Parlamentarismus - Evangelische Akademie Tutzing

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Verfällt der deutsche Parlamentarismus?
Herbsttagung des Politischen Clubs
Gibt es den unabhängigen Abgeordneten eigentlich noch, der nur seinem
Gewissen unterworfenen ist? Die politische Praxis legt eine andere Vermutung
nahe: Parlamentarier werden immer häufiger durch Parteivorstände gegängelt,
durch Regierungskommissionen bevormundet und durch den Fraktionszwang
entmündigt.
Im Zentrum der Demokratie sollte grundsätzlich das Parlament stehen: das höchste
Verfassungsorgan der Republik. Doch wie es scheint, entmachtet es sich selber und wird
immer mehr an den Rand des politischen Geschehens gedrängt. Leistet sich die
Bundesrepublik Deutschland damit einen permanenten Verfassungskonflikt? Ist die
Gewaltenteilung aufgehoben? Stellen plebiszitäre Elemente und relatives
Mehrheitswahlrecht Wege in die Zukunft dar?
Auf der Herbsttagung des Politischen Clubs galt es, Antworten auf diese Fragen zu
finden. Lesen Sie nachfolgend Auszüge aus den Vorträgen von Professor Hans-Jürgen
Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sowie von Olaf Scholz,
Generalsekretär der SPD, und Professorin Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen
Bundestages a.D.:
Hans-Jürgen Papier
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Die Parlamente – Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit
Die zentrale Stellung der Parlamente in der Demokratie des Grundgesetzes
Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine dezidiert parlamentarische Demokratie, das
Regierungssystem der Bundesrepublik ein dezidiert parlamentarisches Regierungssystem.
Der Deutsche Bundestag ist auf der Ebene des Bundes das einzige Verfassungsorgan, das
über eine unmittelbare Legitimation durch das Staatsvolk verfügt; in derselben Weise sind es
in den Ländern die Landesparlamente, die unmittelbar vom Volk gewählt werden. Sämtliche
anderen Verfassungsorgane in Bund und Ländern leiten ihre Legitimation von den
Parlamenten ab. Die Parlamente sind notwendige Glieder in jeder demokratischen
Legitimationskette, gleichgültig ob es organisatorisch-personell um die Berufung in staatliche
Ämter oder ob es sachlich-inhaltlich um die Kontrolle und um die Verantwortlichkeit bei der
Ausübung von Staatsgewalt geht. Der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes verlangt, dass
die Parlamente selbst die wesentlichen Entscheidungen für das Gemeinwesen treffen.
Die Macht der Parlamente in Deutschland könnte also kaum größer sein. Dennoch ist, mit
Blick auf die Verfassungswirklichkeit, von Machteinbußen der Parlamente und von einer
Entparlamentarisierung der Politik die Rede, und das nicht ganz ohne Grund und ohne dass
sich heftiger Widerspruch regen würde.
Machtzuwachs und Funktionswandel des Bundesrats
Das sicherlich auffälligste Phänomen im Spannungsfeld von parlamentarischer Demokratie
und Bundesstaatlichkeit bildet der Machtzuwachs des Bundesrats und dessen Wandel zu einer
Art „Ersatz-“ oder „Zweit-Opposition“. Der Machtzuwachs spiegelt sich vor allem in einem
Anstieg des Anteils zustimmungsbedürftiger Bundesgesetze wider, der seit einiger Zeit bei
etwa 60 % liegt; ein Großteil der gesellschaftspolitisch bedeutsamen Gesetzesvorhaben der
letzten Jahre fällt hierunter. Allerdings beruht die Machtposition des Bundesrats auch auf
einem durchaus eigentümlichen Wahlverhalten. Denn schon seit längerer Zeit bevorzugen die
Wähler bei den für die Zusammensetzung des Bundesrats maßgeblichen Wahlen zu den
Landesparlamenten diejenigen Parteien, die sie bei der jeweils zurückliegenden
Bundestagswahl in die Opposition verwiesen haben. Erst aus diesem Hin- und Her-Pendeln
der Wählergunst resultiert letztlich die Schlüsselposition des Bundesrats.
In der Öffentlichkeit wird diese Schlüsselposition vielfach als Blockadepotential
wahrgenommen. Der Bundesrat fungiert bei politisch brisanten Gesetzesvorhaben des Bundes
häufig weniger als Vertretung spezifischer Länderinteressen, sondern nicht selten als
parteipolitischer Gegenpart zur Regierungspolitik. Man mag diese Funktionsverschiebung
politisch beklagen, verfassungsrechtlich zu beanstanden oder gar zu verhindern ist sie indes
im Grundsatz nicht.
Wesentliche politische Entscheidungen haben sich jedenfalls aus der parlamentarischen
Beratung heraus verlagert in einen Verhandlungsverbund von Regierungsvertretern aus Bund
und Ländern. Das Gegenspiel von parlamentarischer Mehrheit und parlamentarischer
Opposition ist in gewissem Grade ersetzt durch eine eigengeartete Wechselbeziehung
zwischen Bundesregierung einerseits und Bundesratsmehrheit andererseits. Diese schwankt
zwischen einer wechselseitigen Blockade im ungünstigen und einer - Bund und Länder
übergreifenden - informellen „Großen Koalition“ im günstigen Falle. Entscheidungen sind
zumeist nur mehr im Konsens (zumindest) zwischen den beiden großen Volksparteien
möglich. Grundlegende Reformen und Richtungsentscheidungen sind unter diesen
Bedingungen naturgemäß wesentlich erschwert. Auch Wahlen entscheiden im Grunde
weniger über politische Programme und Weichenstellungen als vielmehr über die Verteilung
der Karten in künftigen Verhandlungsrunden - manchmal entscheiden sie deshalb auch gar
nichts.
