’;
pln. ‚Nazajutrz, to znaczy po dniu Przygotowania, zebrali się arcykapłani i
faryzeusze u Piłata.’
oder des Verbs rinnan:
jah so baurgs alla garunnana was at daura (Mk. 1, 33) - ,und die ganze Stadt war
an die Tür versammelt’
Doch diese Bedeutung tritt seltener auf. Auf 121 ga-Komposita, die sich im Ausschnitt
aus dem Evangelium des Markus (Kapitel I. – V.) befinden, treten nur vier Fälle auf, die
sich auf das ‚Zusammensein’ beziehen; außer der zwei oben erwähnten Sätze, sind es
noch folgende Fälle:
1. [...] jah gaiddja sik managei, [...] (Mk. 3, 20) - ‚und wieder kommt eine
Menschenmenge zusammen’
2. [...] jah galesun sik du imma manageins filu, [...](Mk. 4, 1) - ‚und versammelte
sich eine große Volksmenge zu ihm’
Bei dem ersten Beispiel ist die Soziativität um so mehr betont, denn im vorgehenden
Teil des Satzes tritt auch das Verb gaggan (Prät. iddja) auf, diesmal aber mit dem Präfix
at-: Jah atiddjedun in gard, [...] – ‚und sie kamen in ein Haus’. Hier wird nicht das
‚Zusammensein’ ausgedrückt, sondern einfach die Handlung des Eingehens. Dabei
demonstriert das folgende Kompositum mit ga- die soziative Bedeutung.
Das ga- verliert seine soziative Bedeutung zugunsten der Perfektivierung. Der Ausdruck
der Soziativität mittels ga- tritt noch in den Texten auf, das Präfix wird aber eindeutig
öfter zum Perfektivierungsmittel. Diese Theorie postulierte vor allem Streitberg, indem
er schreibt, dass sich das „farblose partikel ga- [...] mit vorliebe mit dem participium
praeteriti“ verbindet (Streitberg 1891, 176). Die einfachen Verben werden nach seiner
Meinung dann perfektiv, wenn sie mit einem Präfix zusammengesetzt wurden. Die
Bedeutung solcher Zusammensetzung besteht aus drei Komponenten: 1. Bedeutung des
Simplex, 2. Bedeutung des Präfixes und 3. Änderung der Aktionsart. Diese
Zusammensetzung kann entweder die Perfektivierung oder die Modifikation der
33
Bedeutung vom Simplex verursachen. In dem oben erwähnten Ausschnitt aus dem
Evangelium nach Matthäus treten vier Formen des Verbs saiƕan auf: saiƕan,
gasaiƕan, atsaiƕan und insaiƕan: fünfmal saiƕan, zweimal gasaiƕan und einmal
atsaiƕan und insaiƕan. Das Verb tritt in allen Formen nur im Präsens auf. Die
präfigierten Formen mit at- und in- ändern nicht den Aspekt oder die Aktionsart.
Möglicherweise betonen sie hier die Bewegungsrichtung der Handlung. Saiƕan bleibt
eine durative Aktionsart auch mit den Präfixen in- und at-. Es ändert sich nur die
Richtung: insaiƕan ‚ansehen’ drückt aus, dass man an etwas sieht, beim Verb atsaiƕan
‚zur Schau stellen’ wird gemeint, dass man etwas exponiert, worauf die Handlung des
Sehens gerichtet wird. Beim Präfix ga- sieht die Situation anders aus. Obwohl ga- im
Text auch nur im Präsens steht, bezieht sich die Bedeutung des Kompositums auf eine
Handlung, die in der Zukunft vollendet wird bzw. sein soll:
ei gasaiƕaindau mannam fastands. (Mt. 6, 16) – ‚damit sie von den Menschen als
Fastende gesehen werden’
ei ni gasaiƕaizau mannam fastands, [...] (Mt. 6, 18) – ‚damit du von den
Menschen nicht als Fastender gesehen wirst’
Das Präfix ändert hier den Aspekt, indem eine unvollendete Handlung ‚sehen’
vollbracht wird: der fastende Mann wurde gesehen bzw. es wurde erblickt, dass er fastet
(aber in der Zukunft). Wenn man aber diese Ansicht mit der Auffassung über die
Zukunftskodierung mittels ga-Komposita vergleicht, entsteht die Frage, ob dieses Präfix
entweder eine oder beide Funktionen erfüllt. Die oben dargestellte These über die
Zukunftskodierung von Ukyo (vgl. Ukyo 1977) besagt, dass die ga-Komposita im
Präsens auch die Zukunft kodieren können. Meiner Meinung nach kodiert die Zukunft
das Simplex im Präsens, was eindeutig ein Mittel der Zukunftskodierung ist, wobei das
Präfix die Abgeschlossenheit der Handlung demonstriert, z.B.:
ik qimands gahailja ina. (Mt. 8, 7) – ‚Ich komme und ihn gesund mache.’
In diesem Satz wird die Zukunft durch die Präsensform des Simplexes, d.h. hailja zum
Ausdruck gebracht. Das Präfix aber kodiert die Abgeschlossenheit der Handlung, hier
ist es der Prozess des Heilens, der in der Zukunft stattfindet. Der Mann wird nicht mehr
krank sein – das ‚Krank-Sein’ kommt zu Ende und es beginnt die Phase vom ‚Gesund-
34
Sein’. Dasselbe erfolgt im Satz „þataniei galaubei, jah ganasjada“ (L. 8, 50) – ‚glaube
nur, so wird sie gesund’.
jah ni allata leik þein gadriusai in gaiainnan. (Mt. 5, 29) - ‚als dass dein ganzer
Leib in die Hölle geworfen wird’
In diesem Satz wird der Prozess des Werfens zum Ausdruck gebracht, doch es bezieht
sich auf die Vollendung dieses Prozesses – der Leib wurde geworfen. Die polnische
Übersetzung bestätigt diese These: ‚niż żeby całe Twoje ciało miało być wrzucone do
piekła’. Das Verb wrzucić ist ein perfektives Verb mit entsprechender Form des
Wurzelvokals –i-. Davon kann im Polnischen – durch sekundäre Imperfektivierung –
das durativ-imperfektive Verb wrzucać gebildet werden. Die resultative Aktionsart
deckt sich im Polnischen sehr oft mit dem perfektiven Aspekt. Dasselbe erscheint im
Beispiel:
jah mahteis þos in himinam gawagjanda (Mk. 13, 25) – ‚und die Kräfte in den
Himmeln werden erschüttert werden’ pln. ‚i moce na niebie zostaną
wstrząśnięte.’
Im Polnischen gibt es mehrere Präfixe, die den Wechsel der Aktionsart bewirken,
womit sehr oft der Wechsel des Aspekts verbunden ist: po-, z-/ za-, w-/ wy-, u-, prze-/
przy- u.a. Nach Grzegorz Jagodziński funktionieren im Polnischen achtzehn Präfixe, die
den Aspektwechsel verursachen können. In Anlehnung an das Wörterbuch von
Zygmunt Saloni (2007) hatte er eine Untersuchung durchgeführt, die folgende
Ergebnisse bringt: das Präfix z-(ze-/s-/ś-) bildet insgesamt 42% der Aspektpaare, mit
23% befindet sich das Präfix za- am zweiten Platz, das drittpopulärste Präfix ist wy- mit
11%. Die Bildung eines Kompositums mit einem der erwähnten Präfixe bedeutet aber
nicht gleichzeitig den automatischen Wechsel des Verbalaspekts. So ist es im Fall
chodzić – wchodzić, in dem das Verb immer wieder imperfektiv durativ bleibt. Der
Wechsel des Aspekts erfolgt im Polnischen nicht nur mittels Präfixe und Suffixe,
sondern auch im Folge des Stammwechsels (z.B. nazywać – nazwać) oder des
suppletiven Stamms (z.B. brać – wziąść, kłaść – położyć). Im gegenwärtigen Deutschen
treten solche Präfixe auf, wie z.B.: er-, ver-, zer-, ab-, an-, aus-, ent- usw. Aber im
Deutschen sind sie nur mit der Aktionsartänderung verbunden, „weil im Deutschen
35
keine grammatische Kategorie des Verbalaspekts vorhanden ist“ (Kotin 1998, 36). Das
Gotische, ähnlich wie das Polnische, verfügt aber über eine Aspektkategorie, in der die
erste Geige das Präfix ga- spielt. Deshalb bleibt die oben dargestellte Theorie
wahrscheinlich. In den gotischen Texten treten oft solche Komposita auf, in denen das
Simplex im Präsens steht und sich auf die Zukunft bezieht, aber das Präfix drückt die
Abgeschlossenheit der Handlung aus, die in der Zukunft stattfindet:
1) [...,] ibai aufto managizein saurgai gasiggqai sa swaleiks. ( 2. Kor 2, 6) – ‚auf
dass solch einer nicht in all zu große Traurigkeit versinke.’; pln. ‚aby nie popadł
ów człowiek w rozpaczliwy smutek’
2) ei ni gaaiginondau fram Satanin; [...] (2 Kor 2, 11) – ‚auf das wir nicht vom
Satan angeeignet werden’; pln. ‚abyśmy nie zostali przywłaszczeni przez szatana’
3) in þaimei gþ þis aiwis gablindida fraþja þize ungalaubjandane, [...] – ‚bei
welchen der Gott dieser Welt der Ungläubigen Sinn verblendet hat’; pln. ‚dla
niewiernych, których umysły zaślepił Bóg tego świata’
Im gegenwärtigen Deutschen ist es unmöglich, eine eindeutige Grenze zwischen der
Kategorie der Aktionsart und des Aspekts zu ziehen. Deshalb spricht man eher von der
Opposition durativ/resultativ. Obwohl das Deutsche über keine Kategorie des Aspekts
verfügt, kann man die ‚aspektuale Bedeutung’ (Kotin 1998, 39) zum Ausdruck bringen.
So z.B. demonstriert die Fügung sein + Partizip Perfekt (‚Zustandspassiv’) die
„aspektuale Bedeutung der Abgeschlossenheit (Merkmal ‚resultativ’)“ (Kotin 1998, 39).
Das Vorhandensein der Kategorie des Aspekts im Gotischen wurde aber von den
Slawisten negiert. Maslov stellt für das Gotische fest, dass es nur über eine Opposition
Terminativität/Aterminativität
und
keine
der
Determiniertheit/Indeterminiertheit
verfügt, die seiner Meinung nach ein der Grundelemente der Kategorie des Aspekts ist.
Im gegenwärtigen Deutschen fungiert der Artikel als Ausdrucksmittel der Kategorie
Determiniertheit/Indeterminiertheit. Unter dieser Kategorie versteht man „den Grad der
Informiertheit des Kommunikatiospartners“ (Gladrow 1998, 48). Im Russischen gibt es
keinen Artikel, deshalb verwendet man unterschiedliche Verben, die aber in der
Grammatik nicht als Aspektpaare gesehen werden: idti (D) – chodit’ (ID) ‚gehen’ (vgl.
Leiss 1992, 65). Das Gotische soll nach Maslov und anderen Slawisten auch über keine
solche Kategorie verfügen, sondern nur über die Opposition T/AT. Die terminativen
Verben charakterisieren sich durch eine Grenzbezogenheit – sie beinhalten eine Grenze
36
(Telos), die eine Weiterführung der Handlung unmöglich macht (z.B. sterben, finden).
Die aterminativen Verben haben diese Grenze nicht, deshalb kann die Handlung
weitergeführt
werden
(z.B.
suchen).
Nach
Hans
Schlegel
steht
die
Terminativität/Aterminativität im engen Zusammenhang mit dem Aspekt:
„Aspekt
und
Terminativität/Aterminativität
Zusammenhang:
Die
stehen
in
einem
Terminativität/Aterminativität
unlösbaren
beinhaltet
das
Vorhandensein/Fehlen des Merkmals der Handlungsgrenze in der Semantik des
Verbs
und/oder
seines
Kontextes,
der
Aspekt
drückt
das
Erreichtsein/Nichterreichtsein dieser Handlungsgrenze zum Bezugsmoment aus.“
(Schlegel 2002, 33)
Wenn also das Gotische über diese Kategorie verfügt, ist es wahrscheinlich, dass auch
die Kategorie des Aspekts vorhanden sein kann. Vielleicht ist diese Kategorie nicht so
stark wie im Russischen oder im Polnischen entwickelt, funktioniert aber und befindet
sich auf einem anderen Niveau.
„Im Russischen gibt es unbestreitbare morphologische Kriterien, die es erlauben,
ein Verb als imperfektiv zu erkennen (z.B. [...] die Möglichkeit, ein Präsenspartizip
oder ein Gerudium zu bilden); [...] in allen slawischen Sprachen hat normalerweise
die perfektive Präsensform im Hauptsatz nicht den Wert einer aktuellen
Gegenwart. Im Gotischen findet sich nichts dergleichen.“ (Feuillet1995, 126)
Im Polnischen kann im Fall eines perfektiven Verbs nach Aleksander Kiklewicz (2005,
17) die Feststellung der Abgeschlossenheit der Handlung zu der Zukunft gehören:
„[...] w przypadku czasownika dokonanego moment stwierdzenia osiągnięcia
rezultatu może należeć do przeszłości, do teraźniejszości lub też do przyszłości,
por.: wczoraj przyjechał, dziś (właśnie) przyjechał, dziś przyjedzie, jutro
przyjedzie“.
