1 Filmische Perspektivierungen der DDR - Wirklichkeit in „Das Leben der Anderen“ (2006) von Florian Henckel von Donnersmark Inhaltsverzeichnis Seite 1 Film und Gedächtnis – Zur Zielsetzung…………………………………….6 2 Methodologischer Ansatz und Forschungstand……………………………7 2.1 Zum Gedächtnis………………………………………………………………………..7 2.1.1 Gedächtnisdiskurs und Erinnerungskulturen………………………………7 2.1.2 Kollektives Erinnern – Maurice Halbwachs……………………………….8 2.1.3 Europäisches Bildergedächtnis – Aby Warburg………………………….11 2.1.4 Kommunikative und kollektive Gedächtnisformen - Jan und Aleida Assmann…………………………………………………………………..13 2.2 Zum Film……………………………………………………………………………..18 2.2.1 Film als eine Art des ausgelagerten Gedächtnisses……………………....18 2.2.2 Ästhetische Besonderheiten des Films……………………………………19 2.2.3 Analyseebenen des Films…………………………………………………24 3 Filmische Perspektivierung………………………………………………...42 3.1 Zur Handlung……………………………………………………………………….42 3.1.1 Problemdarstellung im Film „Das Leben der Anderen“………………….42 3.1.2 Sequenzprotokoll zum Film „Das Leben der Anderen“………………….43 3.2 Zur Analyse der Figuren………………………………………………………….......49 3.2.1 Figurenpaarung Georg Dreymann – Christa Maria Sieland……………...49 3.2.2 Figurenpaarung Minister Bruno Hempf – Oberstleutnant Anton Grubitz..54 3.2.3 Gerd Wiesler als ein Beispiel der politisch-persönlichen Wandlung…….58 3.3 Erzählstruktur des Films…………………………………………………………...…62 3.3.1 Filmische Stillmittel - Charakteristik ausgewählter Bauformen des Erzählens………………………………………………………………….62 3.4 Geschlossene Gesellschaft der DDR……………….. ……………………………....73 3.4.1 Überwachungsapparat im totalitären System……......…………...…..…...73 3.4.2 Situation der Künstler in der DDR ……………………………………… 77 2 Privatheit, Erinnerungen und filmische Fiktion….………......…………...80 3.4.3 4 Zusammenfassung…………………………………………………………..85 5 Literatur……………………………………………………………………..86 1 Film und Gedächtnis – Zur Zielsetzung „Jeder Erinnerungsversuch ist eine Folge von Bild-Zeichen, das heißt, eigentlich eine Filmsequenz.“1 Der Film steht dem Akt des sich Erinnerns sehr nah und ist eine Art des ausgelagerten Gedächtnisses. Die synergetische Kunstform des Filmes ist außerdem ein hochkomplexes Einzelmedium, ein institutionalisiertes System und ein organisierter Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.2 Als so vielschichtiges Phänomen impliziert es verschiedene Instanzen, Problemfelder und Themengebiete, die die Gegenstände filmwissenschaftlicher Untersuchungen sind, so dass das Spektrum der Filmanalysen von Filmästhetik über Filmzensur bis zur Filmethik ausgebreitet ist. 3 Die Rahmen der vorliegenden Arbeit im Bezug auf den Film werden zur Präsentation der ästhetischen Besonderheiten des Films und Darstellung der wichtigsten Fachtermini und filmsprachlichen Kategorien, die für die weitere Filmanalyse eine Grundbasis bilden, eingeschränkt. Der in der Magisterarbeit berücksichtigte Gedächtnisdiskurs folgt dem in der Gegenwart wachsenden Interesse an der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Die Wirkung des Filmes als Gedächtnismedium beruht auf Ähnlichkeiten und Differenzen zu kulturellen Gedächtnisprozessen. Die Korrelationen zwischen Film und Gedächtnis verursachen, dass das audio-visuelle Medium sich hervorragend zur Analyse aus der Sicht der Literaturwissenschaft eignet. Die wachsende Anzahl von Publikationen nicht nur wissenschaftlich orientierter Öffentlichkeit weist auf einen Trend zur Auseinandersetzung mit der DDR Geschichte. Es erschienen literarische Texte und andere Formen von Dokumentationen, aber auch die Filme wie NVA oder Sonnenallee, die die Existenz innerhalb der Diktatur und die Flucht der DDR-Bürger in den Westen thematisieren. Die Analyse des 1 Pasolini, Pier Paolo: Die Sprache des Films. In: Knilli, Friedrich (Hg.) (in Zusammenarbeit mit Knut Hickethier und Erwin Reiss): Semiotik des Films. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1971, S. 39. 2 Vgl. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 10. 3 Ebd., S. 10. 3 Erinnerungsraums der DDR unter der Berücksichtigung des spannungsgeladenen kulturpolitischen Klimas der 80er Jahre, der Stasi-Einbrüche in der Privatsphäre der Menschen und der Realitätsbezug bilden in dem Film Das Leben der Anderen von Florian Henckel von Donnersmark den Kern der vorliegenden Arbeit. 2 Methodologischer Ansatz und Forschungstand 2.1 Zum Gedächtnis 2.1.1 Gedächtnisdiskurs und Erinnerungskulturen Zur anthropologischen Ausstattung des Menschen gehören Pflege, Stiftung und Reflexion des kulturellen Erbes.4 Die kollektive Bezugnahme auf die Vergangenheit wurde zum Gegenstand der Wissenschaftler. Die Gedächtnisforschung, die sich mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses auseinandersetzt, verlief in zwei Etappen. Kriterien für diese Aufteilung sind erstens der Rang der entworfenen Konzepten und zweitens die Häufigkeit des Rückgriffs. Die erste Etappe ist den Pionieren der Gedächtnistheorien Maurice Halbwachs und Aby Warburg gewidmet. In den 1920er Jahren des 20.Jh hat Halbwachs zum ersten Mal einen Versuch unternommen, das Phänomen des kollektiven Gedächtnisses systematisch zu analysieren. Aby Warburg hat sich in der Geschichte eingeschrieben als Begründer des europäischen Bildergedächtnisses. Beide Wissenschaftler waren die Ersten, die das Phänomen kollektives Gedächtnis beim Namen genannt haben. Fünfzig Jahre später begann die zweite Etappe, die mehreren Wissenschaftlern angehört. Die bedeutendsten sind Pierre Nora und Jan und Aleida Assmann. Pierre Nora hat ein Konzept lieux de memoire formuliert, der sich als international einflussreichste erwiesen hat. Nachfolgend haben Jan und Aleida Assmann auf die Halbwachs Überlegungen rekurriert und die Theorie des kulturellen Gedächtnisses weiter ausdifferenziert. Die Gedächtniskonjunktur dauert von 80er Jahren des 20.Jh bis zu dem heutigen Zeitpunkt. Die Zahl der entstandenen Gedächtnistheorien vermehrte sich rasch und zu dem Begriffen Gedächtnis und Erinnerung wurden immer neue Funktionen und Bedeutungen zugeschrieben. Infolge dieses Gedächtnisbooms, um das Wissen zu strukturieren und sie weiter zu entwickeln, wurde der Sonderforschungsbereich (SFB) 434 „Erinnerungskulturen“ 1997 an der Justus-Liebig Universität Gießen gegründet. Der Gegenstand seiner Untersuchungen 4 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S. 13. 4 bilden „die Inhalte und Formen kultureller Erinnerungen“5 die eine Zeitspanne von der Antike bis zum heutigen Tag umfassen. Die Arbeit der ca. 70 Mitarbeiter ist interdisziplinär orientiert und unter einem Dach forschen Latinisten, Romanisten, Orientalisten, Soziologen sowie Kunsthistoriker und Germanisten. Infolge der Arbeit der Wissenschaftler wurde ein Modell entworfen, der die kulturelle Erinnerungsprozesse beschreibt. Es besteht aus drei strukturellen Ebenen. Erstens werden die Rahmenbedingungen des Erinnerns dargestellt. Sie werden durch vier Faktoren bestimmt: Gesellschaftsformation, Wissensordnung, Zeitbewusstsein sowie die Herausforderungslage.6 Die zweite Ebene, die Ausformung spezifisches Erinnerungskulturen beinhaltet, umfasst Aspekte wie: Erinnerungshochheit, Erinnerungsinteresse, Erinnerungstechniken und Erinnerungsgattungen.7 Das Forschungsprogramm rundet die dritte Ebene ab, die mit Äußerungsformen und Inszenierungsweisen des konkreten Erinnerungsgeschehnissen sich befasst und folgende Punkten berücksichtigt:8 Abgrenzung der Gedächtnis von Erinnerungen Abrufen der Erinnerungen und Neukonstituierung des Wissens Unterscheiden von erfahrener und nicht-erfahrener Vergangenheit Rezeptionsgeschichte der Objektivationen Der Focus der Wissenschaftler aus dem SFB Erinnerungskulturen fällt auf die zweite Ebene des Modells, die die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen betrifft. Das wiederspiegelt sich in zahlreichen Publikationen, die beispielsweise religiöse, adelige oder deutsch-jüdische Erinnerungskulturen im Laufe der Zeit beschreiben. Die Veröffentlichungen beziehen sich auch auf Gedächtnismedien sowie auf Ausarbeitung bedeutsamen gedächtnistheoretischen Konzepten.9 2.1.2 Kollektives Erinnern – Maurice Halbwachs Maurice Halbwachs (1877-1945) ist in der Geschichte als französischer Soziologe des XX Jahrhunderts und als Begründer der Begriffen: das kollektive Gedächtnis (mémoire 5 Ebd., S. 34-35. Ebd., S. 35. 7 Ebd., S. 35. 8 Ebd., S. 35. 9 Ebd., S. 36. 6 5 collective) und soziale Bezugsrahmen (cadres sociaux) eingegangen. In seinem Leben hat er drei Bücher verfasst: Les cadres sociaux de la mémoire (Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen, 1985), La mémoire collective (Das kollektive Gedächtnis, 1991) und La Topographie legendaire des Évangelies en Terre Sainte (Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, 1941) in denen er sich mit den oben erwähnten Begriffen auseinandersetzt. In seinem Studium zum kollektiven Gedächtnis, hat er drei Untersuchungsbereiche ausgesondert, deren Grundgedanken Basis zu weiterer Forschung geworden sind. Die Bereiche stellen drei Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses dar: 1 das kollektive Gedächtnis als die sozial geprägten individuellen Gedächtnisse, 2 das kollektive Gedächtnis als das Generationengedächtnis aus dem die Oral History schöpft, 3 das kollektive Gedächtnis, das später von Aleida und Jan Assmann weiterentwickelt und als <kulturelles Gedächtnis> bezeichnet wurde. Daraus lassen sich folgende Konzepte zusammenführen: 1 kollektives Gedächtnis als organisches Gedächtnis des Individuum, das von soziokulturellen Umgebung geprägt ist; 2 kollektives Gedächtnis, Kommunikation und das ein Institutionen Bezug auf innerhalb Vergangenes von sozialen durch Medien, Gruppen und Kulturgemeinschaften nimmt.10 Halbwachs theoretischer Entwurf von kollektivem Gedächtnis stützt sich auf dem Konzept der cadres sociaux (soziale Bezugsrahmen), der besagt, dass die individuellen Erinnerungen sozial bedingt sind. Die cadres sociaux sind soziale Erinnerungsrahmen, die von den Mitmenschen gebildet werden. „Der Mensch ist ein soziales Wesen“11 und existiert nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum sondern in verschiedenen sozialen Formationen. Gedächtnis, das auf dem Akt des sich Erinnerns konstituiert ist, hängt mit der Mitmenschlichkeit zusammen. Im täglichen Leben gehört man mehreren Gruppen an und durch Umgang mit kollektiven Phänomenen wie Sprache, Sitten und Bräuche, sammelt man die Erfahrungen, an denen man sich später erinnern kann. „Durch Interaktionen und Kommunikation mit unseren Mitmenschen (werden) Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und Raumvorstellungen sowie Denk- und Ehrfahrungsströmungen vermittelt 10 11 Vgl. Ebd., S. 15. Ebd., S. 15. 6 […].“12 Ohne soziale Bezugsrahmen, die in übertragener Bedeutung als Wahrnehmungs- und Erinnerungsdenkschemata fungieren können, bleibt uns auch der Zugang zum eigenen Gedächtnis verwehrt. Halbwachs vertritt somit einen Standpunkt, der in seiner zeitgenössischen Wissenslandschaft als widersprüchlich gilt. Das kollektive Gedächtnis ist auf gar keinen Fall mit der Theorie des kollektiven Unbewussten von Carl Gustav Jung zu verwechseln, die besagt, dass alle Menschen über gemeinsame Archetypen verfügen. Für Halbwachs ist das individuelle Gedächtnis nicht biologisch vererbbar13 sondern sozial geprägt. Halbwachs unterscheidet auch zwischen zwei Formen der kollektiven Vergangenheitsbildung, die aus Generationengedächtnis und religiöser Topographie resultieren. In seinem Buch Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen bedient er sich der soziologischen Fallbeispiele – Familie, Religionsgemeinschaft und soziale Klassen. Das kollektive Gedächtnis gliedert sich unter anderem aus intergenerationelle Gedächtnis, Generationengedächtnissen und Familiengedächtnissen. Für all bereits erwähnten Gedächtnisse ist es typisch, dass ihre Träger zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen sind. Die zeitliche Reichweite des Generationengedächtnisses beträgt ca. 80 Jahren, so lange, wie sich das älteste Familienmitglied erinnern kann. Das Fundament zur Entstehung des Generationengedächtnisses bilden soziale Interaktionen [z.B. Ritten, Sitten, Bräuche – M.Z.] und Kommunikation [vor allem mündliche Überlieferung z.B. während der Treffen im Kreis der Familie – M.Z.], die „ein Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen und Nachkommen“14 ermöglichen. Das Erzählen über Vergangenheit verursacht, dass man an den Ereignissen partizipieren kann, ohne an ihnen teilgenommen zu haben. Die Erinnerungen sind keine Abbilder der Vergangenheit, sie werden vergegenwärtigt und neu konstruiert, da das Gedächtnis nicht ein statisches Gedankenkonstrukt ist: „Die Erinnerung ist in einem sehr weiten Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen, vorbereitet.“15 12 Ebd., S. 15. Vgl. Assman, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Verlag C.H. Beck 2005, S. 47. 14 Ebd., S. 16. 15 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1991, S. 55. 13 7 Wesentliche Aufgabe des kollektiven Gedächtnisses ist die Identitätsbildung. Man erinnert sich an solchen Sachen, die dem Selbstbild oder Interessen der Gruppe entsprechen. Bei der Identitätsbildung und Entwicklung des kollektiven Gedächtnisses schreibt Halbwachs den fiktionalen Medien eine große Bedeutung zu. Bei seiner Überlegungen wird der Aspekt der Fiktion hervorgehoben, da „in der Fiktion […] eine Matrix des kollektiven Gedächtnisses entworfen (wird)“.16 Der französische Soziologe rekurriert dabei oft auf ein literarisches Werk von Proust Die Suche nach der verlorenen Zeit. In literarisch kreierten Räumen widerspiegeln sich komprimiert dargestellte Denkweisen und Vorstellungen sowohl der Individuen als auch des Kollektivs. Diese Speichermedium – Unterhaltungsliteratur - kann aber auch um einen Film erweitert werden. Jedoch in beiden Medien müssen die Bezugsrahmen der Rezipienten berücksichtigt werden. Nur in diesem Fall haben die fiktionalen Gedächtnisse eine Bedeutung für die Gegenwart, wenn sie an die aktuellen Bezugsrahmen der Empfänger knüpfen.17 Die andere Form der kollektiven Vergangenheitsbildung ist nach Position von Halbwachs die religiöse Topographie. In La topographie légendaire wurden religiöse Gruppengedächtnisse beschrieben. Akzentuiert werden ihre starke Geformtheit und das Einbeziehen von Gegenständen und Gedächtnisorten. Da die Zeithorizonte dieses Gedächtnisses über Tausende von Jahren hinwegreichen, benötig man der oben erwähnten materialen Phänomene wie z.B.: Architektur, Pilgerwege, Gräber als Speichermedien. In diesem Fall ist der Blick in einer fernen Vergangenheit der Traditionsbildung zu verdanken. Der Soziologe wurde im Konzentrationslager Buchenwald am 16. März 1945 ermordet und seine Gedächtnistheorie, die sich im Moment seines Todes teilweise in einer skizzenhaften und unvollständigen Form befand, wurde vierzig Jahre lang nicht rezipiert. Seine Zeitgenossen aus der Universität Straßburg warfen dem Soziologen zwar zu starke Kollektivierung individualpsychologisches Phänomene vor, aber diese Kritik hat ihm nur ein Anstoß zur weiteren Arbeit gegeben. Spätere Rezeptionsgeschichte Halbwachs Theorie brachte intensive Weiterentwicklung und Konkretisierung. Heutzutage ist es undenkbar, ein theoretisches Konzept zu entwerfen, ohne einen Rückgriff auf seine Theorie des kollektiven Gedächtnisses zu nehmen. 2.1.3 Europäisches Bildergedächtnis – Aby Warburg 16 17 Görz, Katharina: Die Suche nach der Identität. Erinnerungen erzählen im Spielfilm. Remscheid 2007, S. 135. Ebd., S. 135. 8 Das nächste Gedächtniskonzept – Bildergedächtnis – stammt von dem Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg (1886-1929). Warburg erweiterte Quellenbasis der Kulturwissenschaft und gilt als sein Vordenker. Er stand für ihre Interdisziplinarität. Erwähnenswert ist, dass er der Begründer der Kulturwissenschaftlicher Bibliothek Warburg in Hamburg war. Um die Bibliothek sammelte sich ein Kreis der berühmten Forscher wie Erwin Panowsky, Helmut Ritter oder Ernst Cassirer. Der Schwerpunkt Warburgs Überlegungen fällt auf die materielle Dimension der Kultur. Mitte der 1920er Jahre hat er zu seiner kunsthistorischen Forschung die Theorie des kollektiven Gedächtnisses einbezogen.18 Warburg beschäftigte sich mit Kultur im engeren Sinne, genauer gesagt, mit Hervorbringungen der Kunst und mit den Kunstwerken. Er suchte nach ähnlichen Phänomenen, die in verschiedenen Zeitperioden sich diachron auf der Zeitachse positionieren. In verschiedenen Epochen tauchen charakteristische Motive, Elemente, Details, Vorbilder aus der Vergangenheit auf. Die Suche war interdisziplinär orientiert, so dass als Beispiele hier die „bewegte Gewandmotive antiker Fresken in Renessaincegemälden Boticellis und Ghirlandaios“19 oder einfach Gothik Revival20 dienen können. Warburg hat der Wiederkehr der künstlerischen Formen in verschiedenen Zeiträumen beobachtet. Die Ursache für diese Vorgehensweise ist die „Erinnerungsauslösende Kraft kultureller Symbole“21 . Warburg hat festgestellt, dass die Werke der bildenden Kunst nicht nur als geniale Spitzenleistungen und epochenspezifische Stileigentümlichkeiten zu betrachten sind. Sie gelten als „Aufbewahrungsspeicher für intensive Erlebnisse und affektive Ausdrucksformen des Menschen.“22 Warburg wies bei dem Entstehen solcher Ausdrucksformen auf Erregungsintensivität hin, die sich sowohl im negativen Sinn von äußerstem Leid, als auch im positiven von Ekstase manifestiert. Diese Affektzustände, die „die Visualisierungen der inneren Ergriffenheit durch Gebärden und Körperhaltungen“23 abbilden, nennt der Kunsthistoriker Pathosformeln. Die Pathosformeln bauen auf Symbolik antiker Vorbilder, 18 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S. 19. Ebd., S. 19. 20 Gothik Revival (anders Neogotik oder Neugotik) ist ein Kunst- und Architekturstill des 19 Jahrhunderts. Charakteristisch ist der Wiederkehr der gotischen Formen wie Kreuzrippengewölbe, Ornamentik aus geometrischen Formen, aufgebrochene, hohe Wände mit schlanken Kirchenfenstern und schlanke, strukturierte Pfeiler auf polygonalem Grundriss. (Aus Kubalska-Sulkiewicz, Krystyna (koordynator)/ Bielska Łach, Monika/ Manteuffel-Szarota, Anna. Słownik terminologiczny sztuk pięknych. Warszawa: Wydawnictwo naukowe PWN 2007. 21 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.19. 22 Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 46. 23 Ebd., S. 46. 19 9 tauchen in Renaissance bis in die Moderne auf und bilden eine Kontinuitätslinie, die Warburg in Anlehnung an Engramm-Begriff von Richard Semons als gedächtnishaft bezeichnet. Die kulturelle Engramme oder Dynamogramme sind Pathosformeln, in denen sich medial und symbolisch Spuren von Empfindungen manifestieren. In Warburg Betrachtungen nimmt das Kunstwerk, das zum Speichermedium des kollektiven Gedächtnisses geworden ist, eine zentrale Position ein. Diese Stellung ist den folgenden Eigenschaften des Kunstwerkes zu verdanken: 1 Das Kunstwerk hinterlässt die geistigen Spuren, die sich ins Gedächtnis des Empfängers einschreiben. 2 Das Kunstwerk bündelt in sich eine starke mnemische Energie, die nicht nur die Voraussetzungen zum Akt des sich Erinnerns schafft, aber auch die Wiederkehr mancher Motive aus der Vergangenheit in nachfolgender Zeitperioden hervorruft. Kunstwerk ist eine kulturelle Energiekonserve und die gesamte Kunst sich auf dem Gedächtnis der Symbole stützt. 3 Das Kunstwerk ist nicht an einem bestimmten geographischen Raum und an einer historischen Zeit gebunden. Es überdauert die Zeiten und überquert die Räume. Die Kunstgeschichte fungiert als kollektives Bildgedächtnis. Warburg selbst befasste sich mit Klassifizierungen der Pathosformeln, in dem er in eigenen Projekten, wie „MnemosyneBildatlas“, über eintausend Abbildungen über Europa und Asien zusammengestellt hat. Das epochen- und länderüberschreitende Bildgedächtnis hat materielle Grundlage. Nach Position von Warburg, wurde Kunst zu einer zentralen Referenz für kulturelle Erinnerungen, da die Werke der Künstler die Ausdrucke der Erinnerungen sind24. Bei dieser Formulierung sind auch andere Kunstformen wie Literatur oder Film nicht ausgeschlossen.25 2.1.4 Kommunikative und kulturelle Gedächtnisformen nach Jan und Aleida Assmann In diesem Kapitel sollen in der ersten Linie zu Beginn zwei Gedächtnisarten, nämlich das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis besprochen werden, demnächst 24 Vgl. Jahoda, Gustaw: Das Überdauern der Bilder: Zur Kontiniutät der Imagines vom Anderen. In: Walzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlags 2001. 25 Vgl. Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 49. 10 weitere Formen, die das Assmannsche Konzept ergänzen. Beide Gedächtnisarten bauen teilweise auf in dem ersten Kapitel besprochener Theorie des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs, die Assmanns in Folge von Evolution der Medien weiter ausdifferenzieren. Ihre Arbeit war interdisziplinär orientiert und ging quer durch die verschiedenen akademischen Fächer wie beispielsweise: Soziologie, Geschichtswissenschaft, Altertumswissenschaft, Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Literaturwissenschaft. 26 Der Begriff kulturelles Gedächtnis taucht Ende der 80er Jahre auf und wurde von Jan und Aleida Assmann eingeführt. Seit dieser Zeit erlebt man innerhalb von deutschsprachigem Raum eine Konjunktur von Gedächtnistheorien. Aleida Assmann hat der Begriff Gedächtnis zum „Leitbegriff der Kulturwissenschaften“ erhoben. Das Buch Das kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann, das im Jahr 1992 erschien, ist eine bahnbrechende Studie, die mit der Diagnose einer „Epochenschwelle“ beginnt.27 Das Werk selbst galt als Auslöser dieser Konjunktur, wobei zahlreiche Gedächtnistheorien, die Ende des 20.Jahrhunderts auftauchten, der Autor in seinem Buch in Rücksicht genommen hat: „in der mindestens drei Faktoren die Konjunktur des Gedächtnisthemas begründen. Zum einen erleben wir mit den neuen elektronischen Medien externer Speicherung eine kulturelle Revolution, die an Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks und vorher der der Schrift gleichkommt. Zum anderen […] verbreitet sich gegenüber unserer eigenen kulturellen Tradition eine Haltung der „Nach-Kultur“, in der etwas zu Ende gekommenes – „Alt – Europa“ nennt es Niklas Luhmann – allenfalls als Gegenstand der Erinnerung und kommentierenden Aufarbeitung weiterlebt. Drittens […] Eine Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen in den Annalen der Menschheitsgeschichte beginnt nun auszusterben.