Korrekturmöglichkeiten und Alternativen
Die Verschiebungen in dem Kräftefeld von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat
erscheinen mir als das gravierendste, zugleich aber auch am schwersten lösbare Problem in
der Verfassung unseres politischen Systems.
Bisherige Reformbemühungen richten sich vor allem auf einen gewissen Rückbau der
Zustimmungsrechte des Bundesrats. Doch stößt auch dies auf Grenzen. So ist das
Zustimmungsrecht des Bundesrats bei der Gesetzgebung über Steuern, deren Aufkommen
ganz oder teilweise den Ländern und Gemeinden zufließt, also insbesondere bei der
Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer, wohl unverzichtbar. Zu weitgehend erscheint
mir auch der Vorschlag, die Grundgesetzbestimmungen zu streichen, wonach Bundesgesetze,
die verfahrens- oder organisationsrechtliche Vorschriften enthalten, insgesamt der
Zustimmung des Bundesrats bedürfen. Die Verknüpfung von materiellem Recht und
Vollzugsregelung kann im Einzelfall politisch durchaus geboten sein, und in einem solchen
Fall erfüllt das Erfordernis, dass der Bundesrat dem Gesamtpaket zuzustimmen hat, seinen
guten Sinn. Wo es andererseits an einem politisch zwingenden Grund für die Verknüpfung
fehlt, dort kann auch schon nach geltendem Verfassungsrecht, wie etwa beim
Lebenspartnerschaftsgesetz geschehen, durch eine Aufteilung des Gesetzesinhalts jedenfalls
das materielle Regelungsvorhaben gegen einen eventuellen Einspruch des Bundesrats
durchgesetzt werden. Dass es dann in den Ländern möglicherweise zu unterschiedlichen
Ausführungsregelungen kommt, muss man unter dem Blickwinkel föderalistischer Vielfalt
nicht unbedingt als Schaden oder Schönheitsfehler sehen.
Eine weitreichende Entflechtung ließe sich meines Erachtens nur erzielen, wenn man den
Bundesrat durch einen Senat, ähnlich dem US-amerikanischen Vorbild, ersetzte, also zu
einem echten Zwei-Kammer-Parlament überginge. Die Mitglieder eines Senats wären –
anders als die Mitglieder des Bundesrats – nicht gleichzeitig Mitglieder einer
Landesregierung; die Landesregierungen verlören – umgekehrt – ihren unmittelbaren Einfluss
auf die Bundespolitik. Aufgelöst wäre damit zugleich die Verknüpfung zwischen den
Länderexekutiven und der Bundesgesetzgebung. Schließlich hätten auch die Wahlen in den
Ländern wieder ihren jeweils eindeutigen Bezugspunkt: Landtagswahlen würden unter
landespolitischen, Senatswahlen unter bundespolitischen Vorzeichen stehen. Dies könnte
zugleich dazu beitragen, den faktischen „Dauerwahlkampf“ etwas abzumildern, der durch die
beständige Abfolge der Landtagswahlen entsteht und der sich auf die Gesetzgebungsarbeit im
Bund nicht eben förderlich auswirkt. Zudem könnten sich über ein Senatsmodell wieder
klarere Mehrheitsverhältnisse und auch eine Stärkung des Persönlichkeitselements ergeben.
Gefahren für den Parlamentarismus durch verbändestaatliche Tendenzen
Ich meine hiermit die partielle Verlagerung - oder den Versuch der Verlagerung – von
wichtigen politischen Entscheidungen aus dem Bereich der staatlichen Institutionen und der
verfassungsmäßig vorgesehenen Verfahren heraus in verschiedene Formen einer Kooperation
mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbänden und Interessenvertretungen.
Es geht also zum einen um die Satellitenschar von Kommissionen, Räten,
Sachverständigengremien, usw., die die Regierung umkreisen und als deren prominenteste
Beispiele die Rürup-Kommission, die Hartz-Kommission oder der „Nationale Ethikrat“
stehen bzw. standen. Nicht übersehen werden sollte auch, dass unterhalb der Ebene dieser
„Groß-Kommissionen“ zahlreiche weniger auffällige Einrichtungen tagen, wie etwa eine
„Task Force“ von Vertretern der Pharmaindustrie, der Gewerkschaften und des Wirtschaftsund Gesundheitsministeriums, die sich mit den Folgen der geplanten Gesundheitsreform
befassen soll. Mit in den hier interessierenden Zusammenhang fallen schließlich
Verhandlungsrunden – wie etwa das „Bündnis für Arbeit“ – oder Absprachen, wie etwa der
bekannte „Atomkonsens“ oder vor einiger Zeit eine Vereinbarung zwischen der
Bundesregierung und dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller, der sich zur
Abwendung eines unbequemen Gesetzesvorhabens bereit erklärte, der Krankenversicherung
400 Millionen DM zur Verfügung zu stellen.
Kurz: Das Bedenkliche an der „Kommissionitis“ ist nicht die Inflation des Wortes
„Kommission“. Zu beanstanden ist natürlich auch nicht, wenn sich die Politik über
Expertengremien externen Sachverstand erschließen will. Es kommt mir dabei auch nicht auf
die Anzahl von Kommissionen an, sondern auf deren tatsächlichen und intendierten Einfluss
auf die politische Entscheidungsfindung und auf die Art und Intensität dieses Einflusses.
Umgehung der Verfahren und Aushöhlung der Formen
Die Gefahr besteht in der Umgehung der Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen
Demokratie und in der Aushöhlung ihrer Formen. Denn die Mitglieder von Kommissionen
repräsentieren nicht nur Sachverstand, sondern auch eindeutig identifizierbare Interessen von
Verbänden, Organisationen und Unternehmen. Problematisch wird es dann, wenn die
Artikulation partikularer Interessen in die verfassungsmäßigen Verfahren staatlicher
Willensbildung hineinzuwirken und bestimmenden Einfluss auf die dem Parlament
vorbehaltene Sachentscheidung zu gewinnen beginnt.