Deswegen kann vielleicht das ga-Kompositum im Präsens auch eine in der Zukunft
abgeschlossene Handlung demonstrieren, was also auf die Funktion von ga- hinweist,
ein Aspektualitätsmarker zu sein. Wenn man von der Definition des Aspekts ausgeht,
die besagt, dass er die Vollendung und Nicht-Vollendung der Handlung ausdrückt, d.h.,
37
dass er „die Betrachtungsweise des Ereignisses nach den Grundkategorien perfektiv (als
abgeschlossen gedachtes Ereignis) und imperfektiv (als nicht abgeschlossen gedachtes
Ereignis)“ (Hassler/Nais 2009, 1259) zum Ausdruck bringt, zieht man die
Schlussfolgerung, dass in dieser Hinsicht das Gotische diese Funktionen erfüllt.
Mehrere Sprachwissenschaftler haben die einzelnen Textstellen der gotischen Bibel
untersucht, um die Antwort auf die Frage zu finden, ob ga- mit der Aspektualität
verbunden ist. Eine der untersuchten Stellen ist der Ausschnitt aus dem Evangelium
nach Lukas:
qiþa auk izwis þatei managai praufeteis jah þiudanos wildedun saiƕan þatei jus
saiƕviþ jah ni gaseƕun, jah hausjan þatei jus [ga]hauseiþ jah ni hausidedun. (Lk.
10, 24) – ‚Ich sage euch, dass viele Propheten und Könige sehen wollten, was ihr
seht, aber nicht sahen, und hören (wollten), was ihr hört, aber nicht hörten.’
Man stellt unterschiedliche Übersetzungen dieser Stelle dar. Streitberg war der Ansicht,
dass diese Stelle eindeutig von Wulfila falsch übersetzt wurde, indem er im zweiten Teil
des Satzes keine Parallelität beibehalten hat. Der parallele Satzbau fordert, dass im
zweiten Teil statt hausidedun das präfigierte Verb gahausidedun stehen soll. Streitberg
beweist seine Ansicht mit anderen parallelen Sätzen: (Mk. 4,9) jah qaþ: saei habai
ausona hausjandona, gahausjai. Seiner Meinung nach ergibt diese Stelle in dieser Form
nicht den erwünschten Sinn. Er postuliert, dass folgende Übersetzung der dargestellten
Verse falsch ist: „Viele wünschten zu sehn, was ihr jetzt vor augen habt, gelangten aber
nicht zu diesem anblick.Sie wünschten zu hören, was ihr jetzt vernehmt, besassen aber
diese möglichkeit des hörens nicht“ (vgl. Streitberg 1889, 85). Die andere Hälfte soll
nach Streitberg folgend lauten: „Sie wünschten zu hören, was ihr die ganze Zeit über
hört, gelangten aber nicht dazu“ (Streitberg 1889, 85). Selbst der Satzbau fordert den
Ausdruck der Vollendung der Handlung, obwohl sie von den Propheten und Königen
nicht erreicht wurde. Das ga- drückt in diesem Satz eindeutig die Aspektualität aus. Die
polnische Fassung des Evangeliums bestätigt diese These:
„Bo powiadam wam: Wielu proroków i królów pragnęło ujrzeć to, co wy widzicie,
a nie ujrzeli, i usłyszeć to, co wy słyszycie, a nie usłyszeli.“
38
Im folgenden Text habe ich das u- Präfix mit dem Fettdruck geschrieben, um auf den
perfektivierenden Marker die Aufmerksamkeit zu richten. Wie in den früheren
Beispielen, perfektiviert auch hier das Präfix und bringt somit die Vollendung, das
Zustandebringen zum Ausdruck: von dem imperfektiven durativen Verb słyszeć wird
das perfektive resultative usłyszeć gebildet. Das perfektivierende Präfix u- tritt in den
beiden Hälften des Satzes auf, um die Erreichung des Ziels zum Ausdruck zu bringen.
Dieselbe Situation soll in der gotischen Fassung vorkommen. Deshalb bietet die
Streitbergsche Theorie von der Verderbtheit dieser Stelle eine logische und aller
Wahrscheinlichkeit nach richtige Antwort an. Sie bestätigt die oben dargestellte These,
dass das Gotische über eine Aspektkategorie verfügt, deren Marker das ga- Präfix ist.
Auch nach der Aspektdefinition von Leiss, die besagt, dass man vom Aspekt spricht,
wenn sich zwei Verben „einzig“ oder „mindestens primär“ mittels des Perfektivitätoder Imperfektivität-Merkmal voneinander unterscheiden lassen, verfügt das Gotische
über diese Kategorie. In diesem Fall soll das ga-Präfix die Rolle dieses
Unterscheidungs-Merkmals erfüllen. Reiner Grill postuliert dagegen in diesem Satz,
dass ga- kein Perfektivierungs- sondern ein Verstärkungsmittel ist. Seiner Meinung
nach war es Wulfilas Absicht „mit Hilfe des Präfixes einen bestimmten Sachverhalt
besonders hervor[zu]heben [...]“ (Grill 2009, 33). Der Autor wollte die Unfähigkeit zum
Sehen und Hören der Propheten und Könige betonen. Er postuliert auch die Rolle von
ga- an dieser Stelle bei der Rhythmisierung und bestätigt diese These mit der Tatsache,
dass die meisten Menschen damals nicht Lesende, sondern Zuhörende waren (vgl. Grill
2009, 34). Im Text der Gotischen Bibel findet man mehrere Beispiele, die die These
bestätigen, dass ga- die Abgeschlossenheit/Vollendung zum Ausdruck bringen. Eines
der einfachsten Beispiele tritt im Satz 31 im ersten Kapitel des Evangeliums nach Lukas
auf:
jah sai, ganimis in kilþein jah gabairis sunu jah haitais namo is Iesu. (Lk. 1, 31) –
‚und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm
seinen Namen Jesus nennen’; pln. ‚Oto poczniesz i porodzisz Syna, któremu
nadasz imię Jezus.’
Das Kompositum gabairan kommt vom Simplizium bairan, d.h. ‚tragen’. Die
Schwangerschaft bedeutet also ein Kind bis zum Geburt tragen. Im Polnischen
veranschaulicht es die Redewendung „donośić ciążę“, die sich auch auf das Verb
39
‚tragen’ bezieht, wobei auch ein perfektivierendes Präfix do- vorkommt. Deswegen
drückt
das
Verb
gabairan
die
Zielerreichung
aus,
d.h.
die
Vollendung/Abgeschlossenheit des Prozesses. Diese Bedeutung gibt sehr gut der
folgende Satz wieder: iþ Aileisabaiþ usfullnoda mel du bairan jah gabar sunu (Lk. 1,
57) ‚Für Elisabeth aber erfüllte sich die Zeit, dass sie gebären sollte, und sie gebar einen
Sohn.’ Andere Beispiele sind:
qino, þan bairiþ, saurga habaid, unte qam ƕeila izos; iþ biþe gabauran ist barn,
[...] (J 16, 21) – ‚Die Frau hat Traurigkeit, wenn sie gebiert, weil ihre Stunde
gekommen ist, wenn sie aber das Kind geboren hat, [...]; pln. ‚Kobieta, gdy rodzi,
doznaje smutku, bo przyszła jej godzina. Gdy jednak urodzi dziecię [...]’
Im Polnischen wird von dem durativen Verb rodzić ein resultativ-perfektives Verb
urodzić gebildet. Hier spielt wieder das perfektivierende Präfix u- die aspektbildende
Rolle.
Reiner
Grill
beharrt
aber
auf
seiner
These,
dass
ga-
eine
„Aufmerksamkeitspartikel ist“ (Grill 2009, 52). Seine These besagt, dass obwohl der
Geburtsakt „ein hervorragendes Ereignis im Leben von Frau ist“ (Grill 2009, 51),
Wulfila unsere Aufmerksamkeit auf den Geburt von Jesus und Johannes der Täufer
lenken wollte, die zwei wichtigen Personen in der Geschichte von Messias sind. Doch
das Verb gabairan kommt auch im Bezug auf andere Personen, die keine
‚entscheidenden Person’ in der christlichen Geschichte sind – es geht hier um einen
Bettler, der blind geboren war:
[CA] jah frehun ins qiþandans: sau ist sa sunus izwar þanei jus qiþiþ þatei blinds
gabaurans waurþi?[...] witum þatei sa ist sunus unsar, jah þatei blinds gabaurans
warþ (Joh 9, 20) – ‚Und sie fragten sie und sprachen: Ist dieser euer Sohn, von dem
ihr sagt, dass er blind geboren wurde? [...] Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist
und dass er blind geboren wurde.’; pln. ‚i wypytywali się ich w słowach: Czy
waszym synem jest ten, o którym twierdzicie, że się niewidomym urodził? […]
Wiemy, że to jest nasz syn i że się urodził niewidomy.’
Grill weist daneben noch auf eine andere Stelle aus dem ersten Brief an Timotheus hin,
die von einem ‚normalen’ Geburt spricht und deshalb wurde hier keine Präfigierung
verwendet:
40
wiljau nu juggos liugan, barna bairan, garda waldan [...] (T 5, 14) – ‚Ich will nun,
dass jüngere [Witwen] heiraten, Kinder gebären, den Haushalt führen’; pln. ‚Chcę
zatem żeby młodsze wychodziły za mąż, rodziły dzieci, były gospodyniami domu’
Die polnische Fassung zeigt aber, dass im Text ein duratives Verb rodzić anstatt ein
resultatives urodzić vorkommt. Eine spezielle Betonung ist auch nicht in anderen
Stellen nötig, wo eine präfigierte Form vorkommt, wie z.B.:
[CA] qin, þan bairiþ, saurga habaida, unte qam ƕeila izos; iþ biþe gabauran ist
barn, ni þanaseiþs ni gaman þizos aglons faura fahedai, unte gabaurans warþ
manna in faiƕau (joh 16, 21) – ‚Die Frau hat Traurigkeit, wenn sie gebiert, weil
ihre Stunde gekommen ist; wenn sie aber das Kind geboren hat, gedenkt sie nicht
mehr der Bedrängnis, um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt geboren
ist.’; pln. ‚Kobieta, gdy rodzi, doznaje smutku, bo przyszła jej godzina. Gdy jednak
urodzi dziecię, już nie pamięta o bólu z powodu radości, że się człowiek narodził
na świat.’
Die oben dargestellte Stelle zeigt eindeutig, dass sich das unpräfigierte Simplex auf eine
dauernde Handlung bezieht, wobei das präfigierte Kompositum die Vollendung
demonstriert. Das Simplex bairan entspricht in der polnischen Fassung dem durativen
Verb rodzić – der Prozess ist also im Gang. Das präfigierte Kompositum demonstriert
sowohl in der gotischen, als auch in der polnischen Fassung die Abgeschlossenheit, d.h.
das Kompositum gabairan entspricht dem polnischen resultativ-perfektiven Verb
urodzić. Grill postuliert aber immer wieder, dass auch in diesem Beispiel die
Präfigierung zur Betonung dient, hier soll es die Freude der Frau nach der Geburt
betonen. Die präfigierte Form tritt auch im andern Satz aus dem Evangelium nach
Johannes auf, in dem keine Freude oder auch ein anderes besonderes Gefühl zum
Ausdruck gebracht wird:
[...] weis us horinassau ni sijum gabaurnai, [...] (Joh 8, 41) – ‚Wir sind nicht
durch Hurerei geboren’; pln. ‚Myśmy się nie urodzili z nierządu.’
Auch in diesem Satz bringt das präfigierte Verb die abgeschlossene Handlung zum
Ausdruck. Im Polnischen verleiht man dem Verb immer eine Aspektfunktion. Das Verb
urodzić ist ein perfektives Verb und demonstriert Abgeschlossenheit. Ein perfektives
41
Verb kodiert entweder eine vergangene oder eine zukünftige Handlung – eine
gegenwärtige Form kommt nicht in Frage.
„Czasowniki dokonane oznaczają czynności przeszłe lub przyszłe, ale nie
teraźniejsze – czynność właśnie odbywająca się nie może być już zakończona,
więc nie może być wyrażona czasownikiem dokonanym” (Grzegorz Jagodziński
Gramatyka języka polskiego)
So ist es im Fall vom Verb urodzić; man kann nur eine vergangene (z.B. urodził) oder
eine zukünftige Form (z.B. urodzi) bilden. Beide Formen sind auch mit dem u-Präfix
präfigiert. Wenn man annimmt, dass das Gotische auch über ein Aspektsystem verfügt,
das nach mindestens ähnlichen Regeln geschaffen wurde, kommt man zum Schluss,
dass die mit ga- präfigierte Form auch die Abgeschlossenheit kodiert. Diese Ansicht
bestätigen auch mehrere Beispiele aus der Gotischen Bibel:
[CA] [...] rabbei, ƕas frawaurhta, sau þau fadrein is, ei blinds gabaurans warþ
(Joh 9, 2) – ‚Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind
geboren wurde?’; pln. ‚Rabbi, kto zgrzeszył, on czy jego rodzice, że się urodził
niewidomym?’
[CA] […] in frawaurhtim þu gbaurans warst alls jah þu laiseis unsis? (Joh 9, 34)
– ‚Du bist ganz in Sünden geboren, und du lehrst uns?’; pln. ‚Cały urodziłeś sie w
grzechach, a śmiesz nas pouczać?’
[B] akei þan sa us þiujai bi leika gabaurans was, iþ sa us frijai bi gahaita; (Gal 4,
23) – ‚aber der von Magd war nach dem Fleisch geboren, der von der Freien
jedoch durch die Verheißung’; pln. ‚lecz ten z niewolnicy urodził się tylko według
ciała, ten zaś z wolnej – na skutek obietnicy’.