“ 28 Zum anderen wurde die Zunahme an Gedächtnistheorien als Symptom einer Krise wahrgenommen, die Krise einer Kultur die ihre bisherige Überlieferungsverfahren, Funktion und Selbstverständlichkeit verloren hat. Jan und Aleida Assmann weisen auf die Verbindung von Kultur und Gedächtnis. Das Konzept ist gut begrifflich strukturiert und wissenschaftlich fundiert. Assmanns machen aufmerksam auf dem Dreiecksverhältnis von kultureller Erinnerung, politischer Legitimierung und kollektiver 26 Identitätsbildung. Kulturelles Gedächtnis übt einen Einfluss auf Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S. 27. Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 61. 28 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 11. In: Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 60-61. 27 11 Identitätsbildung, aber auch politische Machtstrukturen wirken auf Erinnerungskulturen, in dem sie das kulturelle Gedächtnis stabilisieren oder legitimieren. Als Beispiel können in diesem Kontext die Gedenktage vor und nach 1989 in Polen dienen. Die Machtstrukturen in der geschlossenen Gesellschaft vor der Wende waren anders, so dass man in Polen den 22 Juli gefeiert hat. Nach der Wende und nach der Neugestaltung des Systems, kam es zur Veränderung der Inhalte des kulturellen Gedächtnisses, so dass der 22 Juli nicht mehr als Nationalfest betrachtet und somit gefeiert wurde. Assmanns rekurrieren auf Halbwachsʹ Betrachtungen zum Thema des kollektiven Gedächtnis. Sie befassen sich mit einem Aspekt des kollektiven Gedächtnisses, der von ihnen weiter ausdifferenziert wird. Daraus resultiert die Einteilung in zwei „Gedächtnis - Rahmen“: 1 das kollektive Gedächtnis als Alltagsgedächtnis, das Assmanns als kommunikatives Gedächtnis bezeichnen 2 das kollektive Gedächtnis, das sich auf „symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt“29 und als kulturelles Gedächtnis benannt wurde. Ausschlaggebend ist die Feststellung, dass ein qualitativer Unterschied zwischen den beiden Gedächtnisarten besteht. Die Merkmale der beiden Gedächtnisse wurden gegenüber überpointiert, um die Unterschiede hervorzuheben.30 Der Schwerpunkt Assmannschen Überlegungen fällt auf das kulturelle Gedächtnis, so dass das kommunikative Gedächtnis als Abgrenzungsfolie und Oppositionsbegriff fungiert. Die Bereiche, auf denen zur Unterschiede kommt, betreffen: Inhalte, Medien, Formen, Zeitstruktur und Träger. In der unten stehenden Tabelle wurden beide Gedächtnisarten präsentiert:31 kommunikatives Gedächtnis Inhalt Formen Medien 29 kulturelles Gedächtnis mythische Urgeschichte, Geschichtserfahrung im Ereignisse in einer absoluten Rahmen indiv. Biographien Vergangenheit informell, wenig geformt, gestiftet, hoher Grad an naturwüchsig, entstehend Geformtheit, zeremonielle durch Interaktion, Alltag Kommunikation, Fest feste Objektivationen, lebendige Erinnerung in traditionelle symbolische organischen Gedächtnissen, Kodierung/Inszenierung in Erfahrungen und Hörensagen Wort, Bild, Tanz usw. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S. 27. Ebd., S. 27. 31 Ebd., S. 29. 30 12 80-100 Jahre, mit der Gegenwart mitwandernder Zeitstruktur Zeithorizont von 3-4 Generationen unspezifisch, Zeitzeugen einer Träger Erinnerungsgemeinschaft absolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit spezialisierte Traditionsträger Das kommunikative Gedächtnis ist naturwüchsig und wenig geformt. Sie entsteht durch Alltagsinteraktionen, ist informell und deswegen durch Instabilität und Veränderlichkeit gegenzeichnend. Die mündliche Kommunikation, die meistens innerhalb von einer Familie oder Gemeinschaft stattfindet, dient als Verbreitungskanal der Inhalte wie Erinnerungen und Erfahrungen. Der Zeithorizont dieses Gedächtnisses umfasst drei bis vier Generationen und die Erinnerungen, die vermittelt werden, bezeichnet man als biographische Erinnerungen. Diese Erinnerungen formen das Generationengedächtnis. Organisches Gedächtnis ist beschränkt, so dass die Inhalte nur in begrenzter Masse erinnert werden können. Das kommunikative Gedächtnis gehört zu dem Bereich der Oral History.32 In den modernen Medienkulturen kam es zur „sekundärer Oralität“. Das Phänomen, dass neben bisheriger Existenz zum Neuentstehen die mündlichen Überlieferungsformen kamen, verursacht, dass der Verbreitungsradius nicht nur auf kleinere Gruppen beschränkt ist. Als Beispiel kann Rundfunk dienen, der präziser und dauerhafter die Erinnerungen archiviert. Das kulturelle Gedächtnis wurde in der Opposition zu dem kommunikativen Gedächtnis dargestellt. Es hat eine generationenübergreifende Speicherstruktur. Sein Gegenstand sind mythische Ereignisse einer fernen Vergangenheit, beispielsweise der Kampf um Thermophile. Das Gedächtnis ist an der Gegenwartsperspektive gebunden und wird von Spezialisten, wie z.B. Archivare, Schamanen, Priester weitergegeben. Die im Jahr 1988 von Jan Assmann formulierte Definition des kulturellen Gedächtnisses lautet: „Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, Bildern und – Riten zusammen, in derer >Pflege< sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“ 33 Das kulturelle Gedächtnis ist ein Entwurf der Vergangenheit, die eine Gruppe oder Gemeinschaft sich geben will und ist demzufolge von interessengesteuerten Selektion 32 Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 62. 33 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S. 28. 13 geprägt.34 Sie entsteht immer, wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft bestimmte Ereignisse als beachtenswert einstuft und sie bewahren will. Die zentralen Merkmale, die kulturelles Gedächtnis definieren, sind: Identitätskonkretheit, Rekonstruktivität, Geformtheit, Organisiertheit, Verbindlichkeit und Reflexivität. Die Inhalte vom kommunikativen zum kollektiven Gedächtnis können mit der Unterstützung von Medien wie Literatur, Film Übergehen. Jan und Aleida Assmann haben sich auch mit den Begriffen wie orale und skripturale Kulturen auseinander gesetzt. Die Medien des kulturellen Gedächtnisses sind Mündlichkeit und Schriftlichkeit.35 Jan Assmann spricht über „der rituellen Kohärenz oraler Kulturen und der textuellen Kohärenz skripturaler Kulturen“36. Die kulturelle Vergangenheit wird in Oralen Kulturen mündlich überliefert. Diese Kulturen stützen sich auf genauer Repetition der Mythen, die im organischen Gedächtnis beispielsweise der Schamanen aufbewahrt werden. Die textuelle Variante erlaubt, dass in literalen Gesellschaften Inhalte personen- und situationsunabhängig aufbewahrt werden können. Im Vergleich zu Oralen Kulturen ist die Kapazität der gespeicherten Informationen enorm größer. Die entstandene zeitlich zerdehnte Situation37 ermöglicht Neuinterpretationen, Modifizierungen, Entdeckung der Mehrdeutigkeit der Texten und Vergegenwärtigung der gespeicherten Informationen. Die nächste Einteilung, die im Kontext gedächtnispolitischer Strategien untersucht wurde und in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss Untersuchungen eingeführt wurde, ist die Einteilung in kalte und heiße Gesellschaftsformen. Zum Motor der Entwicklung dieser Kulturen werden die Erinnerungen. Die kalte Kulturen sind stabil, und es kommt zur keinen Veränderungen. Die Vergangenheit hat keinen Bezug auf Gegenwart. In heißen Gesellschaftsformen die Erinnerungen und Mythen im Sinne von Geschichte, mobilisieren zum gesellschaftspolitischen Wandeln. In diesen Formationen wird der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart betont. Die Mythen können eine fundierende oder kontrapräsentische Motorik aufzeigen. Eine fundierende Motorik kann beispielsweise ein politisches System legitimieren und eine kontrapräsentische Motorik kann ein bestehendes System subversiv unterwandern. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass den Gedächtnisdiskurs zum einen von Differenzierungsprozess geprägt ist, das veranschaulicht das unten stehendes Schema: 34 Vgl. Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 65. 35 Ebd., S. 30. 36 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S. 30. 37 Ebd., S. 30 14 Gedächtnis individuell kollektiv kommunikativ kulturell rituell textuell gespeichert funktional kalt fundierend heiß kontrapräsentisch38 Zum anderen aber, worauf die linke Seite des Schemas aufzeigt, existieren die Zusammenhänge zwischen den nächstunterstehenden Begriffen. Dementsprechend werden beispielsweise die individuellen Erinnerungen das kommunikative Gedächtnis gestalten. Die rituellen Strukturen werden von dem kommunikativen Gedächtnis geprägt und die Riten werden in Inszenierungen des Funktionsgedächtnisses sichtbar.39 2.2 Zum Film 2.2.1 Film als eine Art des ausgelagerten Gedächtnisses Diskurs über „Gedächtnis und Medien“ ist ein seit ca. über 20 Jahren existierendes Themenfeld. Gedächtnisbegriff, der anfänglich nur auf Individuen bezogen war, wurde um die Dimension des kollektiven Gedächtnisses ausgebaut. Teil des kollektiven Gedächtnisses bildet das Mediangedächtnis und unter der Perspektive „Gedächtnis und Medien“ wurde auch der Film untersucht.40 38 Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 69. 39 Ebd., S. 70. 40 Klippel, Heike: Das „kinematographische“ Gedächtnis. In: Karpf, Ernst (Hrsg.)/ Kiesel, Doron: Once upon a time… Film und Gedächtnis. Marburg: Schnüren Verlag 1998, S. 39. 15 Medien wie Film fungieren als eine Art des ausgelagerten Gedächtnisses, das jeder Zeit durch technische Reproduktion abgerufen werden kann. Der Film ist ein Konservierungsmedium, das die zeitliche und räumliche Distanz überwindet und durch Modus der Präsenz gekennzeichnet ist.41 Von anderen Medien unterscheidet er sich durch den Aspekt der gegenwärtigen Beweglichkeit. Die in der Vergangenheit gespeicherten Aufnahmen werden während des Filmbetrachtens reaktiviert, wiederbelebt und vergegenwärtigt. Zum Einem handelt es sich im eine Rekonstruktion der Vergangenheit, wie im Falle der Erinnerungen ist, zum Anderen um eine Wiederholung der gleichen Ereignissen, die auf der Filmstreifen gespeichert wurden42. Film ist ein Archiv und Zeuge in dem das Nebeneinander vieler Vergangenheiten auftritt. Film bildet aber keine ungebrochene Kontinuität, er zeichnet sich durch Übersprunge, Verlangsamungen, Stockungen und Durchbrüche, Nicht-Linearität, Dynamik und manchmal auch durch eine Fragmentierung.43 Er ist dem Akt des sich Erinnerns sehr ähnlich. Nach Position von Pasolini ist „jeder Erinnerungsversuch (…) eine Folge von Bild-Zeichen, das heißt, eigentlich eine Filmsequenz.“44 Im Kopf projizierte Erinnerungen, also Folgen von Bild-Zeichen, besitzen alle typischen Merkmale einer Filmsequenz: Details, Großaufnahmen sowie Perspektiven etc. Diese Skala, die Erinnerungen begleitet, dient auch als Kommunikationsbasis im Film.45 Film ist eine Art des gespeicherten Gedächtnisses. 2.2.2 Ästhetische Besonderheiten des Films Dieser zweite Abschnitt soll Entstehungsgeschichte des Films skizzieren, die weitere Unterschiede zwischen dem Film und anderen Medien zeigen, sowie die besondere Merkmale des Films beschreiben. Das Jahr 1895 gilt als die Geburtsstunde des Kinos und des Films. Die neue technische Erfindung, die man als apparaterzeugte Realität des Sehens46 bezeichnen kann, zeigte zum Einen die reale Bewegungsabläufe, tatsächliche Geschehnisse und alles was auf dem dokumentarischen Charakter aufweist und zum Anderen das durch verfügbare Techniken 41 Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. 43 Ebd., S. 49. 44 Pasolini, Pier Paolo: Die Sprache des Films. In: Knilli, Friedrich (Hg.) (in Zusammenarbeit mit Knut Hickethier und Erwin Reiss): Semiotik des Films. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1971, S. 39. 45 Ebd., S. 39. 46 Beicken, Peter: Wie interpretiert Man einen Film. Stuttgart: Philip Recklam Verlag 2004, S. 7. 42 16 Illusionistische. Die Anfänge des Films zeichnen sich durch eine diagnostizierbare Polarität. Abbildung, Reales und Publizistik wird Fiktion, Dichtung und Imaginäres gegenübergestellt. Tertium comparationis ist die Bewegung. Als Vertreter des Dokumentarisches gelten Brüder Lumière. Méliès dagegen durch verfügbare Illusionstechniken und mit Hilfe der Theaterkulissen dreht phantastische Filme wie zum Beispiel „Die Reise zum Mond“. Kino und Film vollzogen bis dem heutigen Tag eine extrem große technische Entwicklung. Da der Film immer an der Bedeutung gewann, müsste es zur Trennung zwischen dem Film und den anderen Medien kommen. In der ersten Phase von 1895 bis etwa 1909 entwickelten sich Kino und Film ungestört. Die zweite Phase von 1909 bis ca. 1920 rief seitens Kultur- und Literaturkritiker starke Diskussionen hervor. Das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Film, dem Theater und der Literatur wuchs permanent und das neu entstandene Medium galt als Gefahr und Bedrohung zu existierenden Formen. Der technische Fortschritt im Bereich der Projektions- und Aufnahmetechniken und die zunehmende Zahl der Lichtspielhäusern verursachten, dass das neue Medium nicht mehr als eine ephemerische und marginale Erscheinung betrachtet wurde. Ihre Position befestigte sich noch durch zahlreiche Verfilmungen der literarischen Werke und Adaptierung der künstlerischen Praktiken des Theaters. In den zwanziger Jahren lösten sich stufenweise Film und Kino von dem Einfluss der Literatur. Damals gestellte Fragen nach einer Ästhetik des Films entzündeten neue Debatten, infolge deren sich Theorien des Films herauskristallisierten. Das einzigartige Medium der Kommunikation und des Visuellen, das ästhetische Dimensionen mit Unterhaltungsdimension vereinigte, wurde schließlich als siebte Kunst47 bezeichnet. Die Verselbständigungsprozess des Films im Bezug auf andere Medien lässt sich mit folgendem Zitat zusammenfassen:48 „Die ästhetischen Profilierungen eines neuen Mediums entstehen in Konkurrenzen zu entstehenden Kunstgattungen und –praxen. Das Medium Film hat seinen besonderen Kunstcharakter in der Auseinandersetzung mit den Bildungsanforderungen gegenüber dem Massenmedium der bloßen Schaulust und mit den anderen Künsten und technischen Medien (Literatur, Theater, Malerei, Fotografie) entwickelt.“49 Film grenzt sich von den anderen Medien auch durch seine besondere Filmsprache ab. Er operiert mit verschiedenen Zeichensysteme: akustische Zeichen als Ton, sprachliche Zeichen als Wort/Wörter, optische Zeichen als Symbole und ikonographische oder Bildzeichen als 47 Ebd., S. 7. Karpenstein-Eßbach, Christa: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 251-258. 49 Ebd., S. 258. 48 17 Bilder.50 Film spricht aber eine verständliche Sprache, die sich wohl aus allgemeinverständlichen Zeichen gliedert 51. Film hat einen zweifachen Charakter, der oft kommentiert wurde. Überlegungen betreffen zwei Felder: Realismus und Phantastik. Wirklichkeitsaffinität eines Filmes beruht auf der Tatsache, dass Film technisch gesehen auf Fotographie baut und wirklichkeitsgetreu von einfachsten bis zu kompliziertesten Lebensvorgängen wiedergibt. Sein fotographischer Charakter und Wirklichkeitsbezug sind zweifellos. Verbesserung der Qualität des Gezeigten löste sogar eine Faszinosum der Sichtbarkeiten aus, da „der Film ein Medium der Sichtbarkeit, des durch und durch Visuellen ist“52. Aber nach Position von Gunther Schanz: „Filme sind keineswegs bloß technische Reproduktionen von natürlichen Wahrnehmungen, wie oft gesagt wird. (…) Sie zeigen das, was sie zeigen, auf eine bestimmte Weise, mit bestimmten Mitteln und… in einer bestimmten Absicht.“53 Das bedeutet, dass ein im Film gezeigter Vorgang, beispielsweise „Ein Auto fährt die Straße runter“, möglichst ununterbrochen gezeigt werden muss. Aus welcher Perspektive, von welchem Platz, wie lange wird das Auto gezeigt und ob es tatsächlich in seiner ganzen Länge, wenn es die Straße runter fährt, dargestellt wird, wird dem Filmemacher überlassen, so dass die Vorgänge nicht so wie sie in der Wirklichkeit sind, dargestellt sind.54 Die weit ausgebauten ästhetischen Überformungen des Wirklichen verursachen, dass dem Film auch Phantastik innewohnt. Die filmische Welt ist manchmal ein Märchenwelt oder Traumwelt, die „das ungehemmteste Beweglichkeit der Gestalten, das völlige Lebendigwerden des Hintergrundes, der Natur und der Interieurs, der Pflanzen und Tiere“55 zeigt. Diese lebendigen Bilder entsprechen der Wirklichkeit eines gewöhnlichen Lebens nicht. Diese binarische, filmische Spezifik lässt sich mit folgendem Zitat zusammenfassen: „Eine eigene Filmästhetik beruht auf der Pointierung von zwei filmspezifischen Charakteristika: 1. Auf der Nähe des Films zur physischen Realität (begründet in der Wirklichkeitsreferenz der fotographischen Abbildung); 2. auf den phantastischen 50 Beicken, Peter: Wie interpretiert Man einen Film. Stuttgart: Philip Recklam jun. Verlag 2004, S. 34. Pasolini, Pier Paolo: Die Sprache des Films. In: Knilli, Friedrich (Hg) (in Zusammenarbeit mit Knut Hickethier und Erwin Reiss): Semiotik des Films. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1971, S. 38. 52 Karpenstein-Eßbach, Christa: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 263. 53 Schanz, Gunther: Filmsprache und Filmsyntax. Das glückliche Bewusstsein. Anleitungen zur materialistischen Medienkritik. Hrsg. v. M. Buselmeier, Darmstadt und Neuwied 1874, S. 104. 54 Faulstich, Werner: Einführung in die Filmanalyse. Tübingen: Gunther Narr Verlag 1980, S. 45. 55 Karpenstein-Eßbach, Christa: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 262. 51 18 Dimension des Lichtspiels der Sichtbarkeiten (verbunden mit Imagination und Fiktion). Beide filmästhetischen Linien stellen den Zusammenhang von apparativer Beschaffenheit und filmischen Kunstmitteln besonders heraus.“ 56 Film hat dank seinen Besonderheiten extrem große Wirkung auf sinnliche Wahrnehmung. Er eröffnet eine neue ästhetische Dimension, die bisher kaum vorstellbar war. Existierende Medien wie Literatur, Malerei oder Fotographie konnten den Rezipienten nicht so stark beeinflussen. Das flüchtigste Medium ist zugleich das erlebnisstärkste57. Sie hat die Wahrnehmungsweisen der Rezipienten und bisher bekannte Konstruktionen von Wirklichkeit geändert. Film war ein neues Tätigkeitsfeld, wo man ein fremdes, gelebtes, durch die Körper des Schauspielers abgebildetes Leben sehen konnte, in dem die Rezipienten ein plastisches und bewegtes Bild einer Vergangenheit erhalten haben. Das Hineingehen in die Bilder verläuft in Etappen. Die Wahrnehmung der filmischen Geschehenszusammenhänge beginnt mit Einleitungsphase, die s.g. Orientierungsphase, die den Rezipienten erlaubt, sich mit filmischen Fundus und Protagonisten vertraut zu machen.58 Die Mechanismen der Filmrezeption in der Stufe Verstrickung, die als Hauptphase gilt, verursachen, dass der Zuschauer als beobachtender Teilnehmer an Filmgeschehnissen partizipiert. Schließlich, während der Vergegenwärtigung der filmischen Ereignisse, kommt es in der letzten Phase zu Sinngebung des Wahrgenommenen. Konstituierende Rolle in diesem Prozess spielen hier die Alltagserfahrungen der Zuschauer.59 Das Filmwahrnehmen ist dem Filmverstehen nicht gleich. Der vollständige Prozess des Filmverstehens, der aus Analyse und Interpretation besteht, verläuft auf drei Ebenen. Die intuitive, s.g. normale Interpretation bildet ein unverzichtbarer Ansatz- und Ausgangspunkt für die weitere, analytische Arbeit. Sie ist aber nur ein Bruchteil des Ganzen. Der nächste Schritt bildet die intersubjektiv nachvollziehbare Analyse, die auf fachspezifischen Begriffen baut, die im nächten Kapitel detailliert besprochen werden. Abgerundet werden die oben erwähnten Bestandteile durch eine weitere, dritte Ebene, nämlich durch das Reflektieren des Reflektierens. Reflexion der Reflexion ist ein Nachdenken, wie und wozu man sich mit dem Film wissenschaftlich beschäftigt. 60 Das Filmverstehen gibt die Antworte, die überprüfbar sein müssen. 56 Ebd., S. 263. Klippel, Heike: Das „kinematographische“ Gedächtnis. In: Karpf, Ernst (Hrsg.)/ Kiesel, Doron: Once upon a time… Film und Gedächtnis. Marburg: Schnüren Verlag 1998, S. 41. 58 Winkler, Mathias: Filmerfahrung. Ansätze einer phänomenologischen Konstitutionsanalyse. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 1985, S. 178 59 Ebd., S. 178. 60 Faulstich, Werner: Die Filminterpretation. Gottingen: Vandenhoeck und Ruprecht Verlag 1995, S. 7-11. 57 19 Film - der siebte Kunst - vollzog eine enorm große Entwicklung. Von einer Marginalerscheinung wurde er zu wichtigem Untersuchungsgegenstand der Soziologen, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler. 2.2.3 Analyseebenen des Films Im vorangegangenen Abschnitt wurden besondere Merkmale des Films genannt und erläutert. In diesem Kapitel werden Begriffe erklärt, die unentbehrlich bei jeder Filmanalyse sind. Im Film unterscheidet man fünf Analyseebenen, das sind: 1) visuelle Ebene, die sich in Subebenen: Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven und Kamerabewegungen, Beleuchtung gliedert, 2) auditive Ebene, die Sprache/Dialoge, Geräusche und Musik umfasst, 3) narrative Ebene, die auf Montageformen beruht, 4) schauspielerische Ebene und 5) semiotische Ebene. 61 1) Die visuelle Analyseebene umfasst Einstellungsgrößen, Beleuchtung, Kameraperspektiven und Kamerabewegungen. Zuerst wird der Terminus Einstellung definiert. „Die Einstellung (ist) die kleinste Einheit des Films: die Abfolge von Bildern, die von der Kamera zwischen dem Öffnen und dem Schließen des Verschlusses aufgenommen werden.“62 Die Einstellungen können nach verschiedenen Gesichtspunkten vor allem nach Größe, Perspektive, Kamera-, Objektiv- und Achsbewegung charakterisiert werden. Die achtstufige Skala der Einstellungsgrößen im Film, die am Normalfall eines Menschen im Raum skaliert, bietet die hilfsreichen Kategorisierungen bei Analyseverfahren an. Die Einstellungsvarianten zeigen die Größe von extremer Entfernung bis zum extremen Nähe. Wolfgang Gast empfehlt folgende Einstellungsgrößen (zusammen mit den Kürzel): 61 - Weit (W) - Total (T) - Halbtotal (HAT) - Halbnah (HN) - Amerikanisch (A) Stöber, Rudolf: Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung. München: C. H. Beck 2008. S. 209. 62 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 113. 