Denn viele jener in den letzten Jahren ins Leben gerufenen Kommissionen sollten weniger der
informatorischen Ermittlung von Entscheidungsgrundlagen dienen, als vielmehr der
maßgeblichen Vorstrukturierung, wenn nicht gar Vorentscheidung der ihnen aufgegebenen
Fragen. Damit gewinnt aber ein sehr selektiv bestimmter Kreis von Interessenten einen
überproportionalen und in seiner Legitimität fragwürdigen Einfluss auf Entscheidungen und
politische Weichenstellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Entsprechendes gilt
für die verschiedenen Formen von Kooperationen und Vereinbarungen. Der eigentlich
berufene Bundestag sieht sich dagegen bei derartigen Gestaltungen in die Rolle einer
„Ratifikationsinstanz“ gedrängt, die zu einer ihr unterbreiteten Vorlage nur mit „Ja“ oder
„Nein“, häufig genug aber eben nur mit „Ja“ antworten kann, weil sie unter dem politischen
Druck steht, das mühsam erzielte Verhandlungsergebnis nicht zu gefährden. In solchen Fällen
bleibt die Letztentscheidung zwar – formal gesehen – beim Parlament, gleichgültig ob es die
Ergebnisse von „Konsensrunden“, den Inhalt von Vereinbarungen oder die Abschlusspapiere
von Kommissionen nachvollzieht und als Gesetz verabschiedet. Der Form, die gewahrt bleibt,
kann jedoch das materielle Substrat, die Substanz entzogen sein, weil die politischen
Weichenstellungen bereits früher und außerhalb des Parlaments erfolgt sind.
Die Bedeutung der parlamentarischen Demokratie für den Sozialstaat
Der Sozialstaat ist – unjuristisch gesprochen – eine gewaltige Verteilungsmasse, seine Reform
ist ein gewaltiger Akt der Um- und Neuverteilung der Gewichte. Wie überall, wo der Staat
verteilend und regulierend tätig ist, finden sich auch hier gut organisierte Interessen, die
wissen, wie sie über ihre Lobbies die Hebel anzusetzen haben, und auf der anderen Seite
wiederum Interessen, die sich nach den Gesetzen der politischen Ökonomie kaum
schlagkräftig bündeln lassen und die deshalb leicht unter die Räder geraten. Vor diesem
Hintergrund stehen die Parlamente, vor allem der Bundestag, vor einer besonderen
Belastungs- und Bewährungsprobe. Denn die parlamentarische Demokratie und das
repräsentative Mandat der gewählten Abgeordneten rechtfertigen sich gerade auch dadurch,
dass auch den Belangen derer Geltung verschafft werden muss, die nicht von sich allein aus
die Kraft und Fähigkeit haben, sich zu artikulieren, sich zu organisieren und sich
durchzusetzen. Auftrag des Sozialstaats ist es ferner, zu unterscheiden zwischen den wirklich
existenziellen Bedürfnissen und berechtigten Erwartungen auf der einen und bloßer
Besitzstandswahrung und überzogenem Anspruchsdenken auf der anderen Seite. Die
Fähigkeit zu solcher Unterscheidung setzt eine gewisse Distanz oder Distanziertheit zu den
Kräftefeldern des gesellschaftlichen Verteilungskampfes voraus. Das Parlament muss darauf
achten, diese Distanz zu wahren, wenn es nicht Gefahr laufen will, zum bloßen verlängerten
Arm in diesem Verteilungskampf zu werden.
Talkshows als „Ersatzparlamente“?
Die Wechselbeziehung von Politik und Medien ist nichts grundlegend Neues. Gerade die
Demokratie ist auf die Vermittlung durch die Medien angewiesen; erst die Medien öffnen
vielen Bürgern einen Zugang zur Politik, der ihnen sonst verschlossen wäre. Trübsinnig
stimmt nur, dass sich in dieser Wechselbeziehung Politik und Medien – und zwar gemeinsam
und zum beiderseitigen Schaden – in einer offenbar unentrinnbaren Spirale der Verflachung
und Banalisierung bewegen. Man kann das verkürzend wie folgt beschreiben: Der Trend zur
Informationsverdünnung, zur Simplifizierung, wenn nicht sogar Unterdrückung jedes
halbwegs komplexen Stoffes; die „Verspaßung“ ernsthafter Themen auf der einen und die
künstliche Aufregung um Nebensächliches auf der anderen Seite usw.
Hat die Symbiose von Politik und Medien aber dazu geführt, dass die politischen Talksshows
tatsächlich zu den „Ersatzparlamenten“ der Republik geworden sind? Ich meine, man sollte
eher von „Scheinparlamenten“ sprechen. Denn was in den Talkshows und ähnlichen Runden
inszeniert wird, ist vielfach eine künstliche Welt. Die immer gleichen medienkompatiblen
Politiker führen einen Streit, den die wenigsten wirklich ernst nehmen; Experten geben
Ratschläge, auf die keiner hört; Wirtschaftsführer mahnen zur Vernunft und warnen vor dem
Abgrund – aber all das bleibt letztendlich doch folgenlos. Und in der nächsten Sendung wird,
in thematischer Hinsicht, die nächste Sau durch´s Dorf getrieben.
