Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 1 von 34 Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform in der Bundesrepublik Deutschland Dr. Ellis Huber im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Unser Ziel: Solidarität, Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Gesundheitswesen Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 2 von 34 I. Situationsbeschreibung und Reformperspektiven 1. Gesellschaftliche Bedingungen und Entwicklungspotentiale für das Gesundheitssystem und die Gesundheitswirtschaft Deutschland besitzt ein immer noch gut funktionierendes und vor allem entwicklungsfähiges Gesundheitswesen. Es benötigt aber eine grundlegende Neuordnung und Modernisierung. Qualität, Bedarfsgerechtigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung müssen vor den Herausforderungen der Zukunft bestehen können. Die Gesundheitssystementwicklung in der Bundesrepublik Deutschland hat weit reichende Bedeutung für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Gemeinwohl aller hängt wesentlich davon ab, ob der notwendige Reformprozess glückt oder misslingt. Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystems fördert und schützt die Gesundheit des einzelnen Menschen und die Gesundheit der gesamten Bevölkerung gleichermaßen. Kranken Menschen gibt es die Sicherheit, dass sie die bestmögliche Hilfe erhalten und dass sie von der Gesellschaft nicht im Stich gelassen werden. Die zentralen Funktionsprinzipien des deutschen Gesundheitssystems sind Solidarität, Subsidiarität und Selbstorganisation. In einem solidarischen System erhalten Krankenversicherte alle medizinischen Leistungen, die sie benötigen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Einkommen oder ihrem Alter. Alle Einwohnerinnen und Einwohner tragen entsprechend ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung bei. Mitmenschlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit für kranke Menschen sind das Managementziel, das die unterschiedlichen Gesundheitsrisiken zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, arbeitenden und arbeitslosen Personen, Singles und Familien, Männer und Frauen oder gesunden und kranken Menschen ausgleichen und tendenziell abbauen soll. Die subsidiäre Gestaltung der Gesundheitsversorgung lebt von der dynamischen Spannung zwischen zentraler und dezentraler Organisation. Sie verbindet autonome und lokale Netzwerke oder Bevölkerungsgruppen so mit zentralen Diensten, dass die Potentiale der Selbstorganisation optimal zur Geltung kommen. Das derart gestaltete Versorgungsmanagement folgt einem konsequent föderalen Strukturmuster. Was die Bürgerinnen und Bürger selbst, gemeinsam vor Ort und zusammen in der Region bewältigen können, wird ihnen nicht von oben vorgeschrieben und weggenommen. Eine solche Kultur der Selbstorganisation stärkt die individuellen und die sozialen Gesundheitsressourcen. Ziel der subsidiären Gestaltung des Gesundheitssystems ist die aktive Partizipation der betroffenen Menschen an ihrer Gesundheitsversorgung und die optimale Entfaltung der individuellen wie kollektiven Selbstheilungskräfte. Subsidiarität verbindet die Freiheit des Einzelnen mit seiner sozialen Verantwortlichkeit und die Sicherheit der Menschen durch ein solidarisches Gesundheitssystem ist eine zentrale Voraussetzung für ihre Freiheit. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 3 von 34 1.1 Die Bedeutung und die Konflikte der sozialen Krankenversicherung Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist das Herzstück des Sozialsystems der Bundesrepublik Deutschland. Eine gute Gesundheitsversorgung gehört zum sozialen Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger und sie trägt zur Lebensqualität in Deutschland entscheidend bei. Denn die soziale Krankenversicherung stellt für die Menschen einen grundlegenden Wert dar, der sie zusammenführt und die Gesellschaft auch zusammen hält. Die Kernaufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung beinhaltet die Kultivierung von solidarischen Communities, von sozialen Gemeinschaften also, die sich um die Gesundheit ihrer Mitglieder echt und wirklich kümmern. Alle Einwohnerinnen und Einwohner bekommen ohne ökonomische oder soziale Diskriminierung sicheren Zugang zu einer zweckmäßigen, notwendigen und ausreichenden Gesundheitsversorgung. Diese Kernaufgabe der Krankenkassen muss, unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen, auf neue Art und Weise gelöst werden. Die Kernaufgabe der Ärzte und Heilkundigen, der Krankenhäuser und gesundheitlichen Dienste in der Gesellschaft umfasst die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und gleichzeitig preiswerten Hilfe für alle Menschen in Deutschland. Auch diese Kernaufgabe der Bedarfsbestimmung und Kostenminimierung, also der Gesundheitsdienst in sozialer Verantwortung muss ebenfalls auf neue Art und Weise, verlässlich und nachhaltig erfüllt werden. Die Gesundheitsreform beinhaltet einen Prozess der Reorganisation sämtlicher Versorgungsweisen und auch eine Reanimation der sozialen Verantwortlichkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Produktivität der Primärprozesse wie beispielsweise die direkten Leistungen in der Arzt-Patient-Beziehung sind für eine ressourcensparende Wertschöpfung von Gesundheit bestimmend. Die sekundären Funktionen wie Gesetzgebung, Verwaltung, Servicedienste oder Verbandsinteressen müssen radikal verschlankt werden. Die Optimierung des sozialen Gewinns und des individuellen Nutzens im Gesundheitssystem ist eine kontinuierliche Aufgabe aller Beteiligten, die von vornherein fachkundige Produktivität mit haushälterischem Mitteleinsatz verknüpfen müssen. Ein schlankes Gesundheitssystem mit maximaler Wertschöpfung - diese politische Gestaltungsaufgabe ist die wirkliche Herausforderung. 1.2 Die zentralen Versorgungsprobleme Die zentralen Probleme des Gesundheitswesens der Bundesrepublik Deutschland sind bekannt: Die betroffenen Patientinnen und Patienten und die einzelnen Akteure im System klagen über mangelnde Transparenz und Beteiligung. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 4 von 34 Die Koppelung der Krankenkassenbeitrage an das Arbeitseinkommen führt zu einer überproportionalen Belastung der Löhne und Gehälter Die Ergebnisse der Versorgung sind unzureichend, es gibt Bereiche der Unter-, Über- und Fehlversorgung.1 Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind auch in der Gesundheitsversorgung benachteiligt und eine wachsende Zahl von Menschen besitzt keinen Versicherungsschutz. Die Private Krankenversicherung privilegiert gut verdienende und besonders gesunde Bevölkerungsgruppen. Die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung verursacht überproportionale Kosten und ist im Vergleich zu anderen Ländern zu teuer. Die Kommunikation unter den beteiligten Akteuren im Versorgungssystem ist blockiert, die offiziellen und informellen Äußerungen klaffen weit auseinander und eine Kultur des gegenseitigen Misstrauens herrscht vor. Die einzelnen Sektoren im System pflegen ihre gruppenegoistischen Opportunitäten, ein Verständnis für die systemischen Zusammenhänge ist unterentwickelt oder gar nicht vorhanden. Die ökonomischen Anreize im System führen zur Medikalisierung psychosozialer Problemlagen und zu unproduktiver Mengenausweitung medizinischer Interventionen. Die Misstrauenskultur und Pfründekonkurrenzen lassen die Überwachungsprozeduren wuchern, die Overhead-Kosten steigen und schlucken Ressourcen, die der gesundheitlichen Wertschöpfung entzogen werden, die Ergebnisqualität des Systems nimmt deutlich ab. Die Desintegration auf der Ebene der Systemsteuerung gleicht einer Krebszellenökonomie: Die Verhaltensweisen einzelner Institutionen oder Organisationen im Gesundheitssystem stehen im Widerspruch zur Gesamtaufgabe. Jeder versucht unter Inanspruchnahme der Systemressourcen möglichst unkontrolliert zu wachsen. Statt auf gemeinsame Leistung für die Gesundheit blickt man auf den materiellen Profit der einzelnen Zelle. Gesamtnutzen im Gesundheitswesen und lukratives Verhalten für ein Krankenhaus, eine Arztpraxis oder eine Krankenkasse stimmen nicht überein. Kostendämpfung mündet in einen Streit um Kostenverantwortung. Die verschiedenen Parteien versuchen entlang des Wertschöpfungsstromes ihre jeweils eigenen Interessen auf Kosten anderer zu verteidigen und ihre Gewinne zu maximieren. 1.3 Das veränderte Krankheitsspektrum und die ökonomischen Zwänge Die Entwicklung von Gesundheit und Lebenserwartung wird heute nicht mehr wie früher von Infektionskrankheiten und Unfällen bestimmt, sondern durch chronisch degenerative Erkrankungen, also vor allem Herzkreislauferkrankungen, Krebs, Muskel-Skelett-Erkrankungen, Zuckerkrankheit und zunehmend auch seelische Erkrankungen. Solche Erkrankungen verursachen über drei Viertel der Krankheitstage und Sterbefälle. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 5 von 34 Die Versorgung von etwa 90 % aller Versicherten kostet die Krankenkassen insgesamt nur 20% der vorhandenen Mittel, für die anderen etwa 10 % werden 80 % der Ressourcen benötigt. Die „teuersten“ zwei Prozent der Krankenversicherten verursachen etwa die Hälfte der Gesamtausgaben, und das „teuerste“ Prozent verbraucht um die 30 % der Ressourcen 2. Die Hälfte der Lebenszeitkosten für die einzelnen Versicherten fallen die letzten zwölf Lebensmonate an, unabhängig davon, in welchem Alter diese beginnen. Die schwerwiegenden Erkrankungen in der heutigen Gesellschaft haben bei aller Verschiedenheit drei Gemeinsamkeiten: sie sind zumeist nicht heilbar und erfordern deshalb in der Regel lebenslange Begleitung und Betreuung, sie können durch moderne Methoden der Prävention in erheblichem Umfang verhütet werden (Primärprävention) und sie treten bei sozial benachteiligten Menschen wesentlich häufiger auf als bei besser gestellten. Viele chronisch kranke Menschen müssen trotz Handicap ihr Leben meistern und mit Gebrechen umgehen. Krebspatienten, Rheumakranke oder Diabetiker wollen dabei nicht nur Befunde geliefert bekommen, sondern auch in ihrem Befinden ernst genommen werden. Kranke Menschen erwarten zunehmend eine Medizin, die körperliche, seelische und soziale Aspekte integriert und auf ihre Krankheiten mit ganzheitlichen Konzepten reagiert. Der allgemeine Wandel der Krankheitsbilder vermittelt insgesamt eine deutliche Botschaft: Die exklusiven Kräfte im gesellschaftlichen Gefüge beeinträchtigen das individuelle Wohlbefinden ebenso wie das allgemeine Wohl. Die Krankheiten des sozialen Bindegewebes werden im 21. Jahrhundert zur zentralen Herausforderung für Medizin und Gesundheitspolitik. 1.4 Gesundheit als Produktivfaktor Die Qualitätsdefizite, Versorgungslücken und Unwirtschaftlichkeiten des bundesdeutschen Gesundheitssystems betreffen einen zentralen Kern des Gemeinwohls. Gleichzeitig sind sie zu komplex, um sie einzelnen Lobbygruppen und Interessenverbänden zu überlassen. Die erforderliche Neuordnung braucht ein politisch überzeugendes und wirtschaftlich tragfähiges Konzept, das die beteiligten Akteure auf ihre soziale Verantwortung verpflichtet und entsprechend orientiert. Alle Beteiligten wissen, dass es so wie bisher nicht mehr weiter gehen kann und dass eine grundlegende Erneuerung des Systems notwendig ist. Sie erwarten von der Politik Orientierung und Führung. Die Bürgerinnen und Bürger suchen unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen zunehmend nach Geborgenheit im Sozialen, nach neuer Mitmenschlichkeit und einer lebendigen Gemeinschaft. Sie spüren intuitiv, dass dies ihrer Gesundheit am stärksten zu Gute kommt. Eine überwältigende Mehrheit, nach aktuellen Umfragen des „Gesundheitsmonitors“ der Bertelsmann Stiftung sogar 77% der Bevölkerung unterstützen daher die Prinzipien der solidarischen Krankenversicherung3. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 6 von 34 Auch für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit ein Maßstab für den sozialen Fortschritt. Gesundheit gilt als Ressource und Produktivfaktor für die gesellschaftliche Entwicklung und nicht mehr nur als Kostenfaktor oder Produkt medizinischer Dienstleistung. Die Reform des Gesundheitswesens kann sich an den weltweiten Diskussionen einer nachhaltigen, sozialökologischen Entwicklung und an den Konzepten einer aktiven Zivil- oder Bürgergesellschaft orientieren. Moderne Gesundheitspolitik stellt sich damit in Gegensatz zu den neoliberalen Konzepten und eindeutig auf die Seite der sozial Ausgegrenzten. Deren umfassende Berücksichtigung ist der Maßstab für eine leistungsfähige und sozial gerechte Gesundheitsversorgung. 1.5 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für das Gesundheitssystem Investitionen in die Gesundheit der Bürger sichern die Human-Ressourcen und stärken die inklusiven und produktiven Kräfte der modernen Gesellschaft. Individuelle und soziale Gesundheit stellen eben Werte dar, die nicht an der Börse gehandelt werden können. Gesundheit als Ziel bildet ein Bindegewebe, das die Menschen jenseits von ökonomischen und privaten Beziehungen miteinander verbindet. Psychosoziale Gesundheit wird vor allem durch Beziehungsstörungen bedroht und die Krankheiten der Moderne erfordern auch so etwas wie Heilkunst für das soziale Beziehungsgefüge von Menschen, die miteinander produktive Leistungen erbringen wollen. Ein an humanistischen Werten ausgerichtetes systemisches Verständnis der Organisationen des Gesundheitswesens wird daher zur zentralen Führungsaufgabe. Die bestimmenden Akteure wie Politik, Krankenkassen oder die helfenden Professionen, vor allem die Ärzteschaft müssen den Wandel von der geldgesteuerten Optimierung ihrer Partikularinteressen zu einer wertgesteuerten Optimierung der individuellen und sozialen Gesundheit schaffen. Sie können dies in einem zielgerichteten und bewussten Prozess des Change Managements erreichen und damit die heutige Verkrustung und Erstarrung des Gesundheitssystems überwinden. Zentral ist dabei die Einsicht aller Beteiligten, dass sie eben nicht Partikularinteressen vertreten, sondern eine gemeinsame Aufgabe in sozialer Verantwortung lösen müssen. 2. Das Gesundheitssystem als lernende Organisation: Erste Schritte zu einer neuen Versorgungskultur Die Integrierte Versorgung führt die Funktionen der Krankenversicherung und der Krankenversorgung organisatorisch und fachlich zusammen. Der Gesetzgeber erlaubt und ermöglicht mit der Integrierten Versorgung nach § 140 SGB V in diesem Sinne eine umfassende Modernisierung des Systems. Die erwünschten Projekte sollen neue Organisations- und Dienstleistungskonzepte entwickeln, mit denen die Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 7 von 34 bisher beklagte Zersplitterung in Sektoren und die Probleme einer Über-, Fehl- oder Unterversorgung überwunden werden. In einer Machbarkeitsstudie der Prognos AG für den AOK Bundesverband wird die Verwirklichung einer populationsbezogenen Integrierten Vollversorgung und der Aufbau entsprechender Pilotprojekte in Kooperation mit Managementgesellschaften oder „Generalunternehmern“ als gangbarer neuer Weg dargestellt4. Integrierte Versorgung fördere medizinisch sinnvolles Handeln unter ökonomisch vernünftigen Bedingungen und erreichen eine effizientere Versorgung der Versicherten. Das Prognos-Gutachten formuliert eine realistische Vision: „Es kann eine Form von Gesundheitsversorgung entstehen, die wieder den Menschen mit seinen ganzheitlichen Bedürfnissen in den Mittelpunkt der Versorgung stellt, ihn aber gleichzeitig zum Mitwirkenden und Partner macht.“5 Solche neuartigen Gesundheitsunternehmen müssen für die beteiligten Dienstleister, Kunden und vor allem Patientinnen und Patienten gemeinsame Versorgungsziele und Versorgungsinhalte vereinbaren, die Versorgungsprozesse praxis-, disziplinen- und sektorübergreifend koordinieren und ökonomisch wie medizinisch transparent gestalten, einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess managen, der die Organisationskultur und das Selbstverständnis der beteiligten Professionen und Institutionen grundlegend verändert, ein soziales System steuern, das Qualität und Wirtschaftlichkeit gleichermaßen anstrebt und ständig optimiert und die Informations- und Kommunikationstechnologie für die technische, medizinische und organisatorische Integrationsaufgabe und die prozess- oder kundenorientierte Ausformung des Versorgungsangebotes bereitstellen. Zur Bildung solcher Netzwerke ist allerdings ein geduldiger Entwicklungsprozess gefordert, der von den vorhandenen Erfahrungen bestehender regionaler Versorgungsnetze ausgeht und nun eine deutschlandweite Veränderung einleiten kann. Im Ergebnis wird dadurch nachhaltig die Ökonomie des Systems verbessert, seine Qualität gesteigert und mehr Mitmenschlichkeit erreicht. 2.2 Ein Vorbild: Reformmodelle in der Schweiz Das Krankenversicherungsgesetz der Schweiz begünstigt Integrierte Versorgungsprojekte und die dortigen Erfahrungen sind eine Bestätigung für das Konzept einer „Health Maintenance Organization“ (HMO) in sozialer Verantwortung, in der die Funktionen von Versicherung und Versorgung integriert werden. Die Versorgungskosten sind im Vergleich zur Regelversorgung um 20% bis 30% günstiger6. Solche Managed-Care-Modelle zeigen den Weg aus der Krise. In Schweizer Modellversuchen verdienen die Ärzte zunächst entsprechend der geleisteten Arbeitszeit wie die meisten anderen Menschen auch, und über eine Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 8 von 34 Gewinnbeteiligung ein wenig auch an der Gesundheit der von ihnen betreuten Versicherten, nicht an der Reparatur der Krankheit. Das spart den Versicherten etwa 20 Prozent der Beiträge. Die Gesundheitsökonomen der Bertelsmann Stiftung schätzen das Einsparpotenzial ohne jeden Qualitätsverlust durch Managed CareModelle wie die HMO´s sogar auf 30 bis 35 Prozent7. Das entspricht den Optimierungsreserven durch ein radikal verschlanktes und ganzheitlich orientiertes Versorgungsmanagement. Ein modernes Gesundheitsunternehmen verwendet 80% seiner Ressourcen für die primäre Wertschöpfung seiner Produkte und Leistungen und verbraucht nur 20% für seine Overheadprozesse. 2.3 Reformbeispiele aus Deutschland Es gibt gegenwärtig auch in Deutschland erfolgreiche Versuche, durch regionale oder sektorale Vernetzung die Versorgung zu verbessern. Beispiele sind: Das Praxisnetz Nürnberg Nord mit der AOK Bayern8 Das Unternehmen Gesundheit Oberpfalz Mitte (UGOM) mit der AOK Bayern9 Die Krankenheimversorgung in Berlin mit der KV-Berlin und den Spitzenverbänden der Krankenkassen von Berlin Das Praxisnetz Medizin und Mehr (MuM) in Bünde-Westfalen mit den Landesverbänden der Betriebs- und Innungskrankenkassen10 Die Prosper-Modelle der Bundesknappschaft (Bottrop, Recklinghausen, Saarland)11 Das Ärztenetz „Gesundes Kinzigtal“ mit der AOK Baden-Württemberg12 Die POLIKUM Gruppe mit ihrem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) in Berlin Friedenau13 In Hamburg, Berlin, Stuttgart, auf der Insel Rügen oder in Freiburg, Aachen und München, in vielen Regionen gibt es inzwischen entwickelte Initiativen, die eine umfassende Integrationsversorgung anstreben. In allen beschriebenen Versorgungsprojekten zeigen sich Ansätze einer neuen Versorgungskultur, die mit den Versorgungsproblemen besser zurecht kommt und die Strukturen des regionalen oder lokalen Versorgungssystems den Versorgungszielen und den Patientenbedürfnissen unterordnet. Diese Initiativen entwickeln sich zum „Generalunternehmer Gesundheit“. Dieses Zukunftsmodell schlägt auch die Bertelsmann Stiftung vor14: Ähnlich wie die Generalunternehmer in der Baubranche übernehmen die „Generalunternehmer Gesundheit“ für die Versorgungsprozesse im Rahmen eines Gesamtbudgets sowohl die medizinische als auch die finanzielle Gesamtverantwortung. 3. Struktur folgt Kultur: Entwicklungsfelder und neue Ordnungsmuster Eine nachhaltige Gesundheitsreform unter dem Leitbild eines Gesundheitsdienstes in sozialer Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland kann in zentrale Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 9 von 34 Gestaltungsbereiche und Ordnungsfelder gegliedert werden, die aktuell zur Diskussion stehen und die reflektiert und konsequent modernisiert werden müssen: Eine neue, ganzheitliche Medizin, die sektor- und berufsgruppenübergreifende Integration der Versorgung, ein neu gegliedertes Kassensystem, der individuelle Versorgungsprozess als Strukturprinzip im Alltag der Gesundheitsversorgung, der Ausbau einer wirksamen Prävention und Gesundheitsförderung die Verbindung von Gesundheitsdienst und sozialer Verantwortlichkeit oder die Stärkung der Patientenkompetenz und der Patientenbeteiligung. Ein modernes Gesundheitssystem muss mit gleicher Anstrengung gegen Krankheiten vorgehen und für Gesundheit sorgen. Die krankheitszentrierten Interventionsstrategien der Industriekultur werden mit den gesundheitsorientierten Entwicklungsprozessen des Informationszeitalters so verknüpft, dass im Gesundheitssystem beide Wege als gleich wichtig gelten und auch gleichberechtigt genutzt werden: 3.1 Integrierte Versorgung: Nach den Erfahrungen und Sichtweisen der Organisationsentwicklung sollte auch das Gesundheitssystem wie ein großes Unternehmen als ein vernetzter Organismus gestaltet werden, in dem sich das Zusammenspiel aller Akteure am Gesamtnutzen ausrichtet, alle also kontinuierlich beste Qualität zu günstigsten Kosten anstreben. Integrierte Organisationen entstehen dann, wenn die beteiligten Partner keine Nutzenmaximierung notfalls zu Lasten der anderen anstreben, sondern mit einer langfristigen Orientierung die Entwicklung einer gemeinsamen übergreifenden Organisation betreiben. Die Versorgung großer Bevölkerungsgruppen muss als ein integriertes Gesamtunternehmen gedacht werden, in dem alle beteiligten Akteure für die gemeinsamen Versorgungsziele an einem Strang ziehen. Krankenkassen und Dienstleister sind immer gemeinsam für das Gelingen der Versorgungsprozesse verantwortlich, Indikationsmacht und Finanzierungsgewalt dürfen nicht aufgespalten werden. 3.2 Bedarf und Bedürfnis Im Falle einer individuellen Krankheit gibt es einen relativ eindeutigen Bedarf nach sinnvoller und wirksamer medizinischer oder pflegerischer Hilfe. Die einzelnen Bürgerinnen und Bürger besitzen aber auch Bedürfnisse nach individuellem Wohlbefinden, besonderem Luxus oder Leistungen, die ihnen subjektiv gut tun und von denen sie sich einen individuellen Zusatznutzen versprechen, den andere wiederum als irrational ablehnen: „der Glaube versetzt Berge“. Der Bedarf ist definierbar und begrenzt, während die Bedürfnisse grundsätzlich unendlich sein können. 3.3 Pflichtversicherung und Wahlangebote Eine Neugestaltung und radikale Vereinfachung des Krankenversicherungssystems ist gesundheitspolitisch zwingend geboten - mit einer Pflichtversicherung für alle und Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 10 von 34 Wahlmöglichkeiten für jeden. Und ein fairer Wettbewerb um gute Versorgungsergebnisse und möglichst geringe Kosten ist nur dann möglich, wenn ein zielgenauer, sozialepidemiologisch fundierter und morbiditätsbezogener Risikostrukturausgleich stattfindet. Ohne dieses Instrument wird die strategische Option einer geschickten Risikoselektion und der Vermeidung von komplizierten Versorgungsfällen immer lukrativer sein als das Management einer wirklich solidarischen Krankenversorgung. Ein solches Ordnungs- und Strukturmuster führt zu einem Wettbewerb um möglichst gute Versorgungsergebnisse und möglichst schlanke Overheadkosten und damit zunehmend zu einer populationsbezogenen Integrierten Vollversorgung, die diesen Anforderungen am besten gerecht werden kann. Einen langfristigen ökonomischen Vorteil erwirtschaften unter diesen Bedingungen die Krankenkassen, die eine gesundheitsförderliche und präventive Verhaltenskultur unter ihren Versicherten fördern und sie befähigen, möglichst autonom und selbstbewusst mit Krankheitsproblemen und gesundheitsgefährdenden Lebensverhältnissen umzugehen. 