Die perfektive Bedeutung kann sich sowohl auf das Ergebnis als auch auf den Beginn
der Handlung beziehen, wie im Verb saiƕan: jah gasaiƕviþ all leike nasein gudis (Lk.
3, 6) – ‚und alles Fleisch wird das Heil Gottes sehen’; pln. ‚I wszyscy ludzie ujrzą
zbawienie“, oder beim Verb bairhtjan: gabairhtjan þaim in riqiza jah skadau dauþus
sitandam, […] (Lk. 1, 79) – ‚um denen zu leuchten,die in Finsternis und Todesschatten
sitzen’; pln. ‚by zajaśnieć tym, co w mroku i cieniu śmierci mieszkają’. Die
42
Sprachwissenschaftler widmen oft ihre Aufmerksamkeit den Verben saiƕan und
hausjan (Streitberg, Pollak, Recha, Mirowicz, Bernhardt, Lloyd u.a.). Grill weist dabei
darauf hin, dass die präfigierten Verben deutlich öfter vorkommen als die unpräfigierten
Simplizia: „(hausjan 25mal, gahausjan 43mal, saiƕan zehnmal, gasaiƕan 59mal) [in
ca. 420 Versen]“ (Grill 2009, 31). Eines der Beispiele, die Reiner Grill in seiner Arbeit
erwähnt, ist der folgende Vers:
Leitil nauh jah ni saiƕiþ mik; jah aftra leitil jah gasaiƕiþ mik, unte ik gagga du
attin (J 16, 16) – ‚Eine kleine Weile, und ihr seht mich nicht, und wieder eine
kleine Weile, und ihr werdet mich sehen’; pln. ‚Jeszcze chwila, a nie będziecie
mnie widzieć, i znów chwila, a ujrzycie Mnie.’
Der dargestellte Satz wird von den Sprachwissenschaftlern unterschiedlich verstanden.
Eine der Thesen besagt, dass ga- wieder eine Rolle bei der Zukunftskodierung spielt. In
dieser Gruppe der Sprachwissenschaftler befinden sich u.a. Schleicher und Tobler. Für
Schleicher ist es ein Beispiel, das die Funktion von ga- als „Produzent von
Futurformen“ (Grill 2009, 38) veranschaulicht. Tobler postuliert eine ähnliche These,
die besagt, dass ga- zur Verstärkung des Futurs dient. Streitberg stellte seine
Übersetzung dar, in der er die Vollendung darstellt: „Über ein kleines und ihr seid
meines anblickes beraubt, und wieder über ein kleines und ihr gelangt wider zu meinem
anblick“ (Streitberg 1891, 84). In seiner Fassung bezeichnet das präfigierte Verb die
abgeschlossene Handlung, die Zielerreichung – gasaiƕan ‚zum Anblick gelangen’. Er
konzentriert sich aber auf der Opposition Präsens-Futur und Simplex-Compositum:
„Die beiden letzten stellen [J 16,16. 17. 19] sind durch das gegenüberstehen von
praesens-futur auf der einen, simplex-compositum auf der andern charakteristisch.“
(Streitberg 1891, 129). Für Grill ist diese Erklärung sinnlos, weil die beiden Formen –
saiƕan und gasaiƕan in der Zukunft stattfinden. Deswegen sollen seiner Meinung nach
die beiden Formen präfigiert werden. Der dargestellte Satz bestätigt aber eindeutig die
oben dargestellte These, dass ga- die Abgeschlossenheit kodiert. Man bediene sich hier
wieder der polnischen Fassung, die diesen Prozess genau widerspiegelt. In der ersten
Hälfte steht das durativ-imperfektive Verb widzieć, wobei in der zweiten Hälfte das
resultativ-perfektive ujrzeć vorkommt. Meiner Meinung nach sollte auch in der
deutschen Fassung lieber statt „ihr werdet mich sehen“ die Wendung „ihr werdet mich
erblicken“ stehen, die besser den momentanen Charakter der Abgeschlossenheit
43
wiedergibt. Grill beharrt immer wieder bei seiner Ansicht, dass ga- zur Verstärkung
bzw. Betonung entsprechender Informationen dient:
„Deutlich ist aber, dass das erste „Sehen“ (oder besser gesagt „Nichtsehen“) aus
der Sicht des Wulfila (und natürlich auch des Evangelisten Johannes) nicht das
wichtige Ereignis darstellt, sondern das zweite Sehen: Jesus wird wieder
auferstehen (die eigentliche frohe Botschaft des Christentums, weil „Tod“ und
„Sünde“ endgültig dadurch besiegt werden und klar wird, dass Jesus der Messias
ist) und darum betont Wulfila das zweite Sehen mit dem Präfix.“ (Grill 2009, 39f.)
Seine Interpretation der dargestellten Stelle geht für mich zu weit und lässt sich nicht in
allen Stellen, wo das ga-Präfix vorkommt, einsetzen. So ist es z.B. beim Satz
jah gadrobnoda Zakarias gasaiƕands, jah agis disdraus ina. (Lk 1, 12) – ‚Und als
Zacharias [ihn] sah, wurde er bestürzt, und Furcht kam über ihn.’; pln. ‚Przeraził
się na ten widok Zachariasz i strach padł na niego’.
In diesem Satz wurde auch das präfigierte Verb verwendet, obwohl es sich hier das
„Sehen“ auf keine besondere Ereignis bezieht. Das Kompositum demonstriert die
Zielerreichung, die „effectuation of perception“ (Josephson 1976, 164), d.h. das
Erblicken des Engels, deshalb spricht man hier von keiner Verstärkung bzw. Betonung.
Grill aber weist auf eine Stelle in der Bibel, wo auch die Abgeschlossenheit
demonstriert wird, diesmal aber nicht mittels ga-Komposita. Dieses Beispiel soll seiner
Meinung nach gegen die Streitbergsche Ansicht über die Perfektivierungsfunktion von
ga- sprechen:
ei saiƕandans saiƕaina jah ni gaumjaina, jah hausjandans hausjaina jah ni
fraþjaina ibai ƕan gawandjaina sik jah afletaindau im frawaurhteis. (Mk 4, 12) –
‚damit sie sehend sehen und nicht wahrnehmen und hörend hören und nicht
verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.’; pln.
‚aby patrzyli oczami, a nie widzieli, słuchali uszami, a nie rozumieli, żeby się nie
nawrócili i nie była im wydana [tajemnica].’
Grill postuliert, dass nach Streitbergscher These in den beiden Hälften eine präfigierte
Form stehen soll. Wulfila hat aber andere Verben verwendet, „die daher eine eigene
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Bedeutung des Sehens und Hörens nicht notwendig machen, wie dies in L 8,10
geschieht“ (Grill 2009, 36). In Anlehnung an die polnische Fassung bin ich der
Meinung, dass hier keine Vollendung zum Ausdruck gebracht wurde. Die Wendung
„aby patrzyli oczami, a nie widzieli“ beschreibt den Prozess des Sehens, der aber mit
keinem ‚Aufnahmeakt’ beendet wurde. Der Sehende hat das Gesuchte nicht erblickt,
deswegen steht in der polnischen Fassung das durative Verb ‚widzieć’ und nicht ein
resultatives ‚ujrzeć’. Dieselbe Situation findet in der folgenden Wendung „słuchali
uszami, a nie rozumieli“ statt. Der Hörende hat das Erwartete nicht vernommen – man
hat hier mit keinem Zustandswandel zu tun. Man muss auch unter Acht nehmen, dass
die Verben gaumjan und fraþjan als schon perfektive Simplizia vorkommen, was die
These von Streitberg über Verben, die von Natur aus perfektive Bedeutung haben,
bestätigt. Deshalb auch kommen die Formen ga-gaumjan oder ga-fraþjan nicht vor. Sie
demonstrieren auch andere Bedeutungen als nur hören und sehen. Gaumjan bedeutet
soviel wie bemerken, erscheinen und fraþjan soviel wie denken, erkennen, verstehen.
Um diese Ansicht zu bestätigen führe ich hier andere Stellen aus der gotischen Bibel, in
denen die Verben gaumjan und fraþjan vorkommen.
1) aþþan ƕa gaumeis gramsta in augin broþrs þeinis, iþanza in þeinamma augin
ni gaumeis? (Lk 6, 41) – ‚Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders
Auge ist, den Balken aber, der in deinem eigenen Auge ist, nimmst du nicht
wahr?’; pln. ‚Czemu to widzisz drzazgę w oku swego brata, a belki we własnym
oku nie dostrzegasz?’
2) aiþþau ƕaiwa magt qiþan du broþr þeinamma: broþar let, ik uswairþa gramsta
þamma in augin þeinamma, silba in augin þeinamma anza ni gaumjands? liuta,
uswairþ faurþis þamma anza us augin þeinamma, jah þan gaumjais uswairþan
gramsta þamma in augin broþrs þeinis. (Lk 6, 42) - ,Oder wie kannst du zu deinem
Bruder sagen: Bruder, erlaube, ich will den Splitter herausziehen, der in deinem
Auge ist, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Heuchler,
ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den
Splitter herauszuziehen, der in deines Bruders Auge ist.’; pln. ‚Jak możesz mówić
swemu bratu: „Bracie, pozwól, że usunę drzazgę, która jest w twoim oku“, gdy
sam belki w swoim oku nie dostrzegasz? Obłudniku, wyrzuć najpierw belkę ze
swego oka, a wtedy przejrzysz, ażeby usunąć drzazgę z oka swego brata.’
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3) gablindida ize augona jah gadaubida ize hairtona, ei ni gaumidedeina augam
jaf froþeina hairtin jah gawandidedeina jah ganasidedjau ins. (Joh 12, 40) – ‚Er
hat ihre Augen verblendet, dass sie nicht mit den Augen sehen und mit dem
Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.’; pln. ‚Zaślepił ich oczy i
twardym uczynił ich serce, żeby nie zobaczyli oczami oraz nie poznali sercem i
nie nawrócili się, ażebym ich uzdrowił.’
In diesen Versen wurde kein Wechsel in dem Prozess des Sehens oder Hörens
dargestellt. Streitberg bezeichnete die Form der beiden Verben in seinem GotischGriechisch-Deutschen Wörterbuch als perfektive Simplizia. Deswegen können diese
Verben auch eine abgeschlossene Handlung ohne ga-Präfigierung bezeichnen.
þaruh ushof augona Iesus jah gaumida þammei manageins filu iddja du imma, [...]
(Joh 6, 5) – ‚Als nun Jesus die Augen aufhob und sah, dass eine große Volksmenge
zu ihm kommt, [...]’; pln. ‚Kiedy więc Jezus podniósł oczy i ujrzał, że liczne tłumy
schodzą do Niego, [...]’
jah insaiƕandeins gaumidedun þammei afwalwiþs ist sa stains, was auk mikils
abraba. (Joh 16, 4) – ‘Und als sie aufblickten, sehen sie, dass der Stein
zurückgewälzt ist, er war nämlich sehr groß.’; pln. ‚Gdy jednak spojrzały,
zauważyły, że kamień był już odsunięty, a był bardzo duży.’
[CA] jah gaumjands Fareisaieis qeþun du þaim siponjan is: [...] (Mt 9, 11) – ‘Und
als die Pharisäer es sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern’; pln. ‚Widząc to,
faryzeusze mówili do Jego uczniów’
Das häufige Vorkommen der Komposita gahausjan und gasaiƕan hat dazu geführt,
dass sie die beliebten Untersuchungsobjekte sind. In den Kapiteln 7-27 des
Evangeliums nach Matthäus habe ich zwölfmal präfigierte Formen von saiƕan und
fünfmal von hausjan gefunden. Wenn es sich um das Kompositum gasaiƕan handelt,
kodiert es in jedem Fall die Abgeschlossenheit/ Vollendung, d.h. den Aufnahmeakt.
Dieselbe Situation kommt beim Kompositum vom Verb hausjan.
[CA] iþ hundafaþs jah þai miþ imma witandans Iesua, gasaiƕandans þo reiron
jah þo waurþanona, [...] wesun þan jainar qinons managos fairraþro saiƕandeins,
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[...] (Mt 27, 54-55) – ‚Als aber der Hauptmann und die, die mit ihm Jesus
bewachten, das Erdbeben sahen und das, was geschah, [...]. Es sahen aber dort
viele Frauen von fern zu’; pln. ‚Setnik zaś i jego ludzie, którzy odbywali straż przy
Jezusie, widząc trzęsienie ziemi i to, co się działo, [...]. Było tam również wiele
niewiast, które przypatrywały się z daleka.’