20 - Nah (N) - Groß (G) - Detail (D) In der Einstellung Weit werden Panoramaaufnahmen, wie weit ausgedehnte Landschaften, oder Skylines, die nicht auf die Einzelkomponente angehen, dargestellt. Sie erfüllen bestimmte Funktionen, die ihre Bedeutung erst aus dem Kontext gewinnen. Die Weiteinstellung, die am Anfang oder in der Abschlusssequenz eingesetzt ist, eröffnet oder beendet monumental bzw. gefühlvoll eine Handlung, entwirft symbolische Bilder und vermittelt die Atmosphäre.63 Wenn sie in der Mitte einer Sequenz montiert ist, fungiert sie als retardierendes Moment, das zum Ziel der Spannungsaufbau hat. Der Gesamteindruck wird durch musikalisches Untermalen ergänzt und verstärkt. Die Weitaufnahmen treten sehr oft in Science-Fiction-Filmen oder in Western. Die Bauform Total gibt den Einblick auf den gesamten Raum mit allen Menschen, so dass sie sowohl die räumliche Orientierung als auch den Überblick in die Handlung verleiht. Diese Einstellungsgröße ist stärker handlungsbezogen als Weit jedoch weiterhin in einer Landschaft eingebettet. Sie ermöglicht das Sehen des Aktionsraumes aber lässt die Körpersprache der Protagonisten nicht zu erkennen. Diese Funktion wird durch die Halbtotale realisiert, da man die Schauspieler in dieser Einstellung von Kopf bis zum Fuß sehen kann. Die Umgebung der Handelnden tritt stärker in den Vordergrund, so dass der Distanz zu den Zuschauern teilweise gekürzt wird. Er bleibt aber noch relativ groß.64 Diese Einstellung vorbereitet auf die Sequenz, wo die Aufmerksamkeit auf die Gesichter der Protagonisten eingerichtet wird. Die Halbnahe zeigt den Menschen von den Knien an. Das ist genügend um erstens die Beziehungen zwischen den Figuren zu erkennen und zweitens die kommunikative Situation zu verfolgen.65 In der Einstellung Amerikanisch werden die Protagonisten bis unterhalb der Hüften gezeigt. Diese Aufnahme tritt besonders oft bei Western und Filmsequenzen auf, die ein Duell zeigen. Die Einstellung weist auf die Kampfbereitschaft der Figuren auf. Verschiebung des Aktionsraumes vom ganzen Körper auf die kleineren Körperteile ist für Naheinstellung charakteristisch. Die Wahrnehmung der Zuschauer ist oftmals auf Mimik fokussiert. Groß konzentriert sich weiterhin auf dem Kopf und Gesichtsmimik. Nach Vordergrund rücken Gesichtsbewegungen wie Mundwinkelbewegungen oder sogar die Augensprache, die die feinste Empfindungen und 63 Vgl. Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 16. 64 Ebd., S. 19. 65 Ebd., S. 20. 21 Gefühlen ausdrücken. Detail blendet alles außer extrem kleinem Ausschnitt einer Person oder eines Gegenstandes aus. Dieser Teil wird extrem vergrößert. Detaileinstellung stiftet emotionale Intensivierung, trägt zur Spannungssteigerung oder erfüllt Beweisfunktion. Ein weiteres bedeutungsgenerierendes Gestaltungselement, das für die visuelle Ebene vom Belang ist, ist Perspektive. Die Kamera nimmt aus verschiedenen Positionen eine Person, ein Gegenstand oder ein Geschehen auf. Grundsätzlich gliedern sich die perspektivischen Darstellungen in drei dominante Grundformen: Normalsicht, Untersicht (Froschperspektive) und Vogelperspektive (Aufsicht). Sie alle sind von den Produzenten, Kameramanns/frau, Regisseurs geformt und erfüllen ihre Aussageintention. Die Bedeutung der Perspektiven ergibt sich erst aus dem Kontext und Zusammenspiel anderer stilistischer, dramaturgischer und inhaltlicher Stillmittel der Filmsprache. Normalsicht zeigt die Handlung aus der Perspektive einen ca. 170 m großen Menschen. Dieser Sicht zeichnet sich durch Neutralität und vermittelt den Eindruck der Realität, „die den Zuschauer vergessen lässt, dass er einen Film als Mimesis von Realität erlebt und nicht das Leben selbst.“66 Die Personen oder Gegenstände, die aus der Froschperspektive gezeigt werden, können je nach dem inhaltlichen Kontext, bedrohlich, übermächtig, unheimlich und auf der anderen Seite als lächerlich, karikiert und verzerrt wirken67 (wenn z.B. der Kamerablick auf die Naselöcher des Protagonisten fokussiert ist). Entscheidend ist der Blickwinkel des Aufnahmegeräts, der von unten auf das Abgebildete blickt. Kamerastandpunkt befindet sich in der Regel immer unterhalb von 1,50 Metern, manchmal sogar in Bodennähe. Der Kameraeinstellung in Grundform Vogelperspektive zeigt die Ereignisse senkrecht von oben. Hierzu unterscheidet man zwischen leichtem und extremem Obersicht. Der erste präsentiert Protagonisten auf solche Art und Weise, dass sie Beschützerinstinkte (z.B. Vater blickt auf sein Kind) oder Siegesgefühle hervorrufen. Die Gebäude, wenn sie auch leicht von oben aufgenommen werden, wirken aber anheimelnd. Die extreme Obersicht vermittelt den Eindruck einer totalen Überlegenheit, Abhängigkeit oder menschlicher Hilflosigkeit (z.B. im Bezug auf Gefährlichkeit der Natur). Zu Sonderformen zählt der schräge Standpunkt, der ungewöhnliche Situationen, gestörtes Bewusstsein und Irrealität verdeutlicht. Das Aufnahmegerät befindet sich dann in waagerechter Position oder ist seitlich gekippt.68 66 Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 24. 67 Ebd., S. 25. 68 Müller, Arnold Heinrich: Geheimnisse der Filmgestaltung. Montage und Filmgestaltung für Filmer. Berlin: Fachverlag Schiele und Schön 2003, S. 124. 22 Die nächste Subanalyseebene bilden Kamerabewegungen und Achsverhältnisse. Wolfgang Gast weist auf die Trennung zwischen dem sich bewegenden Gegenstand oder der Person im Film und auf der anderen Seite der sich bewegenden Kamera, wobei beide Handlungen miteinander verzahnt sind. Die gängigsten Formen Schwenk und Fahrt benötigen einer Erläuterung. Mit dem Terminus Schwenk versteht man eine realismusillusionistische Drehung einer auf der festen Position stehenden Kamera, die einer Kopfbewegung entspricht. Die Möglichkeiten variieren von einem langsamen bis zum unnatürlich schnellen ReißSchwenk, der sogar als eine Verknüpfung zur anderen Scene fungieren kann. Ein weiteres filmisches Stillmittel ist Fahrt. Diese Kategorie wird durch den Einsatz der technischen Hilfsmitteln wie: Kamerakräne oder Dollys realisiert, so dass Parallelfahrt, Verfolgungsfahrt oder Umfahrt, die mit Ganzkörperbewegung vergleichbar sind, möglich sind. Zoom und subjektive Kamera zählen zu den Sonderformen der Kamera- und Objektbewegungen. Bei Zoom verändert sich nur die Brennweite der Kamera, das Aufnahmegerät bleibt statisch. Diese Bewegung imitiert der Hin- oder Rückfährt, was auf dem ersten Blick als Täuschung einer Fahrt zu glauben scheint. Zoom hat sich besonders in Sequenzen eingebürgert, wo die Emotionen zur Sprache kommen und sich an Gesichter der Protagonisten ausmalen. Subjektive Kamera zeigt die im Film dargestellte Realität aus der Sicht einer handelnden Figur. Diese Einstellung wird oft durch Handkamera realisiert und mit Hilfe von verschiedenen Geräten entsprechend stilisiert. Dieses Verfahren erzeugt Authentizität und Unmittelbarkeit der dargestellten Situationen, was bei den Zuschauern das Wachstum der Identifikationsgrad mit den Geschehnissen erzeugt.69 Die für Rezeption und Wirkung wichtigen Elemente, die ebenso bei der Filmanalyse zu beachten sind, bilden Achsenverhältnisse. Man unterscheidet zwischen Handlungsachse und Wahrnehmungsbzw. Kameraachse. Handlungsachse ist zugleich die Achse der Objektbewegungen im Film. Objekte gehören zum Filminterieur und das können sowohl die handelnde Protagonisten (indem sie sprechen, schauen, laufen) als auch die Sachen sein, die sich in einer Bewegung befinden (fahrende Autos, fließendes Wasser etc.). Die parallele Handlungs- und Wahrnehmungsachse rufen bei den Zuschauern größtmögliches emotionales Involvieren in der filmischen Realität hervor. 70 Die Blickrichtung der Kamera bietet den Rezipienten das direkte Einblicken in den Gesichtern der handelnden Figuren somit identifikatorisches Einbeziehen den Rezipienten in die Geschehnisse. Die emotionale Betroffenheit ist kleiner, 69 Vgl. Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 28. 70 Vgl. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 122. 23 wenn die Kameraachse rechtwinklig zur Handlungsachse positioniert ist. Der Rezipient betrachtet die Handlung als externer, unbeteiligter Beobachter. Aber um totale Ausgeschlossenheit der Zuschauer vor allem in Dialogsequenzen zu reduzieren, wird oft ein Winkel um die 45 Grad gewählt. Gegenseitiges Zeigen den an dem Dialog beteiligten Protagonisten ermöglicht Schuss-Gegenschuß-Verfahren. Dieser Achsensprung hat zum Ziel außer Spannungsförderung auch das Erwecken der emotionalen Anteilnahme der Zuschauer bei dem Gespräch.71 Zu den notwendigen Hilfsmitteln der Filmgestaltung auf der visuellen Ebene gehört Beleuchtung. Faulstich unterscheidet zwischen Unter-, Über- und Mehrfachbelichtung, auch Lichtformen wie: Haupt-, Spitz-, Füll-, Seiten-, Unter-, Vorder-, Oben-, Gegen-, Hinterlicht, ferner hartes und weiches Licht [Weichzeichner – M.Z.] und Beleuchtungsstilen. Die Kategorie Licht war in den 20er Jahren ein wichtiges Gestaltungselement der expressionistischen Filme. Die dramatische und expressive Bilder sowie ausdrucksvolle Stimmungen wurden mit Hilfe der Licht- und Schattenspiele erzeugt. Das Gegenstück bildet der sogenannte Hollywoodstil. Die natürliche Beleuchtungsweise des Hollywoodstils, die einen suggestiven Eindruck von Realismus vermittelt, wird „durch ein ausgewogenes Verhältnis von Grund-/Fülllicht (die gesamte Szene mit allen dunklen Teilen aufgehellt wird) und Führungslicht (die Hauptbeleuchtungsquelle, welche die Akteure beleuchtet und damit die Aufmerksamkeit darauf zentriert) “72 erreicht. In der 40er und 50er Jahre durch entsprechende Beleuchtung in dem sogenannten Film noir wurden vertraute Räume und Gegenstände verfremdet. Sie wirkten bedrohlich und wurden von ihrem Kontext isoliert. Diese Art der Lichtgestaltung nennt man Low-key-Stil. Er charakterisiert sich durch Einsetzen der Lichtquellen an ungewöhnlichen Stellen und Dominanz der dunkleren Tonwerte. Die Fülllichter prädominieren. Bei den Filmen, die von Low-key-Stil geprägt sind, überwiegt Dunkelheit, sehr oft regnet es, es herrscht Pessimismus, Wertrelativismus und Eindruck des Versteckten, Bedrohlichen und Geheimnisvollen vor.73 Dieser Stil geeignet sich besonders gut für psychologische Studien. Der Gegensatz dazu ist der High-key-Stil. Die vermittelten Tonnwerte sind hell und das Bild charakterisiert sich durch weiche Zeichnungen, die die Hoffnung, das Glücklichsein und die freundliche und optimistische Grundstimmung 71 Ebd., S. 122. Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 32. 73 Vgl. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 146-147. 72 24 erzeugen.74 Die Bauform Licht generiert ein Spannungsfeld, „befördert die Verwicklung der Erzählstrategie, unterwirft Figuren der Gesetzen des Raums“75. Die Analyse der Beleuchtung in einem Film ist aber nur dann ergiebig, wenn der Film von dem naturalistischen Mustern abweicht. Auβer Licht auch Farbe besitzt große Bedeutsamkeit. In der Zeiten der Schwarz-WeißFilmen wurden die Maßnahmen getroffen, um bestimmte Aspekte, die für die Handlung vom Belang waren, hervorzuheben. Manchmal wurden die Teile des Filmfensters einfach manuell koloriert [z.B. Rote Fahne im „Panzerkreuz Potemkin“ von Sergej Eisensteins – M.Z.]. Häufiger wurde aber eine andere Technik namens Viragierung verwendet. Damit ist Durchfärbung der Filme gemeint. Als Beispiel kann die rote Viragierung des Ghetto-Brandes in Paul Wegeners „Golem“ dienen. Die Tendenz lässt sich auch in heutigen Farbfilmen verfolgen, jedoch in umgekehrter Richtung. Aus Differenzierungsgründen werden einige Sequenzpassagen, die an Vergangenes erinnern [häufig wird ein historisches Filmmaterial eingesetzt – M.Z.], in Sepia-Färbung oder als Schwarz-Weiβ-Material präsentiert. Diese Techniken erschöpfen aber nicht das vielfältige Spektrum der Möglichkeiten. Wolfgang Becker in „Good Bye, Lenin!“ verwendet ein Trick indem der Vorspann des Films die ORWO [Original Wolfen – M.Z.] Färbung imitiert. Der Regisseur hat sich zur Aufgabe gestellt, das nostalgische DDR-Gefühl bei den Zuschauer zu evozieren76 [jedoch leicht verblichene Farbe könnte auch die Erinnerungen an die Bundesrepublik der 1950er bewirken – M.Z.]. Ein Farbfilm im Vergleich zu einem Schwarzweißfilm, verleiht den Filmbildern eine Tiefe und Perspektive und trägt zur Verbesserung des Gezeigten.77 Béla Balázs hat schon im Jahre 1930 festgelegt, dass in Farben eine große Symbolkraft innewohnt. Sie bewirken emotionale Suggestion und Assoziationen, die auf die Rezeption und Verstehen des Films einen Einfluss ausüben.78 2) Die auditive Analyseebene umfasst drei Subebenen: - 74 Sprache/Dialoge, Vgl. Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 32. 75 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 147. 76 Stöber, Rudolf: Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung. München: C. H. Beck 2008, S. 210. 77 Balázs, Béla: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien: Globus Verlag 1980, S. 226. 78 Balázs, Béla: Der Geist des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2001 [1930], S. 109. 25 - Geräusche und - Musik, die mit visueller Ebene eng zueinander stehen. Die akustischen Zeichen erscheinen entweder als On-Ton oder Off-Ton. Im Fall der sichtbaren Tonquelle, spricht man von On-Ton (on screen). Wenn die Tonquelle auf der Bildebene nicht vorkommt, heißt es Off-Ton (off screen). Manchmal auf der Tonspur werden mit Hilfe einer Erzählerstimme oder Musik Informationen angegeben, die zum besseren Filmverstehen eintragen. Dieses Stillmittel, das die Emotionen und Gedanken der Protagonisten erklärt, nennt man Voice Over. Sprache/Dialoge, Geräusche und Musik gehören zum integrierten Teil des Bildes. In diesem Zusammenhang sind die Wort-Bild-Ton Verbindungen erwähnenswert. Gast zitiert nach Wember, dass die beiden Zeichensysteme eine verstärkende oder konkurrierende bzw. divergierende Tendenz besitzen, die man als Wort-Bild-Schere bezeichnen kann. Wenn Bildund Sprachinformationen auseinander gehen, produziert das entstandene Auseinanderklaffen separate Zusammenhänge, die den Rezipienten die Rezeption erschweren. Die Abstimmung der Wort-Bild-Struktur zeigt auf eine Geschlossenheit der Wort-Bild-Scheren.79 Die Analyse der Subebene Sprache/Dialoge wurde bislang am wenigsten entwickelt, obwohl sie zweifellos die Oberhand in den meisten Filmen ist. Der gesprochene Dialog schöpft aus der Theater-Tradition des Bühnensprechens, aber heutzutage ist seine lockere Form in Spielfilmen keine Seltenheit. In ihm kristallisieren sich Gefühle, Meinungen, seelische und psychische Prozesse der Protagonisten heraus. Das Dialogische, das in den Sprechhandlungen der Akteure auftritt, beherrscht die Sprache, die aber auch als Off-Kommentar eines auktorialen Erzählers oder als Monolog der Protagonisten auftritt80. Die Geräusche fungieren als Vervollständigung des Gesehenen und verleihen dem Film eine starke Realismusillusion, so dass sie auch als gezielte Wahrnehmungssteuerung des Zuschauers eingesetzt werden können. James Monaco in seinem Werk formuliert die Sätze, die den Geräuschen eine große Bedeutung beimessen: „Es [das Geräusch – M.Z.] ist die Allgegenwart des Tons, die seine attraktivste Qualität ist. Er bewirkt den Aufbau von Raum wie Zeit. Er ist wesentlich für das Schaffen eines Schauplatzes […].“81 79 Beicken, Peter: Literaturwissen. Wie interpretiert man einen Film? Stuttgart: Reclam 2004. S. 52. Stöber, Rudolf: Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung. München: C. H. Beck 2008. S. 211. 81 Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache. Geschichte der Theorie des Films. In: Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 38. 80 26 Die Geräusche werden entweder als direckt-sound [Originalton anders O-Ton – M.Z.] aufgenommen oder im Studio synthetisch erzeugt und nachsynchronisiert. Die Handlungsfunktionalität der auditiven Ebene als Ergänzung der visuellen Ebene zeigt sich z.B. in Horrorfilmen, wenn der Zuschauer das Knarren der Treppe, oder das Heulen des Gewitters hört. Die Handlungsfunktionalität betrifft auch alle anderen Filmgattungen. Die Subebene der Musik ist nach der Position von Gast das wichtigste Element des Zeichensystems „Ton“. In Zeiten der Stummfilme diente sie, um Geräusche des Projektors zu übertonen. In Zeiten des Tonfilms wurde sie zum Bestandteil des Filmerlebens, als sie die Kinosaalmusik ersetzte. Der musikalische Code gliedert sich in „Musik im Film“ [Musik im On, die als Teil der Handlung betrachtet werden soll – M.Z.] und „Filmmusik“ [Musik im Off, die eine Bauform des Erzählens ist – M.Z.]. Musik hat eigene Semantik entwickelt, sie „ist nicht autonom, sondern hat eine dienende Funktion, bezogen entweder auf die Handlung, auf einzelne Sequenzen, auf einzelne Figuren und ihr Setting oder auf die Tektonik des ganzen Films, jeweils mit Blick auf den Zuschauern.“82 Der Aufriss der Funktionen des musikalischen Codes hat Gabriele Bröske in einem Katalog zusammengestellt: - „Musik illustriert bzw. kommentiert den Handlungsablauf des Films und die Gefühle seiner Hauptfiguren, dies schließt mögliche Kontrapunktierung und Leitmotivik ein. - Musik etabliert Raum und Zeit des Films. - Musik emotionalisiert die Rezipienten des Films. - Musik strukturiert den Film, verdeutlicht Zäsuren bzw. Kontinuität in der Handlung. - Musik dient – insbesondere als Titellied – der Filmwerbung und Kanonisierung.“83 Der Filmmusik, die meistens unterbewusst wirkt, werden auch andere Funktionen zugeschrieben. Sie kann: Atmosphäre herstellen, Ausrufezeichen setzen, Bewegungen illustrieren, Bilder integrieren, Emotionen abbilden, epische Bezüge herstellen, Formbildend wirken, Geräusche stilisieren, gesellschaftlichen Kontext vermitteln, Gruppengefühl vermitteln, historische Zeit evozieren, irreal machen, Karikieren und Parodieren, Nebensächlichkeiten hervorheben, Personen dimensionieren, physiologisch konditionieren, 82 83 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 139. Bröske, Gabriele: … a language we all understand. Zur Analyse und Funktion von Filmmusik. In: Bauer, Ludwig: Strategien der Filmanalyse. München 1987. S. 11. 27 Rezeption kollektivieren, Raumgefühl herstellen und Zeitempfinden relativieren 84. Im Weiteren kann die Filmmusik ein zentrales Stilelement des Films sein, indem sie durch Kombination bestimmter Stilmittel das Generalthema symbolisiert. Oftmals wirkt auch die serienspezifische Musik, mit ihrem nervenden oder eleganten Klangteppich als Erkennungsmerkmal der ganzen Serie, wie z.B. im polnischen Film „Sekunden entscheiden“ von A. Konic und J. Morgenstern. Jedoch ohne elementare Grundkenntnisse der Musik, wird es problematisch, allgemeine Kategorien wie z.B. Tempi, Modulationen, Instrumentierung, Dynamik, Melodien bzw. Motive zu bestimmen. 3) Narrative Ebene umfasst Montageformen wie: narrative, deskriptive und metonymische Montageformen. Die treffende Bezeichnung der Montage stammt von dem Filmwissenschaftler André Bazin und heißt „Organisation der Bilder in der Zeit“85. Die genauere Definition lautet: „Montage ist das Verfahren, einzelne Einstellungen ihrer Länge, d.h. ihrem Gewicht nach durch Blende oder Schnitt zu verbinden und somit einen bestimmten filmischen Rhythmus zu schaffen.“86 Ihre Funktion und Aufgaben formuliert ein Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöbe wie folgt: „Die Montage konstruiert oder dekonstruiert, beschreibt und erzählt die filmischen Zusammenhänge: von den Einstellungen über die Sequenzen und Szenen zum ganzen Film.“87 Die wichtigste filmische Montageeinheit ist eine Sequenz. Sie beginnt mit einer einführenden Einstellung, die establishing shot heißt. Sie gibt den Einblick auf den gesamten Raum, so dass sie sowohl die räumliche Orientierung als auch den Überblick in die Handlung verleiht. Demnächst montierte Einstellungen, die Kern der Sequenz bilden, sind meistens Halbtotale, Detail- oder Großaufnahme. Die Sequenzen bestehen aus Einstellungen, die durch Schnitt oder Blende begrenzt und miteinander verbunden werden. Die Plausibilität der Handlung gewährleistet der s.g. reestablishing shot, die letzte Einstellung einer Sequenz.88 84 Vgl. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 141-142. Bazin, André: Was ist Kino? Bausteine zu einer Theorie des Films. Köln 1975, S. 24. 86 Beicken, Peter: Wie interpretiert Man einen Film. Stuttgart: Philip Recklam Verlag 2004, S. 43. 87 Stöber, Rudolf: Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung. München: C. H. Beck 2008. S. 214. 88 Ebd., S. 214. 85 28 Schnitt (oder cut) und Blende sind Komplementärbegriffe zu Montage. Man unterscheidet zwei Grundformen der Montage: der unsichtbare oder anders weiche Schnitt und der gestaltende oder sichtbare, harte Schnitt. Unmerklicher Übergang, der unsichtbare Schnitt, der dem kontinuierlichen Erzählfluss dient und ein emotionales Vorgehen fördert, montiert zwei Einstellungen unmerkbar. Es entsteht die Illusion von Realitätsabbildung. Ebendeshalb überwiegt der unsichtbare Schnitt in den Unterhaltungsfilmen, wo das Involvieren der Zuschauer in Action des Films die erste Geige spielt. Der harte Schnitt wird von den Zuschauern erkennbar, da es werden zwei Einstellungen unterschiedlichen Perspektive, Inhalts, Beleuchtung, Einstellungsgrößen miteinander verbindet. 89 Desgleichen Blende lenkt auf sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer, aber sie kommt am Anfang oder am Ende einer filmischen Einheit vor. Weicher Beginn einer Einstellung heißt Abblende. Wenn die Einstellungen ineinander übergehen, heißt das Überblende. Zu den besonderen Formen von Blenden, die teilweise nach ihrer technischen Form bezeichnet werden, gehören: die Rauch-, Zerriss- und Unschärfblende, die Aufblende, die Jalousienblende und die Klappblende, die Fettblende und auch die Fernrohr- oder Schlüssellochblende. Dazu kommen auch solche Trickblenden, wie: Schiebeblende, Irisblende, Wischblende, Weißblende etc. Diese Einstellungskonjunktionen markieren spezielle Umstände oder weisen auf einen auffälligen Einschnitt in das Handlungskontinuum hin. 90 Sowohl Schnitt als auch Blende sind für den Rhythmus des Filmes zuständig. Sie legen die Interpunktion des Filmes fest, jedoch sie besitzen unterschiedliche Interpunktionsqualitäten. James Monaco notiert in diesem Kontext Folgendes: „Alle diese Gliederungen […] entsprechen dem Punkt. Ein Auf- oder Abblenden kann eine Beziehung bedeuten, aber ist ganz eindeutig kein direktes Bindeglied. Die Überblendung jedoch, in der sich Auf- und Abblende überlagern, verbindet. Wenn es im Film ein Komma zwischen diesen verschiedenen Punkten gibt, ist es die Überblendung […] Sie ist im Film das Interpunktionszeichen, das Bilder vermischt und gleichzeitig verbindet.“91 89 Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 41. 90 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 123. 