3.4 Der individuelle Versorgungsprozess Die Versorgungsprozesse müssen auf ein individuelles "Case-Management" umgestellt werden, das im Einzelfall für kranke und hilfsbedürftige Menschen die sinnvollste und beste Hilfe quer zu den heutigen Versorgungssektoren und institutionellen Grenzen organisiert. Die Hilfen sind immer von den Menschen und ihren sozialen Gemeinschaften her zu denken und nicht danach, was sich für eine Arztpraxis, Sozialstation oder Krankenhaus am meisten rechnet. Der „CaseManager“ als Dirigent des individuellen Versorgungsprozesses muss als vertrauenswürdiger und verlässlicher Treuhänder der Gesundheitsinteressen von Patienten agieren können. Es geht um eine kreative und gleichberechtigte Integration von Medizin, Pflege, Sozialer Unterstützung, Bürgerinitiative und Selbsthilfe im Einzelfall. Der moderne Hausarzt in der primären Versorgung (dies kann in der Praxis auch ein Internist, Frauenarzt, Kinderarzt oder Arzt für Psychotherapeutische Medizin sein) übernimmt im Gesundheitssystem von morgen im Team mit anderen Gesundheitsberufen die Aufgabe eines individuellen Case-Managements. Dieses wird zum neuen Strukturmuster der Versorgungsprozesse, das die bisherige sektorale Gliederung ablöst und eine voll integrierte Gesundheitsversorgung sicherstellt. Leistungsmaßstab sind dabei die Ergebnisse und Kosten der Versorgung von großen Bevölkerungsgruppen. 3.5 Gesundheitsförderung und Prävention Gesundheitsförderung und Prävention sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die weit über die etablierten Ansätze und Institutionen des Gesundheitswesens und das System der Krankenversicherung und der Krankenversorgung hinausweist. Ihre Lösung erfordert ein langfristig angelegtes, zielorientiertes Zusammenwirken von Institutionen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens sowie eine Stärkung der gesundheitlichen Kompetenz und Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 11 von 34 Die Gesundheitsförderung muss bei den Menschen direkt ansetzen. Dies ist Aufgabe der Länder, Städte und Kommunen. Kommunen und Städte können ihren direkten Kontakt zur Bevölkerung nutzen, um über Gesundheitsprobleme aufzuklären und sie an der Gestaltung einer gesundheitsfördernden Umwelt aktiv teilnehmen zu lassen. Aktivitäten von Verbänden, Vereinen und Initiativen im Bereich der Gesundheits- und Umwelterziehung, wie z.B. Aufklärungs-Kampagnen in Stadtteilen, sind ebenso wichtig. Kommunale Gesundheitsförderung ist über viele Wege zu erreichen. Sie kann über lokale Aktionspläne zu Umwelt und Gesundheit, über Gesundheits- und Städtekonferenzen wie dem Gesunde-Städte-Netzwerk, den Kommunalen Agenda 21-Initiativen oder weitere Programme führen. Wichtig für den Erfolg ist, Parallelstrukturen zu vermeiden und Vernetzungen in und zwischen Behörden, Forschungseinrichtungen, Vereinen, Initiativen, etc. voranzubringen, um Synergieeffekte nutzen zu können. Dem 1989 gegründeten „Bundesdeutschen Gesunde Städte – Netzwerk“ gehören heute über 60 Kommunen an. In den letzten Jahren haben die Krankenkassen und ihre Kooperationspartner in der Primärprävention und in der betrieblichen Gesundheitsförderung eine Reihe übergreifender Aufgaben engagiert übernommen und erfolgreich umgesetzt. Die Initiativen und Maßnahmen der gesetzlichen Krankenkassen zur Gesundheitsförderung und Prävention müssen durch entsprechende politische und wirtschaftliche Entscheidungen und Entwicklungen unterstützt und flankiert werden. Schul-, Familien-, Sozial- und Wirtschaftspolitik oder auch die Umwelt- und Verkehrspolitik bilden wichtige präventive Handlungsfelder. 3.6 Partikularinteressen und soziale Verantwortung Ein modernes Gesundheitssystem kann nur funktionieren, wenn alle Akteure neben ihren eigenen ökonomischen und professionellen Interessen auch die allgemeinen Bedürfnisse nach Bedarf und Nutzen respektieren und das Gemeinwohl achten. Die Ambivalenz zwischen den einzelnen Gruppeninteressen im Gesundheitssystem und dem Gemeinwohlinteresse an einer guten und preiswerten Gesundheitsversorgung für alle ist nicht aufzulösen. Sie liegt in der Natur jeder Organisation, die soziale Verantwortung trägt. Die Führungskräfte in der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens müssen die damit verbundenen Konflikte möglichst transparent und öffentlich sichtbar bearbeiten und ausgleichen. Die Arbeit des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat die Widersprüche in den letzten Jahren nicht versteckt, sondern in anerkennenswerter Weise der öffentlichen Diskussion ausgesetzt. Dazu haben die Patientenvertreter in diesem Gremium wesentlich beigetragen. Auch das Beispiel der Gesundheitsförderung zeigt, dass die Krankenkassen der GKV ganz selbstverständlich und sozial verantwortlich kooperieren und das gemeinsame Versorgungsinteresse ihren Partikularinteressen unterordnen. Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung bemühen sich inzwischen aktiv und engagiert, ihrer Systemverantwortung besser gerecht zu werden. Das "Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin" sorgt sich beispielhaft für die Qualitätssicherung der ärztlichen Berufsausübung und die praktische Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 12 von 34 Entwicklung und Umsetzung der evidenzbasierten Medizin oder für ein zeitgemäßes Fehlermanagement, um die Patientensicherheit zu erhöhen15. Die Selbstverwaltung engagiert sich also eigenständig für mehr Transparenz in der Medizin, entwickelt Versorgungs- und Behandlungsleitlinien, Qualitätsindikatoren und auch Patienteninformationssysteme. Die Beteiligung von Kassenärztlichen Vereinigungen an der Entwicklung Integrierter Versorgungsnetze zeigt ebenso, dass in Ansätzen ein grundlegendes Umdenken stattfindet und sich – trotz gegenteiliger Verlautbarungen im Kampf der Lobbyisten auch ein neues Bewusstsein für die soziale Verantwortung entwickelt. Ein konsequenter, kostenwirksamer und Konsens stiftender Reformprozess kann sich auf eine Mehrheit der beteiligten Akteure stützen. Die meisten Beschäftigten und Organisationen im Gesundheitswesen sind reformbereit und reformfähig, wenn man sie ernst nimmt und ihre fachliche Kompetenz respektiert. Sie kennen die Probleme einer Über-, Unter- und Fehlversorgung, sie erleben täglich den Terror der Bürokratie und der Ökonomie und sie wollen das System im Interesse der Menschen verändern. 3.7 Versichertenperspektive und Patientenbeteiligung Eine Steuerung des Versorgungsangebotes nach den Kriterien von Bedarf und Kostenminimierung braucht eine starke Interessensvertretung für die Gesundheitsbelange der betroffenen Menschen, die wissenschaftlich solide und möglichst unabhängig Orientierung und Kenntnisse vermittelt. Der Sozialverband VdK Deutschland e.V., die Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. und der Verbund unabhängige Patientenberatung e.V. haben im Juni 2006 die „Unabhängige Patientenberatung Deutschland gGmbH“ begründet und mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen einen Fördervertrag geschlossen. Durch den Zusammenschluss der drei in der Patientenberatung erfahrenen Institutionen sind die Voraussetzungen gegeben, dass den Bürgerinnen und Bürgern Beratungs- und Informationsangebote zur Verfügung stehen, die hohe Qualitätsansprüche erfüllen und von Anbieterinteressen unabhängig sind. Die Mehrheit der Patienten will nicht mehr fürsorglich behandelt, als Objekt der Medizin entmündigt oder als Konsument ausgebeutet werden. Bürgerinnen und Bürger ebenso wie Versicherte und Patienten wollen an den Maßnahmen des Heilens und Helfens beteiligt sein. Der Patient als Kunde und Verbraucher wird künftig Kostenträger, Leistungserbringer und Industrie an ihren Ergebnissen messen und das bisher vornehmlich anbietergesteuerte Gesundheitssystem zum Umdenken zwingen. Patientenbildung wird zur Normalität. Das neue Paradigma der Patientenautonomie muss sowohl im Arzt - Patient - Kontakt als auch auf der demokratischen Ebene der Systemsteuerung umgesetzt werden. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 13 von 34 II. Grundwerte und Ziele der sozialen Gesundheitspolitik 4. Ziele und Werte moderner Gesundheitspolitik Gesundheitspolitik umfasst alle Aspekte der gesellschaftlichen Anstrengung zur Förderung, zum Schutz und zur Wiederherstellung von Gesundheit und zur Abwehr und zur Bewältigung von Krankheit16. Sie gestaltet also den gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit und sie organisiert das soziale Management der Gesundheitsrisiken vor und nach ihrem Eintritt und der Krankheitsprobleme vor und nach ihrem Auftreten. Dies beinhaltet das Formulieren der individuellen und sozialen Gesundheitsziele, das Umsetzen der individuellen und sozialen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und zur Krankheitsbewältigung, die Linderung individueller und sozialer Krankheitsfolgen, die Gestaltung und Steuerung der damit befassten Institutionen, Organisationen und Berufsgruppen und die kontinuierliche Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung. Das Ziel moderner Gesundheitspolitik ist die Entwicklung von Lebensbedingungen und Lebensverhältnissen, die krankheitsbedingte Einschränkungen der Lebensqualität und das vorzeitige Sterben von Menschen verhindern und allen die Chance eröffnen, gesund auf die Welt zu kommen, darin möglichst lange und gut zu leben und mit Würde zu sterben. Um dieses Ziel zu verwirklichen muss Gesundheitspolitik mit allen verfügbaren Möglichkeiten der Gesellschaft krankmachende Belastungen für den einzelnen und für Bevölkerungsgruppen mindern, gesundheitsdienliche Ressourcen individuell und kollektiv fördern und die dafür notwendigen Fähigkeiten und Haltungen, Hilfen und Versorgungsdienste, Unterstützungsverfahren und Behandlungsmethoden bereitstellen. Das System einer solidarischen Gesundheitsversicherung hat im Grundsatz drei Aufgaben nachhaltig und verlässlich zu erfüllen: Das Gesundheitliche Ziel: Sicherstellung einer bedarfsgerechten, erreichbaren und dauerhaft funktionsfähigen Versorgung mit den medizinisch und gesundheitlich als zweckmäßig, notwendig und ausreichend erachteten Leistungen für die gesamte Bevölkerung. Dazu zählen auch Gesundheitsförderung und Prävention. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 14 von 34 Das Ordnungspolitische Ziel: Beitrag zur Sicherung der (zunehmend gefährdeten) gesellschaftlichen Integration durch Gewährleistung der gesundheitlichen Versorgung ohne ökonomische und soziale Diskriminierung. Das Wirtschaftliche Ziel: Finanzierung, Steuerung und Strukturentwicklung der Gesundheitsversorgung als mittlerweile größte Wirtschaftsbranche nach den Kriterien Bedarf und Kostenminimierung und nicht: kaufkräftige Nachfrage und Gewinnmaximierung. 