Die oben dargestellte Verse demonstrieren eindeutig den Unterschied zwischen dem
unpräfigierten Verb und seinem ga-Kompositum. Im ersten Satz wurde das perfektive
Verb gasaiƕan verwendet, das sich auf den Aufnahmeakt bezieht. Die anwesenden
Menschen haben das Erdbeben gefühlt bzw. aufgenommen, d.h. man hat hier mit dem
Resultat/Ergebnis zu tun. In dem zweiten Satz wurde das unpräfigierte saiƕan
verwendet, um eine durative Handlung zum Ausdruck zu bringen. So ist es auch in der
polnischen Fassung, in der hier ein duratives Verb przypatrywać się auftritt. Das
Verbpaar saiƕan/gasaiƕan kommt sehr oft vor, bei dem die perfektivierende Funktion
von ga- am meisten eindeutig bleibt. Es kommen aber auch andere Verbpaare vor, die
auf den ersten Blick komplizierter sind. Der Vergleich mit den anderen Fassungen (hier
mit der polnischen) bietet nicht immer eine Erklärung an. Eine solcher Stellen befindet
sich im Evangelium nach Matthäus:
[CA] swa all bagme godaize akrana goda gataujiþ, iþ sa ubila bagms akrana ubila
gataujiþ. ni mag bagms þiuþeigs akrana ubila gataujan, nih bagms ubils akrana
þiuþeiga gataujan. all bagme ni taujandane akran god usmaitada jah in fon
atlagjada. (Mt 7, 17-19) – ‚So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule
Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte
bringen, noch ein fauler Baum gute Früchte. Jeder Baum, der nicht gute Frucht
bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen’; pln. ‚Tak każde dobre drzewo
wydaje dobre owoce, a złe drzewo wydaje złe owoce. Nie może dobre drzewo
wydać złych owoców ani złe drzewo wydać dobrych owoców. Każde drzewo,
które nie wydaje dobrego owocu, będzie wycięte i w ogień wrzucone.’
In diesem Fall bringt ein Vergleich mit der deutschen Fassung keine Erklärung, weil in
jedem Satz dasselbe Verb verwendet wurde. Aber des Deutsche verfügt über keine
Aspektkategorie, deshalb wenn das Gotisch über solch eine Kategorie verfügt, ist dieser
Ergebnis selbstverständlich. Ein Vergleich mit der polnischen Fassung gibt aber auch
keine eindeutige Antwort auf die Frage, warum in dem letzten Satz eine unpräfigierte
47
Form steht. In der polnischen Fassung steht im ersten und im letzten Satz die Form
‚wydaje’, die eine durative Handlung kodiert. Man muss aber auch den zweiten Satz
unter die Lupe nehmen. Hier wurde die Konstruktion ‚może wydać’ verwendet. Im
Polnischen funktionieren zwei ähnliche Verben: wydać und wydawać. Das erste Verb
beschreibt eine einmalige Handlung und ist eine perfektive Form vom Verb wydawać
(vgl. Markowski 1999, 1197), d.h. dass es die Abgeschlossenheit kodieren kann. Das
Verb wydawać kodiert eine durative Handlung, die auch mehrmals stattfinden kann.
Diese Tatsache erklärt, warum im zweiten Satz statt „może wydawać“ eine perfektive
Form „może wydać“ steht. In diesem Hinsicht stimmen die beiden Fassungen
miteinander überein. Die Frage bleibt aber offen bei dem dritten Satz. Die Antwort
bringt hier die Grammatik. In der gotischen Fassung steht ein Partizip Präsens, das auf
keine Abgeschlossenheit hinweist, sondern auf einen Prozess, der in diesem Moment im
Verlauf ist.
„Bei attributivem Gebrauch reduziert sich die temporale Semantik des Partizips
Präsens oft noch weiter auf eine eher aspektuelle, und zwar progressive Bedeutung
(‚im Verlauf befindlich’), die gelegentlich auch über Gleichzeitigkeit mit dem
Hauptverb hinaus reichen und in die Richtung auf ‚Allgemeingültigkeit’ gehen
kann – ganz ähnlich, wie ja auch das Präsens selbst Allgemeingültigkeit
ausdrücken kann [...].“ (Hentschel/Vogel 2009, 277)
Im dritten Satz wird also der laufende Prozess gemeint, was die Verwendung einer
präfigierten Form unmöglich macht. Im ersten Satz handelt es sich dagegen um das
Ergebnis, d.h. um eine resultative Handlung. Ähnliche Stellen befinden sich auch im
Evangelium
nach
Johannes.
Dort
betrifft
die
Unklarheit
des
Verbpaares
saiƕan/gasaiƕan:
[CA] Abraham atta izwar sifaida ei gaseƕvi dag meinana, jah gasaƕ jah
faginoda. þanuh qeþun þai Iudaieis du imma: fimf tiguns jere nauh ni habais jah
Abraham saƕt? (Joh 8, 56-57) – ‚Abraham, euer Vater, frohlockte, dass er meinen
Tag sehen sollte, und er sah [ihn] und freute sich. Da sprachen die Juden zu ihm:
Du bist noch nich fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen?’; pln. ‚Abraham,
ojciec wasz, rozradował się z tego, że ujrzał mój dzień – ujrzał [go] i ucieszył się.
Na to rzekli do Niego Żydzi: Pięćdziesięciu lat jeszcze nie masz, a Abrahama
widziałeś?’
48
Die ersten zwei präfigierten Formen kodieren eindeutig die Abgeschlossenheit, die
sowohl im Gotischen als auch im Polnischen klar ausgedrückt wurden. Die dritte
unpräfigierte Form soll aus dieser Hinsicht den imperfektiven Aspekt kodieren. Die
polnische Fassung bietet eine Form, die auch als Form mit perfektiver Bedeutung
verstanden sein kann. Das Deutsche unterscheidet hier die Formen nicht. Im Polnischen
wurden zwei unterschiedliche Verben verwendet: ujrzeć und widzieć. Das Verb ujrzeć
ist ein perfektives Verb und kodiert eindeutig die Abgeschlossenheit. Im letzten Satz
bleibt die Frage offen, ob das Sehen von Abraham das einmalige momentane Ereignis
oder eine länger dauernde oder eine mehrmals in der Zukunft stattgefundene Situation
kodiert. Im Polnischen kann man in der gesprochenen Sprache z.B. den resultativen
Charakter des Sehens, d.h. den Aufnahmeakt, als auch den imperfektiven ausdrücken:
Widziałem jak wychodził. – kodiert das Resultat, d.h., der Sprecher hatte diese Person
bemerkt, als sie ausgegangen war. Codziennie widziałem, jak wychodzi i spaceruje po
parku. – hier hat man mit einer sich wiederholenden Situation zu tun, wobei auch keine
Information über Beginn bzw. Ende angegeben wird. In dieser Hinsicht wird auch oft
im Polnischen das Verb widywać verwendet, das den inchoativen Charakter zum
Ausdruck bringt. Das Verb widzieć bleibt aus der rein grammatischen Sicht ein
imperfektives
Verb und fungiert als Aspektpaar mit dem Verb zobaczyć (vgl. Jagodziński http://grzeg
orj.w.interia.pl/gram/pl/czasy00.html - gesehen am 03.04.2013). Es kann auch im
Gegensatz zum Verb ujrzeć eine gegenwärtige Form bilden. Auch in diesem Beispiel
deckt sich die Aspektkodierung im Gotischen mit der Kodierung im Polnischen. Es
kommen aber auch Stellen vor, wo das Verb gasaiƕan als widzieć übersetzt wurde:
[Speyer] [...], unte þaim gasaiƕandam ina urrisanana, ni galaubidedun. (Mk 16,
14) – ‚dass sie denen, die ihn auferweckt gesehen, nicht geglaubt hatten’; pln. ‚że
nie wierzyli tym, którzy widzieli Go zmartwychwstałym.’
[CA] jah eis hausjandans þatei libaiþ jah gasaiƕans warþ fram izai, ni
galaubidedun. (Mk 16, 11) – ‚Und als jene hörten, dass er lebe und von ihr
gesehen worden sei, glaubten sie nicht.’; pln. ‚Ci jednak słysząc, że żyje i że ona
Go widziała, nie chcieli wierzyć.’
49
[CA] sa Xristus, sa þiudans Israelis, atsteigadau nu af þamma galgin, ei
gasaiƕaima jah galaubjaima, […] (Mk 15, 32) – ‚Der Christus, der König Israels,
steige jetzt herab vom Kreuz, damit wir sehen und glauben!’; pln. ‚Mesjasz, król
Izraela, niechże teraz zejdzie z krzyża, żebyśmy widzieli i uwierzyli.’
Obwohl das Verb widzieć aus der grammatischen Sicht ein imperfektives Verb ist,
demonstriert es hier die abgeschlossene Handlung. Im ersten und im zweiten Beispiel
wollte man das Ergebnis zum Ausdruck bringen, d.h., dass der auferstandene Christus
gesehen wurde. Im dritten Satz wollen die Sprecher ein Wunder mit eigenen Augen
sehen, d.h., wie Christus von dem Kreuz heruntersteigt. Es handelt sich hier also um das
Resultat, um den Aufnahmeakt. Die Sprecher wollen Zeugen des Wunders sein, das
Erwünschte erblicken. Deswegen bin ich der Meinung, dass hier in der polnischen
Fassung eher das Verb zobaczyć stehen sollte, dass die Abgeschlossenheit der Handlung
in der Zukunft besser zum Ausdruck bringen würde, wie es z.B. im folgenden Satz
steht:
[CA] iþ Iesus gasaiƕands ize liutein gaþ du im: ƕa mik fraisiþ? atbairiþ mis skatt,
ei gasaiƕau. (Mk 12, 15) – ‚Da er aber ihre Heuchelei kannte, sprach er zu ihnen:
Was versucht ihr? Bringt mir einen Denar, damit ich ihn sehe.’; pln. ‚Lecz on
poznał ich obłudę i rzekł do nich: <<Czemu Mnie wystawiacie na próbę?
Przynieście Mi denara, chcę zobaczyć.’
Im Kapitel 15 des Evangeliums nach Markus findet man auch solche Sätze, in denen
das unpräfigierte Verb saiƕan als perfektives zobaczyć übersetzt wurde.
[CA] þragjands þan ains jah gafulljands swam akeitis, galagjands ana raus,
dragkida ina qiþands: let, ei saiƕam qimaiu Helias athafjan ina. (Mk 15, 36) –
‚Einer aber lief, füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, tränkte
ihn und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, ihn herabzunehmen!’; pln.
‚Ktoś pobiegł i napełniwszy gąbkę octem, włożył na trzcinę i dawał Mu pić,
mówiąc: Poczekajcie, zobaczymy, czy przyjdzie Eliasz, żeby Go zdjąć [z krzyża].’
In diesem Satz wollte der Autor eher das Sehen und Beobachten unter dem Kreuz
betonen. Es handelt sich hier also um den durativen, nicht resultativen Prozess des
Sehens, besser gesagt, es geht um das Schauen, das eindeutig eine imperfektive
50
Handlung kodiert. Warum steht im Polnischen also ein resultatives Verb zobaczmy? Der
Übersetzer wollte wahrscheinlich das erwartete Ergebnis des Sehens betonen, d.h., den
eigentlichen Aufnahmeakt. Die Zeugen des Leidens Christi wollten das Wunder sehen,
das aber nicht stattgefunden hat. Die gotische Fassung spricht aber von dem durativen
imperfektiven Sehen. Um das durative Sehen im Polnischen auszudrücken, verwendet
man vor allem das Verb patrzeć, das in diesem Satz stilistisch nicht passt. In diesem
Beispiel wurden auch zwei andere ga-Komposita dargestellt: gafulljan und galagjan.
Auch in diesem Fall stellt man eindeutig fest, dass das ga-Präfix als Aspektmarker
fungiert. Beide Komposita wurden von den imperfektiven Simplizia gebildet und
kodieren die Abgeschlossenheit der Handlung. Obwohl das Deutsche diese Vollendung
nur semantisch ausdrücken kann, findet man die Übereinstimmung zwischen der
gotischen und der polnischen Fassung, wo die Aspektkategorie eindeutig kodiert wird.
Die gotischen ga-Komposita wurden im Polnischen als perfektive Verben übersetzt:
gafulljan ‚napełnić’ und galagjan ‚włożyć’. Die dargestellten Formen demonstrieren
eindeutig einmalige Handlungen, die das Resultat der Handlung zum Ausdruck bringen:
fulljan - gafulljan ‚napełniać - napełnić’; lagjan - galagjan ‚wkładać - włożyć’. Obwohl
die Komposita gahausjan und gasaiƕan am häufigsten untersucht wurden (wegen ihrer
hohen Frequenz), kann man die perfektivierende Funktion von ga- am Beispiel von
vielen anderen Komposita bestätigen, die im Textkorpus vorkommen.
[CA] gabairhtida þeinata namo mannam þanzei atgaft mis us þamma fairƕau
þeinai wesun jah mis atgaft ins, jah þata waurd þeinata gafastaidedun. (Joh 17, 6)
– ‚Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt
gegeben hast. Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben, und sie haben dein
Wort bewahrt.’; pln. ‚Objawiłem imię Twoje ludziom, których Mi dałeś ze
świata. Twoimi byli i Ty Mi ich dałeś, a oni zachowali słowo Twoje.’
Im obigen Satz findet man zwei ga-Komposita: gabairhtida und gafastaidedun. Das
Kompositum gabairhtjan ‚offenbaren, erscheinen’ wurde vom Simplex bairhtjan
‚offenbaren’ gebildet und bringt eine perfektive Handlung zum Ausdruck, was an der
Bedeutung des Simplexes festgestellt werden kann. Obwohl beide Verben ‚offenbaren’
bedeuten, wird das ga-Kompositum als ein perfektives Verb von Streitberg bezeichnet
und kodiert eindeutig den perfektiven Aspekt. Die semantische Perfektivität wurde auch
in der deutschen Fassung in einer vergangenen Form des Verbs
51
‚offenbaren’
demonstriert, die hier eine einmalige perfektive Handlung bzw. Aktionsart zum
Ausdruck bringt. Das Polnische, das über eine grammatikalisierte Aspektkategorie
verfügt, bedient sich hier eines perfektiven Verbs objawić, das im Text in einer
Vergangenheitsform auftritt und sich auf das Resultat/ die Vollendung bezieht. Wenn es
sich um das andere ga-Kompositum handelt, wird es vom Simplex fastan ‚halten,
beobachten, fasten’ gebildet. Das Verb gafastan demonstriert in diesem Fall auch den
perfektiven Charakter, indem es eine einmalige abgeschlossene Handlung ausdrückt.