Mehr Distanz zwischen Politik und Medien
Nach meinem Dafürhalten täte auch in der Beziehung von Politik und Medien ein Mehr an
gegenseitiger Distanz beiden Seiten gut. Denn einerseits hat noch keine Talkshow dazu
geführt, dass danach ein Haushaltsdefizit verschwunden oder die Arbeitslosenzahl gesunken
wäre. Nach den „Scheinparlamenten“ müssen eben doch die „richtigen“ Parlamente an die
Arbeit. Und diese müssen sich nicht nur mit den Sachproblemen in ihrer vollen Komplexität
und Schwierigkeit befassen, sondern sie müssen häufig genug auch die falschen Erwartungen
korrigieren oder die Verunsicherungen bei den Bürgern beheben, die in den vorangegangenen
Medieninszenierungen entstanden sind.
Umgekehrt fordert die Nähe zur Politik aber auch auf der Seite der Medien ihren Preis. Man
muss sich hier vor Verallgemeinerungen und Übertreibungen hüten, aber ein gewisser Teil der
politischen Berichterstattung besteht bereits heute in der schlichten Weitergabe professionell
lancierter Pressemitteilungen oder darauf basierender Agenturmeldungen. Statt, wo dies
angebracht ist, kritisch nachzufragen oder das Gemeldete kompetent zu bewerten, wird nicht
selten ebenso schlicht die entsprechende Pressemitteilung der Gegenseite nachgeschoben. Es
sollte nicht so weit kommen, dass sich die Medien letztlich zum bloßen Sprachrohr der
Pressesprecher machen und sich von dort die Themen und die Inszenierung ihrer
Aufbereitung diktieren lassen.
Schlussbemerkung
Welches Resumée lässt sich ziehen? Die Gegenüberstellung von Verfassungsanspruch
einerseits und Verfassungswirklichkeit andererseits verführt leicht dazu, in die Verfassung
zunächst ein idealisierendes Bild des Parlamentarismus zu projizieren, um dann die politische
Wirklichkeit in um so dunkleren Farben zeichnen zu können. Das wäre gewiss die falsche
Methode. Allerdings weisen das Grundgesetz und die Länderverfassungen den Parlamenten
eine zentrale Stellung in unserer demokratischen Staatsordnung zu. Gemessen an diesen
normativen, verfassungsrechtlichen Vorgaben wird man sicherlich sagen müssen, dass es
gewisse Tendenzen zur Entparlamentarisierung und dass es Gefährdungen des
Parlamentarismus gibt. Die Ursachen – das zeigen die drei von mir herausgegriffenen
Bereiche des Föderalismus, des Einflusses der Verbände und der Mediendemokratie – sind
verschieden geartet und lassen sich nicht über einen Leisten schlagen. Entsprechendes gilt
natürlich für die Möglichkeiten der Therapie.
In allen drei Bereichen gibt es allerdings Erscheinungsformen der Entparlamentarisierung,
deren Ursachen auch in den Parlamenten selbst zu suchen sind. Der Grund für die
Kraftlosigkeit und den geringen Gestaltungswillen vieler Landesparlamente liegt jedenfalls
nicht in unserer bundesstaatlichen Verfassungsordnung. Die Verlagerung wichtiger politischer
Vorentscheidungen in außerparlamentarische Gremien ist ein Politikstil, den ein Parlament
hinnehmen, der ihm aber nicht aufgezwungen werden kann. Wenn deshalb von
Machtverlusten der Parlamente gesprochen wird, so handelt es sich, jedenfalls in Teilen, auch
um selbst verursachte. Und wenn eine Stärkung und Erneuerung des Parlamentarismus
gefordert wird, so muss diese auch von den Parlamenten selbst geleistet werden.
Olaf Scholz
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Politische Parteien und Bundestag
Es ist offensichtlich: Unsere Republik befindet sich im Umbruch. Und ebenso klar ist: Dieser
Umbruch wirkt sich auch auf den Parlamentarismus und das Parteiensystem in Deutschland
aus. Aber wie? Verhindern traditionelle Vorkehrungen und Traditionen die zeitgemäße
Modernisierung unserer Republik? Gibt es Wechselwirkungen zwischen dem nun
eingeleiteten Umbau unseres Gemeinwesens und seinen institutionellen Mustern? Welche
Rollen nehmen Parteien und Bundestag wahr? Was hat sich bereits verändert und was
verändert sich weiter?
Meine Damen und Herren, „gegängelt“, „bevormundet“, „entmündigt“ - träfen diese
Vorwürfe auch nur zur Hälfte zu, dann wäre es in der Tat nicht sehr gut bestellt um den
deutschen Parlamentarismus. Und dann wären es, wenn ich die Kritik richtig verstehe, nicht
zuletzt die politischen Parteien, die die Schuld an diesem vermeintlichen Verfall des
Parlamentarismus tragen.
Ich spreche hier vorläufig von „vermeintlichem“ Verfall, weil ich nicht ganz sicher bin, ob
das alles stimmt. Die Rede vom Verfall der Parlamente ist ja nicht so neu. Sie hat den
Parlamentarismus begleitet, seit er sich als neuzeitliches Regierungsprinzip in Großbritannien
durchsetzte. Gemessen daran jedenfalls hat sich das Parlament als äußerst zählebige
Institution erwiesen und seine Stellung im Zentrum der politischen Entscheidungsprozesse
zumindest in formeller Hinsicht behauptet. Deshalb muss die These vom Verfall der
Parlamente oder des Parlamentarismus ja nicht unbedingt falsch sein. Falsch ist sie allerdings
nach meiner Überzeugung in ihrer gängigsten Fassung. Falsch ist nämlich der Vorwurf, in der
Bundesrepublik sei die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive heute faktisch
aufgehoben, abgeschafft, verloren gegangen.