4.1 Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation für Europa Im Bereich der Gesundheits- und Umweltpolitik hat sich auf der internationalen Ebene ein grundlegender Wandel (Paradigmenwechsel) der bisherigen Sichtweisen und Bewertungen ereignet. Die Programme der "Gesundheitsförderung" und der "nachhaltigen Entwicklung" streben eine systematische Umgestaltung der Lebensbedingungen zum Wohle der Menschen an. Im September 1998 hat das Regionalkomitee für Europa dazu das Aktionsprogramm „Gesundheit21“, 21 Ziele für das 21. Jahrhundert“ beschlossen und im Jahre 2005 erneut aktualisiert17. Es versteht sich als Rahmenkonzept für Entscheidungsträger in der Gesundheitspolitik und versucht die ethische Entwicklung nationaler Gesundheitspolitik auf pragmatische und nützliche Weise zu unterstützen. "Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistem bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden." 4.2 Grundwerte der Europäischen Staaten Die von den europäischen Mitgliedern der WHO formulierten und beschlossenen ethischen Grundlagen für die Gestaltung des Gesundheitswesens, an der sich auch die deutsche Gesundheitspolitik messen muss, umfassen drei Grundwerte: Gesundheit ist ein fundamentales Menschenrecht. Gesundheitliche Chancengleichheit und Solidarität müssen die Verhältnisse in der Gesundheitsversorgung bestimmen. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 15 von 34 Partizipation und Rechenschaftspflicht des einzelnen Menschen und der beteiligten Gruppen, Institutionen, Organisationen und Sektoren sind verpflichtender Bestandteil des Handelns im Gesundheitswesen. “Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ Dieses Leitmotiv der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung beschreibt auch das neue Leitbild eines modernen Gesundheitsmanagements. Zwei Leitbilder bestimmen also die Entwicklungsprozesse der internationalen Gesundheits- und Umweltpolitik: "Nachhaltige Gesundheit", das Leitbild der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und "Nachhaltige Entwicklung", das Leitbild der Umweltkonferenz von Rio. Beide Leitbilder verknüpfen eine globale Wertorientierung mit lokalem Handeln und setzen auf kommunale und regionale Aktionen18. Sie konzipieren eine neue Politik der Bürgerbeteiligung. 4.4 Eine nachhaltige Gesundheitsreform stützt sich auf Werte Es ist unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen und im Einklang mit der europäischen Werteorientierung auch in Deutschland möglich, auf der Basis vorhandener Akteursstrukturen und mit wachsender Kompetenz die Qualität der Medizin deutlich zu verbessern, eine produktive Gesundheitsberichterstattung umzusetzen, die Kostenwirksamkeit der Versorgung zu optimieren, neue Mittel und Ressourcen zu erschließen, die Organisation und Finanzierung der Gesundheitsversorgung zu reformieren und Medizin, Pflege, Psychosoziale Dienste, Gesundheitsförderungsprojekte oder Selbsthilfepotenziale zu einem kooperativen Handlungssystem zu vernetzen. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, eine Integrierte Medizin und eine Integrierte Gesundheitsversorgung sind das gesundheitspolitische, von christlichen wie humanistischen Werten geleitete Handlungsziel, mit dem auch in Deutschland "preiswerte Gesundheit für Alle" zu erreichen ist. Die Gesundheit von Menschen wird gestärkt, wenn sie in Bildungsprozessen und auch bei Kontakten mit dem Gesundheitssystem eine Stärkung ihrer Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 16 von 34 Selbsterfahrung, Selbstwertschätzung Selbststeuerungsfähigkeit, sozialen und kommunikativen Kompetenz und Konfliktbewältigungs- oder Entspannungsmöglichkeiten erleben und ihr Selbstvertrauen und Wissen gesteigert wird. Zersplitterung, sektorale Konkurrenzen und mangelhafte Kooperation zwischen den vielfältigen Versorgungsdiensten unterschiedlichster Träger kennzeichnen das Gesundheitssystem in Deutschland. Die neue Perspektive eines Gesundheitssystems in sozialer Verantwortung stellt das Ergebnis für die individuelle und soziale Gesundheit ins Zentrum seiner Arbeit. Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention, Diagnose von Krankheiten, Behandlung, Rehabilitation und Pflege der Kranken, soziale Dienste, Selbsthilfe und kommunale oder städtische Einrichtungen sind ebenso Bestandteil eines kooperierenden lokalen Netzwerkes wie Krankenkassen, Freie Träger und Nicht Regierungsorganisationen (NGOs). Die Trennung der bisherigen Bereiche wird mit dem Ziel des gesundheitlichen Zugewinns für alle überwunden. Die dazu geforderte Kommunikation, Netzwerkbildung und Gemeinschaftskultur benötigt ein Managementsystem neuer Art, das die Transparenzmedien, Kommunikations- und Beziehungsdienste sicherstellt und dafür sorgt, dass die einzelnen Beteiligten entsprechend ihres Beitrages für das Gesamte mit Ressourcen ausgestattet sind und ihre Arbeit gut leisten können. Jedes Teil im Gesamtsystem muss seinen Beitrag realistisch beurteilen und in seinem Ergebnis einschätzen wollen. Es geht um die Errichtung und Institutionalisierung eines effektiven und effizienten Public-Health-Managements. 4.5 Transparenz über Qualität und Kosten Die regionale Gesundheitsversorgung kann durch eine kommunale Gesundheitsplanung verbessert werden, die beispielsweise Bedarfs- und Bedürfnisanalysen für die Einwohner vornimmt, Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention plant, notwendige Diagnose und Behandlungsdienste definiert und rehabilitative, psychosoziale und sozialpädagogische Dienste bewertet. In Analogie zu Stadtentwicklungsplänen oder Bebauungsplänen sollten künftig Gesundheitsentwicklungspläne öffentlich diskutiert und in den kommunalen Parlamenten verabschiedet werden. Moderne Gesundheitspolitik muss dafür sorgen, dass alle Beteiligten an der Gesundheitsversorgung Transparenz über die qualitativen wie wirtschaftlichen Systemverhältnisse erhalten, damit sie ihrer jeweiligen Funktion und Bedeutung in Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 17 von 34 einem kooperierenden Wirkungsgefüge auch gerecht werden können. Eine entsprechende Gesundheitsberichterstattung sollte Stärken und Schwächen der Versorgungsprozesse offen legen, Ergebnisse aufzeigen und kontinuierlich Optimierungsziele definieren. Die Entwicklung des Gesundheitssystems ist ein Prozess. Moderne Systeme der Gesundheitsberichterstattung sind auf allen Ebenen der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsversorgung einzurichten und zu betreiben. Gesundheitsberichterstattung ist das Basisinstrument für ein zukunftsfähiges Versorgungsmanagement. Die Gesundheitsversorgung muss wissenschaftlich fundiert und mit moderner Kommunikationstechnologie ausgestattet für die Patientenzufriedenheit arbeiten können. Dafür benötigt sie eine ergebnisorientierte Planung und ein flexibles Management. 4.6 Klare Aussagen: Das Regionalkommitee für Europa der WHO "Privatversicherungen unterhöhlen die Solidargemeinschaft oft durch individuelle Risikoeinstufung - eine besonders schädliche Form der Versorgungsfinanzierung. In diesen Fällen gestaltet sich die Grundlage von Zahlungen des einzelnen an die Krankenversicherung als risikobestimmte Prämie, die den individuellen Gesundheitszustand widerspiegelt. Ein sich auf den Wettbewerb zwischen privaten Krankenversicherungsträgern gründendes System verstößt gegen die Verteilungsgerechtigkeit und das Solidarprinzip, wenn die Versicherungsträger versuchen, sich die guten Risiken auszuwählen." (EUR/RC 48/10, S.115)19 "Gesundheit21 kann Regierungsministern, Bürgermeistern, Unternehmensdirektoren, kommunalen Entscheidungsträgern, Eltern ebenso wie dem einzelnen Bürger helfen, Handlungsstrategien zu entwickeln, die zu einer demokratischeren, sozial verantwortlichen und nachhaltigen Entwicklung führen. Gesundheit ist eine mächtige politische Plattform. Diejenigen, die die Gesundheit21 umsetzen, werden in der Lage sein: aus einer besseren gesundheitlichen Chancengleichheit Nutzen zu ziehen, die Gesundheit und Produktivität während der gesamten Lebensspanne zu verbessern, die Belastungen und Kosten infolge von Gesundheitsstörungen und Verletzungen zu reduzieren, aus multisektoralen Maßnahmen Ressourcen zu erschließen, aus eine qualitätsorientierten, kostenwirksamen Gesundheitsversorgung Nutzen zu ziehen und sich mit gesundheitlichen Belangen und den Determinanten von Gesundheit auseinander zu setzen." (EUR/RC 48/9, S.24) Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 18 von 34 III. Auf dem Weg in eine gesunde Zukunft: Reformziele 6. Die Grundstrukturen eines nachhaltigen und sozialen Gesundheitssystems Die Realisierung eines nachhaltigen und sozialen Gesundheitssystems für die Bundesrepublik Deutschland ist eine gesundheitspolitisch leistbare Aufgabe, wenn sich die politischen Entscheidungsträger auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, die Grundwerte der europäischen Länder und auf die Programme der Weltgesundheitsorganisation stützen. Die Gesundheitsreform oder das ChanceManagement des Veränderungsprozesses muss allerdings mit vielen Vorurteilen, lieb gewordenen Privilegien oder gruppenegoistischen Interessen aufräumen. Das bestehende System lässt sich erneuern und umgestalten. Mit politischer Vernunft und wissenschaftlicher Evidenz sind die folgenden Reformziele zu verwirklichen: Eine solidarische Pflichtversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger (Bedarfsdeckende Regelversorgung) Zusätzliche Wahlmöglichkeiten für individuelle Bedürfnisse (Zusatzangebote) Freie Wahl der Bürgerinnen und Bürger unter allen Krankenkassen der Regelversorgung Uneingeschränktes Aufnahmerecht (Kontrahierungspflicht) bei allen Krankenkassen und striktes Diskriminierungsverbot für alle Krankenkassen gegenüber den versicherungswilligen Bürgerinnen und Bürgern Ein sozialepidemiologisch fundierter und morbiditätsbezogener Risikostrukturausgleich zwischen allen Krankenkassen der Regelversorgung Einheitliche Wettbewerbsbedingungen für Krankenkassen und Dienstleister im Bereich der Regelversorgung, die das Spannungsverhältnis zwischen sozialer Verantwortung und gruppenegoistischen Einzelinteressen dynamisch ausgleichen Vertragsfreiheit für alle Krankenkassen und gesundheitlichen Dienstleister miteinander und untereinander Ein gemeinsamer und in sozialer Verantwortung ausgeübter Sicherstellungsauftrag für die Körperschaften der Krankenkassen und der ärztlichen wie psychotherapeutischen Berufe Eine gemischte Finanzierung des Gesundheitssystems aus individuellen Beiträgen, Steuermitteln und Sonderabgaben Ausbau und Sicherung der Prävention und der Gesundheitsförderung insbesondere in kommunaler und lokaler Zuständigkeit (Setting-Bezug) Stärkung der Patientenbeteiligung und Ausbau einer unabhängigen Patientenvertretung Strukturelle Förderung für Projekte der Integrierten Vollversorgung und einer ganzheitlichen Medizin Das soziale Gesundheitswesen muss die inklusiven Kräfte der Gesellschaft stärken und den Vereinzelungsdruck des Individuums unter den Bedingungen der Globalisierung auffangen können. Diese komplexe Aufgabe erfordert einen kontinuierlichen und nachhaltigen Veränderungsprozess, der für alle beteiligten Akteure des heutigen Gesundheitswesens mit einer langfristigen Neuorientierung Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 19 von 34 und einem deutlichen Wandel ihres Selbstverständnisses einhergeht. Sie müssen ihre partikularen Interessen dem sozialen Ziel einer preiswerten und humanen Gesundheitsversorgung für alle Einwohnerinnen und Einwohner unterordnen und die bisherige Kultur der Pfründekonkurrenz und des gegenseitigen Misstrauens überwinden. Eine nachhaltige Gesundheitsreform braucht eine entsprechende gesundheitspolitische Führung und Gesetzgebung durch Parlamente und Regierungen. 6. 