91 Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache. Geschichte und Theorie des Films. Reinbeck 1980 (rororo Handbuch Bd. 6271), S. 211. 29 Die Bemühungen der Filmtheoretiker um eine universale Systematik der Montageformen zu entwickeln, haben zu divergenten Ergebnissen geführt. Nach Position von Gast soll eine Filmanalyse: 1. „Kategorien der Wahrnehmung, Beschreibung und Interpretation von zentralen Komponenten eines Films für die Analysierenden bereitzustellen und 2. die wichtigsten Typen der Verknüpfung ‚filmischer Einheiten‘ (Einstellungen, Einstellungsgruppen, Sequenzen) in hier zum Gegenstandsbereich gehörenden Verfilmungen auch tatsächlich […] erfassen.“92 In diesem Zusammenhang unterscheidet man in Anlehnung an Kuchenbuch sieben Typen der Montageformen, die in drei Gruppen zusammengefasst werden können: 1. die narrative Montageformen, die sich in szenische Montage und erzählende Montage gliedern, 2. die deskriptive Montageform, die beschreibende Montage umfasst und 3. die metonymische Montageformen, die metonymische, vergleichende, symbolische und assoziative Montage inkludiert. In der szenischen Montage der Focus fällt auf dem weichen Schnitt. Dieses filmische Gestaltungsmittel dominiert, so dass der Identifikationsgrad der Zuschauer mit dem Protagonisten sich auf einem hohen Niveau befindet. Die einzelnen Einstellungen werden nach dem Prinzip der Kausalität miteinander verbunden. Diese unsichtbare Verknüpfungsart von Szenen und Einstellungen, sowie die Einheit von Zeit und Raum bewirkt, dass der Zuschauer den Eindruck hat, ein Augenzeuge der filmischen Realität zu sein. Erzählende Montage richtet sich nach inhaltlicher Einheit. Einstellungen und Sequenzen können aber sowohl räumlich als auch zeitlich und gelegentlich auseinanderliegen. Für diese Montageform sind Raffungen und Rückblenden charakteristisch, die vorwiegend wie erzählte Erinnerungen strukturiert sind. Ausgeblendet wird das Unwichtige und hervorgehoben das Bedeutendste. Kontinuität des Erzählflusses wird durch Untermalen der Musik verstärkt. Ihre bestimmte Abschnitte kommen leitmotivisch vor und evozieren dadurch eine konkrete Szene.93 Kern der beschreibenden Montage bildet ihre Objektbezogenheit und räumliche Einheit. Detaillierte Beschreibung von Schauplätzen, Protagonisten oder Objekten rücken in den Vordergrund. Die deskriptive Montage eröffnet mehrmals einen Film oder eine Sequenz, da 92 Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 41. 93 Ebd., S. 42. 30 sie sowohl die Handlungsort als auch Akteure und Filmproblematik vorstellt. Im Film fungiert sie auch als retardierendes Moment, der den Handlungsablauf verlangsamt. Die vier metonymischen Montageformen konstituieren ihre Bedeutung vorwiegend durch die Leistung des Zuschauers, da sie an Handlungskontexten und kulturellen Konventionen bauen. Ein definitorisches Merkmal für die metonymische Montage ist hier die umfassende Klammerung. Verschiedene Bereiche werden unter einem Begriff verklammert, z.B. „Elendsviertel, stillstehende Fabrikräder, Schlangen vor den Einkaufsläden: Wirtschaftskrise“94. Wirtschaftkrise wird hier zu einem abstrakten Oberbegriff, der im Film nicht explizit genannt wird.95 Vergleichende Montage verbindet durch alternierendes Schneiden [Kreuzschnitt – M.Z.] parallel verlaufende Handlungen. Es werden zwei Themen abwechselnd gezeigt. Einstellungen aus zwei Handlungsorten machen den Zuschauer neugierig auf das mögliche Zusammentreffen beiden Handlungen.96 Symbolische Montagetechnik beruht auf konventionalisierten Codierungen. Symbolische Bedeutungen einer Einstellung ergeben sich entweder aus dem Kontext oder operiert man mit in den Kultur verankerten Konventionen, wie z.B. Bild des galoppierenden Pferdes als Symbol der Freiheit.97 Assoziative Montageform verbindet verschiedene Wirklichkeitsebenen und zeigt ein Ereignis aus verschiedenen Perspektiven. Es entstehen bei den Zuschauer Gedankenverbindungen, die durch kausale Montage nie hergestellt würden. Diese Montageform ruft die Assoziationen wach, was oft in Werbungen oder Propagandafilme zu sehen ist. Assoziative Montage ist stark Zielgruppenabhängig.98 4) Schauspielerische Ebene Für jede Handlung des Films ist die Anwesenheit der Haupt- und Nebenfiguren ein der wichtigsten Faktoren. Bei der Analyse der Schauspielerischen Ebene wird die Existenz der Schauspieler als auch die Existenz der gespielten Figuren untersucht. Diese Ebene ist mit Begriffen wie Acting und Performance, Charakterisierungsstrategien, Figurenkonzeption und 94 Kuchenbuch, Thomas: Filmanalysen. Theorien. Modelle. Kritik. Köln: Prometh Verlag 1987, S. 40. Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 43. 96 Beicken, Peter: Wie interpretiert Man einen Film. Stuttgart: Philip Recklam jun. Verlag 2004, S. 195. 97 Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 44. 98 Ebd., S. 44 95 31 Figurenanalyse verbunden. Obwohl zwischen Film und Literatur gewisse Konvergenzpunkte bestehen, stößt die Figurenanalyse im Film auf folgende Hauptschwierigkeiten: Erstens die begrenzte Zeit eine Films, zweitens andere Möglichkeiten der Figurenbeschreibung, die nur im Film auftreten. Bei der Figurenanalyse im Film müssen einige Selbstverständlichkeiten zur Kenntnis genommen werden. Im Film rechnet man mit einer begrenzten Zahl des Personeninventars. Die begrenzte Zeitspanne eines Films, der durchschnittlich eineinhalb Stunden dauert, verhindert erstens das Auftreten beliebiger Zahl der Charaktere und zweitens anstatt Figurenfilme, in denen der Focus auf innere fällt, werden Handlungsfilme gedreht in denen eine Reduzierung auf dominante Eigenschaft üblich ist.99 Das führt in manchen Fällen zur Vereinfachung der Charaktere im Film und zur naiven Einteilung in Gut-Böse. Wie wird im Film die Darstellung der Protagonisten realisiert? Der Wert wird auf den ersten Auftritt der Figuren gelegt. Im Film herrschen andere Regeln als im Buch. Film ist durch eine begrenzte Zeit eingeschränkt, so dass die erste Minuten entscheiden, welche Konnotationen eine dargestellte Figur hervorrufen soll. Der Zuschauer beobachtet und innerhalb von wenigen Minuten identifiziert er sich mit Protagonisten, da die Protagonisten im Film [im Vergleich zu Romanfiguren – M.Z.] mehr als Konstrukte sind, die ausschließlich als Worte auf dem Papier existieren.100 Zwei Begriffe, die sich auf die schauspielerische Ebene beziehen und direkt mit Schauspieler verbunden sind, sind: Performance und Acting. Acting hängt mit Handeln, Mimik, Gestik und Interaktionen der Schauspieler zusammen, d.h. mit allen individuellen Merkmalen der Schauspieler, über die sie auch als Privatpersonen verfügen. Mit dem Begriff Performance bezeichnet man nichtnarrative Präsenz der Schauspieler, die von Besetzung und Casting nicht zu trennen ist.101 Die nichtnarrative Präsenz umfasst u. a. die filmische Biographie der Schauspieler, ihre Berühmtheit und Popularität, sowie der Nachhall der vergangenen Rollen, die der Schauspieler übernommen hat [als Beispiele können Peter Falc (Kolumbo) oder Marylin Monroe (Sexbombe) dienen – M.Z.]. Die Besetzung der Stars und die Doppelnatur des Starwesens kommentiert Edgar Morin wie folgt: „Die besondere Bedeutung des Stars besteht darin, dass sie ausgeprägte archetypische Gestalten im Film verkörpern […]. Neben der Darstellung dieser 99 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 95. Wenzel, Peter: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag 2004. S. 53. 101 Vgl. Stöber, Rudolf: Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung. München: C. H. Beck 2008, S. 215. 100 32 Archetypen der Leinwand führen die Stars ein Leben, dass man ebenfalls als archetypisch verstehen kann.“102 Jedoch eine einheitliche Typologisierung der Schauspielern existiert nicht daher Hickenthier notiert in diesem Kontext Folgendes: „Alle Versuche einer Klassifikation von Ausdrucksweisen […] scheitern jedoch daran, dass es eine systematisch angelegte Ausdrucksweise nicht gibt.“103 Die Individualität jeweiligen Akteuren ist nicht zu trennen von Figurenanalyse. Übergeht man von den Schauspielern zu der Charakteristik der Filmfiguren, so zieht man andere Aspekte in Betracht. Film als so vielschichtiges Phänomen bietet außerordentlich große Möglichkeiten der Charakterisierung der Figuren. Charakterisierungsstrategien bedecken sich teilweise mit Charakterisierung der Figuren im Roman. Wie im Roman können sie teilweise direkt [Selbstcharakterisierung – M.Z.] teilweise indirekt [Fremdcharakterisierung und Erzählcharakterisierung – M.Z.] charakterisiert werden. Deskribieren durch sich selbst heißt Selbstcharakterisierung. Der handelnde Protagonist beschreibt sich selbst durch Gestik, Mimik, Sprache [auch im Off – M.Z.] und Handeln. Das Erscheinungsbild einer Figur hängt von beeinflussbaren Faktoren, die im vorherigen Satz zum Ausdruck gebracht wurden und von unbeeinflussbaren Faktoren wie Hautfarbe, Körpergröße ab. Sowohl Charaktereigenschaften als auch Aussehen können eine symbolische Bedeutung haben. So kann zum einen prachtvolle Kleidung für Reichtum der Protagonisten stehen zum anderen ihn als eine überhebliche Person beschreiben.104 Fremdcharakterisierung ist eine Art der Charakterisierung, die durch andere Figuren, ihre Rede über sie, Handlungen oder Umwelt erfolgt. Oftmals wird ein Protagonist durch eine andere Figur zuerst vorgestellt, demnächst beurteilt oder einer anderen Figur kontrastiv gegenübergestellt. 105 Bei Erzählcharakterisierung wird die Figur nicht von dem Erzähler wie im Roman beschrieben, sondern durch Bauformen des Erzählens, durch solche filmische Stillmittel wie Kameraverhalten, Beleuchtung, Einstellungsgröße und nicht zuletzt durch Geräusche und Morin, Edgar: Die Stars (Ausschnitt aus „le cinema, fait social“, Universite libre de Bruxelles, Institut se Soziologie Solvay, Bruxelles 1960. Übersetzung und Bearbeitung von H. Jakob). Prokop, Dieter (Hg.) Materialien zur Theorie des Films. München 1971, S. 439. 103 Hickethier, Knut: Film und Fernsehanalyse. Stuttgart: Metzler Verlag 1979, S.180. 104 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 97. 105 Ebd., S. 98. 102 33 Musik (z.B. ein musikalisches Leitmotiv begleitet das Handeln einer Person, taucht immer wieder und hervorruft eine besondere Stimmung oder evoziert an ein Ereignis).106 Im anspruchsvollen Filmen sind die Arten der Charakterisierung miteinander gemischt, so dass der Zuschauer ein vielschichtiges Erscheinungsbild der Protagonisten erhält. Er ist auch durch implizite Charakterisierungstechnik auffordert, ein eigenes Bild der Figur zu projizieren. Um die Figuren zu analysieren, muss man sowohl die Ebene der Figurenkonzeption sowie die Ebene der Figurenanalyse in Rücksicht nehmen. Unter dem Begriff Figurenkonzeption ist der Aufbau der Figuren gemeint, der mit historisch- konkreten Menschenbilder in Einklang steht sowie die Relationen und Verhaltensweisen der Protagonisten zu den Geschehnissen der Handlung. Carsten Ganzel in Anlehnung an Manfred Pfister nennt neun Typen der Figurenaufbaus.107 Figurenkonzeptionen können Statisch vs. Offen, Eindimensional vs. Mehrdimensional, Personifikation, Typ, Individuum, Transpsychologisch vs. Psychologisch sein. Folgende Kennzeichen sind für jede Figurenkonzeption charakteristisch: Statisch angelegte Protagonisten entwickeln sich während der Handlung nicht. Figurenkonzeption Offen zeichnet sich dadurch, dass die Figuren sich im Fortlauf der Handlung verändern. Das geschieht andauernd oder diskontinuierlich. Die Simplifizierung, die sich beispielsweise in Märchen manifestiert und zu Charaktereinteilung gut-böse einschränkt ist, ist für eindimensionale Protagonisten vorgesehen. Eine große Anzahl von Merkmalen definiert die mehrdimensionalen Figuren. Ihre Mehrdimensionalität umfasst zahlreiche Ebenen wie Milieu, Anschauungsweise, Verhalten etc. und wird im Laufe der Handlung enthüllt. Bei einer Personifikation sind die Charaktereigenschaften reduziert und der Focus fällt auf eine bestimmte Eigenschaft bzw. ein Begriff, die der Protagonist vertritt. Typ verkörpert Merkmale, die für eine soziale Gruppe z.B. Kleinbürgertum, künstlerische Boheme etc. kennzeichnet sind oder für einem in der Literatur verbreiteten Typ, wie z. B. der undankbare Sohn, repräsentativ sind.108 Im Film hat sich die filmhistorische Startypologie herauskristallisiert, wie z. B. der ewige Verlierer, der Super-Actionheld, die Sexbombe, der Gentleman, der Gangster, der 106 Ebd., S. 99. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2005, S. 38. 108 Ebd., S. 38. 107 34 Vamp usw.109 Alle Eigenschaften, die ein Typ besitzt, beziehen sich auf ein Allgemeines. Individuum verkörpert Einmaligkeit. Voraussetzung für diese Figurenkonzeption ist ihre Mehrdimensionalität und Überdurchschnittlichkeit. Bestimmend ist die große Anzahl an Details, die ein Bild einer außergewöhnlichen Person bildet. Transpsychologische Figurenkonzeption bewirkt, dass die Protagonisten als Sprachrohr abstrakter Normen oder Meinungen fungieren. Psychologisch konzipierte Figuren halten sich an plausiblem Rahmen. 110 Was bei Figurenanalyse zu beachten ist und welche Informationen über Figuren notwendig sind, um den Basisüberblick auf Protagonisten zu erhalten, hat Werner Faulstich wie folgt notiert: - - „Wer sind im Film die Hauptfiguren? Wer die Nebenfiguren? Nach welchen Kriterien werden diese voneinander abgegrenzt (z.B. Dominanz für die Handlung, Häufigkeit des Auftretens, Länge der sie zeigenden Einstellungen)? Welche (sozialen) Rollen sind in dem Film vertreten und welche Funktion kommt ihnen im Hinblick auf die Handlung zu? Gibt es bestimmte Typen von Figuren und welche Bedeutung haben sie für die Ideologie des Films? Was personifiziert oder repräsentiert der Protagonist? Können wir uns u.U. mit ihm/ihr identifizieren, und wenn ja warum? Aus welchem Hintergrund (Setting) werden die einzelnen Figuren beschrieben bzw. wann, wie und wo treten sie jeweils auf? Gibt es im Verhältnis zwischen dem Setting der Filmhandlung und den Figuren Brüche, Wiedersprüche, u.U. bedeutungsvolle Kontraste?“111 Diese Liste ist nicht komplett und kann beliebig in Anlehnung an Literaturwissenschaft modifiziert und erweitert werden. Für die Figurenanalyse brauchbare Fragen, die sich sowohl auf literarisches Werk als auch auf Film beziehen können, hat Carsten Ganzel in seinem Buch „Kinder und Jugendliteratur in Theorie und Praxis – Begriff, Geschichte, Didaktik“ zusammengestellt: „ 1. Was wird von der Figur ausgesagt? 1.1 Besonderheiten Vorgeschichte Wann, wo, in welchem sozialen Milieu agiert die Figur? 109 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 97. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2005, S. 38. 111 Faulstich, Werner: Einführung in die Filmanalyse. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1980, S. 140. 110 35 Wodurch ist die äußere Erscheinung der Figur charakterisiert? Welche soziale Stellung nimmt die Figur im Figurenensemble ein? 1.2 Verhalten der Figur 1.2.1 Äußeres Verhalten Welche Verhaltensweisen sind für die Figur in Bezug auf andere Figuren ihrer sozialen Welt kennzeichnend? (…) Welchen Anteil nimmt die Figur an ihrer sozialen Umwelt, bleibt die Objekt oder wird sie als Subjekt selbständig tätig, greift ein, verteidigt oder wehrt sich? (…) Wie verhält sich die Figur zu materiellen und kulturellen Gegebenheiten (Lebensstil, Hobbys, Musik, Lesen)? (…) 1.2.2 Inneres Verhalten (…) In welchem Verhältnis stehen Denken, Fühlen, Handeln bei der Figur? 1.3 Grundlagen für das Verhalten der Figur Auf der Grundlage welches Weltgefühls, welcher Anschauungsweisen von der Welt agiert die Figur? Von welchen Wertvorstellungen, Normen, Wünschen, Glücksansprüchen, Lebensstilen lässt die Figur sich in ihrem Handeln leiten? (…) In welchem Verhältnis befinden sich persönliche Motive, Ziele, Bedürfnisse zu den individuellen wie gesellschaftlichen Möglichkeiten, sind sie identisch oder gegensätzlich? (…)112 Ein integraler Bestandteil der Figurenanalyse ist das Setting einer Filmhandlung, der nicht nur auf Filminterieur eingeschränkt ist, sondern um gesellschaftliche Situierung der Protagonisten erweitert wurde. Diese Situierung kann beispielsweise altersspezifisch, milieuspezifisch, ortspezifisch, berufsspezifisch etc. sein. 113 Die Analyse der schauspielerischen Ebene ist nicht nur auf die Ebene der Schauspieler begrenzt, sondern umfasst Figurenanalyse und Figurencharakteristik. Die Schauspieler gestalten den Charakter der gespielten Protagonisten mit und leihen der Figuren eigenes Körper aus. Sie ergänzen die vom Regisseur entworfenen Konzeptionen und geben den Figuren ein neues Leben, das auf Zelluloid existiert. Der Ausgangspunkt und die Grundlage für Figurenanalyse und Figurencharakteristik bilden literaturwissenschaftliche Überlegungen zu diesem Thema, die um medien- und filmwissenschaftliche Bemerkungen weiterentwickelt wurden. 5) Semiotische Ebene umfasst nach Position von Stöber: 1. die interfilmische Selbstreferenz (Bezug auf andere Filme - M.Z.) und 2. die Fremdreferenz (Bezug zu dem Außerfilmischen – M.Z.). 112 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2005, S. 39-40. 113 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 100. 36 Die beiden Referenzsysteme semiotischer Zeichen sind miteinander verbunden. Außer Acht steht nur die intrafilmische Selbstreferenz, da sie keinen für alle Filme gemeinsamen Nenner besitzt. Sie bezieht sich immer auf einem konkreten Film und jede einzelne Einstellung im selben Film auf etwas anderes verweist. Die interfilmische Selbstreferenz lässt sich gut anhand einer der berühmtesten Szenen aus der Filmgeschichte erklären. Im Propagandafilm Panzerkreuzer Potemkin von Eisenstein kommt es zum Massaker auf den Treppen von Odessa. Brutales Vorgehen der Kosaken gegen Zivilisten bildet den emotionalen Höhepunkt des Dramas. Der Kinderwagen, der für Unschuld steht emotionalisiert noch die Zuschauer. Das Motiv der Kinderwagen im Film „Die Unbestechlichen“ erscheint in Showdown der Polizei mit den Gangstern. Durch sein Erscheinen unterscheidet sich die finale Schießerei auf den Treppen in einer Bahnhofshalle von anderen Knallereien. Der Kinderwagen ist für Steigern der Spannung verantwortlich und genau wie im Panzerkreuzer Potemkin bezieht er sich auf das Außerfilmische Unschuld, Unbeteiligtsein der zufälligen Opfer aber ist zugleich eine filmische Referenz. In der CopfilmParodie Die nackte Kanone, 33 1/3 kommt der Kinderwagen, der in allen vorher erwähnten Filmen eine Schlüsselfunktion besitzt, nur als das Zitat des Zitates, als eine einfache interfilmische Selbstreferenz, vor. Die Fremdreferenz dagegen knüpft an den allgemein verständlichen Motiven, Normen und Mustern. Als Beispiel kann hier eine Schlüsselszene aus dem Panzerkreuzer Potemkin von Eisenstein stehen. Im Film wurde ein reales Ereignis aus der Zeit des japanisch-russischen Krieges von 1905 dargestellt. Die Unzufriedenheit der Matrosen steigt wenn man wieder vergammelte Speisen serviert bekommt. Es kommt zu einer Meuterei. Auf Befehl formiert sich ein Erschießungskommando, Meuterei wird erstickt und es kommt zur Exekution. Hier wurde aber auch die Unterdrückung im zaristischen Russland thematisiert und noch präziser ausgedrückt, die Herr-Knecht Beziehungen unter der Regierung der Romanowsdynastie. Das ist ein ausgeprägtes Beispiel für die Fremdreferenz eines Filmes. Der Bezug zu dem Außerfilmischen, das nicht direkt ausgedrückt wird, ist sehr flagrant.114 Alle fünf Analyseebenen des Films ergeben eine Einheit aber zeugen gleichzeitig von Vielfältigkeit und Kompliziertheit des Films. Obwohl Film auf Fotografie baut, die nach 114 Stöber, Rudolf: Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung. München: C. H. Beck 2008, S. 222. 37 Position von Talbot als eine „Zeichenschrift der Natur“115 oder nach Position von Barthes „Botschaft ohne Code“116 ist, die Dekodierung seinen Inhalten muss neben der visuellen auch die sprachliche und klangliche Mehrdimensionalität einbeziehen.117 Die digitalen Medien verlangen von den Rezipienten bestimmtes und in manchen Fällen profundes Wissen um ihnen zu zerlegen und gewisse Fragestellungen exakt zu durchleuchten. 115 Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorienzur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2008, S. 116. 116 Ebd., S. 116. 117 Vgl., Ebd. S. 116. 38 3 Filmische Perspektivierung 3.3 Zur Handlung 3.3.1 Problemdarstellung im Film „Das Leben der Anderen“ Anfänglich sollen einige Hauptkonstituenten des Films erwähnt werden, die für die Handlungsanalyse erforderlich sind. Das sind: Stoff, Thema, Genre, Fabel/Mythos, Figuren (Mythos, Konflikt, Konstellation), Handlungsführung und Erzählhaltung 118 . Diese Begriffe wurden aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich entlehnt und auf die Filmwissenschaft übertragen. Der Stoff des Films für den Film Das Leben der Anderen von Florian Henckel von Donnersmarck bildet das noch nicht endgültig geformte und bearbeitete Rohmaterial - die deutsche DDR Geschichte. Die Einordnung des Films zu einer Gattung ist problematisch, da er sowohl Elemente von Drama und Triller aber auch beinhaltet, so dass er oft als Politthriller, politische- und Liebesmotive Liebesmelodram oder historisches Gesellschaftsdrama bezeichnet wird. Er zeigt eine völlig andere Seite der DDR-Wirklichkeit, die bisher im Kino in Filmen wie beispielsweise Good Bye, Lenin!, Sonnenallee präsent war. Die Protagonisten sind in zwei in der Opposition zueinander stehenden Gruppen angeordnet. Die Figurenpaarung Christa Maria Sieland und Georg Dreyman vertreten die künstlerische Welt, Minister Bruno Hempf und Oberstleutnant Anton Grubitz sind Vertreter des sozialistischen Lagers. Hauptmann Gerd Wiesler – die Hauptperson des Films – steht außer diesem Gerüst. Es werden die Kulturscene der DDR und staatlicher Überwachungsapparat in Kontrast dargestellt. Hauptthese und Botschaft des Filmes ist die Überzeugung, dass die echte Kunst die Menschlichkeit und das Gute im Menschen erwecken und sogar zur Versöhnung zwischen Opfern und Tätern beitragen kann. Die Segmentierung in Großsequenzen, die im Sequenzprotokoll verfasst wurde, wirft einen ausführlichen Blick auf die Handlung des Filmes und die Analyse ausgewählter Bauformen des Erzählens rundet die Filminterpretation ab. 118 Vgl. Kuchenbuch, Thomas: Filmanalyse. 1987, S. 131 ff. In: Gast, Wolfgang: Film und Literatur. Grudbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1993, S. 58. 