Auch im Deutschen wurde die semantische Perfektivität in der perfektiven Aktionsart
bewahren demonstriert, die hier auch in der Vergangenheitsform verwendet wurde. Das
Polnische kodiert hier auch wie das Gotische den perfektiven Aspekt mittels des
perfektiven Verbs zachować.
Das ga- Präfix hatte außer dem Aspekt auch die Aktionsart kodiert. Die Unklarheit, die
jahrelang das Problem der Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart begleitete,
machte die Untersuchung der ga-Komposita auf die Aktionsartkodierung hin
unmöglich. Im Deutschen und im Polnischen markiert man die Aktionsart mit Hilfe von
unterschiedlichen Mitteln, wie z.B. Präfixen und Suffixen. Das Deutsche verfügt dabei
über keine Aspektkategorie und ist sie vorhanden, wie auch die Kategorie der
Aktionsart. Im Polnischen ist auch jedes Verb sowohl mit einem Aspekt als auch mit
einer Aktionsart verbunden. Die Situation sieht beim Gotischen komplizierter aus, denn
die Kategorie des Aspekts ist einerseits vorhanden, andererseits ist sie auch instabil und
im Verfall begriffen. Deswegen treten im gotischen Textkorpus beide Kategorien auf.
Im Gotischen kodiert man die Aktionsart auch mit Hilfe von Präfixen. Unter den
Beispielen findet man auch das Präfix ga-.
[CA] jah anabauþ þizai managein anakumbjan ana airþai; jah nimands þans sibun
hlaibans jah awiliudonds gabrak jah atgaf siponjam seinaim, ei atlagjidedeina
faur; jah atlagidedun faur þo managein. (Mk 8,6) – ‚Und er gebietet der
Volksmenge, sich auf der Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte,
brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie vorlegten; und sie legten der
Volksmenge vor.’; pln. ‚I polecił ludowi usiąść na ziemi. A wziąwszy siedem
chlebów, odmówił dziękczynienie, połamał i dawał uczniom, aby je rozdzielali. I
rozdali tłumowi.’
52
Im folgenden Satz wurde sowohl die Aspektkategorie als auch die Aktionsart realisiert.
Die Form gabrak kommt vom imperfektiven Verb brikan ‚brechen’ und kodiert die
Abgeschlossenheit der Handlung, die hier durch ga- markiert wurde. Die Aktionsart
wurde in Verben atgiban und atlagjan demonstriert. Das Verb atgiban kommt vom
Verb giban und bedeutet ‚hingeben, übergeben’. Im Polnischen findet man die
Übersetzung dawać und die ähnlichen Formen podawać/rozdawać. Dasselbe kommt
beim Verb atlagjan vor, wo das Kompositum vom Verb lagjan ‚legen’ gebildet wurde
und rozdawać/rozdzielać bedeutet. Das Präfix hat in diesen Beispielen keinen Einfluss
auf den Aspekt ausgeübt: die Verben bleiben imperfektiv, sowohl im Gotischen als auch
im Polnischen und Deutschen. Man kodiert nur „die Art und Weise der Ausführung der
Handlung“ (Breu/Berger/Kempgen 2009, 216), d.h. in diesem Beispiel (atlagjan), dass
man etwas den anderen austeilt, bis man alles verteilt. Die Aktionsart kann mittels
unterschiedlicher
Präfixe
kodiert
werden,
die
oft
auch
die
Richtung
der
Handlung/Bewegung demonstrieren.
[CA] jah sai, qino bloþarinnandei ib wintruns duatgaggandei aftaro attaitok
skauta wastjos is (Mt 9, 20) – ‚Und siehe, eine Frau, die zwölf Jahre blutflüssig
war, trat von hinten heran und rührte die Quaste seines Kleides an’; pln. ‚Wtem
jakaś kobieta, która dwanaście lat cierpiała na krwotok, podeszła z tyłu i dotknęła
się frędzli Jego płaszcza.’
[CA] aþþan ni ƕashun lagjiþ du plata fanan þarihis ana snagan fairnjana, unte
afnimiþ fullon af þamma snagin, […] (Mt 9, 16) – ‘Niemand aber setzt einen
Flicken von neuem Tuch auf ein altes Kleid; denn das Eingesetzte reißt von dem
Kleid ab, [...]’; pln. ‚Nikt nie przyszywa łaty z surowego sukna do starego ubrania,
gdyż łata obrywa ubranie, [...]’
In den dargestellten Versen fungieren die Präfixe als Aktionsartmarker. Im ersten
Beispiel findet man das Verb duatgaggan. Das Präfix duat- besteht eigentlich aus zwei
Teilen du- und at-. Das Präfix du- bedeutet soviel wie „von hinten“, das oft auch als
Präposition auftritt (vgl. Götti 1974, 22). Das Präfix at- hat auch eine räumliche
Bedeutung und heißt soviel wie ‚bei, zu, an, von’ (Feist 1939, 60). Die beiden Präfixe
ändern die Aspektkategorie des Verbs nicht und kodieren die Art und Weise der
Handlung, d.h. hier eine partiell-resultative Aktionsart. Im Polnischen wird der
53
perfektive Aspekt durch den Wurzelvokalwechsel ausgedrückt: podchodzić - podejść.
Nach Götti kommt im Gotischen das Verb atgaggan im Text vor, wenn jemand auf eine
Person zugeht, um sie anzusprechen (vgl. Götti 1974, 21). Der Unterschied in der
Übersetzung der Verben atgaggan und duatgaggan besteht darin, dass atgaggan soviel
wie „er ging zu ihm hin und sagte“ und duatgaggan „er ging auf ihn zu und sagte“
bedeutet (Götti 1974, 21). Beim zweiten Beispiel handelt es sich um das imperfektive
Simplex niman und das imperfektive Kompositum afniman. Das Präfix af- tritt auch als
Präposition auf und bedeutet ‚von, von-weg, seit, aus’ (Feist 1939, 3). Sowohl im
Deutschen als auch im Polnischen kann man mit Hilfe von Präfixen solche Formen
bilden: dt. reißen – abreißen; pln. rwać – obrywać. Es gibt mehrere Beispiele, die
bestätigen, dass im Gotischen auch eine Aktionsartkategorie vorhanden ist, die u.a.
mittels Präfixen markiert wird. Unter diesen Präfixen findet man auch ga-, was zur
Entstehung der Frage führte, ob dieses Präfix sowohl den Aspekt als auch die
Aktionsart markieren kann.
[CA] jah þisƕaruh þei ina gafahiþ, gawairpiþ ina, jah ƕaþjiþ jah kriustiþ tunþuns
seinans jah gastaurkniþ, [...] (Mk 9, 18) – ‚und wo er ihn auch ergreift, zerrt er
ihn zu Boden, und er schäumt und knirscht mit den Zähnen und wird starr.’; pln.
‚Ten, gdziekolwiek go chwyci, rzuca nim, a on wtedy się pieni, zgrzyta zębami i
drętwieje.’
Das Kompositum gastaurkniþ stammt vom Simplex staurknan ‚erstarren, verdorren’
(Heyne/Wrede 2012, 305). Obwohl das Verb hier mit ga- präfigiert wurde, übersetzt
man es sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Fassung als ein
imperfektives Verb. Im Deutschen findet man die Form starr werden. Um eine
abgeschlossene Handlung auszudrücken konnte man hier eine egressive Aktionsart
erstarren verwenden, was hier aber nicht stattfindet. Im Polnischen fungiert das Verb
drętwieć auch als ein imperfektives Verb, von dem man ein perfektives Kompositum
zdrętwieć bilden kann. Es kann also darauf hinweisen, dass ga- hier nicht den Aspekt,
sondern die Aktionsart kodiert. Das Verb gastaurkniþ demonstriert hier einen Prozess,
in dem der menschliche Leib einen entsprechenden Zustand annimmt – die Taubheit
bzw. Gefühllosigkeit. Es kodiert also kein Ergebnis, sondern eine durative Handlung.
Im oben dargestellten Textausschnitt treten auch zwei andere ga-Komposita auf. Die
beiden Komposita, gawairpan und gafahan, kodieren keine Aktionsart und werden von
54
Streitberg als perfektive Verben bezeichnet (vgl. Streitbergs Wörterbuch online
http://www.wulfila.be/lib/streitberg/1910/text/html/ - gesehen am 13.04.2013). In einem
anderen Beispiel haben wir mit dem Kompositum gaþreihan im zweiten Brief an die
Thessalonicher zu tun:
[A] sweþauh jabai garaiht ist at guda usgildan þaim gaþreihandam izwis
aggwiþa, [...] (2 Thes 1, 6) – ‚so gewiß es bei Gott gerecht ist, denen zu vergelten,
die euch durch Drangsal bedrängen’; pln. ‚Bo przecież jest rzeczą słuszną u Boga
odpłacić uciskiem tym, którzy was uciskają.’
Das Verb gaþreihan kommt vom Simplex þreihan ‚drängen’. In diesem Fall hat man
mit derselben Situation zu tun. Das Präfix kodiert nicht die Abgeschlossenheit, sondern
die Handlung in Dauer. Das ga-Kompositum, das als bedrängen übersetzt wird, wird
von Streitberg als perfektiv bezeichnet. Es bezieht sich aber nicht auf die
Abgeschlossenheit. Auch in der polnischen Fassung tritt ein imperfektives Verb
uciskać, das vom Verb cisnąć gebildet wird. Obwohl das Präfix u- im Polnischen oft
mit der perfektiven Bedeutung zusammengestellt wird (vgl. Bluszcz 1994, 206f.), übt es
in diesem Fall keinen Einfluss auf den Verbalaspekt aus, weil die Form ciskać eindeutig
eine durative Handlung bzw. Aktionsart demonstriert. Ein Beispiel, in dem ein gaKompositum in der polnischen Fassung als ein perfektives mit u- präfigiertes Verb
übersetzt wird, findet man im Brief an Epheser:
[A] ei þo gaweihaidedi gahrainjands þwahla watins in waurda (Eph 5, 26) – ‘um
sie zu heiligen, [sie] reinigend durch das Wasserbad im Wort’; pln. ‚aby go
uświęcić, oczyściwszy obmyciem wodą, któremu towarzyszy słowo.’
Das Verb gaweihaidedi wird als uświęcić übersetzt, in dem das u- Präfix seine
perfektivierende Rolle erfüllt, denn würde dieses Verb ohne u-, d.h. święcić eine
imperfektive durative Handlung kodieren: „ [...] przedrostek u- tworzy czasowniki
pochodne (także imiesłowy), rzeczowniki odsłowne z uwydatnieniem odcieni
uzupełniających znaczenie czasownika podstawowego poprzez dodanie znaczenia
doprowadzenia danej czynności do skutku, jak ugotować, umyć, upiec.“ (Bluszcz 1994,
206f). Das andere ga-Kompositum, das im obigen Textausschnitt vorkommt, ist
gahrainjan, das sich auf die perfektive Handlung bezieht – die Vollendung des
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Reinigungsprozesses. Die Perfektivität wird deutlich und eindeutig in der polnischen
Fassung im Verb oczyściwszy dargestellt, das vom durativen Verb czyściwszy gebildet
wurde. Das Deutsche stellt hier eine durative Form dar und bedient sich Partizip Präsens
Aktiv vom Verb reinigen, das die Gleichzeitigkeit der Handlungen zum Ausdruck
bringt.
Am häufigsten tritt aber das ga- Präfix als Aspektmarker auf. Außer dem ga- Präfix
perfektivieren nach Schwerdt auch andere Präfixe, wie z.B. dis-, fair-, fra-, fri- (vgl.
Schwerdt 2008, 71). Sie nennt aber dabei keine Beispiele, die diese Ansicht bestätigen
könnten. Um diese These zu prüfen, habe ich einige Beispiele aus der gotischen Bibel
ausgesucht:
ni manna mag kasa swinþis galeiþands in gard is wilwan, niba faurþis þana
swinþan gabindiþ; jah þan þana gard is diswilwai. (Mk 3, 27) – ‚Niemand aber
kann in das Haus des Starken eindringen und seinen Hausrat rauben, wenn er nicht
zuvor den Starken gebunden hat, und dann wird er sein Haus berauben.’; pln.
‚Nikt nie może wejść do domu mocarza i sprzęt mu zagrabić, jeśli mocarza wpierw
nie zwiąże, i wtedy dom jego ograbi.’
In diesem Satz findet man sowohl die ga-Komposita als auch ein mit dis- präfigiertes
Verb. Die dargestellten ga-Komposita kodieren eindeutig den Aspekt, indem sie das
Ergebnis einer entsprechenden Handlung zum Ausdruck bringen. Wenn es sich um das
dis-Kompositum handelt, findet man im Satz auch eine unpräfigierte Form wilwan
‚rauben, plündern’. Die Gegenüberstellung der Bedeutung der beiden Formen in diesem
Satz zeigt, dass die präfigierte Form die Abgeschlossenheit zum Ausdruck bringen
kann. In der polnischen Fassung steht das Verb o-grabić, dass ebenso die
Abgeschlossenheit der Handlung kodiert. Der einzige Unterschied zwischen beiden
Fassungen besteht in der Übersetzung des unpräfigierten Verbs wilwan, das im
polnischen Text als zagrabić übersetzt wurde. Das Verb zagrabić drückt auch die
Vollendung aus, man konnte hier aber das unpräfigierte Verb grabić verwenden und
den Anfang des Satzes folgend formulieren: Nikt nie może wejść do domu mocarza i
sprzęt jego grabić [...].
