Vorlesung „Wissenschaftstheorie“ (Voigt; Wintersemester 2007/2008) 4. Die Induktion und ihre Probleme (5. 11. 2007) 1. Der Begriff der Induktion ‚Induktion’ bedeutet allgemein: der methodische Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen. Dieser Übergang ist konstitutiv für Wissenschaften, die es mit einzelnen beobachtbaren Gegenständen zu tun haben. Ohne ihn werden derartige Wissenschaften dem Anspruch nicht gerecht, sich auch auf allgemeine Sachverhalte zu beziehen (vgl. 2. Sitzung). Im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte tritt Induktion in zwei verschiedenen Formen auf: der aristotelischen Induktion bzw. Epagoge, die von qualitativen Einzelbeobachtungen auf Wesensbestimmungen schließt, sowie der modernen Induktion, die von einer großen Anzahl von Beobachtungen auf Gesetzmäßigkeiten schließt. 2. Die aristotelische Induktion Die aristotelische Induktion beruht auf folgenden Voraussetzungen: VAI1 VAI2 Jeder beobachtbare Gegenstand hat ein unveränderliches, begrifflich fassbares Wesen. Jeder beobachtbare Gegenstand ist nur von diesem Wesen her als solcher zu erkennen. Jede Erkenntnis eines beobachtbaren Gegenstands setzt die (implizite) Kenntnis des Wesens daher schon voraus, d.h.: Das Wesen ist das „an sich Bekannte“, der beobachtbare Gegenstand dagegen das „für uns Bekannte“. Daraus ergeben sich die Stufen der aristotelischen Induktion: SAI1 Umgang mit dem „für uns bekannten“ beobachtbaren Gegenstand, begleitet von einem unscharfen Wesensbegriff und darauf beruhenden Überzeugungen SAI2 a) b) c) Kritisches, von Erfahrung geleitetes Prüfen der auf den beobachtbaren Gegenstand bezogenen Überzeugungen, v.a. durch Aufdecken von Mehrdeutigkeiten Auffinden von Unterschieden Erheben von allgemeinen Bestimmungen SAI3 Intuitives Erfassen des Wesensbegriffs, der die bisherigen Schritte geleitet hat 3. Kritik an der aristotelischen Induktion Die neuzeitliche Wissenschaft grenzt ihre eigenen induktiven Methoden mit kritischen Einwänden von der aristotelischen Induktion ab: VAI1* Die Annahme eines unveränderlichen, begrifflich fassbaren Wesens jedes beobachtbaren Gegenstands bedarf selbst eines Beweises und kann daher nicht eine Grundlage einer wissenschaftlichen Methode sein. (Verschärfte, nominalistische Fassung: Diese Annahme ist schlichtweg falsch, kann daher nicht bewiesen werden und erst recht nicht Grundlage einer wissenschaftlichen Methode sein.) VAI2* Es trifft nicht zu, dass jeder beobachtbare Gegenstand nur von seinem unveränderlichen, begrifflichen Wesen her als solcher zu erkennen ist. Seite 1 von 2 Vorlesung Erkenntnistheorie (2. Sitzung, 22. 10. 2007) 3. Die moderne Induktion und ihre immanenten Probleme Die moderne Induktion besteht darin, unter Verzicht auf den aristotelischen Wesensbegriff einen strengen Zusammenhang zwischen einer wohl bestimmten Menge (Klasse) einzelner beobachtbarer Gegenstände und einer Eigenschaft aufzuweisen. Diesem Zweck dienen verschiedene Verfahren: MI1 Aufzählende Induktion: Übergang von einer Reihe von P, die zugleich Q sind, zu der Behauptung „Alle P sind Q“. Problem: Dieser Übergang ist logisch nicht gerechtfertigt. MI2 Eliminationsverfahren: Zusätzlich zu dem Nachweis, dass alle bislang bekannten P zugleich Q sind, wird nachgewiesen, dass es aufgrund bestimmter Naturgesetze Faktoren gibt, die negative Fälle ausschließen. Problem: Wie gelangen wir – ohne vorausgehende Induktion – zur Kenntnis derartiger Naturgesetze? MI3 Wahrscheinlichkeitsverfahren: Zusätzlich zu dem Nachweis, dass alle bislang bekannten P zugleich Q sind, wird nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit eines negativen Falles unter einem konventionell festgelegten Schwellenwert S liegt. Problem: Dies ist eigentlich nur eine Variante von MI2, deren Gesetzesannahmen einen Wahrscheinlichkeitsfaktor enthalten. 4. Prinzipielle Kritik an der modernen Induktion KMI1 Induktion wird von der Wissenschaftstheorie als Methode der real praktizierten Wissenschaft überschätzt. Wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu ihren allgemeinen Annahmen kommen, ist beliebig und belanglos. KMI2 Jede Induktion ist an eine bestimmte Theorie gebunden. Um zu wissen, ob dies die richtige Theorie ist, müssten wir einen vollständigen Überblick über alle alternativen Theorien besitzen. Dieser ist jedoch nicht möglich. Also ist jede induktive Erkenntnis unsicher. 5. Stand der Diskussion Nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion ist Induktion für wissenschaftliches Vorgehen unverzichtbar, darf aber nicht naiv auf der Annahme einer einzigen richtigen Theorie geschehen. Vielmehr ist jede Induktion mit einem „Schluss auf die beste Erklärung“ (nach C.S. Peirce) verbunden: P1 P2 C Gegeben ist ein erklärungsbedürftiges Faktum E. Gegeben ist ein Hintergrundwissen W, aus dem sich für eine bestimmte Hypothese bzw. Hypothesenmenge H ergibt: H ist eine mögliche Erklärung für E, bzw.: Wenn H wahr ist, dann erklärt H E. „Abduktive Vermutung“: H ist wahr. Literatur: Artt. „Induktion“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I-K. Hrsg. v. J. Ritter u. K. Gründer, Basel-Stuttgart 1976, Sp. 323-334; A.F. Chalmers, Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, Berlin u.a. 52001; G. Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt 2007, S. 47-53; Chr. Pietsch, Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen, Stuttgart 1992 Seite 2 von 2