Diesem Vorwurf liegt ein überkommenes, konstitutionalistisches Verständnis von
Parlamentarismus zugrunde, das ganz einfach nicht mehr zeitgemäß ist. In diesem
Konstitutionalismus, in dem das Parlament als Repräsentant des Volkes der vom Herrscher
eingesetzten Regierung als Kontrolleur gegenüberstand, befinden wir uns heute längst nicht
mehr. Es ist nicht zu erkennen, wie die parteiendemokratische Frontstellung, also der neue
Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, noch einmal aufgelöst und das
klassische, konstitutionelle Gewaltenteilungskonzept doch noch in die Praxis umgesetzt
werden könnte. Das ist allerdings kein Schaden. Denn nach einem modernen und zeitgemäßen
Verständnis von Parlamentarismus stehen sich Legislative und Exekutive, stehen sich
Bundestag und Regierung gerade nicht als Ganze gegenüber. Vielmehr bilden der Kanzler mit
dem Kabinett und die Bundestagsmehrheit eine personell ineinander verschränkte politische
Aktionseinheit. Dieser Regierungsmehrheit stehen ganz im Sinne der Idee von checks and
balances die Fraktionen der parlamentarischen Opposition gegenüber. Erst aus dieser
Konstellation ergibt sich im echten parlamentarischen Regierungssystem die Möglichkeit zu
einer umfassenden Kontrolle der Exekutive. Parlamentarische Demokratie wird also nicht
mehr ausschließlich durch den Gegensatz von Legislative und Exekutive bestimmt, sondern
auch durch den Gegensatz von Regierungsmehrheit und Opposition.
Dieser neue Parlamentarismus basiert auf dem Prinzip des mehrheitsdemokratischen
Parteienwettbewerbs. Diejenigen Parteien, die aus den Wahlen als Sieger hervorgehen, stellen
die Regierung. Die Minderheit übernimmt die Rolle der Opposition.
Was nun als permanenter Verfassungskonflikt bezeichnet werden könnte, das ist in
Wirklichkeit nicht die Folge der Funktionsweise unseres parlamentarischen Systems. Der
Konflikt liegt anderswo, nämlich zwischen der tatsächlichen Funktionsweise unseres
Parlamentarismus einerseits und dessen öffentlicher Wahrnehmung andererseits. Wie sich in
empirischen Untersuchungen gezeigt hat, messen die Bürgerinnen und Bürger unseren
Parlamentarismus vielfach an Maßstäben, die gar nicht zu ihm passen. Viel populärer als das
parlamentarische Regierungssystem ist das präsidentielle, bei dem das Volk zum einen den
tatsächlichen Chef der Regierung wählt, andererseits aber auch ein Parlament, das der
Regierung als Ganzes gegenübersteht.
Das gibt es auch. Aber das ist nicht das Modell der parlamentarischen Demokratie in der
Bundesrepublik.
Missverständnisse über die reale Funktionsweise unseres Parlamentarismus
1. Zur berechtigten Kritik an den politischen Parteien gibt es sicherlich immer genügend
Gründe. Aber wo die Parteiendemokratie zum Übel an sich erklärt wird, da fehlt es in sehr
grundsätzlicher Weise an Einsicht in die Funktionsbedingungen moderner Politik. Professor
Hennes, bekanntlich seit Jahrzehnten einer der schärfsten Kritiker der deutschen Parteien, hat
es folgendermaßen ausgedrückt, ich zitiere: „Dass politische Herrschaft, wenn sie eine
demokratische sein will, unter modernen Bedingungen Herrschaft durch Parteien sein muss
und soll, das versteht sich von selbst.“
Ich glaube, dass es richtig ist zu dem zurückzukehren, was auch unser Grundgesetz sagt, dass
nämlich die Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken und wir nicht eine
politische Öffentlichkeit entwickeln, die die Parteien zum Problem der Demokratie erklärt.
Wir haben viel zu tun, dieses politische Missverständnis unserer parlamentarischen
Demokratie auch wieder in Ordnung zu bringen.
2. Wo nicht erkannt wird, dass es Aufgabe jeder Parlamentsmehrheit ist, die aus ihr
hervorgegangene Regierung im Amt zu halten, da herrscht folgerichtig auch Unverständnis
darüber, weshalb Koalitions- und Oppositionsfraktion im Parlament meist einheitlich
abstimmen.
Viele Bürger können sich parlamentarische Mannschaftsdisziplin nur als Ergebnis
irgendwelcher Einschüchterungsversuche und Zwangsmaßnahmen durch Partei- und
Fraktionsführung vorstellen. Richtig ist, dass es sich hier zweifellos um eine Form der
Selbstdisziplinierung handelt, keineswegs aber um eine Selbstentmündigung. Dieses
Verhalten ergibt sich absolut folgerichtig aus der parlamentarischen Funktionslogik selbst,
denn die parlamentarische Mehrheit hat ein ganz natürliches Interesse daran, die Regierung zu
stützen.
3. Erst recht keine Klarheit besteht heute in großen Teilen der Bevölkerung über die Rolle
der Abgeordneten. Parlamentarier würden, um die einschlägigen Formulierungen zu
wiederholen, von Partei- und Fraktionsführung auf skandalöse Weise gegängelt, bevormundet
und entmündigt.
Auch dieser Vorwurf verkennt, dass die Abgeordneten selbst auf verschiedenen Ebenen
Führungsfunktionen in ihren jeweiligen Parteien bekleiden. Sie sind also in gewisser Weise
selbst die Partei. Parlamentarier müssen deshalb in aller Regel eben nicht von irgendwelchen
Mächten zur Fraktionsdisziplin gezwungen werden, vielmehr ist Fraktionsdisziplin ein ganz
natürlicher Bestandteil dessen, was parlamentarisches Regieren unter Bedingungen von
Parteiendemokratie notwendigerweise ausmacht.