39 3.3.2 Sequenzprotokoll zum Film „Das Leben der Anderen“ Die Schlüsselfrage für jede Handlungsanalyse lautet nach Position des deutschen Medienwissenschaftler Werner Faulstich: „Was geschieht im Film, wie verläuft die Handlung?“119 Transitorisches, ein durch den Modus der Präsenz gekennzeichnetes Medium wie der Film, verlangt eine Fixierung. Die Rekonstruktion der sich nacheinander und unaufhörlich bewegender Bilder, d. h. die Vorbereitung des Sequenzprotokolls ist eine Pflichtaufgabe. Neben dem Sequenzprotokoll existiert auch das Filmprotokoll, das äußerst detaillierte Informationen Sekunde nach Sekunde wiedergibt wie: genaues Niederschreiben der Dialoge, Geräusche, Handlung und Kameraführung. Es ist aber ein Element, das weggelassen werden kann. Sequenzprotokoll als ein unabdingbares Element jeder Filmanalyse gibt den Überblick über die Abfolge der Filmgeschehnisse. Gelegentlich hat man eine printliterarische Vorlage in Form von Erzählung oder Roman zur Verfügung oder andere schriftliche Materialien wie Drehbücher. Sie können als Vorstufe zur Filmanalyse gesehen werden, da sie nur skizzenhaft und unvollständig die Filmaspekte wie Setting oder Personen schildert, so dass sie ergänzt werden müssen. Die Filmanalyse beginnt mit der Segmentierung der Filmhandlung in kleinere Abschnitte, die man Segmente oder Sequenzen nennt. Die Sequenzen wie die Kapitel im Buch bilden schließlich eine Ganzheit. Die Kriterien für Übergang von einem zu anderem Segment können zum Beispiel Raum- oder Zeitwechsel beziehungsweise Sprung von einer Handlungsphase zur anderen sein. Faulstich systematisiert diese Kategorien wie folgt: - „Einheit/Wechsel des Ortes, - Einheit/Wechsel der Zeit (z. B. Tag versus Nacht), - Einheit/Wechsel der beteiligten Figur(en) bzw. Figurenkonstellationen, - Einheit/Wechsel eines (inhaltlichen) Handlungsstrangs, - Einheit/Wechsel im Stil/Ton (z. B. statisch versus dramatisch, farbspezifisch Handlung versus Dialog)“120 Diese Einteilung ist konventionell und Festlegung der Grenzen einer Sequenz von den anderen ist situationsabhängig. Bei einzelnen Sequenzen werden neben der Handlung, die stilistisch-technischen Besonderheiten erfasst und gegebenenfalls auftretende Extremwerte in berücksichtigt. Unter diesen Besonderheiten versteht man beispielsweise Abweichungen von 119 120 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 59. Ebd., S. 74. 40 natürlichen Aufnahmen, extrem schräge Kamerahaltung oder schnell hintereinander geschnittene kurze Einstellungen, die Spannungserzeugung zum Ziel haben. Um das Sequenzprotokoll zu vereinfachen und unnötige Aufgliederung zu vermeiden, gruppiert man die kleineren Segmente, die man Subsequenzen nennt und bildet handlungslogische Großsequenzen. Die einzelnen Sequenzen können kurz oder lang, linear oder verschachtelt sein. Es treten auch Parallelsequenzen auf. Das Sequenzprotokoll im Film Das Leben der Anderen von Florian von Donnersmark gliedert sich in 25 Großsequenzen. Die erzählte Zeit beträgt ungefähr neun Jahre und die Erzählzeit 137 Minuten. Sequenzprotokoll zum Film Das Leben der Anderen Nr. 1 Sequenzbeschreibung Zeitangaben Vorspann. Einblendungen: Berlin – Hohenschönhausen, November 1984 (fünf Jahre vor dem Mauerfall). Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit. Ein Offizier führt den Verdächtigen durch den Flur. – Einblendung – In der Stasi Hochschule Potsdam-Eiche. Wiesler in einer Vorlesungssaal bringt den Studenten Verhörtechniken bei, in dem er das aufgenommene Verhör abspielt (Schuss – Gegenschuss – Verfahren). – MfSOberstleutnant Grubitz kommt am Ende der Vorlesung und lädt Wiesler ins Theater ein. – Titel des Films 00:00:00-00:06:20 2 Die Prämiere im Theater. Wiesler und Grubitz sprechen über Georg Dreyman. Wiesler überwacht den Leuten durch ein Fernrohr. Theateraufführung. (Musik im Off) – Aus dem Gespräch zwischen Anton Grubitz und Minister Hempf ergibt sich, dass der Dramaturg überwacht werden muss. (Minister Hempf ist oft aus der Untersicht gezeigt) 00:06:20-00:11:25 3 Feier nach der Prämiere im Theaterkeller (Musik im On). Minister Bruno Hempf beobachtet Christa Maria Sieland, Dreyman scheint beunruhigt zu sein. Hauser, Dreyman, Hempf sprechen miteinander. Dreyman versucht sich bei Hempf für Jerska Berufsverbot einzusetzen, leider erfolgslos, da nach der Position des Ministers ein solcher überhaupt nicht existiert. 00:11:25 – 00:15:59 4 Wiesler wurde von Grubitz nach Hause gefahren. - Stasi Hauptmann begibt sich nach Hause, wo er sich den Reis mit Ketschup vorbereitet. Seine Wohnung ist sehr schlicht und ohne Dekorationen eingerichtet (Musik im Off). - Am nächsten Tag beobachtet er Dreyman vor dem Haus mit den Kindern spielend und macht sich Notizen über alle Ereignisse – Am Abend erblickt er Anna Marie Sieland, wie sie aus einer großen, schwarzen Limousine aussteigt. 41 00:15:59 - 00:18.47 5 Am nächsten morgen, nachdem die Wohnung des Dramaturgen leer steht, beginnt das Verwanzen. Es dauert genau 20 Minuten. – Wiesler beschaut den Dachboden über Dreymans Wohnung. – Stasi Hauptmann fühlend sich beobachtet (Subjektive Kamera – Frau Meineke), droht der Nachbarin Frau Meineke und befehlt ihr Schweigen. (Frau Meineke ist aus Obersicht gezeigt) 00:18.47 – 00:22:00 6 Jerska Wohnung. Dreyman spricht mit seinem Freund Jerska über Theaterpremiere und versucht ihm zu trösten, indem er erwähnt, dass sein Berufsverbot zurückgenommen werden könnte. Leider er macht das nicht überzeugend. 00:22:00 – 00:24:43 7 Die Abhörzentrale ist eingerichtet. Wieslers stehen zur Verfügung verschiedene Empfangs- und Tongeräte, auch ein Monitor, der die Umgebung von Dreymans Wohnung zeigt. – Dreyman bekommt von seiner Freundin einen Schlips. – Frau Mieneke hilft ihm ihn zu binden, da der Dramaturg das nicht selbst machen kann. – Wiesler beginnt mit seinem OV [Operativen Vorgang – M.Z.]] - Der erste Gast klingelt an der Tür, der Hausherr macht die Tür auf. – Christa Maria Sieland nimmt Medikamente ein. 00:24:43 – 00:28:48 8 Die Party dauert (Musik im Off). Plötzlich erblickt Dreyman, dass Jerska auch gekommen ist, er sitzt aber allein und liest. Er hat auch ein Geschenk für Dreyman mitgenommen. – Der bekannte Autor und Dissident Paul Hauser sucht einen Streit mit Schwalbe, der angeblich bei der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter arbeitet. Dreyman versucht den Konflikt zu schlichten, jedoch Hauser fühlt sich deswegen beleidigt. Er wirft Dreyman vor, dass er ein „jämmerlicher Idealist“ ist und irgendwann soll er sich entscheiden, auf welche Seite er stehen soll. Sonst wird er kein Mensch. Danach verliest Hauser die Party. – Einige Stunden später packt er die Geschenke aus, darunter „Die Sonate vom Guten Menschen“ von Jerska. Wiesler notiert alles. (Paralellmontage) – Der verspätete Mitarbeiter Udo wurde von Wiesler beschimpft. 00:28:48 – 00:33:57 9 Wiesler ist sehr penibel. Er sucht nach Informationen über Jerska im Stasi – Archiv. – Beim Essen in der Kantine des Ministerium für Staatssicherheit erfährt er vom Grubitz, dass Minister Hempf aus privaten Gründen Dreyman überwachen lässt. – Grubitz droht dem Unterleutnant Sitegler, nachdem er den Honecker verspottet hat. 00:33:57 – 00:38:07 10 Dreyman ist in seiner Wohnung und schreibt. – Wiesler in Abhörzentrale zeichnet auf dem Boden den Plan von Dreymans Wohnung (Paralellmontage) Christa Maria Sieland verabschiedet sich mit ihrer Freundinnen und geht zu Fuß nach Hause. Eine schwarze Limousine hält an und Christa steigt ins Auto. Dreyman macht die Tür auf und erblickt, dass seine Freundin ihn betrügt. Er versucht Klavier zu spielen (Musik im On). – Christa bricht im Bad zusammen, 42 nimmt wieder die Tabletten ein. – Im Schlafzimmer umarmt der Dichter seine Freundin. – Wiesler sitzt in seinem Kreideschlafzimmer genau am gleichen Ort, wo Dreyman in seiner Wohnung. 00:38:07 – 00:45:18 11 Eine Prostituierte besucht Wiesler. – Wiesler schleicht sich in Dreymans Wohnung ein, schaut den Schreibtisch an, berührt das Bett und kniet vor ihm. – Er kehrt zurück. – Dreyman erfährt, dass Hauser nach Westen nicht fahren darf. – Udo notiert: „>Lazlo< befürwortet das Ausreiseverbot für Hauser.“ – Dreyman kann nicht sein Buch finden. – Wielser vertieft sich in der Lektüre, der er heimlich aus Dreyman Wohnung genommen hat. (Musik im Off) Voice Over - Dreyman) 00:45:18 – 00:49:36 12 Dreyman erfährt per Telefon, dass Jerska sich erhängte. Er ist bis ins Mark getroffen. Sucht das Geschenk von seinem Freund und spielt „Die Sonate vom Guten Menschen“ (Musik im On) – Wiesler hört zu und bei der Klavierstimme fließt eine Träne aus seinen Augen. Zum ersten Mal sieht man Gefühle auf seinem Gesicht. (Kamera Halbkreis) – Im Aufzug trifft Wiesler einen kleinen Jungen. 00:49:36 – 00:53:28 13 Hempf spricht mit Grubitz und empfiehlt ihm, etwas gegen Dreyman zu finden. Danach befiehlt er seinem Fahrer, Christa Maria Sieland zu observieren. – Wiesler trifft sich morgen beim Frühstück mit Grubitz und erfährt, dass sowohl seine als auch Grubitz Karriere von dem Ergebnis der <Lazlo> Überwachung abhängig ist. 00:53:28 – 00:54:52 14 Dreyman ist nicht im Stande etwas zu schreiben und sitzt vertieft in seinen Gedanken. Er bittet Christa um zu Hause zu bleiben. Er weißt alles über Hempf und Medikamenten. Christa verlässt trotzdem das Haus. – Wiesler hört das Gespräch mit wachsendem Interesse an. Udo kommt, Wiesler unwillig übergibt ihm seine Kopfhörer. – Wiesler geht in ein Lokal. Als er Wodka trinkt, kommt Christa Maria Sieland. Er spricht sie an und überzeugt davon, dass sie eine gute Schauspielerin ist. Er erfährt, dass er ein guter Mensch ist. – Wiesler kommt in die Abhörzentrale am nächsten Tag und löst Udo an. Der Stasi Hauptmann liest seinen Bericht und erfährt, dass Christa sich mit Hempf nicht getroffen hat. (Rückblende, Wieslers Vorstellung, Voice Over - Udo). 00:54:52 – 01:04:30 15 Dreyman ist auf dem Begräbnis seines Freundes Jerska, der sich erhängte. Er spricht mit Hauser und wahrscheinlich bereut, dass er vorher nichts gemacht hat. Das Ereignis aber gibt ihm einen Anstoß zum Handeln. Schon während des Begräbnisses entwirft er in seinem Kopf einen Text, der die Lebensrealität in DDR beschreibt. (Voice Over - Dreyman) – Seine Gedanken schreibt er nieder. (Voice Over - Dreyman) – Der Dramatiker besucht Hauser, der in seiner Wohnung überwacht wird. (Musik im On) – Dreyman, Hauser und Wallner treffen sich im Park, wo Dreyman sein Artikel zum Lesen gibt und um Hilfe bittet. - Alle Bekannte treffen sich in Dreyman Wohnung und wollen sich 43 vergewissern, ob der Ort wirklich sicher und nicht verwanzt ist. Hausers Onkel hilft ihnen dabei. Sie haben vor seinen Neffen unter der Rückbank eines Autos zu verstecken und nach Westen zu schmuggeln. (Extreme Obersicht) – Wiesler lauscht und kämpft mit Gedanken, ob er darüber melden soll oder nicht. – Hausers Onkel berichtet per Telefon, dass er die Zonengrenze unbehelligt passiert.- Dreyman fühlt sich erleichtert und beschimpft Stasi (Untersicht). – Wiesler schreibt: „19.32 Uhr. Keine weiteren berichtenswerten Vorkommnisse.“ Abblende. 01:04:30 – 01:13:00 16 Wiesler spricht mit Udo. Er erfährt, dass Hauser keine Republikflucht begangen hat. – Hessenstein, der Spiegel Korrespondent erteilt Dreyman Hinweise im Bezug auf das Artikelschreiben - Christa Maria Sieland kommt nach Hause. Sie spürt, dass sie kein erwünschter Gast ist und verlässt das Zimmer. - Hessenstein bringt Dreyman aus Sicherheitsgründen eine kleine Schreibmaschine mit, da Stasi im Besitz Schriftbilder der Schreibmaschinen aller „interessanten“ Leute ist. – Wiesler schreibt Abhörprotokoll. (Musik im Off, Paralellmontage). – Der Hauptmann geht zu Grubitz mit einem Bericht. Grubitz liest ihm ein Ausschnitt einer Studentenarbeit unter dem Titel „Haftbedingungen für politischideologische Diversanten der Kunst-Szene nach Charakterprofilen“ vor, aus der geht hervor, dass Dreyman Typ 3 „hysterischer Anthropozentriker ist“. Wiesler bittet den MfS um die Überwachung über Dreyman zu verkleinern. Misstrauisch und unwillig zieht Grubitz Udo ab. 01:13:00 – 01:21:30 17 Dreyman schreibt weiter den Artikel. (Voice Over, Musik im Off, Paralellmontage) – Wiesler tippt wie folgt: „17 Uhr. <Lazlo> liest Hauser und Wallner den ersten Akt des Jubiläumsstücks vor.“ – Christa Maria Sieland wird von Nowack beobachtet. – Dreyman versteckt die Schreibmaschine in einem Hohlraum unter einer losen Bodendiele, in diesem Moment kehrt Christa Maria Sieland nach Hause zurück und sieht das Versteck. – Minister Hempf sitzt allein im Hotelzimmer und begreift, dass es mit der Beziehung mit der Schauspielerin aus ist. – Hessenstein erscheint und nimmt den Artikel mit. – Der Nachritensprecher berichtet im Fernseher über einen Artikel aus dem Spiegel unter dem Titel: „DDR, Der geheime Selbstmord – Statistik“, der Suiziden in der DDR beschreibt. 01:21:30 – 01:25:40 18 Grubitz hat ein sehr unangenehmes Telefongespräch mit seinem Vorgesetzten. – Schriftexperte hält einen kurzen Vortrag über verschiedenen Maschinenschrifttypen. – Wiesler beschützt weiter den Dramatikern und sagt kein Wort zu Grubitz über Dreyman Zusammenarbeit mit „Spiegel“. – Minister Hempf befiehlt Christa Maria Sieland festzunehmen. – Die Schauspielerin wird verhaftet. – Die Frau landet im Untersuchungsgefängnis, wo sie Dreyman verrät, als sie zugesteht, dass sein Freund der Autor des Artikels ist und dass er im Besitz von zwei Schreibmaschinen ist. 01:25:40 – 01:33:18 44 19 Stasi durchsucht Dreymans Wohnung. – Wiesler in der Abhörzentrale scheint nicht weniger erstaunt und nervös als Dreyman. – Die Stasi Mitarbeiter verlassen die Wohnung erfolgslos. – Grubitz will am nächsten Tag sich mit Wiesler treffen. 01:33:18 – 01:36:58 20 Im Treptower Park treffen sich Dreyman, Hauser und Wallner und reden über Stasi Untersuchung. Sie verdächtigen Anna Maria Sieland. – Wiesler bekommt von Grubitz die letzte Chance, um seine Lage zu verbessern. Er muss die Informationen von der Schauspielerin herausbekommen, wo sich Dreyman belästigende Materialien befinden. Christa Maria Sieland bricht sehr schnell zusammen und verrät, wo sich die Schreibmaschine befindet. – Eine Weile später, schon als Inoffizieller Mitarbeiter, wird sie frei gelassen. Zusätzlich bekommt sie noch ihre illegalen Medikamente. 01:36:58 – 01:44:48 21 Dreyman kehrt nach Hause und verabschiedet sich mit Hauser. – Christa Maria Sieland kommt auch zurück und geht direkt unter die Dusche. – Dreyman versucht mit ihr zu reden, aber das Gespräch wird durch Klopfen an der Tür unterbrochen. – Stasi Gruppe betritt wieder die Wohnung. Grubitz selbst untersucht das von Christa gezeigte Versteck. Die Schauspielerin flieht weg, da sie Dreymans Blick nicht ertragen kann. Grubitz ist verblüfft, als er unter der Schwelle gar nichts findet. - Hufelandstraße am Prenzlauer Berg. Christa Maria wird von einem Auto angefahren worden. Dreyman kommt und die Schauspielerin stirbt. – Grubitz entschuldigte sich, nimmt die Leute und beendet der Vorsatz. – Wiesler verliert seine Arbeit und wird bestraft. (Musik im Off). 01:44:48 – 01:52:42 22 Insert: 4 Jahre und 7 Monate später. Wiesler sitzt in einem Keller des MfS und mit Hilfe der Kaltdampfmaschine eröffnet er die Briefumschläge. Hinter ihm sitzt Stigler, der berichtet über den Fall der Berliner Mauer. Wiesler steht als erster auf und verlässt seinen Arbeitsort. (Musik im Off) 01:52:42 – 01:53:53 23 Insert: 2 Jahre später. Im Theater wird wieder ein Theaterstück von Dreyman aufgeführt. Das ist das gleiche Stück als ein Jahrzehnt früher. Der Dramatiker sitzt mit seiner neuen Freundin. – Die Erinnerungen sind noch zu viel emotionsbeladen. Dreyman geht zum Foyer, wo er von Hempf angesprochen wurde. Dreyman erfährt, dass er komplett überwacht wurde. – Zu Hause entdeckt er zu seiner großen Überraschung ein Netz von Kabeln und Wanzen, komplexe Abhörvorrichtungen. (Musik im Off) 01:53:53 – 01:57:58 45 24 25 3.4 Dreyman begibt sich auf Forschungs- und Gedenkstätte in Berlin und liest seine Akte. (Voice Over – Wiesler, Christa Maria Sieland). Er ist überrascht und aufgeregt. Er bemerkt, dass er einen Schutzengel hatte, und das war auf keinen Fall Christa Maria Sieland. Der Dramatiker erfährt auch, wer sich unter dem Pseudonym HGW XX/7 verbirgt. – Aus dem Auto sieht er Wiesler. Der Künstler steigt aus, aber ihm fehlen die Worte, um Gerd Wiesler anzusprechen. 01:57:58 – 02:05:12 Insert: 2 Jahre später. Wiesler, vertieft in seiner Arbeit, geht bei Karl Marz Buchhandlung vorbei. Er bemerkt durch die Schaufenster das neue Buch „Die Sonate vom Guten Menschen“, das Georg Dreyman verfasst hat. – In der Buchhandlung entdeckt er die Widmung: „HGW XX/7 gewidmet, in großer Dankbarkeit“ (Standbild). Er kauft es für sich. Abspann. 02:05:12 – 02:06:38 Zur Analyse der Figuren Im Film Das Leben der Anderen findet man zwei Figurenpaarungen, die erste bilden Georg Dreyman und Christa Maria Sieland, die zweite Komposition bezieht sich auf Minister Bruno Hempf und Oberleutnant Anton Grubitz. Außer dieser Figurenkonstellationen steht Stasi Hauptmann Gerd Wiesler, die beeindruckendste Figur im Ganzen Film, die infolge der Geschehnisse einen tiefen, inneren Wandel erlebt. Ursprünglich sollte der Film genau wie das gefühlvolle Soloinstrumentalstück Die Sonate vom Guten Menschen heißen, da er die menschlichen Handlungen thematisiert, Entscheidungen und Konsequenzen, die die Frage beantworten sollen, was es bedeutet ein guter Mensch zu sein. 3.4.1 Figurenpaarung Georg Dreymann – Christa Maria Sieland Georg Dreyman (gespielt von Sebastian Koch) ist ein linientreuer erfolgreicher Dramatiker und Nationalpreisträger der DDR. Er ist in einer Beziehung mit der begehrenswerten Christa Maria Sieland (gespielt von Martina Gedeck) liiert, die von ihrem schauspielerischen Talent nicht überzeugt ist. Dreyman erkennt anfänglich nicht in welch hinterlistigem und verlogenem System er sein Leben als Künstler führt. Seine Weltanschauung ist sehr liberal und in manchen Fällen durch zu große Naivität geprägt. Das zeigt Sequenz 8, als er versucht hat, seinen Freund Hauser zu beruhigen. 46 HAUSER: Das du Nichtskönner bei der Stasi bist, das weißt doch jeder! SCHWALBER: Das ist eine unerhörte Unterstellung! DREYMAN: Paul!!! Schwalber, entschuldigen Sie bitte meinen Freund. Er hat viel zu viel getrunken. HAUSER: Was sollte denn das? Jeder weiß doch, dass der bei der Stasi ist. DREYMAN: Nein, Paul, wissen tun wirʹs nicht.121 Dreyman benimmt sich zum Einen sehr vorsorglich, da die inoffiziellen Mitarbeiter alles lauschen und betrachten jede Aussage als potentiell suspekt, zum Anderen aber akzeptiert er die Bedingungen in denen er lebt und Beschränkungen seitens des kommunistischen Regimes. Anscheinend braucht er keine Freiheit. Sein Freund Paul Hauser nennt ihn „jämmerlicher Idealist“, der systemkonform ist, sich nicht traut mutig zu handeln und seine eigene Meinung zu äußern. HAUSER: Du bist so ein jämmerlicher Idealist, dass du fast schon ein Bonze bist. Wer hat denn Jerska so kaputt gemacht? Genau solche Leute: Spitzel, Verräter und Anpasser! Irgendwann muss man Position beziehen, sonst ist man kein Mensch. Wenn du je etwas unternehmen willst, dann melde dich bei mir. Ansonsten brauchen wir uns nicht mehr zu sehen. 122 Obwohl die Worte seines Freundes ihn berühren, geben ihm aber keinen Anstoß zu handeln. In den Augen der Leute, die an der Macht stehen wie beispielsweise der gewissenlose MfS – Oberstleutnant Anton Grubitz, erscheint Dreyman als harmloser, ungefährlicher und infantiler Künstler. Am Anfang des Films (Sequenz 2) sagt Grubitz über Dreyman: „GRUBITZ: Arrogant, aber linientreu. Wenn alle so wären wie der, wäre ich arbeitslos. Er ist so ziemlich unser einziger Autor, der nichts Verdächtiges schreibt und den man trotzdem im Westen liest. Für ihn ist die DDR das schönste Land der Welt. 123 (…) Der ist sauberer und sauber“.124 Der Dramatiker ist im Bezug auf sein künstlerisches Talent und seine Position selbstsicher und stolz (Abb. 1). Bei dem Gespräch betont er, dass er Nationalpreisträger „und persönlicher Freund von Margot Honecker“125 ist. Seine Werke werden auch im Westen gelesen, obwohl er nichts Kritisches im Bezug auf DDR schreibt, was von seinen künstlerischen Kompetenzen und Fähigkeiten zeugt. 121 Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 54. 122 Ebd., S. 55. 123 Ebd., S. 24-25. 124 Ebd., S. 27. 125 Ebd., S. 94. 47 Er ist sehr engagiert in einer Beziehung mit Christa Maria Sieland (Abb. 2). Sie ist eine attraktive Frau von Ende 30, die einen großen Eindruck auf Männer, beispielsweise auf Wiesler und Hessenstein, macht. Minister Hempf sagt: „Sie ist die schönste Perle der Deutschen Demokratischen Republik“126. Abb. 1, Sequenz 2, 00:06:43 Abb. 2, Sequenz 2, 00:25:47 126 Ebd., S. 32. 48 Dreyman ist sehr in sie verliebt und neidisch. Kurz nach der Prämiere, im Theaterkeller bemerkt er, dass Hempf sich zu vertraut an seine Freundin wendet, aber er traut sich nicht irgendetwas dem Minister zu sagen. Später versucht er über Jerska Berufsverbot zu sprechen, aber dieses Bemühen scheitert auch, da er nicht so viel Mut hat. Er ist erschrocken und gibt leicht nach, wenn Hempf lauter zu reden beginnt. Noch schwächer und labiler ist Christa Maria Sieland. Sie schient glücklich zu sein mit Georg, sie steigt aber in der Hempfs Limousine ein (Sequenz 10). Obwohl der Minister ihr die Alternative gibt: „Sag nur ein Wort, und ich lasse dich sofort gehen“ 127. Sie sagt kein einziges Wort und erlaubt Hempf alles. Die Frau ist auch von Medikamenten abhängig und hat Probleme mit dem Selbstvertrauen an eigenes Talent. Dreyman versucht sie von ihrer schauspielerischen Kunst zu überzeugen: „DREYMAN: Ich weiß auch von den Medikamenten und wie wenig du deiner Kunst traust. Dann vertrau wenigstens mir. Christa – Maria! (…) Du bist eine große Künstlerin. Ich weiß es und dein Publikum weiß es auch. Du brauchst ihn nicht. Bleib hier. Geh nicht zu ihm. (…) Ich bitte, ich flehe dich an… geh nicht.“128 Es handelt sich aber bei diesem Gespräch um etwas mehr als nur um schauspielerisches Talent. Es werden die Fesseln und Beschränkungen des totalitären Systems angedeutet, da jeder Künstler, egal ob Schauspieler, Regisseur oder Maler von der Laune der an der Macht stehenden Leute anhängig war. Es gab keine Freiheit und um einen Schein der Normalität zu bekommen, musste man sich opfern. Aus dem untenstehenden Gespräch resultiert, dass sowohl Dreyman als auch Christa Maria dem System untergeordnet waren und bisher trauten sich nicht ihm zu widersprechen: „ Brauche ich dieses ganze System nicht? Und du? Du brauchst es dann ja auch nicht? Oder erst recht nicht? Aber du legst dich doch genauso mit denen ins Bett? Warum tust du es denn? Weil sie dich genau so zerstören können, trotz deines Talentes, an dem du noch nicht einmal zweifelst. Weil sie bestimmen, wer spielt, wer spielen darf und wer inszeniert. Du willst nicht enden wie Jerska. Und ich will es auch nicht! Deshalb gehe ich jetzt.