[CA] sildaleik auk dishabaida ina jah allans þans miþ imma in gafahis þize fiske
þanzei ganutun (Luk 5, 9) – ‚Denn Entsetzen hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm
56
waren, über den Fischfang, den sie getan hatten.’; pln. ‚I jego bowiem, i wszystkich
jego towarzyszy w zdumienie wprawił połów ryb, jakiego dokonali.’
Im obigen Satz steht ein dis-Kompositum, das vom Simplex haban kommt, und hier die
Vollendung zum Ausdruck bringt. Es beschreibt den Eintritt in einen neuen Zustand. Im
Deutschen gehört dieses Verb zu der ingressiven Aktionsart. Im Polnischen kodiert das
Verb wprawić sowohl den perfektiven Aspekt als auch eine ingressive punktuelle
semelfektive Aktionsart. Im folgenden Satz findet man auch ein ga-Kompositum, bei
dem das Präfix seine perfektivierende Funktion ausübt. Das Kompositum ganiutan wird
von Streitberg als perfektiv bezeichnet und stammt vom Simplex niutan ‚treffen,
erreichen, einer Sache froh sein’. Die Abgeschlossenheit der Handlung wird semantisch
im Deutschen und grammatisch im Polnischen durch das perfektive Verb dokonać
ausgedrückt.
[A] wrikanai, akei ni biliþanai: gadrausidai, akei ni fraqistidai (2 Kor 4, 9) –
‚verfolgt, aber nicht verlassen, niedergeworfen, aber nicht vernichtet’; pln.
‚znosimy prześladowania, lecz nie czujemy się osamotnieni, obalają nas na
ziemię, lecz nie giniemy.’
In diesem Beispiel kodiert das ga-Kompositum ein Resultat. Der gotische Text besteht
hier aus den Partizipien im Präteritum, wo das ga-Kompositum vom Verb drausjan
kommt und sich auf die niedergeworfenen Menschen bezieht. Der polnische Autor
bediente sich der Verben. Das fra-Abstractum spricht ebenso von einer Art Resultat,
d.h. von den Vernichteten, obwohl in der polnischen Fassung ein duratives Verb ginąć
steht. Das fra-Präfix tritt relativ oft auf und von seiner perfektivierenden Funktion
haben auch andere Sprachwissenschaftler geschrieben (vgl. z.B. Leopold 1907, 20).
[CA] jah ni magandans neƕa qiman imma faura manageim, andhulidedun hrot
þarei was Iesus jah usgrabandans insalilidedun þata badi [jah fralailotun] ana
þammei lag sa usliþa. (Mk 2, 4) – ‚Und da sie wegen der Volksmenge nicht zu ihm
hinkommen konnten, deckten sie das Dach ab, wo er war, und als sie es
aufgebrochen hatten, ließen sie das Bett hinab, auf dem der Gelähmte lag.’; pln.
‚Nie mogąc z powodu tłumu przynieść go do Niego, odkryli dach nad miejscem,
gdzie Jezus się znajdował, i przez otwór spuścili łoże, na którym leżał paralityk.’
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Im folgenden Satz findet man wieder ein fra-Kompositum, das sich aber diesmal nicht
an ein perfektives Verb bezieht. Das unpräfigierte Verb letan ‚lassen’ bildet auch andere
Komposita mit anderen Präfixen wie z.B. af-letan, us-letan, die auch als imperfektiv
bezeichnet werden können. Das Präfix fra- kodiert hier eine Vollendung, und zugleich
die Richtung der Handlung: „In der Mehrzahl der got. Belege bezeichnet fra- „weg-“
bei einfachen Handlungen von Person zu Person.“ (Leopold 1907, 18). Auch die
polnische Fassung bedient sich hier eines perfektiven Verbs spuścić, das ebenso die
Abgeschlossenheit und die Richtung der Handlung ‚nach unten’ demonstriert.
[CA] usstandans gagga du attin meinamma jah qiþa du imma: atta, frawaurhta
mis in himin jah in andwairþja þeinamma; (Luk 15, 18) – ‚Ich will mich
aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe
gesündigt gegen den Himmel und vor dir’; pln. ‚Zabiorę się i pójdę do mego ojca,
i powiem mu: Ojcze, zgrzeszyłem przeciw Bogu i względem ciebie;“
Die perfektivierende Funktion von fra- in diesem Satz bleibt unumstritten. Das
Kompositum fra-waurhta kommt vom Simplex waurkjan ‚machen, wirken’ und
bedeutet ‚eine Sünde begehen, sich versündigen’ (vgl. Streitberg, Gotisch-GriechischDeutsches Wörterbuch 1910 online). Das Kompositum demonstriert eindeutig den Akt
des Begehens von einer Sünde, deswegen spricht man ihm einen perfektiven Charakter
zu. Dieselbe Bedeutung wird auch in der deutschen und polnischen Fassung überliefert.
Im polnischen Textausschnitt steht das perfektive Verb zgrzeszyć, das in Folge der
sekundären Imperfektivierung wieder nicht imperfektiviert sein kann, die im Polnischen
vorhanden ist. Um eine imperfektive Handlung auszudrücken, muss man sich des
unpräfigierten Verbs grzeszyć bedienen. Das Verb zgrzeszyć kodiert deshalb eindeutig
den perfektiven Aspekt.
[CA] jah fairgraip bi handau þata barn qaþuh du izai: taleiþa kumei, þata ist
gaskeiriþ: mawilo, du þus qiþa: urreis. (Mk 5, 41) – ‚Und er ergriff des Kindes
Hand und spricht zu ihm: Talitha kum! Das ist übersetzt: Mädchen, ich sage dir,
steh auf!’; pln. ‚Ująwszy dziewczynkę za rękę, rzekł do niej: Talitha kum, to
znaczy: Dziewczynko, mówię ci, wstań!’
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In diesem Textausschnitt hat man mit einem fair-Kompositum zu tun, das vom Verb
greipan ‚greifen’ gebildet wird. Das Präfix kann hier sowohl den perfektiven Aspekt als
auch die egressive Aktionsart kodieren. Das Kompositum fairgreipan bezieht sich auf
die Vollendung einer Handlung (des Greifens), was den perfektiven Aspekt
charakterisiert. Andererseits kann es auch eine egressive Aktionsart kodieren, die
ebenso die Beendigung einer Handlung bzw. eines Prozesses zum Ausdruck bringt.
Weil das Deutsche über keine grammatische Aspektkategorie verfügt, spricht man hier
nicht vom Aspekt. Das Verb ergreifen kodiert eindeutig eine perfektive Aktionsart: 1.
mit der Hand nach einer Person, Sache greifen u. sie festhalten; 2. festnehmen (Duden,
6., überarbeitete und erweiterte Auflage 2007, 512). Im Polnischen funktionieren beide
Kategorien: Aspekt und Aktionsart, wobei jedes Verb beide Kategorien kodiert. Das
Verb ująć bringt eine perfektive einmalige Handlung zum Ausdruck, d.h. eine egressive
semelfektive Aktionsart. Im Polnischen kann ein Verb mehrere Aktionsarten auf einmal
kodieren, wenn sie sich gegenseitig nicht ausschließen. Das oben dargestellte gaKompositum bringt den perfektiven Aspekt zum Ausdruck. Es stammt vom Verb
skeirjan und bedeutet ‚erklären’. Es wird auch von Streitberg als perfektives Verb
bezeichnet.
[A] þai auk waila andbahtjandans grid goda sis fairwaurkjand jah managa
balþein galaubeinai þizai in Xristau Iesu. (1 Tim 3, 13) – ‚denn die, welche gut
gedient haben, erwerben sich eine schöne Stufe und viel Freimütigkeit im
Glauben, der in Christus Jesus ist.’; pln. ‚Ci bowiem, skoro dobrze spełnili
czynności diakońskie, zdobywają sobie zaszczytny stopień i ufną śmiałość w
wierze, która jest w Chrystusie Jezusie.’
In diesem Beispiel haben wir auch mit einem fair-Kompositum zu tun. In diesem Fall
schreibt man dem Präfix fra- keine Funktion der Aspektmarkierung. Das Verb
fairwaurkjan drückt hier keine Abgeschlossenheit aus und demonstriert eine durative
Aktionsart, die auch im Deutschen und im Polnischen zum Ausdruck gebracht wird.
Das Verb erwerben ‚zdobywać’ ist nicht mit dem perfektiven Aspekt verbunden,
sondern es kodiert eine resultative Aktionsart. Auch Elisabeth Leiss (2000, 122f.)
schreibt von der Funktion eines Aspektmarkers, über die auch andere Präfixe verfügen.
Für solche Präfixe hält sie u.a. us- und bi-, die außer der Aktionsartdifferenzierung auch
die Aspektmarkierung ausdrücken. Das Präfix us-, das im Gotischen sehr häufig
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vorkommt und ursprünglich die Handlungsrichtung bezeichnet, bringt oft die
Abgeschlossenheit zum Ausdruck.
[CA] jah gasaiƕandans allai birodidedun, qiþandans þatei du frawaurhtis mans
galaiþ [in gard] ussaljan. (Luk 19, 7) – ‚Und als sie es sahen, murrten alle und
sagten: Er ist eingekehrt, um bei einem sündigen Mann zu herbergen.’; pln. ‚A
wszyscy, widząc to, szemrali: Do grzesznika poszedł w gościnę.’
Das Kompositum ussaljan ‚Herberge nehmen’ kommt vom Simplex saljan ‘herbergen,
bleiben’. Im gotisch-griechisch-deutschen Wörterbuch von Streitberg (1910) wurde es
als perfektives Verb bezeichnet. Als der Perfektivitätsmarker fungiert hier das us-Präfix,
dass hier die Vollendung kodiert. Im Deutschen wurde diese Handlung als imperfektiv
dargestellt mittels der Konstruktion um zu + Infinitiv. Im Polnischen wurde ein
perfektives Verb pójść verwendet, um die Abgeschlossenheit zu äußern. In diesem Fall
kann man auch die Aufmerksamkeit auf den Substantiv frawaurhtis richten. Das
Abstraktum frawaurhtis wurde vom Kompositum fra-waurkjan ‚eine Sünde begehen’
gebildet, das aus dem Präfix fra- und dem Verb waurkjan ‚tun, machen’ besteht.
Genauso bei einem Kompositum trägt hier das Präfix perfektiven Charakter, d.h. man
beschreibt einen Mann, der schon eine Sünde begangen hat. Im obigen Beispiel tritt
auch ein ga-Kompositum gasaiƕan, das wie in den früheren Beispielen eindeutig als
perfektives Verb bezeichnet wurde, in dem das ga-Präfix als Aspektmarker fungiert.
[CA] jah dugann laisjan ins þatei skal sunus mans filu winnan jah uskiusan skulds
ist fram þaim sinistam jah þaim auhumistam gudjam jah bokarjam jah usqiman
jah afar þrins dagans usstandan. (Mk 8, 31) – ‚Und er fing an, sie zu lehren, dass
der Sohn des Menschen vieles leiden und verworfen werden müsse von den
Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und dass er getötet werden und
nach drei Tagen auferstehen müsse.’; pln. ‚I zaczął ich pouczać, że Syn
Człowieczy musi wiele cierpieć, że będzie odrzucony przez starszych,
arcykapłanów i uczonych w Piśmie, że będzie zabity, ale po trzech dniach
zmartwychwstanie.’
Der obige Satz demonstriert drei Funktionen vom us-Präfix. Beim ersten Kompositum
uskiusan haben wir mit der perfektivierenden Funktion von us- zu tun. Das
Kompositum bringt eine perfektive Handlung zum Ausdruck, die im Deutschen in Form
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von einem Partizip Präteritum
und im Polnischen in Form von einem Adjektiv
ausgedrückt wurde, das von einem perfektiven Verb odrzucić gebildet wurde. Beim
zweiten Kompositum usqiman dient das Präfix der Bedeutungsveränderung. Die
Modifikation ist bedeutend, denn das Simplex qiman heißt ‚kommen’ und das
Kompositum usqiman ‚töten’. Das dritte Kompositum usstandan wird vom Simplex
standan ‚stehen’ gebildet und bedeutet ‚sich erheben, auferstehen’. Das Präfix
demonstriert hier die Abgeschlossenheit und die Modifikation der Bedeutung.
[CA] jah usbugjands lein jah usnimands ita biwand þamma leina jah galagida ita
in hlaiwa, þatei was gadraban us staina, jah atwalwida stain du daura þis hlaiwis.
(Mk 15, 46) – ‚Und er kaufte feines Leinentuch, nahm ihn herab, wickelte ihn in
das Leinentuch und legte ihn in eine Gruft, die in einen Felsen gehauen war, und er
wälzte einen Stein an die Tür der Gruft.’; pln. ‚Ten kupił płótno, zdjął Jezusa [z
krzyża], owinął w płótno i złożył w grobie, który wykuty był w skale. Przed
wejście do grobu zatoczył kamień.’