Tatsächliche Probleme von Parlamentarismus und Parteiendemokratie
In der modernen Politikwissenschaft ist die Rede von „Transformation der Demokratie“, von
der „Entparlamentarisierung der politischen Systeme“, einige Wissenschaftler sprechen sogar
vom „Heraufziehen der postparlamentarischen Demokratie“. Man ist sich also, wie es scheint,
unter den wissenschaftlichen Experten heute weitgehend darüber einig, dass die Parlamente
an Bedeutung eingebüßt haben und dass sie unter den veränderten Rahmenbedingungen ihre
Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion nicht mehr ausreichend erfüllen könnten. Wichtige
Regulierungen, heißt es, würden zunehmend in innerstaatlichen und internationalen
Verhandlungssystemen beschlossen oder doch zumindest so weit vorbereitet, dass die
Parlamente nur noch abnicken, was anderswo im Grunde schon beschlossen worden sei.
Regierungen, so heißt es weiter, seien immer mehr in Kooperation mit gesellschaftlichen
Organisationen und den Regierungen anderer Staaten eingebunden, und sie würden sich damit
zunehmend der Kontrolle durch die Parlamente entziehen. Im so genannten kooperativen, auf
die ständige Aushandlung zwischen vielfältigen Akteuren angewiesenen Staat erlitten daher
die Parlamente einen gravierenden Funktionsverlust.
Das hat vielfältige Konsequenzen, gerade auch im Hinblick auf den Parteienwettbewerb.
Parteien, die sich gegenüber ihren Wählern als möglichst klar konturierte Alternativen
präsentieren müssen, sind im kooperativen Staat immer stärker darauf angewiesen,
Kompromisse zu schließen.
Grundsätzlich ist es zwar zu begrüßen, wenn zwischen politischen Kontrahenten
Kompromisse möglich sind, unbestreitbar ist aber, dass damit die Wahrscheinlichkeit wächst,
dass Wählerinnen und Wähler die Verantwortlichkeit für politische Entscheidungen nicht
mehr ohne weiteres der Regierung oder der Opposition zuordnen können. Die orientierende
Funktion des Parteienwettbewerbs nimmt ab. Wir müssen uns klarmachen, dass wir es mit
einer riskanten Entwicklung zu tun haben, wenn sich Bürgerinnen und Bürger angesichts der
zunehmenden Unübersichtlichkeit politischer Verfahren ohnmächtig fühlen. Das Vertrauen in
Parlament und Abgeordnete schwindet. Die Folge ist, dass sich Bürgerinnen und Bürger aus
den Prozessen der Politik verabschieden, die Wahlbeteiligung sinkt, die Bindungskraft der
Parteien lässt nach.
Diese Entwicklung wird noch dadurch verstärkt, dass das Parlament - weniger jedenfalls als
früher - in der Öffentlichkeit als Bühne der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen
wird. Als neue Bühne haben sich zum Beispiel unzählige Talkshows etabliert. Diese
problematische Entparlamentarisierung des Öffentlichen wird uns noch manches
Kopfzerbrechen bereiten.
Was ist zu tun?
Als Allheilmittel gegen solche Entfremdungstendenzen zwischen Bürger und Politik werden
häufig plebiszitäre Verfahren genannt. Die direkte Einflussnahme auf Entscheidungen sei
derjenige Mechanismus, mit dem sich eine neue Identifikation mit dem politischen System
schaffen lasse.
Ich bin da nicht so sicher. Ich glaube nicht, das plebiszitäre Verfahren das Allheilmittel für die
Defizite des Parlaments sind. Was diesen Verfahren ganz fehlt, ist das Element des
Austauschs von Argumenten in einem überschaubaren Verfahren. Deshalb ist die
Überlegenheit direkt demokratischer Verfahren gerade dort zweifelhaft, wo es um
Entscheidungen von großer Tragweite geht.
Dennoch können plebiszitäre Verfahren eine positive Wirkung dadurch entfalten, dass sie den
Bürgerinnen und Bürgern als Handlungsmöglichkeiten überhaupt zur Verfügung stehen. Dies
könnte einerseits Parlamente und Parteien dazu veranlassen, ihr Handeln oder Nicht-Handeln
argumentativ besser als bisher zu unterfüttern. Andererseits könnte die bloße Existenz
plebiszitärer Mitwirkungsmöglichkeiten mithelfen, die von Populisten ausbeutbare
Vorstellung zu überwinden, derzufolge die Bürger heute den politischen Eliten hilflos
ausgeliefert seien. Deshalb sollten wir, davon bin ich fest überzeugt, im Grundgesetz die
Möglichkeit direkter Volksgesetzgebung verankern.
Es muss uns sehr klar sein, dass sich die Rahmenbedingungen von Parlamentarismus und
Parteiendemokratie ändern. Deshalb ist die zugespitzte Leitfrage dieser Tagung „Verfällt der
deutsche Parlamentarismus?“ die richtige Frage zur richtigen Zeit, und wir werden noch viel
Mühe darauf zu verwenden haben, sie nicht bejahend beantworten zu müssen.
Rita Süssmuth
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Die Ohnmacht des Parlaments
Mir liegt heute Nachmittag daran, dass wir den Blick auch auf die handelnden Personen in
den Institutionen richten. Dabei schicke ich voraus, dass mich die Frage „Ansehensverlust des
Parlaments?“ in all den Jahren umgetrieben hat, zumal dieser sich ständig verstärkt und auch
beschleunigt hat. Die empirischen Werte sind immer schlechter geworden und haben sich
nicht auf einem bestimmten Niveau stabilisiert.