“129 Nach diesem Meinungsaustausch ist die Schauspielerin verwirrt und erst die Begegnung in der Bar mit Wiesler, der Christa Maria animiert sich selbst zu bleiben, verursacht, dass die Frau auf das Treffen mit Minister Hempf verzichtet und kehrt zu Dreyman nach Hause. 127 Ebd., S. 65. Ebd., S. 82. 129 Ebd., S. 82. 128 49 Für Dreyman das entscheidende Ereignis, das ihm Kraft zu handeln gab, war Selbstmord seines Freundes Jerska. Das hat ihm veranschaulicht, dass er etwas unternehmen soll und nicht mit seinem Schweigen die Bejahung für die Gräueltät der Regierung geben. Dreyman fasst den Mut und entscheidet sich ein wahres Gesicht der DDR zu zeigen, indem er einen Artikel für „Spiegel“ über Suiziden in der DDR verfasst. Obwohl ein Vorhang aus seinen Augen fällt, ist er weiterhin erstaunt, wie groß die Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen, um den Artikel schreiben zu können. Christa Maria ist in Dreymans Arbeit nicht eingeweiht. Zufällig entdeckt sie das Versteck der Schreibmaschine unter der Schwelle, stellt aber keine Fragen. Auf Dreyman Erklärungsversuch reagiert sie fast panisch: „Sag es mir nicht! Vielleicht bin ja wirklich so unzuverlässig, wie deine Freunde sagen.“130 (Abb. 3) Abb. 3, Sequenz 17, 01:24:16 Und leider hatte sie Recht. Nachdem sie in der Zahnarztpraxis verhaftet wurde, wurde ihre nächste Charakterschwäche im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen entblößt. Vor Angst um sich, versucht sie sich während Gespräch mit Grubitz selbst zu retten. „CHRISTA MARIA SIELAND Bitte, kann ich irgend etwas für Sie tun?... Für Staatssicherheit (…) Ich kenne unsere Künstler fast alle. Ich könnte viel für Sie herausfinden.(…) Vielleicht gibt es etwas anderes, was ich tun kann – etwas, das uns beiden nicht ganz unangenehm wäre? (…) 130 Ebd., S. 112. 50 Gibt es noch irgendetwas, wodurch ich mich noch retten kann?“131 Schließlich gesteht sie und es fallen Dreyman belastende Worte: „Der Artikel ist von Georg.“ „Es gibt zwei Maschinen.“ Sie gibt auch preis, wo die Schreibmaschine sich befindet und wird freigelassen als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Gedrückt von Gewissensbissen begeht sie Selbstmord. Nach diesem Verlust zieht sich Dreyman zurück, ist nicht im Stande weiter schreiben und nach dem Fall der Mauer werden seine gleiche Theaterstücke wie in DDR aufgeführt. Erst nach dem Gespräch mit Hempf erfährt er, dass er komplett überwacht wurde. Er recherchiert im Archiv und verblüfft liest seine Stasi – Akten. Im Endeffekt verfasst er in Dankbarkeit an seinen Schutzengel Wiesler seinen ersten Roman „Die Sonate vom Guten Menschen“. Obzwar diese Figurenpaarung beide Protagonisten gewisse menschliche Charakterschwäche aufzeigen, versuchen sie nach ihren Möglichkeiten normal zu leben. Ihr Leben, das mit Passagen von Glück und Trauer, Verrat und Verzeihung geprägt ist und ihre Privatheit beeindrucken Wiesler und sind Faktoren, die zu seiner Wandlung beitragen. 3.4.2 Figurenpaarung Minister Bruno Hempf – Oberstleutnant Anton Grubitz Thomas Thieme spielt den Kulturminister Bruno Hempf. Hempf ist Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und wird mit allen Machtattributen seines Amtes dargestellt. Er ist in allen Schlüsselsequenzen des Films präsent und wird zum Regisseur des ganzen Dramas. Unter anderem entscheidet er, „wer spielt, wer spielen darf und wer inszeniert.“132 Schon am Anfang des Films (Sequenz 2) wird auf seinen Befehl Wiesler mit dem Operativen Vorgang beginnen, um irgendwelche Dreyman belästigende Materialien herauszufinden. Hempf nutzt seine Position zu persönlichen Zwecken, da er ein Verhältnis mit Christa Maria Sieland, Dreymans Freundin, hat. Also nicht politisch-ideologische Gründe verstecken sich hinter seinen Entscheidungen, Dreymans Überwachung ist reine private Sache. Minister Hempf steht über Allen und nutzt die Menschen skrupellos aus. Demnächst lässt er sich als egoistischer Mann erkennen, indem er sich mehrmals mit Christa Maria Sieland trifft. Nach der Wende und in letzten Minuten des 131 Ebd., S. 123. Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006, S. 82. 132 51 Films (Sequenz 23) steht er nicht auf verlorenem Posten und ist kein Verlierer. Er erscheint auf Dreymans Theaterpremiere und triumphierend offenbart der Dramatiker, dass er total überwacht wurde. „HEMPF: Sie wurden komplett überwacht. Wir wussten alles über Sie. (…) Komplett verwanzt – das volle Programm. (…) Schauen Sie doch bei der Gelegenheit mal unter Ihre Lichtschalter. Wir wussten alles über Sie. Wir wussten sogar, dass sie es unserer kleinen Christa nicht richtig besorgen konnten.“133 Infolge dessen und schreibt Dreyman seinen ersten Roman. Hempfs Benehmen zeigt, wie groß das Instrumentarium der Erpressung war und wie wenig Hochachtung er im Bezug auf die Anderen hat. Skrupellosigkeit, kalte Berechnung und Egoismus sind Spezifikum seines Erscheinungsbildes. Er hat keine Gewissensbisse und wenn ihm etwas misslingt, wird er eine fürchterliche Rache nehmen. „HEMPF: Wenn ein Mitarbeiter Sie hinterlegt, dann strafen Sie ihn nach Kräften, oder etwa nicht? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: O doch! Doch! HEMPF: Auch eine Frau, oder etwa nicht? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Doch, doch! HEMPF: Und sind nicht alle, die einem großen Mann dienen, seine Mitarbeiter? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Das kann man so sagen. Müsste vielleicht sogar so sein. HEMPF: (…) Christa Maria Sieland. Ich denke, Sie sollten es wissen. Fällt in Ihren Bereich. Ob Sie ihr das Genick brechen oder nicht, ist Ihnen überlassen. Ich will sie auf jeden Fall nicht wieder auf der deutschen Bühne spielen sehen.“134 Er weißt alles, dirigiert und nutzt die Menschen aus seiner Umgebung hemmungslos aus. Hempfs Charakteristik ergänzen die von Florian Henckel von Donnersmarck eingeführte filmästhetische Mittel, wie beispielsweise Kameraeinstellungen oder Lichtverhältnisse. Der Minister ist unnahbar und geheimnisvoll porträtiert. Das wird in Sequenzen 10 und 13 sichtbar, wo er erstens im dunklen Schatten sitzt und demnächst wird der Effekt durch geschlossene Vorhänge in seiner Dienstlimousine erreicht (Abb. 4). Der Untersicht als auch die Kameraeinstellung Groß, erlaubt ihnen als einen machthabenden und tonangebenden Mensch zu präsentieren. 133 134 Ebd., S. 150. Ebd., S. 120. 52 Abb. 4, Sequenz 18, 01:29:16 Auf der gleichen Seite stehende Mensch ist der Abteilungsleiter Oberstleutnant Anton Grubitz, der von Ulrich Tukur gespielt wird. Grubitz ist Hempf untergeordnet und für die Abteilung XX/7 zuständig, die sich mit Ausspionieren der Kultur und der Kunst beschäftigte. Damit ist er ein richtiger Mann um Hempf Befehle auszuführen. Er ist von einem Karriereschub motiviert, der ihm Hempf verspricht: „HEMPF: Aber wenn Sie gegen den [Dreyman – M. Z.] etwas finden, dann haben Sie einen mächtigen Freund im ZK. Sie verstehen, was ich meine.“ Diese Worte vergisst der zynische und karriereorientierter Mann nicht und sein Handeln ist ständig einem Ziel untergeordnet. Mehrmals betont er, dass es ihm nur ums Gelingen und um den privaten Erfolg als Aufstieg in der MfS Hierarchie geht und nicht um politische Korrektheit. Als er entdeckt, dass Minister Bruno Hempf nur den Nebenbuhler ausschalten will, ist ihm gleichgültig, ob das den parteiischen Idealen entspricht oder ob es sich um bloße Ausnutzung des Amtes handelt. Diese Haltung resultiert aus dem folgenden Gespräch: „OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Wegen deiner Autokennzeichen-Anfrage von der Limousine, die Frau Sieland nachts heimlich nach Hause gebracht hat… Es handelt sich hier um den Wagen von Minister Hempf. Wiesler, führende Genossen dürfen wir nicht erfassen. Ich habe die Erwähnung aus deinem Bericht gestrichen. In Zukunft nichts Schriftliches mehr darüber. Wenn etwas gibt, mündlich an mich. Wir helfen also einem ZK-Mitglied, seinen Rivalen aus dem Weg zu schaffen. Ich muss dir wohl nicht sagen, was es, angesichts dieser neuen Information, für meine Karriere bedeuten könnte, und für deine, wenn wir etwas finden? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Was ist? 53 WIESLER: Sind wir dafür eingetreten? WIESLER: Weißt du noch unseren Eid? „Schild und Schwert der Partei“? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Aber was ist die Partei denn anderes als ihre Mitglieder? Und wenn die Mitglieder großen Einfluss haben – umso besser!“135 OBERSTLEUTNANT GRUBITZ Wiesler, das ist jetzt sehr, sehr wichtig, für meine Karriere und für deine Karriere.136“ Anton Grubitz war während des Studiums mit Gerd Wiesler befreundet. Obwohl zwischen den beiden ein dienstgradstufiger Unterschied liegt, dutzen sie sich und Grubitz schätzt Wieslers Kompetenzen auf dem Bereich der Verhör- und Observationstechniken sehr. Aus diesem Grund wird ihm die verantwortliche Aufgabe Dreymans Überwachung anvertraut. Im Bezug auf andere ihm untergeordnete Personen ist der Oberstleutnant rücksichtslos. Nicht ihre Fähigkeiten zählen, sondern privates Gutdünken. Als sein Mitarbeiter eine hervorragende Doktorarbeit verfasst hat, gab ihm Grubitz keine entsprechende Note. Linientreu, schlagartig und politisch korrekt ist er, als er einen Honecker verspottenden Witz hört. Direkt fragt er nach Personalien, um diese Person zu bestrafen. Als er durchschaut, dass Wiesler ihn betrogen hat, verändert er ganz schnell seine Einstellung zu ihm und beurteilt hart. Grubitz Anpassungsfähigkeiten sind lobenswert. Dank ihnen steigt er nach oben und ist bei seinen Vorgesetzten hoch geschätzt. Grubitz ist ein wichtiger Baustein des totalitären Systems. Genau solche, menschenverachtete und zynische Leute bauten das DDR Regime (Abb 6). Abb. 6, Sequenz 16, 01:20:38 135 136 Ebd., S. 60. Ebd., S. 118. 54 3.4.5 Gerd Wiesler als ein Beispiel der politisch-persönlichen Wandlung Gerd Wiesler (gespielt von Ulrich Mühe) ist eine beeindruckende Hauptperson, die eine große innere Wandlung durchmacht. Er ist stur, konsequent, ergebend und genau. Er ist kein karriereorientierter Mann, sondern erledigt stillschweigend seine Pflichte. Der loyale Dozent ist gnadenlos und kennt kein Erbarmen während Verhören von politisch verdächtigen Menschen. Seine Verhöre dienen den Studenten als Musterlehrbeispiele in der Stasi Hochschule Potsdam-Eiche. Wenn er eine Aufgabe realisieren muss, bewältigt er alle Hindernisse. Er wohnt in typischen DDR Bauten, nämlich in grauen Arbeiter-Wohnungs- Genossenschaften. Seine Wohnung ist extrem ordentlich und einfach eingerichtet mit typischen Holzmöbeln, die am leichtesten in der DDR zu erhalten waren. In der Wohnung überwiegen grau und braun getönte Farben. Es fehlen Dekorationen, die den Eindruck von Gemütlichkeit und Wärme verleihen konnten, so dass die Wohnung unbewohnt und leer ausschaut. Sie passt zum einsamen Gerd Wiesler. Wie viele andere MfS Mitarbeiter ist er allein. Auf das Problem des Alleinseins weist die Prostituierte, die „noch andere Jungs vom MfS“137 bedient. Auf Grubitz Befehl beginnt er mit dem Operativen Vorgang, der zum Ziel hat, den berühmten Dramatiker Georg Dreyman zu bespitzeln. Er engagiert sich vollkommen für diese Aufgabe. Wiesler glaubt an das System, in dem er lebt. Seine Überzeugung und seine Werte, denen er huldigt, sind in parteiischer Ideologie verankert. Er ist ihnen treu und lebt nach ihren Gesetzen. Als er durchschaut, dass Dreymans Überwachung rein persönliche Zwecke zugrunde liegen, beginnt er zu zweifeln. Seine bisher makellose Arbeit wird nicht mehr politisch korrekt und einwandfrei. Der erste Schritt ist die Fälschung der Abhörprotokolle. Demnächst unterstützt er seinen Mitarbeiter Udo, bestimmte Verdachtsmomente nicht zur Kenntnis zu nehmen und sie in Protokollen auszulassen. Schließlich verbirgt er, dass Dreyman einen Artikel für die Westdeutsche Zeitung verfasst und versteckt die Schreibmaschine, bevor sie Grubitz während der Wohnungsdurchsuchung findet. Wie viele Stasi Mitarbeiter ist er von seiner Allmacht überzeugt. Das wird sowohl bei Menschen, die er verhört, als auch bei seinen Studenten sichtbar. Für die geringsten systemabweichenden Aussagen, markiert er die Personalien der Studierenden. Als ein weiteres Beispiel für solches Verhalten konnte das Gespräch mit Frau Meineke dienen, in 137 Ebd., S. 60. 55 dem Wiesler sich ganz arrogant und selbstsicher benimmt. Während der Verwanzung von Dreymans Wohnung bemerkt der Stasi Hauptmann, dass er durch den Türspion beobachtet wird. Er klopft heftig an die Tür und droht Dreymans Nachbarin: „WIESLER: Frau Meineke, ein Wort zu irgendwem, und Ihre Mascha verliert morgen ihren Medizin-Studienplatz. Verstanden? WIESLER: Ha-ben Sie ver-stan-den?” 138 Die nächste Eigenschaft, die für Wiesler typisch war, war seine penible Pünktlichkeit. Darüber zeugen Sequenzen 5 und 16. Als Leiter des Operativen Vorgangs verordnet er, dass die Mitarbeiter genau 20 Minuten und keine Sekunde mehr haben, um in der Dreymans Wohnung die Abhörgeräte zu verstecken. Auch das Einhalten der Pünktlichkeit verlangt er von Oberfeldweber Udo. Als er um 4 Minuten zu spät kommt, gerät Wiesler fast in Wut und rügt seinen Kollegen. Wiesler verbringt sehr viel Zeit mit der Beobachtung Dreymans und Christa Maria Sielands. Das Involvieren in das sowohl private als auch künstlerische Leben der beiden Geliebten verursacht, dass er teilweise zum Teilnehmer ihrer Realität wird. Er kennt sogar die intimsten Details aus ihrem Leben, die er anfänglich protokolliert. Auf seine innere Wandlung haben mehrere Geschehnisse einen Einfluss. Vorab war das Gespräch in der Kantine des MfS mit Grubitz. Wiesler erfährt, dass er einem ZK – Mitglied hilft, seinen Rivalen aus dem Weg zu schaffen. In diesem Moment wurde der Hauptmann mit der Tatsache konfrontiert, dass der Glaube an den Kommunismus bei den anderen Parteimitgliedern anders aussieht als bei ihm. Er denkt über die Richtigkeit seiner bisherigen Taten nach und fragt, ob es noch Leute gibt, die sich an dieselben Idealen halten wie er. Das veranschaulicht folgendes Gespräch mit Grubitz: „OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: (…) Wir helfen also einem ZK-Mitglied, seinen Rivalen aus dem Weg zu schaffen. Ich muss dir wohl nicht sagen, was es, angesichts dieser neuen Information, für meine Karriere bedeuten könnte, und für deine, wenn wir etwas finden? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Was ist? WIESLER: Sind wir dafür eingetreten? WIESLER: Weißt du noch unseren Eid? „Schild und Schwert der Partei“? OBERSTLEUTNANT GRUBITZ: Aber was ist die Partei denn anderes als ihre Mitglieder? Und wenn die Mitglieder großen Einfluss haben – umso besser!“139 138 139 Ebd., S. 43. Ebd., S. 60. 56 Ein weiteres Ereignis, das auf Wiesler sehr großen Eindruck machte, war der Tod von Dreymans Freund Albert Jerska, der wegen des lange anhaltenden Berufsverbotes einen Selbstmord begangen hat. Wiesler wurde zum Zeuge der riesigen Trauer und Emotionen, die er früher nicht kannte. Dreyman setzt sich zum Klavier, sucht eine Partitur und spielt erschüttert „Die Sonate vom Guten Menschen“, die er von Jerska als Geburtstaggeschenk erhalten hatte. Wiesler hört die melancholische Töne in seiner Abhörzentrale und ist ergriffen von der Kraft der Musik. Dreyman spricht in diesem Moment folgende Wörter aus: „DREYMAN: Ich muss immer daran denken, was Lenin von der Appassionata gesagt hat: „Ich kann sie nicht hören, sonst bringe ich die Revolution nicht zu Ende.“ DREYMAN: Kann jemand, der diese Musik gehört hat, wirklich gehört hat,noch ein schlechter Mensch sein?“ Bei der Klavierstimme fließt eine Träne aus Wieslers Auge (Abb. 6). Für ihn ist das ein wichtiger Moment der Selbsterkenntnis, er weint teilweise über sich selber und teilweise, weil er auch Dreymans Leiden versteht. Zum ersten Mal sieht man Gefühle in seinem Gesicht. Er entdeckt erst jetzt die bittere Wahrheit, was es bedeutet in diesem totalitären System zu leben. Wie stark die Menschen unterdrückt werden und wie stark die Fesseln des Systems sind. Um einen Schein der Normalität zu bekommen und nicht zerstört zu werden wie Albert Jerska, braucht man viel Kraft. Abb. 6, Sequenz 12, 00:51:32 57 Das Wiesler ein guter Mensch ist, hört er, als er Christa Maria Sieland in der Bar anspricht und versucht ihr ein paar aufmunternde Worte zu sagen. „Und Sie sind ein guter Mensch”, hört er als Antwort. Nach diesen Worten konnte Wiesler nie wieder so sein wie in der Vergangenheit. Er hat die andere Seite des Lebens, der Menschlichkeit entdeckt, die auch in ihm wohnt. Das wird sichtbar, als er wieder mit Grubitz spricht. Zuerst will er Dreyman verraten, dass er etwas Verschwörerisches plant. Als er aber hört, wie höhnisch Grubitz über die Zerstörung der Künstler spricht [damit ist ein Auszug aus der Doktorarbeit gemeint – M. Z.], wird er zum großen Schutzengel des Dichters und nach einem inneren Kampf mit den eigenen Gedanken, fördert er die Verkleinerung des OV. Im weiteren Verlauf des Films (Sequenz 18) auch in den Augen seines Vorgesetzten scheint Wiesler nicht mehr glaubwürdig zu sein. „Bist du noch auf der richtigen Seite?“140 – fragt ihn Grubitz, als Wiesler Christa Maria Sieland verhört. Wenn OV Lazlo durch den Selbstmord der Schauspielerin beendet wurde und Grubitz entdeckt, wie Wiesler das Schreiben des Artikels getuscht hat, versetzt er ihn zur Abteilung M, wo er lange Jahre die Briefumschläge mit Hilfe einem speziellen Kaltdampfsystem öffnet. Die komplette politisch-persönliche Metamorphose Wieslers von einem gnadenlosen Stasi Überwacher bis zu einem guten Mensch ist in der letzten Sequenz des Films sichtbar. In Dreymans neuen Roman unter dem Titel: „Die Sonate vom Guten Menschen“ erblickt Wiesler eine Dedikation für ihm: „HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit“141. Zum ersten Mal sieht man ein echtes Lächeln in seinem Gesicht (Abb. 7). Er hat in diesem Moment seinen inneren Frieden gefunden, und wie der Nebentitel des Films aussagt, ist er zum guten Menschen geworden. 140 141 Ebd., S. 133. Ebd., S. 158. 58 Abb. 7, Sequenz 25, 02:06:38 3.3 Erzählstruktur des Films Die Analyse der filmischen Bauformen ist ein unabdingbares Element der Filminterpretation. Das Zusammenspiel der Gestaltungsmittel wie Kameraführung, Achsverhältnisse, Beleuchtung, Farbgestaltung etc. ergibt eine Erzählperspektive, die ein Film einnimmt. Der Regisseur Florian Henckel von Donnersmark präsentiert die Opfer des Staatssicherheitsdienstes eindrucksvoll und mit klarer Bildsprache und beschreibt die Verachtung und die kühle Distanz der Täter. Berücksichtigt wurden dabei auch die geschichtlichen Realien der DDR der 80er Jahre. 3.3.1 Filmische Stillmittel - Charakteristik ausgewählter Bauformen des Erzählens In diesem Kapitel werden die Formen der Kamerabewegung, wie Umfahrt und Subjektive Kamera sowie erwähnte Einstellungsgröße und Kameraperspektiven beschrieben. Verbleibend noch auf der visuellen Ebene werden demnächst Farb- und Lichtkorrelationen aus ausgewählten Beispielen analysiert. Im Weiteren wird auf der auditiven Ebene der Einsatz der Filmmusik und Voice Over untersucht. 59 Beginnend mit der Kategorie der Montage wird die Paralellmontage im filmischen Kontext erläutert. Die Paralellmotage verbindet in der Regel zwei oder drei Handlungsstreifen. Diese Form des Erzählens tritt im Film sehr oft auf. Vorwiegend werden die Subsequenzen aus Dreymans Wohnung und die Subsequenzen aus der Abhörzentrale, die sich im Dachboden des Hauses befindet, miteinander montiert. Dieses Verfahren trägt erstens zur Spannungssteigerung, wie in der Sequenz 19, wo Wiesler nervös lauscht, mit welchem Ergebnis die Wohnungsdurchsuchung abgeschlossen wird. Zweitens wird die Paralellmontage zur Distanzverkürzung zwischen den Stasi-Überwacher und dem Künstlerpaar dienen. Der Anfang und das Ende der Sequenz 10 zeigt, wie stark sich Wiesler in das Leben des Künstlerpaares engagiert. Er zeichnet auf dem Boden über Dreymans Wohnung den Plan der Wohnung und setzt sich schließlich nicht nur am gleichen Ort wie der Dramaturg, sondern nimmt die gleiche Stellung wie er. In dieser Sequenz kommt es zur Verbindung von drei Handlungsstreifen. Wiesler überwacht Dreyman, der einen Text schreibt. In dieser Zeit steigt Christa Maria Sieland in die Hempf Limousine. Wiesler bemerkt, als die Frau aussteigt und zwingt Dreymans die bittere Wahrheit zu erfahren. Aus dieser Sequenz resultiert, dass dank allen Handlungsstreifen Wiesler ihm fremd vorkommende moralische Werte erfahren hat, was ihn berührt und in Verwunderung versetzt hat. Der Regisseur und zugleich Autor hat Inserts und Schrifteinblendungen zum Film eingeführt, die informative Funktionen haben. Sie geben die Auskunft über Ort und Zeit sowie über geschichtliche Ereignisse. Als Beispiel können die Inschrift wie: „4 Jahre und 7 Monate später“ dienen, die den Zuschauer über das Zeitvergehen informieren oder es wurde eine Schrifteinblendung „Neuer Generalsekretär der KPdSU gewählt: Michail S. Gorbatschow“, die über geschichtliche Vorkommnisse informiert. Im Film wurde die Subjektive Kamera, die den Identifikationsgrad der Zuschauer mit dem Geschehen erhöht, verwendet. In der Sequenz 5 beunruhigte Nachbarin, Frau Meineke beobachtete wie Stasi Mitarbeiter in die Dreyman Wohnung einbrechen. Die Zuschauer erblicken einmal die zitternde Frau, als sie vor dem Türspion steht und schaut, ein anderes Mal werden sie die dargestellte Realität aus der Sicht der handelnden Figur – in diesem Fall Frau Meineke – wahrnehmen. Dass es sich um einen Blick durch den Türspion handelt, weist die schwarze Umrahmung des wahrgenommenen Bildes hin (Abb. 8). In dieser Scene wird es verzichtet auf sehr oft für Subjektive Kamera verwendete Handkamera trotzdem ist die Unmittelbarkeit und die Authentizität der dargestellten Handlung von beachtlichem Ausmaß. 