1 Die Solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung Ein soziales Gesundheitssystem gestaltet gleiche Rechte und Pflichten für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Grenze zwischen Individueller Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Solidarität muss durch einfache Regeln und transparente Verhältnisse für jeden klar und verständlich sein. Dieses Ziel wird erfüllt durch eine Pflichtversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger und individuelle Wahlangebote für jeden, der das zusätzlich möchte. Die solidarische Pflichtversicherung finanziert die allgemeine Regelversorgung. Diese „Gesundheitsversicherung“ der Zukunft deckt dann den medizinischen Bedarf ab, also eine umfassende Versorgung auf hohem Niveau und mit allen medizinischen, psychosozialen, sozialpflegerischen, rehabilitativen oder präventiven Hilfen, die im Krankheitsfall nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und der ärztlichen oder therapeutischen Erfahrung wirksam, zweckmäßig, notwendig und ausreichend sind. Zur Regelversorgung zählt auch die Sicherstellung einer systematischen Gesundheitsförderung. Alle Gesetzlichen Krankenkassen sind nach diesem Strukturmodell rechtlich gleichzustellen. Die Rechtsform kann für die einzelnen Kassen unterschiedlich sein. Die bisherige „Friedensgrenzen“ zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung, die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze werden zugunsten eines neuen Leistungs- und Ergebniswettbewerbs aufgehoben. Alle Bürgerinnen und Bürger zahlen einen einheitlichen, prozentualen Beitrag ihres Einkommens für die Solidarische Bürgerinnen und Bürgerversicherung. Beitragspflichtig sind alle Einkommensarten. Also: „Alle geben von allem den gleichen Anteil.“20 Die Beiträge aus unselbstständiger oder selbstständiger Arbeit werden wie bisher paritätisch vom Arbeitgeber oder vom Versicherten direkt abgeführt. Diese InkassoFunktion der Krankenkassen ist ein standardisierter und für alle gleicher Dienstleistungsprozess. Er wird rationalisiert und optimiert, indem die einzelnen Kassen diese Funktion an eine oder mehrere gemeinsame Einzugsstellen übertragen (Outsourcing). Von dort fließen die Mittel an einen gemeinsamen Fonds aller Krankenkassen der Regelversorgung (Gemeinsame Solidarkasse). Träger der Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 20 von 34 Gemeinsamen Solidarkasse und Gestalter des Risikostrukturausgleichs ist also die Gemeinschaft aller Kassen der Regelversorgung. Die Beiträge aus Kapital-, Miet- und Zinseinkünften und aus sonstigen Einkommen werden über die Einkommenssteuer erhoben und von den Finanzämtern an die Gemeinsame Solidarkasse weitergeleitet. Der kostendeckende Beitragssatz für die Solidarische Bürgerinnen und Bürgerversicherung ist von den Versorgungsaufgaben und dem Leistungsspektrum der Regelversorgung abhängig: Bei Wegfall aller Sonderbeiträge, Zuzahlungen und der Praxisgebühr wären gegenwärtig dafür 10,0% ausreichend und bei einem schlanken Versorgungsmanagement völlig kostendeckend21. Jede Bürgerin und jeder Bürger leistet also seinen Zehnten für die kranken und Not leidenden Mitbürgerinnen und Mitbürger und für das solidarische Gesundheitssystem. Die heutigen Zusatzbelastungen für Patienten und Versicherte sind überflüssig, sozial diskriminierend und wegen ihres Verwaltungsaufwandes auch ökonomisch unsinnig. Zusätzlich fließen in die Gemeinsame Solidarkasse Mittel beispielsweise aus der Tabak-, Alkohol- und Mineralölsteuer oder aus Sonderabgaben für gesundheitsgefährdende Produkte oder Produktionsweisen ein. Dadurch kann dann der allgemeine Beitragssatz für die Regelversorgung weiter (eine vernünftige und machbare Zielgröße wären 7%-8%) gesenkt werden. Die Krankenkassen der Regelversorgung erhalten aus der Gemeinsamen Solidarkasse für ihre Versicherten eine pauschale Zuweisung, die aus einer Basispauschale mit Risikozuschlägen besteht. Die Zuschläge bilden die unterschiedlichen Risiken nach Alter, Geschlecht und tatsächlicher Krankheit ab, sorgen also für einen realitätsnahen, sozialepidemiologisch fundierten und morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich und damit erst einheitliche Wettbewerbsbedingungen unter den Krankenkassen der Regelversorgung. Die dafür notwendigen Parameter und Instrumente sind international und gesundheitswissenschaftlich solide evaluiert und einsatzfertig vorhanden22. Ein solcher Risikostrukturausgleich ist unverzichtbare und prioritäre Voraussetzung für die Vertragsfreiheit der Krankenkassen und der Versorgungsdienste und auch für die freie Kassenwahl der Bürgerinnen und Bürger. Krankheitsfälle mit Kosten über 20.000 EURO pro Fall werden durch einen Risikopool der Gemeinsamen Solidarkasse voll rückversichert und damit von allen Kassen gemeinsam getragen. Die Träger der solidarisch finanzierten „Gesundheitsversicherung“, also alle Krankenkassen der Regelversorgung erhalten zusammen mit den ärztlichen und psychotherapeutischen Körperschaften einen gemeinsamen Sicherstellungsauftrag für die Gesundheitsversorgung insgesamt. Sie müssen den Konflikt zwischen den Interessen des Gemeinwohls und den Partikularinteressen der einzelnen Akteure im System verantwortlich klären und den Wettbewerb in sozialer Verantwortung dynamisch managen. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 21 von 34 Zugleich wird allen einzelnen Kassen die Möglichkeit eröffnet, vertragliche Regelungen mit medizinischen Versorgungsnetzen oder Gesundheitsunternehmen zu vereinbaren und speziell auf ihre Versicherte zugeschnittene Zusatzleistungen zu gestalten. 6. 2 Wahlmöglichkeiten und Zusatzversicherungen Die Entscheidungsbefugnis über den Regelleistungskatalog der Krankenkassen der Regelversorgung liegt heute beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Er ist ein Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern. Seine Aufgabe ist es zu konkretisieren, welche ambulanten oder stationären medizinischen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und somit zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gehören. Außerdem definiert er Anforderungen an Qualitätsmanagement- und Qualitätssicherungsmaßnahmen für die verschiedenen Leistungssektoren des Gesundheitswesens. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) unterstützt. Diese heute handlungsfähige und bereits bewährte Institution bewertet unabhängig den medizinischen Nutzen, die Qualität und die Wirtschaftlichkeit von Leistungen der Gesundheitsversorgung. Neben dem G-BA kann auch das Bundesministerium für Gesundheit Aufträge an das Institut vergeben. Ein eigenes Antragsrecht für die Beauftragung des Instituts haben darüber hinaus insbesondere Patientinnen- und Patientenorganisationen, Behindertenverbände einschließlich der Selbsthilfe sowie die Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Gemeinsame Bundesausschuss sind die geeigneten Akteure, um einen sozial verantwortlichen und fachlich überzeugenden Regelleistungskatalog für die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung zu definieren und die Grenze zwischen Regelversorgung und Wahlmöglichkeiten zu beschreiben. Das Institut kann zu einer fachlich und politisch verlässlichen, von Partikularinteressen weitestgehend unabhängigen Orientierungsinstanz für individuelle und kollektive Entscheidungen im solidarischen Versorgungssystem ausgebaut werden. Die Entscheidungen über den Umfang der Regelversorgung müssen öffentlich transparent und demokratisch legitimiert getroffen werden. 6. 3 Wahlfreiheit, Vertragsfreiheit und Vertrauen Neues Vertrauen der Menschen in ihre Gesundheitsversorgung und zwischen den Akteuren des Versorgungssystems entsteht nicht von selbst. Es braucht Rahmenbedingungen und Verhältnisse, die vertrauensvolle Beziehungen ermöglichen, also Wahlfreiheit, Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 22 von 34 Vertragsfreiheit, Transparenz und offene Kommunikation, eben den politischen Mut in einer solidarischen Wettbewerbslandschaft neue Freiheiten tatsächlich zu wagen und auf die selbstständige Entscheidungskompetenz der Bürgerinnen und Bürger und der Selbstverwaltungseinheiten von Krankenkassen, Ärzteschaft, Therapeuten und Patienten auch zu vertrauen. Alle Einwohnerinnen und Einwohner können unter den vorhandenen Krankenkassen der Regelversorgung ohne finanzielle oder leistungsrechtliche Nachteile frei wählen. Alle haben von Geburt an einen eigenständigen Krankenversicherungsanspruch. Die Versicherer besitzen eine gesetzlich verankerte Kontrahierungspflicht und dürfen niemanden ausschließen oder diskriminieren. Nachgewiesene Diskriminierung wird bestraft. Die Krankenkassen können mit allen Dienstleistern der Gesundheitsversorgung, Ärzten, Krankenhäusern, Sozialstationen, Gesundheitszentren oder Arzneimittelproduzenten selbstständig vertragliche Vereinbarungen treffen. Die Krankenkassen und die Dienstleister dürfen also miteinander und untereinander freie Versorgungs-, Kooperations- oder Dienstleistungsverträge schließen und ebenso frei Verbände bilden. Die historisch gewachsenen Kassenarten sind in ihrer Struktur heute überholt und im Wettbewerb um beste Versorgungsleistungen überflüssig geworden. Alle Krankenkassen der Regelversorgung, die heutigen Orts- und Ersatzkassen, Betriebskrankenkassen, Bundesknappschaft und die Seekrankenkasse sind rechtlich gleich zu stellen. Der Sonderstatus der Landwirtschaftlichen Krankenversicherung wird so neu geregelt, dass auch diese Krankenversicherung wie alle anderen handeln kann. Jede Krankenkasse kann auch in einem geordneten Rahmen mit jeder anderen fusionieren, sich Kassenverbänden anschließen oder Zusammenschlüsse begründen. Die elektronischen wie sozialen Transparenz- und Kommunikationsmedien werden weiter entwickelt und ausgebaut, um das Gesundheitssystem zu einer lernenden Organisation umzugestalten. Die Organisationen der Patientenbeteiligung erhalten dabei eine eigenständige und unabhängige Funktion für das Qualitäts- und Ergebniscontrolling der Versorgung. Die Möglichkeiten der Kommunikationstechnologie werden gegenwärtig vornehmlich zur Optimierung von partikularen Einkommensinteressen genutzt. Die Transparenz-, Kommunikations- und Koordinationsbedürfnisse eines modernen Versorgungsmanagements sind den ökonomischen Zielen der einzelnen Leistungsanbieter in der Regel untergeordnet. Die gängigen Software Programme in Arztpraxen wie in Krankenhäusern offenbaren das Problem deutlich, eine versorgungsorientierte Vernetzung von Informationen und Wissen wird dadurch eher Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 23 von 34 behindert als gefördert. Moderne Kommunikationstechnologie kann aber auch helfen, die Managementaufgaben der Versorgung besser zu lösen. Der Ziele- und Initiativprozess für die Gesundheitsversorgung wird auf Bundesebene federführend dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) übertragen. Auf Ebene der Länder übernehmen die, teilweise bereits institutionalisierten, Gesundheitskonferenzen unter Beteiligung der Spitzenverbände diese Aufgabe. Landkreise und kommunale Gebietskörperschaften richten entsprechende Gesundheitskonferenzen ein. Sie können sich dabei an dem Managementsystem einer „Balanced Scorecard“ orientieren. Danach gilt es zunächst eine Vision zu identifizieren: wohin soll sich das Gesundheitswesen entwickeln? Mit der Definition einer Strategie wird dann festgelegt, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Im nächsten Schritt definieren die beteiligten Akteure Perspektiven und kritische Erfolgsfaktoren, indem sie auch klären, welches ihre jeweiligen Ziele und Interessen in den einzelnen Perspektiven sind. Daran anschließend wird die Frage geklärt, wie sich die Erreichung dieser Ziele messen lässt. Zur Auswertung der regionalen und lokalen Scorecards müssen alle gemeinsam sicherstellen, dass das Richtige gemessen wird. Auf dieser Basis können sie Maßnahmenpläne erstellen sowie Management und Betrieb der