Eine Schwächung des Parlaments ist nicht primär durch entscheidende Veränderungen der
Stellung des Parlaments und der im Parlament geltenden Regeln erfolgt, sondern durch eine
permanente Aushöhlung, auch durch ein Unterlaufen dessen, was parlamentarische Regeln
sein müssten. Dabei hat insbesondere der Bundesrat seit 1989 sehr stark in den Kompetenzen
gewonnen, auch in Bezug auf seine europapolitischen Kompetenzen.
Die Schwächung des Parlaments schlägt sich nicht nur in der Wahrnehmung der Bürger und
Bürgerinnen nieder, sondern in der Wahrnehmung insbesondere all jener, die als Abgeordnete
– gleich, welcher Fraktion – zunehmend den Eindruck gewinnen: Wir sind eher Zustimmende
als Entscheidende. Das, was für außenpolitische Verträge generell gilt, dass wir nur mit „ja“
oder „nein“ antworten können, gilt für immer mehr Bereiche, die vorentschieden sind. Was
ich erlebt habe, ist eine zunehmende Erfahrung von Parlamentariern, keinen Einfluss zu
besitzen.
Ohnmacht heißt ja, ohne Macht, ohne Einfluss zu sein. In aller Regel kommen die meisten
neuen Parlamentarier mit hohen Erwartungen in unser Parlament. Sie haben dann sehr bald zu
lernen, dass das Innovative in ihnen, das Lebendige, stark abnimmt. Das nennt man die
deformation professionelle, die Anpassung an das System. Und die wird sehr rasch gelernt.
Wenn du durchkommen willst, passe dich an.
Folglich muss ich sagen: Es hat nicht nur eine wachsende Zahl von Parlamentariern das
Gefühl von geringer bis keiner Einflussnahme, sondern es entspricht sich hier etwas. Das
Volk sagt, wir sind ohnmächtig und können nichts tun; die Parlamentarier sagen es hingegen
nicht, haben aber auch das gleiche Gefühl.
Was die Empirie ebenfalls zutage gefördert hat, heißt: So verärgert die Menschen oft über
unsere politischen Verhaltensweisen auch sind, aber es wächst der Wunsch nach mehr
Beteiligung. Das ist für die Frage „Welche Zukunft hat die Demokratie?“ eine gute Sache.
Was hilft mir ein gutes System ohne Menschen, die mitmachen? Das ist aber bei den
Parlamentariern eher als eine Art von Bedrohung zu sehen: Wenn die Bürger sich jetzt auch
noch mehr beteiligen wollen, wo bleibt denn dann eigentlich unsere Stellung in der
repräsentativen Demokratie?
Die Umstellungen, die wir für die Zukunft brauchen, auf die gehen wir nicht ein und
schimpfen dann auf Kommissionen. Viele unserer parlamentarischen Anhörungen könnten
wir uns sparen, weil diejenigen, die daran teilnehmen, schon genau wissen, dass nach dem
Schlüssel der Parteien aufgeteilt wird, und am Ende haben sie so gut wie keinen Einfluss auf
das Verfahren genommen. Diese Scheinanhörungen können wir uns sparen. Entweder
nehmen wir die Anzuhörenden aus Verbänden, der Wissenschaft oder woher auch immer
ernst und setzen uns damit auseinander – oder dieses Instrument hat keinen Sinn.
Bürgerbeteiligung nutzen
Ich nenne das so deutlich beim Namen, weil wir um dieser parlamentarischen Demokratie
willen eine Reihe von Umstellungen vornehmen müssen. Lassen Sie mich das Beispiel der
Unternehmenskultur anführen. Davon können wir eine Menge lernen.
In modernen Unternehmenskulturen wird das getan, was wir dringend vom Parlament aus
brauchen: Information, Kommunikation, Transparenz und Beteiligung. Ich kenne inzwischen
viele Unternehmen, wo die Beschäftigten Vorschläge unterbreiten, die geprüft werden und auf
die sie in aller Regel in vier Wochen eine Antwort bekommen. Was das für die Motivation
und Produktivität in einem Unternehmen bedeutet, sagen ihnen die evaluierenden Berichte.
Diese Erfahrung machen viele Bürger und Bürgerinnen bei uns nicht, weder auf der
kommunalen, noch auf der Länder-, noch auf der Bundesebene.
In dieser Ohne-Macht-Situation haben wir gleichzeitig das Phänomen von Unter- und
Überschätzung. Worin die Unterschätzung besteht, habe ich soeben dargestellt: Wir können
nicht adäquat Einfluss nehmen, obwohl wir in Ausschüssen sind, obwohl wir abstimmen, etc.
Die Überschätzung besteht darin: „Also wisst ihr, wir als Politiker und Politikerinnen wissen
schon, wie das Ding zu lösen ist.“ Dabei ist es in ganz vielen Fällen so, auch in den
schwierigen Reformvorhaben, dass wir noch längst nicht wissen, wie eine Sache adäquat zu
lösen ist. Wenn Einzelne sagen, sie hätten die Lösung, dann dauert es lange, bis sie
Mehrheiten dafür finden. Deswegen ist es ganz entscheidend, dieses Prozesshafte auch den
Bürgern mitzuteilen, dass wir für vieles keine Lösung besitzen und dass wir auch wissen, dass
ein beträchtlicher Teil an Lösungsvorschlägen aus der Bürgerschaft selbst kommt. Ich könnte
Ihnen das an vielen Beispielen erläutern, gerade im Familien- und Sozialpolitischen, im
Gesundheitspolitischen. Gegenwärtig wird das wachsende Engagement der Bürgerschaft
maßlos unterschätzt, und wir kritisieren bei 30 Prozent Beteiligung, dass niemand sich
engagieren wolle. Die Menschen unseres Landes wollen nicht einfach von oben nach unten
Weisungen erhalten; wir könnten unser Bürgerpotenzial weit besser ausschöpfen, als wir das
gegenwärtig tun. Zur lebendigen Demokratie gehört dieses.