60 Aufregung bei Rezipienten rufen auch schnell nacheinander folgende Schnitte hervor, die zur Spannungssteigerung beitragen. Abb. 8, Sequenz 5, 00:21:24 Situationen, die der Regisseur hervorheben wollte, wurden mit Hilfe der Filmsprache betont. Wieslers Wandel zum guten Mensch, der in der Sequenz 12 extrem auffallend ist, wird durch Kameraumfahrt realisiert. Dieses Verfahren der Kamerabewegung zeigt die Emotionen, die Wiesler während des Zuhörens des Klavierstückes empfindet. Auf seinem Gesicht malt sich ein Gesichtsausdruck, der für einen typischen Stasi Mitarbeiter fremd war. Wiesler ist zutiefst berührt von der Musik und vereinigt sich mit Dreymans Trauer. Teilweise weint er auch wegen seines bisherigen Lebens. Durch eine halbe Kreisfahrt erhalten die Rezipienten die Möglichkeit sein Gesicht in diesem Moment aus vielen Seiten zu betrachten. Die Umfahrt ermöglicht das Zeigen eines großen Teiles der Umgebung und in der Sequenz 17 handelt es sich um einen 360 Grad – Fahrt. Diesmal werden Dreyman beim Schreiben und Vorlesen seines Artikels und Wiesler, der seit der Fälschung der Abhörprotokolle auf Dreymans Seite steht, porträtiert. Auf der visuellen Ebene, bedeutungsgenerierend sind ebenfalls die extremen Kameraperspektiven. Frau Meinecke (Sequenz 5) wird nicht nur durch drohende Worte des Stasi Hauptmanns, dass ihre Tochter ihren Medizinstudienplatz verlieren könnte, eingeschüchtert, in dieser Sequenz sprechen die Bilder für sich selbst, die durch den bestimmten Einsatz der Kameraperspektiven beklemmend und eindringlich wirken. Wiesler 61 erscheint als eine übermächtige Instanz, als er fast immer in der Sequenz 5 aus der Untersicht gezeigt wird (Abb. 9) und Frau Meinecke, die aus der Obersicht, über Wieslers Schulter gezeigt wird, erscheint den Zuschauern als winzig, total wehrlos, überlegen und auf Stasi Hauptmanns Wille angewiesen (Abb. 10). Abb. 9, Sequenz 5, 00:21:33 Abb. 10, Sequenz 5, 00:21:33 Dieses filmische Stillmittel tritt in der Sequenz 15 auf, als Dreyman von der Sicherheit seiner Wohnung und der Einfalt der Stasi überzeugt ist, beschimpft Unfähigkeit und Tölpelei des Überwachungsapparats. Der Dramatiker, der leicht von unten gefilmt wird, fühlt eigene 62 Übermächtigkeit, Vehemenz und Stärke. Die von ihm ausgesprochenen Worte werden sowohl durch seine Körperhaltung (eine triumphierend erhobene Hand) als auch durch seine Untersichtperspektive verstärkt (Abb. 11) Abb. 11, Sequenz 15, 01:12:23 Die im Film herrschende Stimmung der ständigen Überwachung und Verfolgung porträtiert die Abbildung 12 als Dreyman, Wallner und Hausers Onkel sich in der Wohnung der Dramatiker unterhalten. Der filmische Kontext deutet darauf, dass die extreme Obersicht nicht nur auf die Unterlegenheit, sondern auch auf die Position des Beobachters hinweist. Die drei Männer werden von Wiesler, der in seiner Abhörzentrale über Dreymans Wohnung sitzt, bespitzelt. Die Kamera ist im Mittelpunkt des Zimmers, fast an der Zimmerdecke positioniert, so dass die Rezipienten den Eindruck erhalten, als ob Wiesler nicht nur zuhört sondern auch durch einen Bodenloch oder Kamera die drei Männer sieht. 63 Abb. 12, Sequenz 15, 01:09:32 Die Kameraperspektive zeigt auch die wachsende Distanz zwischen den Protagonisten. Zum Beginn des Films werden Grubitz und Wiesler als zwei ebenbürtige Gesprächspartner dargestellt. Im Laufe der Handlung verringert sich das gegenseitige Vertrauen und es wächst die Entfernung zwischen den beiden ehemaligen Kollegen aus der Zeit des Studiums. Das resultiert daraus, dass Wiesler eine große innere Wandlung von einem der Stasi loyalen und vertrauten Mitarbeiter bis zum Gegner des Systems durchgeht. Am Anfang des Filmes steht er noch auf der Seite des totalitären Systems und bei den Gesprächen mit Oberstleutnant Grubitz wird er als gleichrangiger Gesprächspartner gezeigt. Als er zu zweifeln beginnt und wagt den Dramatiker zu beschützen, entsteht eine Kluft und die räumliche Distanz zwischen seinem Vorgesetzten wird gleichzeitig ausgedehnt (Abb. 13) bis er schließlich in der Sequenz 21 eine Form der Herrscher-Knecht Beziehung annimmt. 64 Abb. 13, Sequenz 16, 01:19:09 Im Film überwiegen die Naheinstellungen, die den Oberkörper und den Kopf der Protagonisten zeigen. Vorwiegend treten sie in den Filmabschnitten auf, wo die Dialoge stattfinden, da sie den natürlichen Sehsituationen während eines Gespräches entsprechen. In den Einstellungen Groß und Detail fällt der Focus auf die seelischen Zustände der handelnden Figuren, sowie auf die Einzelheiten der Gegenstände. Großaufnahmen verraten die mimischen Geheimnisse und porträtieren die Gefühle im Stadium ihres Entstehens. Der Zuschauer sieht genau wie Trauer und Glück, Hass und Versöhnung, Verzweiflung und Friede, Erschütterung und Überraschung sich auf den Gesichtern der Schauspieler malen. Die Detaileinstellung deutet auf Einzelheiten, die für den Handlungsablauf wichtig sind. Sie lenkt die Rezeption der Zuschauer auf die Gegenstände, die auf dem Bildschirm oder Leinwand extrem vergrößert und bedeutungstragend sind. Im Film sind das beispielsweise der Unterschrift der Christa Maria Sieland, Textpassagen der Abhörprotokolle, das Titelblatt der Spiegelzeitung, wo Dreyman seinen Artikel publizierte oder die Schlagzeile einer Zeitung, die besagt, dass Gorbatschow zum neuen Generalsekretär gewählt wurde. Neben den informativen Funktionen der Detaileinstellung erfüllt diese Aufnahme die Beweis- und Schlüsselfunktion zum Beispiel in der Sequenz 24 (Abb. 14). Dreyman, der in seinen Akten recherchiert, entdeckt zufällig den roten Fingerabdruck. In diesem Moment wird ihm klar, wer die Schreibmaschine versteckt und ihm die ganze Zeit geschützt hat. Diese drei beschriebenen Aufnahmen vermitteln Intimität und erzeugen eine Atmosphäre der Nähe mit den Handlungsgeschehnissen. 65 Abb. 14, Sequenz 24, 02:02:56 Der Film weicht von natürlichen Muster der Beleuchtung aus, deswegen ist die Lichtanalyse der exemplarischen Sequenzen wichtig. Bei der Analyse der Lichtverhältnisse sind die Szenen in Dreymans Wohnung, Wieslers Abhörzentrale und die Sequenzen, in denen Minister Bruno Hempf auftritt, erwähnenswert. Auffallend ist der Low-key-Stil in den Sequenzen 1 und 10. Während des Verhörs ist das Gesicht des Verdächtigen nur mit einem sichtbaren Seitenlicht einer Lampe beleuchtet, der Rest des Bildes ist zu dunkel ausgeleuchtet. Bedrohliche, kontrastive hell-dunkel Verhältnisse und Schatten sehen unrealistisch aus und erzeugen eine beklemmende Atmosphäre, die sich auf den Rezipienten überträgt. Die zweite Situation, wo der Low-key-Stil verwendet wurde, findet in Hempfs Limousine statt, als der Minister Christa Maria Sieland belästigt. Die künstlerische Ausleuchtung, wo die Fülllichter prädominieren, wirkt in dieser Szene erotisch, aber auch düster. Ein Lichtstrahl fällt nur auf das Gesicht der Schauspielerin, der Mann bleibt im geheimnisvollen Schatten (Foto 15). Die dunklen Tonwerte sind fast immer in diesen Szenen präsent, wo der Minister auftritt. Als Beispiel kann hier die Sequenz 18 dienen, als er sich mit Grubitz unterhält. Die dunklen Fensterscheiben und die verschlossenen schwarzen Gardinen im Auto verursachen, dass Hempf als eine unnahbare und mysteriöse Gestalt dargestellt wird. Die Beleuchtung ist ein wichtiges dramaturgisches Stillmittel, das charakterisiert, die Aufmerksamkeit der Zuschauer steuert und bei jeder Filmgestaltung notwendig ist. 66 Abb. 15, 00:40:18 Die Lichtverhältnisse stehen in Korrelation mit der Kategorie der Farbgestaltung und Ausstattung. Im Film wird auf auffällige, grelle Farben verzichtet. Es überwiegen Braun/Beige/Orange Farbkombinationen, die von Grün und Grautönen erweitert und durch entsprechende Beleuchtung ergänzt wurden. Auch innerhalb dieser Kombination gelang es dem Regisseur, die in der Opposition zueinander stehenden Welten – künstlerische gegen Stasi – passend zu charakterisieren. Als Beispiel können die Wohnungen von Dreyman und Wiesler dienen. Die Wohnung des Künstlerpaares ist geräumig, gemütlich und schön eingerichtet. Viele Bücher, Wanddekorationen und andere Gegenstände, die zwar nicht immer funktional und praktisch waren, verursachen, dass der Ort eine angenehme Atmosphäre ausstrahlt (Abb. 16). Das Kolorit der Farben ist ausdifferenziert, außer rot sind in der Wohnung grün, blau, gelb, beige, silbern, braun und orange Töne zu finden. Behaglichkeit und Wärme werden durch warme, gelbliche Beleuchtung verstärkt, die in vielen Orten der Wohnung lokalisiert ist. Sie steht im Kontrast zu der rauen, unauffälligen, individualitätsentzogenen, fast aszetisch eingerichteten Wohnung Wieslers (Abb. 17). Der karge Einrichtungsstil, wo die billigsten und einfachsten Möbel oder auch Einrichtungsgegenstände, die in der DDR Zeit am leichtesten zu bekommen waren, stehen, ruft Pessimismusgefühl hervor. Es überwiegen grau-braune Farbtöne und eine kühle Beleuchtung unter anderem aus den Leuchtstoffröhren. Die Wohnung scheint unbewohnt und leer zu sein und passt sehr gut zum peniblen, einsamen Stasi Hauptmann. Die gedämpften Töne und grau-trüben Farbnuancen überwiegen auch auf dem Dachboden (Abb. 18), wo 67 später die Abhörzentrale eingerichtet wurde. Eine große Anzahl technischer Geräte, die originalgetreu reproduziert wurden, vermitteln eine Authentizität des Ortes. Aber reduzierte, kalte Beleuchtung macht den Ort wenig vertraut und abschreckend. Die ganze Palette der Farben basiert auf gleichem Farb-Schemata. Die Färbung erinnert an die Vergangenheit und an die ersten bunten, aber faden Bildern, die man im Fernseher sehen konnte. Der Zuschauer erlebt wieder die DDR Zeit. Abb. 16, Sequenz 7, 00:26:12 Abb. 17, Sequenz 4, 00:16:52 68 Abb. 18, Sequenz 5, 00:20:59 Die auditive Ebene der Filmanalyse, die verschiedene Tonformen wie Musik im Off und On, Voice Over, Geräusche etc. in sich bündelt, wird im Film von Florian Henckel von Donnersmark von großer Tragweite. Der Regisseur selbst äußert im Audiokommentar auf der DVD, dass die Musik die emotionalste Kunstform ist, deswegen tritt sie im Film oft im Vorder- und Hintergrund auf. Sie emotionalisiert den Filmrezipienten und ergänzt und verstärkt die Bedeutung der einzelnen Episoden, die sie begleitet. Die von Gabriel Yared und Stéphane Moucha komponierte klassische Musik widerspiegelt die Gefühlzustände der Protagonisten triftig und erzeugt eine ergreifende Stimmung. Zu treffen ist die Musik im On in Form von Jazz, die aus der Platte oder aus dem Rundfunk in der Sequenz 8 ertönt. Nach der Theaterpremiere, in der Sequenz 3, spielt eine Band einen DDR-Schlager, der die Menschen zum Tanzen anregt. Die Musik tritt fast immer mit Begleitung von Dialog oder Geräusche auf. Erwähnenswert ist die einzige Soloinstrumentalstück „Die Sonate vom Guten Menschen“, die Dreyman infolge Jerskas Tod in großer Trauer und Erschütterung in der Sequenz 12 auf dem Klavier spielt. Hier geht die Musik im On zur Musik im Off über. Die Rezipienten erblicken dann Wiesler, der versunken in seiner Abhörzentrale zuhört. Als die melancholischen A-Moll Töne durch Crescendo zum Forte übergehen, sieht man sein berührtes Gesicht. Nachdem die Musik ausklingt, wird ihre Bedeutung von Dreymans Worte verstärkt. Er fragt: „Kann jemand, der diese Musik gehört 69 hat, wirklich gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?“142. Wiesler mit Tränen in den Augen, zutiefst beeindruckt, durchgeht dank enorm starker Kunstauswirkung eine innere Wandlung. „Die Sonate vom guten Menschen“, die leitbildartig vorkommt, versinnbildlicht die im Realsozialismus verlorenen moralischen Werte und erinnert zugleich an Jerska Gestalt, die durch das totalitäre System zerstört wurde. Sequenz 17 wiederruft erneut das Evozieren an Jerska, da Dreyman bei Gitarre und Cello Tönen den Artikel „DDR, Der geheime Selbstmord – Statistik“ für die Westdeutsche Zeitung verfasst. Aber die Botschaft der Musik, wo der Text von Wolfgang Borchert zu hören ist, knüpft an die Botschaft der „Sonate vom Guten Menschen“. Dreyman hat Mut um sich dem System entgegenzusetzen gefunden. Christa Maria Sieland bleibt bei ihrem Freund und verzichtet auf ein Treffen mit Minister Hempf und Wiesler fälscht die Abhörprotokolle, um den Dramatiker zu beschützen. Das gespielte Lied unter dem Titel: „Stell dich mitten in den Regen“ hat eine vielbedeutende Zeile „und versuche gut zu sein“, die das Denken und Handeln der Protagonisten akzentuiert. Die Musik rahmt viele zeitraffend-dargestellte Ereignisse. Die letzte Form, die im Kontext der Analyse der Tonebene erwähnt wird, ist das filmische Stillmittel Voice Over, das die Handlungen fließend verbindet. Die Sequenz 14 zeigt, wie viel die Stimme des Erzählers zum Filmverstehen beitragen kann. Wiesler liest den Bericht von Oberfeldwebel Udo Leye, hört seine Stimme und im Kopf projiziert er die bildliche Vorstellung seiner Worte. Gleichzeitig sehen auch die Filmrezipienten, was geschah, nachdem Christa Maria Sieland das Haus verlassen hat. In Sequenz 24, als Dreyman seine Abhörprotokolle liest, wird die Stimme von Wiesler und Christa Maria Sieland eingesetzt. Dank diesem Manöver, erinnern sich auch die Zuschauer an Plot des Filmes. 3.4 Geschlossene Gesellschaft der DDR 3.4.1 Überwachungsapparat in dem totalitären System Der zeitliche Rahmen des Films umklammert die Ereignisse vom November 1984 vom Fall der Mauer bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1991. Inserts sind wichtige Orientierungspunkte, die den Zuschauern in die neuen Zeitabschnitte und Handlungsorte 142 Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 77. 70 einführen. Der erste Teil des Films endet mit dem Tod von Christa Maria Sieland. In der gleichen Sequenz wird auch der politische Kurswechsel angedeutet, wenn die Zuschauer die Zeitung vom 11. März 1985 erblicken, wo geschrieben ist, dass Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde. Demnächst beginnt vier Jahre und 7 Monate später die zweite Erzählteil. Der Film thematisiert die Handlungen des Ministeriums für Staatssicherheit und schon seit den ersten Filmsequenzen wird die furchterregende Macht des Ministeriums gezeigt, beispielsweise als Wiesler, der überkorrekte Stasi Arbeiter den Verdächtigen 227 verhört, oder als Minister Bruno Hempf sich für die rasche Überwachung von Dreyman entscheidet. Das Ministerium für Staatsicherheit war ein Organ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die die Kontrolle über der Bevölkerung ausübte. Das Ministerium war ein wichtiges Untersuchungsorgan bei politischen Verfahren, beinhaltete Geheimpolizei sowie Auslands- und Inlandsgeheimdienst. Ziel seiner Tätigkeiten war die Zersetzung der Geheimzentralen, Zerschlagen der feindlichen Agenturen und Bekämpfung der Gegner des realsozialistischen Systems. Die im Film dargestellte Hauptabteilung XX/7 des Ministeriums war eine von zehn Hauptabteilungen, die sich mit der Überwachung von Kunst und Kultur beschäftigte. Die komplette Überwachung der verdächtigen Personen konnte politisch motiviert sein, aber wie der Film zeigt, waren auch private Gründe für das Einsetzen der Prozeduren wie der OV [Operative Vorgang – M.Z.] keine Seltenheit. Der präventive Charakter der OV wurde in der Verwaltungssprache der Staatsicherheit betont und wie folgt formuliert: „Mit der zielstrebigen Entwicklung und Bearbeitung operativer Vorgänge ist vor allem vorbeugend ein Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte zu unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negativer Handlungen zu verhindern und damit ein wesentlicher Beitrag zur kontinuierlichen Durchführung der Politik der Partei- und Staatsführung zu leisten.“143 Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch die Rolle der IMs [Inoffiziellen Mitarbeiter – M.Z.]. IM waren Spitzel, die in der Regel freiwillig und konspirativ für das Ministerium für die Staatsicherheit arbeiteten. Sie lieferten die Informationen, die auf den offiziellen Wegen schwierig oder unmöglich gewonnen werden konnten. Die Zahl der IM, die im Auftrag der 143 Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 203. 71 SED gearbeitet haben und die Gesellschaft überwachten, betrug 1989 ca. 170 000.144 Man hat vermieden, die Leute zu zwingen als IM zu arbeiten, weil wenn sie erpresst wurden, haben sie nicht fleißig und vertrauenswürdig gearbeitet. Auf diese Art und Weise haben sie den passiven Widerstand geleistet. Als sie entdeckt haben, wie seelenlos ihre Tätigkeit war, haben sie ungenaue Berichte geschrieben oder spielten sie den Naiven. Natürlich existierte eine aktive Form des Widerstandes, es gab nämlich immer wieder Aussteiger. Um nicht mehr als IM zu arbeiten, konnte man direkt beim verantwortlichen Führungsoffizier eine Entpflichtung fördern. Die Konsequenzen eines Ausstiegs oder einer Kündigung waren mit allen erdenklichen Folgen sowohl im Bezug auf sich selbst oder auf eigene Angehörige verbunden. Im Film wurde Christa Maria Sieland als IM angeworben. Sie hatte die Möglichkeit das Dokument nicht zu unterschreiben, aber sie hat versucht sich selbst zu retten. Als sich später herausstellte, bereute sie diese Tat bitterlich und stürzte sich unter ein Auto. Im Film zeigen die Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen wurden, um den Artikel zu schreiben, wie das Leben unter strenger Aufsicht der Regierung aussah. Dreyman ist erstaunt, dass sein Artikel nicht unter seinem Namen veröffentlicht werden darf und dass die Stasi die Schriftbilder der Schreibmaschinen auch seiner hatte. Es gab keine Freiheit im Bezug auf die Meinungsäußerung und Publizieren. Der westliche Journalist Hessenstein, der dem Dramatiker die versteckte Schreibmaschine bringt, ist dessen bewusst und warnt Dreyman: „HESSENSTEIN: Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Ich will nicht den nächsten Artikel darüber schreiben müssen, dass niemand weiß, wo Georg Dreyman abgeblieben ist. Sie müssen sie [die Schreibmaschine – M.Z.] nach jedem Gebrauch verstecken. Keiner außer uns dreien darf es wissen, dass es diese Maschine überhaupt gibt.“145 Weiter lobt er ihn für seine Vorsicht, dass selbst Christa Maria Sieland in das Schreiben des Artikels nicht involviert ist. Da „je weniger Menschen von diesem Projekt wissen, desto besser. Mit der Stasi ist nicht zu scherzen.“ 146 In der DDR ist der Hauptdarsteller Ulrich Mühe aufgewachsen, der den Gerd Wiesler gespielt hat. Der Schauspieler brauchte nicht viel zu recherchieren, um sich in die Rolle zu versetzen. Er kannte die Realität der damaligen Zeiten. Er selbst wurde von vier IMs beobachtet und war mit dem Theater verbunden. In seinem Erzählen über die Vergangenheit sind sogar gewisse Parallelen mit dem Film sichtbar. 144 Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 211. 145 Ebd., S. 103-104. 146 Ebd., S. 103. 72 „Ich wusste aber wie alle anderen, dass es sehr viele Leute gab, die für die Staatsicherheit arbeiteten, und dass in jedem Betrieb und jeder Einrichtung ein StasiOffizier mit dabei war. Wir wussten, dass sie uns beobachteten, dass sie zuhörten, dass sie versuchten, auf Partys zu kommen. Das gehörte immer zum ganz normalen Leben. Es war auch normal, dass man das Knacken im Telefon hörte, wenn man überwacht wurde.“147 Er hat die Kraft des Systems und seine zerstörerische Macht auf eigener Haut gespürt, als er als Grenzsoldate gearbeitet hat. Mühe wurde stark indoktriniert genauso wie andere Armeeangehörige. Er musste auf die Leute, die ohne Erlaubnis die Grenze passieren wollten, schießen. Den Soldaten wurde gesagt, dass die, die Republikflucht begehen möchten, „entweder Betrunkene oder verzweifelte Leute, die ihrem Leben eigentlich gerne ein Ende setzen möchten“148 sind. Trotzdem der Schießbefehl war für ihn unerträglich. Aber die Konsequenzen, beispielsweise für Befehlsverweigerung waren mit Gefängnis und zerstörter Zukunft verbunden. Welch großen Einfluss die Stasi-Überwachung auf die Leute hatte und wie stark sie in der Gesellschaft registriert und von Einzelnen empfunden wurde, widerspiegeln die Worte von Jens Reich: „Wie ein kratzendes Unterhemd spüre ich die Sicherheit, ein stets vorhandenes Unbehagen, von dem man aber für kurze Zeit abgelenkt werden kann. Im Gedächtnis wird er als abstrakte Wesenheit gespeichert, als Wissen, nicht als lebendige Missempfindung. … Es ist wie beim Grenzzoll: Man hat immer etwas zu verbergen. Stets hat man etwas geliehen, gelesen, geschrieben, gehört, gesagt, mitgeschnitten, weitergegeben, nicht gemeldet, geduldet, befördert, begründet, missachtet, übertreten. Du bist wie ein Kind, das die Hand auf dem Rücken versteckt, wenn man es scharf ansieht. Sofort hat es Angst: Bin ich jetzt erwischt worden, will man mich bestrafen? Wofür?149 Im Westen wurde die Stasi als rote Gestapo150 bezeichnet und immer mit Terror und Geheimpolizei assoziiert. Der Angst erweckte die soziale Nähe der IMs, die Bekannte, Nachbarn, Kollege oder sogar Freunde sein konnten. Der Film wiedergibt die Atmosphäre der damaligen Zeit. 147 Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 188. 148 Ebd., S. 193. 149 Gieseke, Jens: Die Stasi und ihr IM. In: Sabrow, Martin (Hg): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009, S. 101. 150 Ebd., S. 99. 73 3.4.2 Situation der Künstler in der DDR In dem Film von Donnersmark wird die Kulturszene der 80er Jahre in der repressiven Stadt dargestellt. Das Ministerium für Staatssicherheit überwachte viele Haushalte. Besonders Außenseiter und Künstler wurden unter die Lupe genommen, die sich kritisch gegenüber dem System äußerten. Für solche systemkritischen Meinungen musste man mit dem Veröffentlichungsverbot oder dem Streichen von Auftragswerken rechnen. Die Stasi kontrollierte die Wohnungen, hatte Einfluss auf den Buchdruck, hörte die Telefongespräche ab und war sogar im Besitz der Schriftbilder der Schreibmaschinen von bestimmten Künstlern. Die Meinungsfreiheit gab es nicht und die Zensur gehörte zum Alltag. In jedem Bücherregal in der DDR konnte man die Bücher mit einer Druckgenehmigungsnummer der Hauptverwaltung, dem Verlag und dem Buchhandel finden. Die Zensur gehörte zu der Epoche der DDR. Sie war immer insbesondere mit dem künstlerischen Schaffen verbunden. Die Bücher mussten die staatliche Normenkontrollverfahren durchgehen, inklusiv den Mathematik-Büchern. Bevor sie veröffentlicht wurden, wurden sie oft mit einem Vor- oder Nachwort [von einem Zensor – M. Z.] versehen, auch die für das System unangenehme Stellen wurden umformuliert oder ganz neu geschrieben, so dass im Endeffekt ein ganz anderes Buch publiziert wurde. „Das Zensursystem der DDR war ein kompliziertes Gefecht voneinander abgeschotteter und durch verschlungene Pfade verbundener Subsysteme.“151 Es war geheimnisvoll und unberechenbar. Manchmal wurden die Bücher nicht veröffentlicht, weil der Zensor schlechte Laune hat, manchmal, wenn in der FAZ eine positive Rezension von Marcel Reich-Ranicki erschien, manchmal, weil das Buch zum falschen Verlag delegiert wurde. Die Zensur hat sich aber so an das Leben angepasst, dass sie kaum bemerkt wurde. Irgendwann wurde sie „zur alltäglichen Routine, auf verschiedene Weise erträglich gestaltet, pragmatisch gemacht und unsichtbar geworden.