Scorecards planen. Schließlich ist zu entscheiden, an wen berichtet werden soll und wie diese Berichte gestaltet sein müssen. In einem bundesweiten Benchmarking Prozess sollte diese Entwicklung eines modernen Managements im Gesundheitssystem laufend unterstützt und begleitet werden. Das lebensbegleitende Gesundheitsmanagement und die Handlungsleitlinien der Versorgung leiten sich also aus Gesundheitszielen ab. Das Handeln selbst muss sich an den Lebenswegen der Menschen orientieren, die in Lebensphasen wie Erziehung, Ausbildung, Beruf, Ruhestand oder Pflegebedürftigkeit und in Settings wie Kindergarten, Schule, Arbeitsstätte oder helfenden Einrichtungen verlaufen. Gesundheitsmanagement integriert und vernetzt gesundheitsfördernde, präventive, kurative oder rehabilitative Interventionen in den Lebensalltag der betroffenen Menschen. Die vorhandenen Systeme der Gesundheitsberichterstattung und der öffentlichen Qualitätsdokumentation fließen in die Entwicklung des lernenden Systems ein. Eine entsprechende Versorgungsforschung wird ausgebaut. Das Controlling der Wirtschaftlichkeit regionaler wie lokaler Versorgungssysteme ist unter den Bedingungen des neuen Risikostrukturausgleiches aus der Gemeinsamen Solidarkasse der GKV einfach und transparent möglich. Das vorhandene Versorgungsbudget der Krankenkassen der Regelversorgung kann für jede Art von Bevölkerungsgruppen transparent dargestellt werden und für Benchmarking Prozesse oder die Ergebnisevaluation genutzt werden. Die versichertenbezogenen Zuweisungen an die Krankenkassen lassen beispielsweise regionale und lokale Versorgungsbudgets berechnen, die exakt die vorhandenen Mittel ausweisen und die dann mit den tatsächlichen Versorgungskosten und Ergebnissen verglichen werden können. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 24 von 34 6.4 Sicherstellungsauftrag, Wettbewerbsregeln und Ergebnistransparenz Alle Krankenkassen bilden einen gemeinsamen Spitzenverband auf Bundesebene und entsprechende Landesverbände. Der Bundesverband ist gleichzeitig Träger der Gemeinsamen Solidarkasse und des Managements eines sozialepidemiologisch fundierten und morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches zwischen den einzelnen Kassen. Die Spitzenverbände sorgen unter Aufsicht des Staates für die Sicherstellung einer flächendeckenden und qualitativ guten Gesundheitsversorgung als Regelversorgung und für gerechte Wettbewerbsbedingungen unter den einzelnen Krankenkassen. Die Gemeinsame Solidarkasse in der Ägide der Selbstverwaltung verpflichtet alle Kassen zu einem Systemmanagement in sozialer Verantwortung. Krankenkassen, die im Versorgungswettbewerb scheitern, werden in einem geregelten Verfahren von den Spitzenverbänden abgewickelt und aufgelöst. Die jeweiligen Versicherten wählen sich eine neue Kasse und werden nahtlos weiter versorgt. Analog zu den Spitzenverbänden der Kassen bilden alle an der Regelversorgung beteiligten Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten unabhängig von ihrem arbeitsrechtlichen Status eine Bundesvereinigung und Landesvereinigungen. Auch diese Spitzenverbände sorgen unter Aufsicht des Staates für die Sicherstellung einer flächendeckenden und qualitativ guten Gesundheitsversorgung als Regelversorgung und für gerechte Wettbewerbsbedingungen unter den einzelnen Akteuren der Gesundheitsversorgung. Damit wird die soziale Verantwortlichkeit der medizinischen und psychotherapeutischen Professionen für das Versorgungssystem abgebildet, die heutigen Funktionen von Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen werden im Ergebnis zusammengeführt, um eine transparente und angemessene Integration von ethischen und ökonomischen Interessen zu erreichen. Die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Dienstleister auf Bundes- und Landesebene erhalten also einen integrierten und gemeinsamen Sicherstellungsauftrag für Qualität, Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit des Versorgungssystems. Sie gestalten die Rahmenbedingungen für das Controlling und die öffentliche Ergebnisbewertung der Versorgungsleistungen und sie regeln das verpflichtende Qualitäts- und Fehlermanagement im Versorgungssystem. Entscheidende Instrumente dafür sind die Formulierung eines Leitbildes für Gesundheitsdienste in sozialer Verantwortung, die fachliche Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und die kontinuierliche Definition von Gesundheitszielen, Versorgungs- und Behandlungsleitlinien. Bundesverband und die Landesverbände der Krankenkassen können mit den Vereinigungen der Ärzte und Psychotherapeuten, aber auch mit Ärzte- oder Krankenhausverbänden und anderen Zusammenschlüssen der Versorgungsdienste Verträge schließen, um den Sicherstellungsauftrag für die Gesamtversorgung zu erfüllen. Verträge zwischen den Spitzenverbänden im Interesse des Sicherstellungsauftrages auf Bundes- oder Landesebene sind für die einzelnen Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 25 von 34 Kassen und Versorgungsdienste verbindlich. Die volle Vertragsfreiheit der einzelnen Krankenkassen bei der konkreten Ausgestaltung ihres Versorgungsangebotes wird davon nur in grundsätzlichen und für das Funktionieren der solidarischen Grundversorgung essentiellen Fragen berührt. Die bestehenden Aufsichtskompetenzen des Bundes und der Länder bleiben im Grundsatz bestehen und müssen in ihrer jeweiligen Zuständigkeit an die Versorgungsaufgaben nur angepasst werden. Fairer Wettbewerb ist ohne Transparenz der Wettbewerbsverhältnisse und der Versorgungsergebnisse nicht möglich. Die vorhandenen Ansätze und Grundlagen der Gesundheitsberichterstattung und einer Ergebnisbewertung von Versorgungsleistungen müssen zu einem transparenten öffentlichen Controlling- und Bewertungssystem ausgebaut werden. Diese zentrale Funktion können der Gemeinsame Bundesausschuss und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen übernehmen. Sie müssen dazu die vorhandenen Strukturen und Maßnahmen des Qualitätsmanagements aus unterschiedlichen Interessen und Organisationen koordinieren und mit dem Ziel der sinnvollen Arbeitsteilung und Integration zusätzlich nutzen. Die transparente Berichterstattung über Qualität und Ergebnisse aus dem Gesundheitssystem sollte durch eine koordinierte gesundheitspolitische Berichterstattung des Bundes, der Länder und der kommunalen Gebietskörperschaften (Gesundheitsförderungspläne und Gesundheitsziele) ergänzt und mit den Versorgungszielen der Bevölkerung konfrontiert werden. Die Selbstverwaltung des Gesundheitssystems der Regelversorgung muss sich in einem dynamischen Dialog mit den gesundheitspolitischen Erwartungen und Anforderungen der Bevölkerung auseinandersetzen und abstimmen. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Auftrennung der Versorgung in geschützte Sektoren wie ambulant, stationär und rehabilitativ oder vertragsärztliche Versorgung und Krankenhausversorgung nicht mehr sinnvoll. Alle heutigen Anbieter können integrierte Versorgungsunternehmen gestalten und sich im Wettbewerb um gute Ergebnisse und Kostenwirksamkeit bewähren. Krankenhäuser werden für die gesamte ambulante Versorgung geöffnet und bisherige Vertragsarztnetze können die Krankenhausversorgung übernehmen. Die noch notwendigen Zulassungsregeln für die Versorgung werden künftig sektorübergreifend und aufgabenorientiert ausgestaltet. Das Deutsche Apothekenrecht muss mit den europäischen Regeln harmonisiert werden. Der Vertrieb von Arzneimitteln unterliegt einem offenen Wettbewerb unterschiedlicher Vertriebsorganisationen. Das Fremd- und Mehrbesitzverbot oder andere Einschränkungen im Handel mit Arzneimitteln sind nicht mehr nötig. Die Bildung von Apothekenketten ist auch mit einem modernen Verbraucherschutz vereinbar. Die Sicherstellung einer hinreichenden und zweckmäßigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung wird Bestandteil des allgemeinen Sicherstellungsauftrages der Spitzenverbände von Kassen und Dienstleistern. Die Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 26 von 34 Verbände der Apothekerinnen und Apotheker werden analog zu den Krankenhausträgern am Gemeinsamen Bundesausschuss beteiligt. Die Stellung des Apothekers wird wieder als Heilberuf aufgewertet. Heute muss eine Apothekerin oder ein Apotheker mit der Apotheke ca. 1,5 Millionen EURO Umsatz erreichen, um auf ein angemessenes Jahreseinkommen in der Größenordnung von 85.000 EURO zu kommen. Apothekerinnen und Apotheker, die in regionalen Versorgungsnetzen für einen sinnvollen, angemessenen und kostengünstigen Arzneimitteleinsatz sorgen, werden besser und für die Versorgung auch ökonomischer mit Zeithonoraren für ihre Arbeit bezahlt. Die Apothekerinnen und Apotheker übernehmen dabei als unabhängige Fachkräfte gegenüber den Ärztinnen und Ärzten die Funktion der Pharmaberater der pharmazeutischen Industrie. Die bestehenden Apotheken können in Kooperation und mit sinnvollem Nutzen innerhalb regionaler oder lokaler Versorgungsnetze neue Aufgaben übernehmen und sich zu Dienstleistungsagenturen oder Gesundheitszentren für gesünderes Leben entwickeln. Sie werden dadurch zu Dienstleistern für neue gesundheitsförderliche, haushaltsnahe und patientenorientierte Angebote. Erfolgreiche Apotheken entfalten sich bereits in diese Richtung und erreichen damit neuen Kundennutzen und eine stabilisierte Kundenbindung. 6.5 Regelleistung und Vergütung Der gegenwärtig bestehende Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung ist ein historisch gewachsenes Regelungswerk, das im Großen und Ganzen den medizinisch fachlichen, wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Konsens widerspiegelt. Dieser Rahmen beschreibt in etwa das Leistungspanorama, das in einer solidarischen Regelversorgung abgedeckt werden muss. Die Zwänge der Budgetierung und der Kostendämpfungspolitik haben den zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss zu einer restriktiven Haltung gegenüber neuen Verfahren und gegenüber den Leistungsangeboten der so genannten Komplementären Medizin oder Erfahrungsheilkunde verleitet. Die Konflikte um den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung sind mit dem Vergütungssystem der ärztlichen Leistung stark verwoben. Bezahlt wird weniger der Arzt als Person und mehr seine Methode oder sein Einsatz von technischen Instrumenten. Die Amortisierungszwänge für medizinische Geräte begünstigen eine irrationale Mengenausweitung. Die Anteile der Infrastrukturkosten für die ärztliche Berufsausübung (Praxiskosten) sind in den letzten Jahren beim durchschnittlichen Honorar im Vergleich zum Einkommen des Arztes gewachsen. Sie liegen inzwischen über 50%. Eine moderne Organisation der Infrastruktur kann den Anteil der Praxiskosten halbieren. Vor diesem Hintergrund wird eine Reform der Vergütung ärztlicher Leistungen Infrastrukturkosten und Arbeitsentgelte trennen. Leistungsträger in hoch komplexen Gestaltungsfeldern der Gesundheitsversorgung ist die Person des Arztes oder des Therapeuten. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 27 von 34 Die ökonomischen Anreize müssen in einem modernen System den Erfolg im Subsystem mit der Ökonomie des Gesamtsystems verknüpfen. Ärztinnen und Ärzte und die Angehörigen der anderen Gesundheitsberufe handeln erst dann wieder problembewusst, wenn ihre Arbeit unabhängig von ihren einzelnen Entscheidungen oder Maßnahmen finanziert wird. Nur dann können sie auch ein kompetentes und allein den Interessen der betroffenen Patienten dienendes individuelles CaseManagement realisieren. Die vom Patienten ausgewählten Ärztinnen und Ärzte (Hausärzte) sollten daher ein pauschales Grundhonorar (60,00 bis 70,00 EURO pro Stunde) für ihre Arbeitskraft erhalten und fachgruppenspezifische Zuschläge (10,00 bis 50,00 EURO je nach Fachgruppe) für die Praxiskosten, die heute sehr sicher kalkuliert werden können. Medizinisch-technisches Gerät wird als Werkzeug für die Heilkunst und nicht als Selbstzweck eingeordnet und sein Einsatz muss unabhängig von Honorarflüssen optimiert und in vernetzten Strukturen gemeinschaftlich organisiert werden. Apparatepools, Gerätegemeinschaften, MVZs und Integrierte Versorgungsnetze dienen diesem Ziel. Die Finanzierung der medizinischen Technologie muss also grundsätzlich von der Finanzierung der ärztlichen Arbeit entkoppelt werden. Nachgewiesene Erfolge in der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung von Bevölkerungsgruppen oder Qualifikationsnachweise können dann zu einer erhöhten Stundenpauschale führen. Solche Zeithonorare führen zu einer neuen Logik der Leistungsbewertung. Der Leistungskatalog schreibt dann die einzelnen Methoden und Verfahren nicht mehr vor, entscheidend ist, welche Gesundheitsergebnisse der Arzt als Person mit konventionellen oder alternativen Verfahren in der Zeiteinheit erreicht. Das ganze Honorarsystem wird dadurch einfacher, transparenter und unbürokratischer. Ein so grundlegend erneuertes Honorarsystem für die ambulante medizinische Versorgung und das Case-Management der Versorgungsprozesse kostet insgesamt 16-18 Milliarden EURO23. Für die Infrastrukturkosten stehen dann 8-9 Milliarden EURO zur Verfügung. Die Umstellung der Vergütungssysteme bleibt damit im Rahmen der heute anfallenden Kosten in der GKV. Die organisatorische Herausforderung lautet: optimale Infrastruktur für gute Ärzte, Therapeuten und Krankenpflegekräfte. Grundsätzlich sollte der Leistungskatalog durch Positivlisten mit Kosten-Nutzen Bewertungen für Arzneimittel, technische Verfahren oder Behandlungsweisen dargestellt werden. Positivlisten enthalten Produkte und Leistungen, die nach den Maßstäben der „evidence based medicine“ (EBM) zweckmäßig, wirksam, notwendig und angemessen sind. Die Regelversorgung finanziert dann außerhalb des Zeithonorars nur das, was in den Positivlisten enthalten ist. Innerhalb des Zeithonorars können Ärzte und Therapeuten Verfahren und Methoden anwenden, deren Wirksamkeit im Rahmen der Versorgungsforschung und des Ergebniscontrollings laufend evaluiert werden. Eine solche Ordnung und Regelung ist für Versicherte und Ärzte gleichermaßen transparent, einfach zu handhaben und sicher. Komplementäre Heilmethoden und von der naturwissenschaftlichen Medizin nicht anerkannte Heilweisen werden dadurch in die Versorgung integriert und durch Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 28 von 34 das Ergebniscontrolling mit modernster Informationstechnologie einer kontinuierlichen, vornehmlich sozialepidemiologisch oder gesundheitswissenschaftlich fundierten Kosten-Nutzen Bewertung ausgesetzt. Der Heil- und Hilfsmittelgebrauch wird ebenfalls mit Positivlisten und wo sinnvoll auch mit Festbetragsregeln gesteuert und transparent aufbereitet. Nicht ärztliche Heilberufe können im Rahmen von Zeithonoraren und unterstützt durch das Ergebniscontrolling der Versorgung wie Ärztinnen und Ärzte in der Wahl ihrer Methoden freier agieren. Auch hier ist ein EDV gestütztes Ergebnis-Monitoring in der Lage, eine Evaluation von Kosten und Nutzen zu erreichen. 6.6 Prävention und Gesundheitsförderung Durch ein „Gesetz zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention“ muss in Deutschland die Primärprävention und Gesundheitsförderung geregelt und flächendeckend ausgebaut werden. An dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe müssen sich alle Zuständigen und Verantwortlichen – auch finanziell – beteiligen. Bund, Länder und Gemeinden sollten ihr finanzielles Engagement in diesem Feld offen legen, fortschreiben und erweitern. Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine funktionsfähige Infrastruktur für Prävention und Gesundheitsförderung. Die Maßnahmen der zahlreich vorhandenen Akteure müssen bundesweit koordiniert werden. Es braucht Transparenz über die Aktivitäten, die Qualitätsstandards und die Beispiele guter Praxis müssen systematisch kommuniziert werden. Dazu sollte eine gemeinsame Koordinierungsstelle auf Bundesebene errichtet werden. Im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung werden diese Koordinierungsaufgaben bereits durch die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) sowie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) wahrgenommen. Die Koordinierungsstelle des Bundes kann organisatorisch an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) angebunden werden. Aufgaben der neu zu schaffenden Einrichtung sind: die systematische Dokumentation, Aufbereitung und Bewertung von Gesundheitsförderungsaktivitäten, Beratung, z.B. bei Modellvorhaben, Stellungnahmen und Qualitätszertifikate für Maßnahmen verschiedener Träger, insbesondere der Krankenkassen, Organisation von Rahmenvereinbarungen für die Kooperation der Träger, Kriterien-Entwicklung und fachliche Empfehlungen zu Qualitätsmanagement und Evaluation in der Gesundheitsförderung, Qualifizierungsangebote für Praxis und Wissenschaft. In den Bundesländern können aus den Landesarbeitsgemeinschaften und den Landeszentralen für Gesundheit oder den Ländergesundheitskonferenzen vergleichbare Transparenz- und Koordinierungsstellen für die Gesundheitsförderung aufgebaut werden. In den Kommunen und Städten sollten vorhandene Plan- und Leitstellen zur Gesundheitsförderung erweitert oder erstmals eingerichtet werden. Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 29 von 34 Ein integriertes Gesamtkonzept für Gesundheitsförderung und Prävention muss auf allen Ebenen eine gemeinsame, politikfelderübergreifende Problemsicht erreichen, ein übergeordnetes konsensfähiges Leitbild gesundheitsförderlicher und nachhaltiger Entwicklung formulieren und auf der politischen Agenda platzieren, Ziele und Prioritäten und auch aktuelle Handlungsbedarfe festlegen, die relevanten politischen Fachressorts (insbesondere Gesundheits-, Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial-, Stadtentwicklungs- und Bildungspolitik) für gemeinsame Planung und Umsetzung zusammenführen, die ressortspezifischen Programme zur Gesundheitsförderung und zur nachhaltigen umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung aufeinander abstimmen und miteinander vernetzen. Die vorhandenen Potentiale der Gesundheitsberichterstattung auf Bundesebene, in den Ländern und in den Kommunen können zu einem Instrument der informationsgestützten Gesundheitsförderungspolitik ausgebaut und zur Umsetzung von Gesundheitsförderungsplänen genutzt werden. Fonds zur integrierten Gesundheitsförderung Durch ein Gesetz auf nationaler Ebene geregelte Fonds zur Gesundheitsförderung existieren in Österreich und in der Schweiz. Im österreichischen Modell werden die Mittel des Fonds durch Steuergelder aufgebracht. In der Schweiz (Schweizer Stiftung für Gesundheitsförderung) zahlen die Krankenversicherungen einen Beitrag pro Versichertem. In beiden Fällen wird durch diese Mittel aus einem „Topf” die Steuerung gemeinsamen Handelns aller relevanten Träger unter Beteiligung neutraler Fachkompetenz (Wissenschaft) ermöglicht. Hierzu wird ein Beirat mit unterschiedlich weitgehenden Entscheidungsbefugnissen gebildet. Wettbewerbselemente sind in großem Umfang einbaubar, da aus dem Fonds zu finanzierende Projekte und Programme öffentlich ausgeschrieben werden können. Das Fonds-Modell ist im Prinzip auf allen politischen Ebenen sinnvoll und möglich. Der Bund und die Länder können in einem Modellprogramm Plan- und Leitstellen des ÖGD fördern, die federführend gemeinsame kommunale Programme zur Gesundheitsförderung, sozialen Stadt(teil)-Entwicklung und Lokalen Agenda 21 planen und koordinieren. Gegenwärtig sind sehr viel mehr Kommunen Mitglieder des Agenda- als des Gesunde Städte-Netzwerks. In einem ersten Schritt sollten Anreize (Information, organisatorische und materielle Unterstützung) geschaffen werden, um die Agenda-Kommunen zur systematischen Integration von Aspekten der Gesundheitsförderung zu veranlassen. Als Prinzip sollte dabei gelten, so wenig wie möglich vorzuschreiben und so viel wie möglich der verbindlichen Selbstorganisation der Träger zu überlassen. Diese verbindliche Selbstorganisation ist aber als Aufgabe gesetzlich vorzugeben. Die Finanzierung sollte in einem ersten Schritt je zwei EURO pro Versicherte aus die Gemeinsamen Solidarkasse der Gesetzlichen Krankenversicherung für die Bundesund die Landesebene abführen und fünf EURO an die kommunalen Einrichtungen Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 30 von 34 zuwenden. Die dadurch erreicht Finanzierungssumme muss durch Zuwendungen des Bundes, der Länder und der Kommunen jeweils verdoppelt werden. Mit den Fonds lässt sich ein schneller und wirksamer Ausbau der Prävention und Gesundheitsförderung erreichen. Die Organisationen des Breitensports (Sportvereine) und der Volksbildung (Volkshochschulen) bieten eine zusätzliche Infrastruktur an, die für die Belange der Gesundheitsförderung Synergien liefern. Gesundheitsförderungsprojekte sind dabei ein Motor für die Entfaltung der bürgerschaftlicher Selbstorganisation und die lebendige Entwicklung der Zivilgesellschaft. 6.7 Ausbau der Patientenrechte und einer unabhängigen Patientenberatung Mündige und souveräne Patienten brauchen Unterstützung. Bürgerinnen und Bürger, Patientinnen und Patienten müssen aktiv in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden, mit denen die Gesundheitsversorgung und die Maßnahmen zur Gesundheitsförderung organisiert und kontrolliert werden. Eine angemessene Patientenbeteiligung ist bei der Verbesserung von Qualität und Wirksamkeit der Gesundheitsversorgung unverzichtbar. Noch haben Patientenrechte und Patienteninteressen im System gesundheitlicher Versorgung nur eine unzureichende Lobby. Selbsthilfegruppen und -organisationen sind Foren, in denen sich Kranke, Patienten, Nutzer und Nutzerinnen von gesundheitlichen Einrichtungen zusammenfinden, um sich unter anderem das Wissen und die Kompetenz anzueignen, die sie brauchen, um ihre Krankheit besser bewältigen zu können, aber auch, um sich als Kundinnen und Kunden im Versorgungsmarkt „Gesundheit“ besser behaupten zu können. Sie heben die Vereinzelung der Patienten gegenüber den Anbietern und Kostenträgern partiell auf. Damit sie dies in Zukunft besser und erfolgreicher tun können, müssen dringend neue Vernetzungen und Kooperationen aufgebaut werden, die den Patienten zu einer ihrer Bedeutung angemessenen Rolle im Gesundheitssystem verhelfen. Originäre Anliegen der Betroffenen im Sinne klarer Verbraucherrechte und des Patientenschutzes sind noch nicht angemessen gewährleistet. Als Interessenvertreter in einem gezielt politischen Sinn zur Stärkung der Patientenanliegen sind Selbsthilfezusammenschlüsse noch zu vereinzelt und zu stark themenorientiert. Für eine Auseinandersetzung mit der Anbieterseite und ein dynamisches Eintreten für die eigenen Rechte fehlen Patientinnen und Patienten oft die nötige Kraft. Sie brauchen professionelle und engagierte Hilfe durch wirkungsvolle Systeme der Patientenunterstützung. Notwendig dafür sind vorrangig: die Weiterentwicklung eines patientenorientierten Verbraucherschutzes, neue Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten bei der Planung von Gesundheitsdienstleistungen sowie der Beseitigung von Mängeln, eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und Laien im Sinne einer neuen Partnerschaft, Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 31 von 34 größere Markttransparenz und ein patientenorientiertes Controlling der Gesundheitsversorgung über faktische Kosten, abgerechnete