In diesem Textausschnitt findet man mehrere Präfixe: ga-, us-, bi-, at-. In diesem Fall
kann man u.a. die unterschiedlichen Funktionen von us- feststellen. Das Präfix userscheint hier als Aspektmarker, Marker der Handlungsrichtung und als Präposition. Im
Verb usbugjan, das vom Simplex bugjan ‚kaufen, verkaufen’ stammt, markiert das
Präfix den perfektiven Aspekt, der auch im Polnischen durch die Verbform kupić zum
Ausdruck gebracht wurde. Beim Verb usniman demonstriert es die ursprüngliche
Bedeutung, d.h. die Handlungsrichtung ‚zwischen unten und oben’, die im Deutschen
durch das Adverb herab kodiert wird. Letztendlich erscheint das Präfix us- einzeln als
Präposition. Wenn es sich um das Präfix bi- handelt, drückt es ursprünglich die
Bedeutung ‚rings umher’ aus. In diesem Fall nimmt man an, dass es genau diese
Bedeutung und keinen perfektiven Aspekt demonstriert, denn es handelt sich um das
Umwickeln, d.h. um die Handlung ‚rings um’ die Leiche. Obwohl in der polnischen
Fassung der perfektive Aspekt ausgedrückt wurde, indem eine resultative Verbform
owinąć und nicht imperfektive owijać verwendet wurde, spricht man hier nicht von
einer perfektivierenden Funktion des bi- Präfixes. Die ga-Komposita kodieren im oben
dargestellten Textausschnitt den perfektiven Aspekt. Das Verb galagjan kommt vom
imperfektiven Simplex lagjan und bringt die Abgeschlossenheit zum Ausdruck, die
auch im Polnischen markiert wird. Das Verb złożyć ist ein perfektives Verb, das nur in
61
einer vergangenen oder zukünftigen Form auftritt, und ist der Aspektpartner mit dem
imperfektiven Verb kłaść. Das Kompositum gadraban kommt vom imperfektiven Verb
draban ‚hauen’ und genau wie das vorige Kompositum bringt es das Resultat/das
Ergebnis zum Ausdruck. Das Präfix ga- fungiert hier eindeutig als Aspektmarker.
Deswegen bleibt das ga- Präfix als der prototypische Aspektmarker. In der gotischen
Bibel findet man mehrere Beispiele für die perfektivierende Funktion von ga-.
iþ Marja nam pund balsanis nardaus pistikeinis filugalaubis jah gasalbota fotuns
Iesua jah biswarb fotuns is skufta seinamma (Joh 12, 3) – ‚da nahm Maria ein
Pfund Salböl aus unverfälschter, kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und
trocknete mit ihrem Haar Seine Füße ab’; pln. ‚Maria zaś wzięła funt szlachetnego
i drogocennego olejku nardowego i namaściła Jezusowi nogi, a włosami swymi je
otarła [...]’
In diesem Beispiel findet man das bi-Kompositum, in dem das Präfix eine
perfektivierende Funktion ausübt. Das Verb biswairban ‚abtrocken, abwischen’
demonstriert selbstverständlich die Vollendung und nicht die Handlungsrichtung. Es
bestätigt auch die polnische Fassung, in der das perfektive Verb otrzeć steht. Auch das
ga-Kompositum, wie in vielen früheren Beispielen, drückt die Perfektivität aus.
Wie aber schon früher gesagt wurde, ist das Aspektsystem im Gotischen im Verfall
begriffen. Dieser Prozess hat zur Entwicklung einer neuen Kategorie geführt, des
Artikels. Leiss (2000) erklärt die beiden Kategorien nicht als Konkurrenten, sondern als
Kategorien, die denselben Effekt zum Ausdruck bringen – die Perfektivierung. Auch in
diesem Fall entstanden mehrere Arbeiten, die unterschiedliche Ansichten darstellen.
Einerseits findet man die Meinung, dass das Gotische über keinen Artikel verfügt
(Lehmann 1994, 28), andererseits befürwortet man das Vorhandensein eines „intakten
grammatikalisierten Artikel[s]“ (Leiss 2000, 114). Die kritischen Meinungen
erschienen, weil der Artikel im Gotischen nur sehr selten auftritt. Kotin (2012) weist auf
die Demonstrativpronomina sa, so, þata hin, die in Folge der Degrammatikalisierung
des ga- Präfixes die perfektivierende Funktion erfüllen. Aus diesen Pronomina
entwickelte sich später der bestimmte Artikel, der auch die ‚Definitheit’ kodiert. Als
Beispiel für diese Perfektivitätsmarkierung führt Kotin folgenden Satz an:
62
qaþ þan Iesus: let ija!; in dag gafilhis meinis fastaida þata (Joh 12, 7) – ‚da sagte
Jesus: Lass sie in Frieden! Mag es gelten für den Tag Meines Begräbnisses’; pln.
‚Na to Jezus powiedział: Zostaw ją! Przechowała to, aby [Mnie namaścić] na dzień
mojego pogrzebu.’
Kotin vergleicht diesen Satz mit dem Satz Joh 12, 7, um zu veranschaulichen, dass þata
„definiten Kontext und semantische Perfektivität des Verbs [...] kodiert“, obwohl das
Verb fastaida in einer imperfektiven Form hier auftritt (Kotin 2012, 215). Die
Perfektivität wurde auch in der polnischen Fassung demonstriert. Das polnische Verb
namaścić ist eine perfektive Aktionsart, die auch den perfektiven Aspekt kodiert. Es
drückt eine einmalige abgeschlossene Handlung aus, wobei in Folge der sekundären
Imperfektivierung eine imperfektive Form namaszczać gebildet sein kann. Kotin betont
auch, „dass die Definitheit im Gotischen auch doppelt kodiert werden kann und auf
jeden Fall der Opposition von Fokus und Topik des Satzes hierarchisch übergeordnet
ist“ (Kotin 2012, 223). Wenn es sich um den unbestimmten Artikel handelt, entwickelte
er sich aus dem Numeral ains (vgl. Wilhelm Thomas Deutsch: Grammatik und
Wortarten online, s. 73) und bringt keine Definitheit zum Ausdruck.
Auf Grund der oben dargestellten und analysierten Textstellen stellt man fest, dass die
Präfixe wie us-, fra-, bi- mehrere Funktionen ausüben können. Deswegen teilt man
ihnen nicht eine eindeutige Funktion der Aspektkodierung zu. Die Bedeutung des
Kompositums hängt vom Kontext ab. Beim ga- Präfix ist die Situation klarer. Obwohl
es auch die Modifikation der Bedeutung bewirken kann, schreibt man ihm vor allem die
Funktion des Aspektmarkers zu. Die Modifikation der Bedeutung tritt sehr selten auf.
Öfter hat man mit dem Ausdruck der Soziativität zu tun, der aber auch relativ niedrige
Verwendungshäufigkeit hat, wenn man unter Acht nimmt, dass die ga-Komposita am
häufigsten unter den Komposita allgemein auftreten.
Die Rolle des ga- Präfixes bei der Bildung der Aspektkategorie im Gotischen wird aber
immer wieder bestritten. Einerseits spricht man diesem Präfix zu, dass es viele
Funktionen erfüllt (wie z.B. Ukyo, der neben der Funktion von Verstärkung,
Rhythmisierung und Aktionsartänderung auch die Rolle des Mittels bei der Kodierung
der Zukunft erwähnt), andererseits lehnt man die Möglichkeit ab, dass es so viele
Funktionen erfüllt und teilt man ihm nur eine Funktion zu:
63
„Wie ist es überhaupt denkbar, dass eine einzige partikel zugleich so verschiedene
functionen wie die genannten in sich vereinige und bald die eine bald die andere
beliebig hervorkehre, ohne dass innere oder äussere bedingungen ein regelmäßiges
gesetz erschliessen lassen?“ (Streitberg 1891, 92)
Dem ga- Präfix wurden unterschiedliche Rollen zugeschrieben. Eine der Auffassungen
ist es, dass ga- keine grammatische, sondern rein stilistische Rolle spielt. Es ist aber
unmöglich, weil das Kompositum mit ga- in einem Vergleich mit dem unpräfigierten
Simplex eindeutig zeigt, dass das Präfix einen Einfluss u.a. auf die Bedeutung hat. So
postulierten mehrere Sprachwissenschaftler, dass die Präfigierung mit ga- dem Verb
eine neue Bedeutung verleiht. Neben der schon erwähnten Soziativität, die ga- zum
Ausdruck bringen kann, geht es um eine neue Bedeutung des Verbs. So ist es im Fall
saiƕan – gasaiƕan (sehen – die Sehfähigkeit bekommen) oder taurnan – gataurnan
(reißen – vergehen, aufhören). Die Bedeutungsänderung kommt aber seltener bei gavor, als bei anderen Präfixen wie z.B. beim Präfix us-: qiman – usqiman (kommen –
töten); qistjan – usqistjan (verderben – umbringen); skarjan – usskarjan (reißen,
abteilen – nüchtern werden, zur Besinnung kommen, herausreißen) (in Anlehnung an
„Gotisches Wörterbuch“ von Gerhard Köbler 2. Auflage, 1989).
[CA] jah ni ogeiþ izwis þans usqimandans leika þatainei, iþ vsaiwalai ni
magandans usqiman, [...] (Mt 10, 28) – ‚Und fürchtet euch nicht vor denen, die
den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen; [...]’; pln. ‚Nie bójcie się
tych, którzy zabijają ciało, lecz duszy zabić nie mogą.’
[CA] jah gahausidedun þai bokarjos jah gudjane auhumistans jah sokidedun,
ƕaiwa imma usqistidedeina: […] (Mk 11, 18) – ‚Und die Hohenpriester und die
Schriftgelehrten hörten es und suchten, wie sie ihn umbringen könnten; [...]’; pln.
‚Doszło to do arcykapłanów i uczonych w Piśmie, i szukali sposobu, jak by Go
zgładzić.’
[A] usskarjiþ izwis garaihtaba jan~ni frawaurkjaid; (1 Kor 15, 34) – ‘Werdet
doch niemal recht nüchtern und sündigt nicht!’; pln. ‚Ocknijcie się naprawdę i
przestańcie grzeszyć!’
64
Auch andere Präfixe können diese Funktion erfüllen, deshalb kann man kein Monopol
auf diese Funktion dem ga- zuschreiben (z.B. qiman – usqiman – fraqiman, kommen –
umbringen – vertun).
a)
qiman
[CA] iftumin daga manageis filu sei qam at dulþai, gahausjands þatei qimiþ Iesus
in Iarausaulwmai, (Joh 12, 12) – ‚Am folgenden Tag, als eine große Volksmenge,
die zu dem Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem komme,’; pln.
‚Nazajutrz wielki tłum, który przybył na święto, usłyszawszy, że Jezus przybywa
do Jerozolimy, [...]’
b)
usqiman
[CA] munaidedunuþ~þan auk þai auhumistans gudjans, ei jah Lazarau
usqemeina (Joh 12, 10) – ‚Die Hohenpriester aber ratschlagten, auch den
Lazarus zu töten’; pln. ‚Arcykapłani zatem postanowili stracić również
Łazarza’
c)
fraqiman
[CA] jah qino wisandei in runa bloþis jera twalif, soei in lekjans fraqam allamma
aigina seinamma, [...] (Luk 8, 43) – ‚Und eine Frau, die seit zwölf Jahren mit
einem Blutfluß behaftet war und, obgleich sie ihren ganzen Lebensunterhalt an
[die] Ärzte verwandt hatte’; pln. ‚A pewna kobieta od dwunastu lat cierpiała na
upływ krwi; całe swe mienie wydała na lekarzy’
Eine andere Auffassung über ga- und die Semantik der Verben stellte Josef Raith auf.
Er war der Meinung, dass das unpräfigierte Simplex und das präfigierte Kompositum
unterschiedliche Verben sind (vgl. Raith 1951, 25). Diese Theorie findet aber ihre
Bestätigung nur in wenigen Fällen (siehe die Beispiele oben). Im Gotischen findet man
auch Verben, die entweder nur als unpräfigierte Verben, wie z.B. ahjan, aljanon,
airinon, frijon, haurnjan u.a. (vgl. Grill 2009, 30), oder nur als Komposita, wie z.B.
gablindjan, gahroton, gamotan, garaþjon (vgl. ebenda, 31) auftraten. Deswegen bleibt
es unbestätigt, dass jedes Verb präfigiert werden kann. Das erstaunlich hohe
Vorkommen des ga- Präfixes in der gotischen Bibel (insgesamt 2516mal) weist darauf
hin, dass die Zusammensetzung des ga- mit unterschiedlichen Simplexen ein wichtiges
(eher grammatisches) Mittel war.
65
Schlussbetrachtungen
Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel eine komplexe Untersuchung der Semantik und
der Kategorialfunktionen der gotischen Präverben vorzunehmen. Im Gotischen
funktioniert ein gut entwickeltes Präfix- und Suffixsystem, wo diese Elemente
unterschiedliche Funktionen haben. Der Suffigierung wurden hier nur kleinere
Fragmente gewidmet und die ganze Aufmerksamkeit wurde auf die Präfigierung
gerichtet wegen ihrer Bedeutsamkeit für die Sprachentwicklung und Sprachforschung.
Im Gotischen findet man mehrere Präfixe, die nicht nur ihre eigene Bedeutung haben,
sondern auch einen bedeutsamen Einfluss auf die Semantik der Verben ausüben. Die
Präfixe haben ihren Ursprung in den Adverbien oder in Präpositionen. Wenn sie ihre
ursprüngliche Bedeutung in einer Zusammensetzung mit einem Verb bewahren,
modifizieren sie oft auch die Semantik des Verbs nicht, denn am meisten ist es die
Bezeichnung der Handlungsrichtung. So ist es im Beispiel des bi- oder des us- Präfixes:
niman – usniman (nehmen – ausnehmen), windan – biwindan (winden - umwickeln).