Plebiszite
Es gibt Plebiszite, die ich nicht gleich verwerfen würde. Länder, die über europäische
Verfassungsveränderungen abstimmen lassen, die haben gar keine schlechten Erfahrungen
gemacht, zumal alle politisch Handelnden verpflichtet waren, den Bürgern und Bürgerinnen
Sachverhalte zu erklären und dafür zu werben. Die Sache hat also zwei Seiten. Natürlich
besitzt das Plebiszit die Gefahr der momentanen, auch unreflektierten Entscheidung. Aber
welches Parlament ist denn gesichert vor unreflektierten Entscheidungen? Dort kommen sie
auch zustande. Auch von den Argumenten, warum wir in der Bundesrepublik nicht den
Bundespräsidenten wählen können, überzeugt mich fast keines. Wir wollen das nicht. Wir
wollen die alte Form beibehalten. Aber von all den Ländern, die auch keine
Präsidialverfassung haben und die den Präsidenten wählen, weiß ich nicht, wo diese
undemokratischer wären oder wo sie Schaden genommen hätten. Wir blockieren uns selbst an
verschiedenen Stellen. Denn was wir gegenwärtig in fast allen Bereichen vorfinden, das ist
Vertrauensverlust. Und ohne Vertrauen können wir in der Demokratie nicht arbeiten. Wenn
Sie das Vertrauen erst einmal verloren haben, dauert es sehr lange, bis Sie es zurückgewinnen.
Das können Sie nur durch überzeugende Taten, nicht allein durch institutionelle Reformen.
Die Reformen besitzen lediglich eine unterstützende Funktion.
Entscheidungen treffen
Ein zentrales Problem in unserem politischen System und damit auch im parlamentarischen
ist die Entscheidungsscheuheit und Konfliktscheuheit. Also: „Bevor ich die falsche
Entscheidung treffe, treffe ich gar keine.“ Und was mag passieren, wenn wir die falsche
Entscheidung getroffen haben? Für die muss ich einstehen! Ich kann im parlamentarischpolitischen System nicht handeln, ohne auch Fehler zu machen. Wir möchten zwar alle gleich
sein, aber am liebsten immer die Entscheidungen auf einen Verantwortlichen abwälzen, damit
die anderen nicht an der Verantwortung teilhaben. Das ist ein maßgeblicher Grund. Und wenn
ich dann noch Entscheidungen in Vier-Jahres-Perioden sehe, dann muss ich sagen: Vieles,
was in der Politik zu entscheiden oder nicht zu entscheiden ist, wird primär betrachtet unter
dem Gesichtspunkt der Wiederwahl.
Oft geht Macht vor Sache. Das erzeugt Widerwillen und Ablehnung und Kritik. Natürlich
habe ich darauf zu achten, dass ich in der Demokratie um Zustimmung und Wiederwahl
werbe. Aber wenn ich deswegen ganz bestimmte, lange anstehende Probleme nicht löse, habe
ich es eigentlich nicht verdient, wieder gewählt zu werden. Deswegen gehört zur
parlamentarischen Demokratie: Die Wahrheit ist zumutbar, die Wahrheit ist konkret. Das
ständige Beschönigen von Tatbeständen bringt uns nicht weiter.
Diskussions- und Streitkultur stärken
Wie diskutieren wir miteinander? Ein zentraler Ablehnungsgrund des Parlaments ist die
fehlende Parlamentskultur. Es ist die Art und Weise, wie Menschen – und hier die
Repräsentanten des Volkes im wichtigsten Forum der Nation - miteinander umgehen.
Beobachten Sie Parlamentsdebatten. Sie folgen sehr häufig dem Muster „Wie bringe ich
zwischen Mehrheit und Opposition ins Feld, dass der eine der Sieger, der andere der Verlierer
ist?“ Die besten Redner sind die mit den meisten Schlagabtauschen. Der Öffentlichkeit wird
dadurch der Eindruck vermittelt: Hier herrscht brutale Auseinandersetzung mit dem Wort.
Das Muster gilt insbesondere für die Parteien: Wenn du den anderen nicht fertig gemacht hast,
warst du kein guter Redner. Das widerspricht allen Regeln, die wir uns gegeben haben in der
Frage des respektvollen, fairen, wenn auch harten Umgangs in der Debatte.
Wie steht es eigentlich – das gehört ebenfalls zur Parlamentskultur – mit dem Streit, auch in
der eigenen Fraktion? Es würde unseren Fraktionen und Parteien gut tun, selbststreitig
mitzudiskutieren. Jeder, der in einer Debatte unterliegt, kann zu einem anderen Zeitpunkt
dann auch wieder erfolgreich sein. Wir würden gewinnen durch eine gekonnte Streitkultur in
Fraktionen und im Parlament. Da ist sehr viel zu lernen. Debatten, in denen unsere
Abgeordneten selbst ihre Positionen darstellen können, so genannte freigegebene Debatten,
zeigen, dass die Abgeordneten erstens hohe Potenziale besitzen, dass sie sehr verantwortlich
mit der Argumentation umgehen und dass wir keinesfalls ein Chaos anrichten.
Ich fürchte, dass wir unserer jungen Generation, in der genügend Talente vorhanden sind,
wenig Ermunterung gegeben haben, dass eine Demokratie von Engagement und Zivilcourage
lebt. Ich gehe davon aus: Ohne die Veränderung der handelnden Personen, ohne politische
Überzeugungen und Visionen, nur mit Pragmatismus und Opportunität kann eine Demokratie
sich nicht gut entwickeln.
(Die vollständigen Vorträge können über das Pressereferat der Akademie bezogen werden.)
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