Leistungen, die Einhaltung von Qualitätsstandards oder Erfolge und Misserfolge, neue organisatorische Formen der Zusammenarbeit von Betroffenenverbänden untereinander und mit fachkompetenten Unterstützungseinrichtungen wie Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstellen, Verbraucherzentralen, Patientenbeauftragten oder wissenschaftlichen Instituten). Die Selbsthilfe muss weiter gestärkt und die Verbraucherberatung verbessert werden. Die Stärkung der Patientenrechte, des Patientenschutzes und der Qualitätssicherung benötigen eine unabhängige Instanz, die im Versorgungssystem Einfluss und Macht besitzt. Zuverlässige medizinische Informationen sind auch eine zentrale Voraussetzung für die Stärkung der Patientensouveränität. Das Arzt-Patienten-Verhältnis muss sich zu einem partnerschaftlichen Verhältnis wandeln, das zu einer gemeinsamen Arbeit am Heilungserfolg befähigt. Die Patienteninformationen des IQWiG und die Unabhängige Patientenberatung gGmbH sind ein erster Schritt zum Ausbau einer flächendeckenden, unabhängigen und patientenorientierten Beratung und Systementwicklung. Auf dieser Basis kann die Partizipation der Patienteninteressen bei der Gestaltung und Steuerung des Gesundheitssystems ausgebaut werden. Die heutigen ohne Stimmrecht beteiligten Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss müssen zu ordentlichen und stimmberechtigten Mitgliedern werden, damit ein konstruktiver Dialog zwischen Krankenkassen, Dienstleistern und Bürgerschaft strukturell gesichert wird und die Stimmen der betroffenen Menschen für ein soziales Gesundheitssystem zur Geltung kommen. Nationale, länderbezogene und kommunale Fonds zur Selbsthilfeförderung müssen mit einem EURO pro Versicherte aus der Gemeinsamen Solidarkasse finanziert werden. Die Unabhängige Patientenberatung muss in die Lage versetzt werden, eine eigenständige Interessenvertretung für Bürgerinnen und Bürger, Patientinnen und Patienten zu werden. Diese Organisation sollte ein Controlling der Patientenzufriedenheit und der Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung übernehmen und als Konterpart zu den Selbstverwaltungsorganisationen von Kassen und Gesundheitsprofessionen auftreten können. Für diese Aufgabe stellt die Gemeinsame Solidarkasse einen EURO pro Versicherte zur Verfügung. Die „Unabhängige Patientenberatung gGmbH“ wird unter staatlicher Aufsicht mit der Aufgabe betraut, die nötige Beteiligungskultur und -struktur sicherzustellen und jährliche Berichte über die Situation der Patient/innen- und Bürger/innenbeteiligung zu veröffentlichen. 7. Ausblick und Perspektiven eines Gesundheitsdienstes in sozialer Verantwortung und eines sozialen Gesundheitssystems Der soziale Wandel bedingt neue Gesundheitsprobleme und der Fortschritt von Medizin und Gesundheitswissenschaften eröffnet die Chance einer neuen Heilkultur, Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 32 von 34 die den Denk- und Handlungsmustern der Informationsgesellschaft so angepasst ist wie die heute etablierte Medizin der Industriegesellschaft. Die Umsetzung einer Integrierten Medizin und einer Integrierten Gesundheitsversorgung wird auch zum Schlüssel einer gesellschaftlichen Modernisierung. Das soziale Gesundheitssystem muss die inklusiven Kräfte des Gemeinwesens auf neue Art bündeln und individuelle wie psychosoziale Gesundheit gleichermaßen sicherstellen. Das Leitbild ist das eines lernenden Systems, in dem die Kultur einer ganzheitlichen, biopsychosozialen Medizin mit der Struktur von Versorgungsnetzen in sozialer Verantwortung realisiert wird. Diese arbeiten mit modernster Kommunikationstechnologie und einem wirksamen Qualitätsmanagement, also einer kontinuierlichen Organisationsentwicklung. Die Gesundheitsreform beinhaltet einen Prozess der Reorganisation sämtlicher Versorgungsweisen und eine Reanimation der sozialen Verantwortlichkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Produktivität der Primärprozesse ist für eine ressourcensparende Wertschöpfung von Gesundheit bestimmend. Die sekundären Funktionen wie Gesetzgebung, Verwaltung, Servicedienste oder Verbandsinteressen müssen radikal verschlankt werden. Gefordert ist ein mutiges Gemeinschaftswerk von Politik, Ärzteschaft, Gesundheitsberufen, Krankenhausträgern und Krankenkassen. Ein qualitativer Sprung im deutschen Gesundheitssystem benötigt gemeinsame Verantwortungsträger von Ärzteschaft und Krankenkassen, die das bestehende Steuerungschaos solidarisch und im gegenseitigen Respekt überwinden helfen. Es braucht ein kooperatives Informations-, Kommunikations- und Gestaltungsmanagement und ein Bewusstsein für die gemeinsame Verantwortung. Die Schlüssel zur Umgestaltung des Systems heißen: Redliche Leistungsdefinition und vernünftige Entlohnungs- oder Preisgestaltung. Die Kultur des Misstrauens unter den Akteuren im Gesundheitswesen muss gemeinsam und im Wissen um das Ziel in eine Kultur des Vertrauens transformiert werden. Es geht um konsequente Integration auf allen Ebenen, um ständige Transparenz von Qualität und Kosten und um eine offene zielgerichtete Kommunikation. Es liegt letztlich im Interesse aller Beteiligten, die strukturellen Zwänge zu durchbrechen und beispielsweise hierarchische Abhängigkeit durch flexible Netzwerke oder spezialisierte Chefarztsysteme durch multidisziplinäre Teams zu ersetzen. Die Radikalkur für das Gesundheitssystem in Deutschland ist nicht nur eine Frage des Geldes. Es ist primär eine Frage des gesundheitspolitischen Wollens und der gesundheitspolitischen Übereinstimmung der zuständigen Akteure. Selbstverwaltungskörperschaften, die sich ihrer sozialen Verantwortung wieder bewusst werden, können Subsidiarität und Solidarität miteinander verknüpfen und jenseits vom freien Markt und von zentraler Verwaltungswirtschaft ein dezentral vernetztes, national wie regional kooperierendes, preiswertes und wirksames System in die Praxis umsetzen. Die Kosten jeder „Behandlung“ und die Aufwendungen für das gesamte System lassen sich drastisch senken. Diese Vision für eine neue Ordnungspolitik im Gesundheitswesen wird von vielen gesellschaftlichen Kräften gefordert und unterstützt24. Die Gesundheitspolitik kann, wenn sie will, jenseits von Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 33 von 34 Partikularinteressen die Lösungen für das gesamtgesellschaftliche Wohl durchsetzen. Das soziale Gewissen der Heilkunst muss vor den Geschäften mit der Krankheit nicht kapitulieren. Es lohnt sich vielmehr, das Gesundheitssystem neu zu denken und auch für eine „Non-Profit-Unternehmung“ die Organisationserfahrung der Profitwirtschaft zu nutzen. Die organisatorische Reformkunst beweist sich daran, wie ideologiefrei und selbstbewusst sie auch Systemerfahrungen aus der Wirtschaft übernimmt und für eine Reanimation des Sozialen einsetzt. Die Optimierung des sozialen Gewinns und des individuellen Nutzens im Gesundheitssystem ist eine kontinuierliche Aufgabe aller Beteiligten, die von vornherein fachkundige Produktivität mit haushälterischem Mitteleinsatz verknüpfen. Ein schlankes Gesundheitssystem mit maximaler Wertschöpfung - diese politische Gestaltungsaufgabe ist die wirkliche Herausforderung. Die systemische Fähigkeit mit möglichst günstigem Ressourceneinsatz größere Bevölkerungsgruppen von der Geburt bis zum Tode gesundheitlich gut zu versorgen, sozusagen einen Volkswagen der Gesundheitsversorgung zu entwickeln, ist auch ein Wirtschaftsprodukt, das überall gebraucht wird. Deutschland war mal die Apotheke der Welt. Die Gesundheitspolitik sollte die Herausforderung wagen, das bestehende Gesundheitssystem so zu modernisieren und zu entwickeln, dass es lokal, regional und national beispielhaft gute Gesundheit für die Bevölkerung mit effizientem Ressourceneinsatz, also besonders preiswert sicherstellt. Die systemische Fähigkeit und das Know-how einer solchen „Produktionsanlage“ werden weltweit gesucht und gerne importiert. Deutschland könnte so zum Gesundheitsversorger der Welt werden, wenn es die Herausforderung einer nachhaltigen Gesundheitsreform für Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit bewältigt. Es ist dabei keine Utopie, in diesem Sektor ein bis zwei Millionen Arbeitsplätze neu zu schaffen. Verweise im Text 1 http://www.svr-gesundheit.de Der Sachverständigenrat hat die gesetzlich vorgegebene Aufgabe, Gutachten zur Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen Auswirkungen zu erstellen. 2 Winkelhake, O, U. Miegel, K. Thormeier (2002), Die personelle Verteilung von Leistungsausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung 1998 und 1999 - Konsequenzen für die Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystem, in: Sozialer Fortschritt 3/2002, S. 58-61 3 Bertelsmann Stiftung: Politik braucht ordnungspolitisches Konzept, Repräsentativbefragung des Gesundheitsmonitor, Pressemitteilung, Gütersloh, 5.9.2006 4 Prognos AG für den AOK Bundesverband: Machbarkeitsstudie einer populationsbezogenen Integrierten Vollversorgung, Basel, 12.11.2005 5 Prognos AG für den AOK Bundesverband: Machbarkeitsstudie einer populationsbezogenen Integrierten Vollversorgung, Basel, 2005, S.10 6http://www.medix-gruppenpraxis.ch Eckpunkte zu einer nachhaltigen Gesundheitsreform Seite 34 von 34 7 Böcken, J., Butzlaff, M., Esche, A., Hrsg. (2000) Reformen im Gesundheitswesen, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. 8 https://www.praxisnetznuernberg.de 9 http://www.ugom.de 10 http://www.mum-buende.de 11 http://www.bundesknappschaft.de 12 http://www.gesundes-kinzigtal.de 13 http://www.polikum.de Bertelsmann Stiftung: „Generalunternehmer Gesundheit als Zukunftsmodell“ Pressemitteilung, Gütersloh, 2.7.2006 14 15 http://www.aezq.de/ http://www.leitlinien.de/ http://www.patienten-information.de 16 Rosenbrock, Rolf, Gerlinger, Thomas (2004) Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle Dieses Lehrbuch einer wissenschaftlich fundierten Gesundheitspolitik beschreibt grundlegend und systematisch die wesentlichen Inhalte, Bestimmungsfaktoren und Systemaspekte der Gesundheitspolitik. 17 Weltgesundheitsorganisation, Regionalbüro für Europa: Vorlage zur 48. Tagung des Regionalkommitee für Europa, 14.-18. September 1998, EUR/RC48/9 Kurzfassung, EUR/RC48/10 18 Trojan, A., Legewie, H. (2001) Nachhaltige Gesundheit und Entwicklung, Leitbilder, Politik und Praxis der Gestaltung gesundheitsförderlicher Umwelt- und Lebensbedingungen, VAS-Verlag, Frankfurt 19 Weltgesundheitsorganisation, Regionalbüro für Europa: Vorlage zur 48. Tagung des Regionalkommitee für Europa, 14.-18. September 1998, EUR/RC48/9 Kurzfassung, EUR/RC48/10 20 Spies, Thomas (2006) Die Bürgerversicherung, VAS Verlag für Akademische Schriften Frankfurt/Main 21 IGES - Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH, Bürgerversicherung, Simulationsrechnungen zu Ausgestaltungsmöglichkeiten: http://www.iges.de/e1788/e1818/e2687/Gutachten_BVer-Grne-end_ger.pdf und Spies, Thomas (2006) Die Bürgerversicherung, VAS Verlag für Akademische Schriften Frankfurt/Main ( Der Mediziner und SPD Landtagsabgeordnete aus Hessen berechnet eine Bedarf von nur 9,0%, „Alle geben von allem den gleichen Anteil, nämlich ca. 9% - Ein einfaches, klares, sozialdemokratisches Konzept“, http://www.spd-marburg.de/solidarischebv/praesentation_buergerversicherung.pdf ) 22 IGES - Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH, Gutachten zum morbiditätsorientierten RSA: "Klassifikationsmodelle für Versicherte im Risikostrukturausgleich" 23 24 Die Rechnung ist einfach: 145.000 Ärzte und Therapeuten mit 1800 Jahresarbeitstunden Bertelsmann Stiftung: Positionspapier des Themenfeldes Gesundheit, Vision für eine neue Ordnungspolitik im Gesundheitssektor, Gütersloh, 12.7.2004,