Nicht immer aber bleibt die Semantik des angefügten Verbs unverändert. Die
Präfigierung kann die Modifizierung der Bedeutung verursachen, z.B. qiman – usqiman
(kommen – töten).
Den gotischen Präfixen wurden aber mehrere Funktionen
zugeschrieben. Unter den gotischen Präfixen erfreut sich das ga-Präfix des größten
Interesses von Seiten der Sprachwissenschaftler. Eine der wichtigsten Rollen, die dem
ga-Präfix zugeschrieben wurde, ist die Aspektmarkierung. Die perfektivierende
Funktion von ga- wurde schon im 19. Jahrhundert von Streitberg postuliert und seine
Ansicht bleibt noch heutzutage der Ausgangspunkt mehrerer Arbeiten. Auch die in der
vorliegenden Arbeit angeführten Textausschnitte bestätigen die These, dass das gaPräfix den perfektiven Aspekt kodiert. Die hohe Frequenz von diesem Präfix erlaubt uns
eine genaue Untersuchung der Semantik von ga- durchzuführen. In dem empirischen
Teil wurden mehrere Ansichten auf Grund von unterschiedlichen Textausschnitten
bestätigt oder widerlegt. Eine relativ reiche Gruppe der Linguisten postuliert das
Vorhandensein der Aspektkategorie im Gotischen und weist auf das ga-Präfix als ihrer
Marker hin. Um diese Ansicht zu prüfen, habe ich die gotische Fassung der Bibel mit
der deutschen und der polnischen vergleicht. Weil das Deutsche über keine
grammatische Aspektkategorie verfügt, war es von großer Bedeutung, die polnische
Fassung neben der gotischen zu stellen, denn im Polnischen sind sowohl die Kategorie
des
Aspekts
als
auch
der
Aktionsart
66
grammatikalisiert.
In
Folge
einer
Gegenüberstellung der beiden Auffassungen konnte man das Vorhandensein und die
Kodierungsformen des Aspekts bestätigen. Die Untersuchung ausgewählter Sätze
zeigte, dass dort, wo das ga-Kompositum den perfektiven Aspekt kodiert, er auch im
Polnischen zum Ausdruck gebracht wird. Es erfolgt im Polnischen nicht immer mittels
eines Präfixes, denn es hat auch andere Mittel zur Kodierung des Aspekts, obwohl die
Präfigierung am meisten verwendet wird. Im Gotischen kommen auch andere Präfixe
als ga- vor, die dieselbe Funktion erfüllen, wie z.B. die oben erwähnten us-, fra-, disu.a. Deswegen ist es unmöglich, das ga-Präfix als einziger Aspektmarker zu
bezeichnen. Aus denselben Grund entstanden die Bedenken, ob sich im Gotischen eine
grammatikalisierte Aspektkategorie entwickelt hatte, wenn es auch andere Möglichkeit
gibt, die Perfektivität auszudrücken. Man nimmt aber unter Acht, dass auch im
Polnischen unterschiedliche Präfixe auftreten, die den Aspektwechsel verursachen.
Nach Jagodziński fungieren im Polnischen achtzehn Präfixe, die den Aspekt ändern
können. So kann es auch im Fall des Gotischen sein. Wenn man sich aber auf das gaPräfix konzentriert, kommt es am meisten unter den aspektkodierenden Präfixen vor.
Der Ausdruck der Abgeschlossenheit bleibt auch seine führende Funktion. Nur in
13,(3)% der Textausschnitte, die in dem empirischen Teil untersucht wurden, drückt das
ga-Präfix eine andere Funktion als die Aspketkodierung aus. Am meisten war es die
Soziativität, die ursprüngliche Bedeutung von ga-. Dieses Präfix kann auch die
Bedeutung des Verbs modifizieren, was aber selten vorkommt: z.B.
taurnan -
gataurnan (reißen - vergehen, aufhören). Die Mehrheit der Belege bestätigte also, dass
ein ga-Kompositum perfektiven Charakter hat. In der vorliegenden Arbeit habe ich auch
zwei kontroverse Thesen geprüft, die dem ga-Präfix völlig andere Funktionen
zugeschrieben haben. Anfangs habe ich mich mit der Ansicht von Sanae Ukyo
beschäftigt, die besagt, dass die ga-Komposita auch die Zukunft kodieren können. Ukyo
hatte in seiner Arbeit (1977) mehrere Beispiele aus der gotischen Bibel angeführt, die
seiner Meinung nach die zukunftskodierende Funktion von ga- beweisen. Es handelt
sich um die ga-Komposita im Präsens, die die Vollendung der Handlung in der Zukunft
platzieren. Eine genaue Untersuchung zeigt aber, dass dieses Präfix keinen Einfluss auf
die Zukunftkodierung hat. Entscheidend ist die Präsensform der Verben, die für den
Ausdruck der Zukunft verantwortlich ist. Präsens fungiert als eine Tempusform, die
nicht nur in den urgermanischen Sprachen, sondern auch in den gegenwärtigen
Sprachen die Zukunft kodiert. Dies gilt sowohl für die Sprachen, die über keine
67
grammatikalisierte Aspektkategorie verfügen als auch für diejenigen, die diese
entwickelt haben, z.B.:
Ich gehe morgen ins Kino. – Jutro idę do kina.
Ukyo hat in dieser Hinsicht die Funktion von ga- falsch interpretiert, indem er ihm die
Zukunftskodierung zugeschrieben hat. Das Präfix verursachte hier eindeutig die
Perfektivität der genannten Handlung, obwohl sie erst in der Zukunft stattfindet. Auch
im Polnischen wird ein Verb als perfektiv bezeichnet, wenn die Vollendung erst in der
Zukunft erfolgt (vgl. Kiklewicz 2005, 17). Ukyo bedient sich auch der Bezeichnung
Aktionsart statt Aspekt. Obwohl auch Streitberg in seiner Arbeit (1891) über Aktionsart
geschrieben hatte, meinte er darunter den Aspekt. Im Gotischen ist aber auch die
Kategorie der Aktionsart vorhanden. Das Gotische bedient sich auch der Präfigierung
um die Aktionsart zum Ausdruck zu bringen. Darunter nimmt man auch das ga-Präfix
in die Gruppe der Präfixe auf, die die Aktionsart kodieren. Die Lektüre der gotischen
Bibel bietet aber eine andere Möglichkeit an. Zum Ausdruck der Aktionsart wurden
andere Präfixe, wie z.B. in-, at-, and-, þairh- verwendet. Die Komposita, die mit oben
erwähnten Präfixen gebildet werden, nannte Leiss (2000, 123) periphere Aspektpartner.
Solche Benennung kann aber auch irreführen, denn sie kodieren keine Vollendung,
sondern eine andere Art und Weise der Handlungsdurchführung. Als zentralen
Aspektpartner nennt sie aber das ga-Kompositum, obwohl auch die mit us- und bipräfigierten Verben perfektiven Charakter tragen können.
Die andere These, die von Reiner Grill (2009) postuliert wurde, besagt, dass das gaPräfix am häufigsten keinen Aspekt kodiert, sondern zur Verstärkung und Betonung der
wichtigsten Informationen dient, die der Autor überliefern wollte. Grill nennt ga- eine
„Aufmerksamkeitspartikel“ (2009, 52) und schreibt ihm eine Funktion zu, bei der es
„eine zusätzliche Betonung aufweist, um die Leserschaft bzw. Zuhörerschaft auf
bestimmte Zusammenhänge (in diesem Falle theologischer Natur) aufmerksam [zu]
machen’ (Grill 2009, 54). Seine Erklärungs- und Untersuchungsweise gründet aber eher
auf einer literarischen Interpretation und nicht auf einer sprachwissenschaftlichen. In
seiner Arbeit konzentrierte er sich vor allem auf zwei Verbpaare: saiƕan/gasaiƕan und
hausjan/gahausjan, die häufig im Textkorpus auftreten. Die von ihm ausgewählten
Stellen vergleicht er mit den Thesen von unterschiedlichen Sprachwissenschaftlern wie
Streitberg, Lloyd, Tobler, Josephson u.a. Um die These von der perfektivierenden
Funktion von ga- zu widerlegen, wählt er auch solche Stellen aus, in denen die oben
erwähnten Verben als Simplizia vorkommen. Auf diese Art und Weise wollte Grill
68
entweder seine Meinung bestätigen, das das Simplex und das ga-Kompositum gleiche
Bedeutung haben (z.B. Luk 10, 24), d.h. ga- kodiert keine Perfektivität, oder die von
ihm postulierte These zu befürworten, dass der Autor eine Erhebung entsprechender
Fakten zum Ziel hatte. In seiner Untersuchung betont er immer wieder die
Bedeutsamkeit einiger Erscheinungen oder Personen in der Geschichte Jesu Christi und
übersieht eine Menge von Belegen, die seine Theorie falsifizieren. Grill beschäftigte
sich auch mit anderen Verbpaaren, wie z.B. standan/gastandan oder bairan/gabairan.
Wie in vorigen Fällen versuchte er die Funktion von ga- auf Aufmerksamkeit zu
reduzieren. Im Vergleich mit anderen Sätzen aus der gotischen Bibel wird es aber klar,
dass dieses Präfix die Vollendung/Abgeschlossenheit zum Ausdruck bringt. Am
deutlichsten scheint es beim Beispiel bairan/gabairan zu sein, wo dieses Verbpaar für
das Musterbeispiel der Aspektmarkierung gilt, was auch die anderen Belege aus der
gotischen Bibel bestätigen.
Obwohl die Aspektkategorie im Gotischen vorhanden ist, ist sie im Verfall begriffen.
Man kann einen konstanten Abbauprozess beobachten, was zur Entwicklung einer
neuen grammatischen Kategorie führt – des Artikels. Der bestimmte Artikel entwickelte
sich aus den Demonstrativpronomina sa, so, þata und übernimmt die perfektivierende
Funktion des ga-Präfixes in Folge der Degrammatikalisierung von ga-. Der Artikel tritt
immer öfter auf und kodiert die Definitheit. Dabei ist die Hierarchie von Topik und
Fokus von großer Bedeutung. Denn Topik (Hintergrund) beinhaltet die schon erwähnten
(bekannten) Informationen und Fokus führt die neuen ein. Deswegen kommt der
bestimmte Artikel im Topik und der unbestimmte im Fokus vor. Solches Verhältnis
beobachtet man auch im Gotischen: qaþ þan Iesus: let ija!; in dag gafilhis meinis
fastaida þata (Joh 12, 7) (vgl. Kotin 2012, 215). Die Kategorie des Artikels entwickelt
sich und letztendlich verdrängt sie die Aspektkategorie. Im Polnischen gibt es diese
Kategorie nicht, deswegen treten mehrere Probleme bei der Übersetzung des Deutschen
ins Polnische auf. Aus dieser Sicht ist das Gotische eine wichtige Quelle für die
Untersuchung
der
Sprachentwicklung.
Es
präsentiert
eine
grammatikalisierte
Aspektkategorie, eine Aktionsartkategorie und das Vorhandensein und eine konstante
Entwicklung des Artikels. Eine andere Reaktion auf das Verschwinden des Aspekts ist
auch nach Leiss (2000) die sekundäre Imperfektivierung, die im Gotischen nicht
vorhanden ist, was ein Argument der Slawisten gegen das Vorhandensein des Aspekts
im Gotischen war. Obwohl nach ihnen die reinen Aspektpaare in Folge der sekundären
Imperfektivierung entstehen, spricht man dem Gotischen nicht ab, dass es über eine
69
Kategorie verfügt, die mithilfe von u.a. ga- die Abgeschlossenheit der dargestellten
Handlung kodieren. Die Slawisten postulierten, dass die Aspektkategorie aus zwei
Oppositionen
besteht:
Determiniertheit/Indeterminiertheit
und
Terminativität/
Aterminativität. Das Gotische verfügt über keine Kategorie Determiniertheit/
Indeterminiertheit, die nach Maslov eines der Grundelemente dieser Kategorie ist,
verfügt aber über die Kategorie Terminativität/Aterminativität, die nach Schlegel im
engen Zusammenhang mit dem Aspekt steht (vgl. Schlegel 2002, 33). Obwohl sich die
Aspektkategorie im Gotischen nicht auf demselben Niveau wie diese im Russischen
oder Polnischen befindet, bleibt es unumstritten, dass sie im Gotischen vorhanden ist
und mithilfe von unterschiedlichen Mitteln ausgedrückt wird, wo als Hauptmarker der
Perfektivität das ga-Präfix fungiert.
.
70
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nazwisko i imię
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kierunek studiów
Zielona Góra, dnia ………………………..
UNIWERSYTET ZIELONOGÓRSKI
W ZIELONEJ GÓRZE
OŚWIADCZENIE
Świadoma(y) odpowiedzialności karnej oświadczam, że przedkładana praca
dyplomowa/magisterska*
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została napisana przeze mnie samodzielnie i nie była wcześniej podstawą żadnej innej
urzędowej procedury związanej z nadaniem dyplomu wyższej uczelni lub tytułów
zawodowych.
Jednocześnie oświadczam, że w/w praca nie narusza praw autorskich w rozumieniu
ustawy z dnia 4 lutego 1994 r. o prawie autorskim i prawach pokrewnych innych osób
(DZ.U. tj. z roku 2000 Nr 80 poz. 904) oraz dóbr osobistych chronionych prawem
cywilnym.
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