“ Aber ab und zu war das Handeln des Zensurapparates spürbar, indem die Buchverbote, Verhaftungen und Entlastungen in den Verlagen stattgefunden haben, insbesondere nach der Biermann-Ausbürgerung. Mit der Zeit traten die ökonomischen Faktoren in den Vordergrund, so dass die ideologischen Grundlagen nicht mehr verbindlich waren, und es wurden auch einige Abweichungen von dem linientreuen Buchdruck erlaubt. 151 Lokatis, Siegfried: Zensur. In: Sabrow, Martin (Hg): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009, S. 111. 74 Für die Abschaffung der Zensur kämpften immer wieder die Künstler, leider erfolgslos. Erst im Jahre 1987, nach dem Publizierten der Rede von Christoph Heins, wo der Mann die Zensur mit den Adjektiven wie menschenfeindlich, volksfeindlich, nutzlos, oder ungesetzlich bezeichnet hat, gelang es die Restriktionen abzubauen. Dieses Verfahren bedürfte aber spezieller Terminologie. Man hat nicht über der Abschaffung der Zensur, die es öffentlich nicht gab, gesprochen, sondern über Dezentralisation der Verantwortlichkeit und über die Erhöhung der Verantwortlichkeit der Verlage.152 Genauso wie es in der DDR keine offizielle Zensur gab, gab es auch kein offizielles Berufsverbot. Eine Kritik an der Staatsführung konnte ein tragisches Finale finden. Albert Jerska, der Freund von Dreyman hat vor sieben Jahren eine Petition gegen Wolfgang Biermann Ausbürgerung unterschrieben. Der Liedermacher Biermann erhielt 1965 für sein Gedichtband Die Drahtharfe ein Publikations- und Auftrittsverbot. Elf Jahre später wurde er ausgebürgert, was eine große Welle von Protesten seitens der bedeuteten Künstler im Rahmen der Solidaritätsbekundungen auslöste. Jerska konnte für seine Tat nicht mehr weiter als Regisseur arbeiten, was für ihn sehr schmerzhaft und demütigend war. Verzweifelt fragt er Dreyman: „Was hat ein Regisseur, der nicht inszenieren darf? Nicht mehr als ein Filmvorführer ohne Film, ein Müller ohne Mehl. Er hat gar nichts mehr. Gar nichts mehr…“153 Diese Situation zeigt, wie das System Menschen vernichtete. Jerska, erdrückt von dem Gewicht des Nichtschreibens beging schließlich Selbstmord. Die Überwachung war nicht nur technisches Verfahren, sondern umfasste auch den Bereich der Wissenschaft. In der Sequenz 16 zitiert Grubitz einen Ausschnitt aus der wissenschaftlichen Arbeit, wo die Mechanismen der psychischen Zerstörung der Menschen dargelegt werden. Es wurden fünft Typen der Künstler ausgesondert, charakterisiert und bestimmte Vorgehensweisen skizziert, die zur Zerstörung der Person führen sollten. In dieser Typologisierung wurde auch Dreyman, als Typ Nummer 3 „Hysterischer Anthropozentriker“ berücksichtigt und beschrieben wie folgt: „Der kann doch nicht alleine sein. Muss immer Reden halten, immer Freunde um sich haben. Bei so einem darf man es auf keinen Fall zum Prozess kommen lassen. Da würde der aufblühen. Nein, bei dem muss das alles in der U-Haft ablaufen, ganz ohne Öffentlichkeit. Da wird man viel schneller mit ihm fertig: völlige Einzelhaft, ohne ihm zu sagen, wie lange er noch drin sein wird; kein Kontakt zu irgendwem in der Zeit, nicht einmal zu den Wächtern. Beste Behandlung derweil natürlich. Keine 152 Ebd., S. 114. Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2006, S. 46. 153 75 Skandale. Es darf nichts geben, worüber er danach schreiben kann; keine Misshandlungen; keine Schikanen. Nach zehn Monaten lassen wir ihn frei, überraschend, und der macht uns keine Probleme mehr. Und weißt du, was das allerbeste ist: Die meisten Typ 3, die wir so bearbeitet haben, schreiben danach überhaupt nicht mehr, oder malen nicht mehr oder was auch immer so Künstler machen. Und das, ohne dass wir irgendeinen Druck ausüben, ganz von selber, sozusagen als… Geschenk!“ 154 Die Kunst wurde in dieser schrecklichen Staatsform unterdrückt und die Künstler wurden von politischen Entscheidungen abhängig. Ein gutes Beispiel ist die Schauspielerin Christa Maria Sieland, die, um weiter spielen zu dürfen, ihren Freund Dreyman betrug und sich mit dem Minister Bruno Hempf traf. Er hatte die Macht das Theaterstück nicht im Lauf zu lassen. Die Fesseln des totalitären Systems waren spürbar, und um nicht unterzugehen, musste man sich opfern. Aus dem unten stehenden Zitat resultiert, dass sowohl die Schauspielerin als auch der Dramatiker sich nicht trauten, dem System zu widersprechen. „Brauche ich dieses ganze System nicht? Und du? Du brauchst es dann ja auch nicht? Oder erst recht nicht? Aber du legst dich doch genauso mit denen ins Bett? Warum tust du es denn? Weil sie dich genau so zerstören können, trotz deines Talentes, an dem du noch nicht einmal zweifelst. Weil sie bestimmen, wer spielt, wer spielen darf und wer inszeniert. Du willst nicht enden wie Jerska. Und ich will es auch nicht! Deshalb gehe ich jetzt.“155 Als die Frau versucht hat, sich aus der Beziehung mit dem Minister zu befreien, wurde sie verhaftet und von Wiesler verhört. Sie durfte nie mehr auf der deutschen Bühne stehen. Letztendlich gesteht sie, dass Dreymans Schreibmaschine unter der Bodendiele versteckt ist und dass der Dramatiker den Artikel verfasst hat. Das zeigt wie gesteuert das Leben der Künstler war. Die Kulturszene der 80er Jahre war von der lautlosen Beseitigung der Menschen gekennzeichnet. Selbst die Kontakte mit westlichen Journalisten wurden von Freiheitsstrafen bedroht. Das Strafsystem war aber nicht für alle einheitlich. Die SED auch innerhalb der Partei operierte mit dem System der Privilegien und Sanktionen. Für gleiche Verfehlung erhielten manche eine Rüge, die andreren wurden von der Partei ausgeschlossen. Auch das Leben der Künstler in der DDR wurde von Oben bestimmt und gesteuert. Die Zersetzung der feindlich-negativen Personen gehörte zum Alltag. Unter diesem Vorsatz litten leider sehr oft 154 155 Ebd., S. 106. Ebd., S. 82. 76 unschuldige Menschen, die nicht zur Kenntnis nehmen wollten, „dass die Partei zwar den Künstler braucht, der Künstler die Partei aber noch viel mehr.“156 3.4.3 Privatheit, Erinnerungen und filmische Fiktion Im folgenden Kapitel wird untersucht, wie viel Authentizität in dem Film von Florian Henckel von Donnersmark vorhanden ist und was eine filmische Fiktion ist. Ausgegangen wird es von dem Begriff Privatheit, der in den DDR Zeiten eine besondere Rolle gespielt hat. Demnächst werden ausgewählte Filmereignisse erwähnt, wie beispielsweise die Republikflucht, Wieslers Dessidententum oder die Veröffentlichung des Artikels in Westdeutschen Zeitungen und mit geschichtlichen Fakten konfrontiert. Privatheit in der DDR ist ein wenig erforschter Themenbereich, der aber in der Zeit der strengen Lebensüberwachung dem MfS nicht entfliehen konnte. Privatsphäre wurde ständig von der Stasi kontrolliert. Eine Inschrift an der Wand im DDR-Museum in Berlin informiert wie folgt: „Wie ein Krake hatte die Stasi das Land im Griff: Ihre Tentakel reichten in alle Winkel. Die Gesellschaft war von Spitzeln durchsetzt. Sie kannte weder Post- noch Bankgeheimnis, keine Privatsphäre, keine Rechtssicherheit. Die Stasi zerstörte gezielt viele Leben, verleumdete Abweichler und sperrte sie ein.“157 Der Film „Das Leben der Anderen“ bestätigt diese Formulierung. Alle menschliche Handlungen unterlagen strenger Kontrolle, von der privaten Korrespondenz (Sequenz 16 – Wiesler wurde für seine Taten bestraft und arbeitet in der Abteilung M, wo er die Briefumschläge mit Hilfe der Kaltdampfmaschine eröffnet) bis zu den intimen Gesprächen (das Künstlerpaar wurde sogar während des Geschlechtsverkehrs überwacht, Wiesler protokolliert alle Details). Das Regime destruierte skrupellos die Gegner des Systems, indem es ausgesuchte Methoden von Verhören bis zum psychischen Terror verwendeten. Sequenz 1 zeigt, dass der Häftling 227 durch Schlafentzug gezwungen wurde, den Namen der Fluchthelfer zu verraten. Im weiteren Verlauf des Films steht Jerska für ein Beispiel der Zerstörung des Lebens. Das Eindringen der Überwachungstentakel in die Privatsphäre des Bürgers, gehörte zum Alltag. Das Ausspionieren war nicht nur auf politisch suspekte Personen gerichtet, sondern 156 Ebd., S. 33. Betts, Paul: Alltag und Privatheit. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009, S. 314. 157 77 auch auf durchschnittliche DDR Einwohner wie Hausfrauen oder Kleinbauern, die keine heimtückischen Tätigkeiten ausübten. In der Wirklichkeit wurden aber auch die Parteimitglieder überwacht, da ihr Privatleben genauso wichtig für die Partei war, als die Privatheit der Systemgegner. Die Privatsphäre hat eine enorm wichtige Rolle gespielt. Sie war ein Zufluchtsort zwischen Partei, Öffentlichkeit und anderen Bürgern, wo sich die Individualität manifestieren konnte. Ein Paradox, das in dem Begriff Privatheit innewohnt, ist seine Existenz. Für die MfS war sie eine wichtige Informationsquelle aber in der Öffentlichkeit war der Terminus nicht vorhanden, da er die Assoziationen mit Freiheit und Individualität hervorrufen konnte. Selbst Kleines Politischen Wörterbuch der DDR beinhaltete diesen Begriff nicht, was von seiner subversiven Konnotationen zeugte.158 Das Zuhause war ein Versteck, eine Ruheenklave oft mit westlichen Artefakten und ein Rückzugsort für Individualität. Ausdrucksmöglichkeiten, Wegen der Zensur und dem Mangel an konnten die Bürger nur dort ein Schein der Meinungsfreiheit haben. „Je älter die DDR wurde, desto wichtiger war die Privatsphäre, insbesondere die Wohnung, für den Menschen… Dazu gehörte auch die Aufwertung und Respektierung der Privatsphäre. Die Wohnung galt als Symbol für die vor dem Staat und der Staatspartei de facto geschützte Privatsphäre.“159 Solche Enklave war für Hauser und Wallner die Dreymans Wohnung. In der Sequenz 16 sagt Hauser über Dreymans Wohnung „Diese Wohnung ist der letzte Ort in der DDR, wo ich ungestraft sagen kann, was ich will.“160 Auch Dreyman schwörte, dass seine Wohnung sicher sauber ist und er, als DDR - Nationalpreisträger und Person, die mächtige Bekannte hat, frei von jedem Verdacht steht. „DREYMAN: Bei mir ist keine Staatssicherheit! (…) Nationalpreisträger, wenn ich erinnern darf. (…) Und persönlicher Freund von Margot Honecker. Meine Wohnung ist sauber, ich sag`s dir.“161 Seine Naivität und Leichtsinnigkeit wurde oft von seinen Freunden, die schon die Kraft der Stasi auf eigener Haut gespürt haben, kritisiert. In diesen Freiraum drang der Staat sehr oft ein, um zeitig die Widerstandsnester zu entdecken. Oft aber, die vier Wände, die eine Ruhe und Sicherheit geben sollten, waren mehr durchsichtig als vier Fenster. Das Einmischen des Staates war unter den Bürgern spürbar. Als 158 Vgl. Ebd., S. 316. Saldern, Adelheid: Häuserleben. Zur Geschichte stätischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute. Berlin 1995, S. 313, 329. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009, S. 320. 160 Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 104. 161 Ebd., S. 94. 159 78 Beispiel, das Stasi Praktiken beschreibt, kann das Zitat aus dem Buch Zersetzen. Strategie einer Diktatur dienen: „MfS-Mitarbeiter drangen zum Beispiel mit Nachschüsseln in die Wohnung eines ihrer Opfer ein, um dort Gegenstände neu zu sortieren. Einmal verhängten sie die Bilder in der Wohnung von Frau R. Beim nächsten heimlichen Einbruch verstellten sie nur die Gewürzdosen in der Küche. Ein anderes Mal tauschten sie den Lieblingstee der Frau durch eine andere Sorte aus.“162 Die Parallelen zwischen der Realität und dem Film sind auch deutlich. Während Dreymans Abwesenheit wird die Gruppe der Stasi Mitarbeiter die Wohnung zum Operativen Vorgang vorbereitet. Sie wird komplett verwanzt. Ein anderes Mal besucht der Stasi Hauptmann die Wohnung, um Bertold Brechts Lektüre zu nehmen. Obwohl es in den Honecker-Jahren zur Normalisierung und Lockerung der sozialen Machttechniken kam, im Visier des Staates stand weiterhin die Privatheit, da das ein Zufluchtsort der Bürger von der Politik und Öffentlichkeit war, der potentiell gefährlich sein konnte. Die Zeit der Bespitzelung und der Überwachung der häuslichen Sphäre waren nicht vorbei. Im Gegenteil, das Interesse des Staates für diesen Bereich blieb bis Ende der DDR auf gleich hohem Niveau, die Inoffiziellen Mitarbeiter waren weiter tätig und die Kontrolle nahm nicht ab.163 Oft wird die Frage gestellt, ob es sich um eine bloße filmische Fiktion handelt oder ob die dargestellten Ereignisse einen Wahrheitskern enthalten. Interessant ist die Wandlung der Hauptprotagonisten vom kaltblütigen Stasi Hauptmann zum guten Menschen. Für seine Taten wurde Wiesler nicht entsprechend stark bestraft. Ihm wurden zwar keine Aufgaben mit Eigenverantwortung anvertraut, er bekommt eine Pflichtversetzung in die Abteilung M, wo er Briefumschläge aufdampft, bleibt aber am Leben. Konnte das in den DDR-Zeiten passieren? Die Dienstverweigerer in der DDR wurden für solche Handlungen oft zum Tode verurteilt. Aussteiger wie Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaister und Ernst Wolber haben ihre Funktionen verloren. Später, zur Zeit von Erich Mielke, wurden die Aussteiger Major Gerd Trebeljahr und Hauptmann Werner Teske hingerichtet. MfS Minister Mielke äußerte sich im Jahr 1891 ganz klar zum Thema der Verräter: 162 Pinger-Schliemann, Sandra: Zersetzten. Strategie einer Diktatur. Berlin 2003, S. 196. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009, S. 318. 163 Vgl. Betts, Paul: Alltag und Privatheit. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009, S. 319. 79 „Wir sind nicht davor gereift, dass wir mal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzen Prozess! Weil ich Humanist bin, deshalb habe ich solche Auffassung.“164 Demnächst ergänze er seine Aussage wie folgt: „Das Ganze Geschwafel von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteile – alles Käse Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“165 Starke Repressionen waren auch für die Republikflucht vorausgesehen. In der ersten Sequenz verhört Wiesler in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen den Häftling 227. Er sollte die Namen der Helfer bei Republikflucht verraten. Diese Information versucht der Stasi Hauptmann um jeden Preis zu gewinnen. Später aber, als er die Seiten wechselt, meldet er seinen Vorgesetzten nicht, dass Hauser heimlich im Auto seines Onkels die Grenze passieren will. Beide Handlungen galten in der DDR als Straftaten gegen die staatliche Ordnung. Der Versuch des Grenzübertritts wurde mit zwei und die aktive Hilfe bei der Republikflucht mit acht Jahren Freiheitsentzug bedroht. Ein weiteres Thema, das der Film behandelt, ist die Veröffentlichung des Artikels im Spiegel. Dass es keine einfache Aufgabe war, zeigt der Film, aber auch hier ist die filmische Fiktion spürbar. Christa Maria Sieland ist zum Inoffiziellen Mitarbeiter geworden und hat eindeutig auf Dreyman gezeigt, aber der Autor des Artikels bleibt unbestraft. Obwohl er als Verdächtiger gelten konnte, wurde er überhaupt nicht einmal verhört. Der Operative Vorgang wurde mit dem Tod der Schauspielerin beendet. Wie sah wirklich die DDR-Realität bezüglich Publizieren im Westen? Zuerst soll das Datum 1. Dezember 1963 erwähnt werden, wo ein Versuch unternommen wurde die deutsch-deutschen Verhältnisse im Bezug auf Medien klar zu stellen. Das im Stern veröffentlichte Gespräch des 1. Vorsitzenden des Zentralkomitees war der Beginn des Zyklus der Artikel über die DDR in der BRD. Die Gespräche erschienen unter dem Titel Die DDR von innen. Das war eine große PR-Aktion der DDR, die erstens zum Ziel hatte die Glaubwürdigkeit und Authentizität des Staates zu bauen und zweitens ein konkretes Bild des Landes zu gestalten, wo der Staat offen war und ihren Bürgern nah stand. Die Journalisten konnten die DDR-Bürger interviewen, aber immer reisten sie mit Mitarbeitern des Presseamtes der DDR zusammen. Die Artikel waren aber nicht objektiv und haben nur oberflächlich das Thema behandelt. Die DDR war ein Land „in der die Menschen sich eingerichtet hatten und die BRD mit großer Skepsis betrachteten – kein Wort über das 164 Wilke, Manfred: Wieslers Umkehr. In: Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 201. 165 Ebd., S. 202. 80 Leiden unter der Diktatur und die Sehnsucht nach Wohlstand, die zuvor so viele davon getrieben hatte“166. Auch die Westveröffentlichung des Schriftstellers war genau geregelt und unterlag der staatlichen Kontrolle. Dreymans Artikel, der offensichtlich ein Verstoß gegen folgenden Paragraphen Landesverräterische des DDR- Strafgesetzbuches Nachrichtenübermittlungen, war: 219 97 Spionagen, 99 Ungesetzliche Verbindungsaufnahmen167 unterliegt keiner Zensur. Deshalb hat er versucht, wie auch andere Autoren das gemacht haben, den Artikel heimlich über Dritte an westdeutsche Medien zu übermitteln. Sein Text weißt gewisse Parallelen zum Spiegel – Manifest auf, der die Clique an der Spitze kritisierte und die DDR mit einem Selbstbedienungsladen verglichen hat, wo jedes bedeutende Parteimitglieder etwas für sich kostenlos nehmen darf.168 Dreyman wurde nicht für die Veröffentlichung bestraft, aber Professor Herman von Berg, Autor des Manifestes wurde folgenreich vom MfS bearbeitet, genauso wie anderen Oppositionellen wie Jürgen Fuchs oder Robert Havemann. Auch die Westlichen Journalisten wurden nach Osten gelockt und „nach monatelangen, vorwiegend nächtlichen Verhören, strenger Isolation und mehrfachem Dunkelarrest wegen angeblicher Spionage und schwerer Hetze zu mehreren Jahren Zuchthaus“169 verurteilt, wie Hans-Joachim Helwig-Wilson. 166 Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, München 2001, S. 34. Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 206. 168 Ebd. S. 208-209. 169 Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, München 2001, S. 327. 167 81 4 Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, die filmische DDR-Realität unter besonderer Berücksichtigung des Überwachungsapparates und des Alltags zu untersuchen. Es wurden die Aspekte ausgesondert, auf die bei der Filmanalyse Akzente gelegt wurden. In dem zweiten Kapitel wurden erstens methodologischer Ansatz und aktueller Forschungsstand auf dem Gebiet des Gedächtnisdiskurses präsentiert. Zweitens wurden die ästhetischen Besonderheiten des Films als eines Konservierungsmediums wie Wirklichkeitsaffinität oder Modus der Präsenz dargestellt, demnächst wurden die technische Schlüsselbegriffe präsentiert, die für filmische Analyseebenen notwendig sind. In dem letzten analytischen Teil wurde das Sequenzprotokoll angefertigt und die Charakteristik der Zentralfigur Gerd Wiesler mitsamt der Konstellation der anderen Figuren und der Protagonisten des Films Das Leben der Anderen von Florian Henckel von Donnersmark vorgenommen. Im Film wurden die gängigsten, klischeebehaftesten Bilder der DDR porträtiert, wie beispielsweise der Stereotyp der linientreuen, überkorrekten Stasi Arbeiter – Wiesler, der machttrunkene und allmächtige Minister Bruno Hempf oder der karriereorientierte Anton Grubitz. Im Weiteren wurde die Fragestellung, ob es sich im Film um eine Fiktion oder eine erlebte Geschichte handelte, beantwortet. Die Analyse hat bewiesen, dass der Film die historische Realität teilweise ignoriert, aber dem Regisseur gelang es sich dank filmästhetischer Mittel wie raffinierte Einstellungsgröße oder Kameraperspektive, Kostümierung und Darsteller ein Bild zu zeichnen, das sehr nah an die historischen Faktizitäten heranreicht. Der Film bringt den Rezipienten die Mechanismen des kommunistischen Überwachungsapparates näher. Die Abhandlung hat zeigt, dass jeder in der DDR Zeit ausspioniert werden konnte auch dann, wenn es keine Vermutung über seine politisch subversiven Tätigkeiten existierte. Die Stasi Einbrüche in der Privatsphäre waren keine Seltenheit und gehörten zum Alltag. Es wurde auch die Wahrheit von dem Leben der berühmten und talentierten Leute, insbesondere Künstler dargestellt, dessen Begabung die Partei zu eigenen Zwecken ausnützen wollte. Der Bruch mit bereits bekannten Stereotypen und Konventionen – Wiesler innere Wandlung zum mitfühlenden und entscheidungstreffenden guten Menschen – bietet eine Chance zur Revision des allgemeinen ikonisierten Stasi- und DDR-Bildes in der heutigen Erinnerungswelt. 82 5 Literatur Primärliteratur 1. Henckel von Donnersmarck, Florian: Das Leben der Anderen. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2006. Sekundärliteratur 1. Appeldorn, Werner van: Interaktive Dramaturgie. Gau-Heppenheim: Mediabook Verlag 2002. 2. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 2006. 3. Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006. 4. Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. 5. Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Verlag C.H. Beck, 2005. 6. 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Adam Produktion: Sony Pictures Releasing Darsteller: Daniel Brühl, Katrin Saß, Maria Simon, Tschulpan Chamatowa, Florian Lukas, Alexander Beyer Länge: 121 Min. The Untouchables (Deutscher Titel: The Untouchables – Die Unbestechlichen) 1987 Regie: Brian De Palma Buch: David Mahmed Kamera: Stephen H. Burum Schnitt: Gerald B. Greenberg, Bill Pankow Produktion: Paramont Pictures Darsteller: Kevin Kostner, Sean Connery, Andy Garcia, Robert De Niro, Charles Martin Smith Länge: 119 Min. Bronenossez Potjomkin (Deutscher Titel: Panzerkreuzer Potemkin) 1925 Regie: Siergij Eisenstein Buch: Nina Agadschanowa Kamera: Wladimir Popow, Eduard Tisse Schnitt: Siergij Eisenstein Produktion: UdSSR Darsteller: Aleksander Antonow, Wladimir Barski, Grigori Alexandrow, Iwan Bobrow, Michail Gomorow. Alexander Lewschin Länge: 119 Min. Schindlerʹs List (Deutscher Titel: Schindlers Liste) 1993 Regie: Steven Spilberg Idee: Thomas Keneally Buch: Stephan Zaillian Kamera: Janusz Kamiński Schnitt: Michale Kahn Produktion: Amblin Entertainment [us], Universal Pictures [us] Darsteller: Liam Neeson, Ben Kingsley, Ralp Fiennes, Caroline Godall, Jonathan Sagall Länge: 195 Min. 88 Monika Zabawa Filologia Germańska Zielona Góra, dnia 27.10.2010 UNIWERSYTET ZIELONOGÓRSKI W ZIELONEJ GÓRZE OŚWIADCZENIE Świadomy magisterska odpowiedzialności karnej oświadczam, że przedkładana praca Filmowa perspektywizacje rzeczywistości NRD-owskiej w filmie „Życie na podsłuchu” (2006) Floriana Henckela von Donnersmarka została napisana przeze mnie samodzielnie i nie była wcześniej podstawą żadnej innej urzędowej procedury związanej z nadaniem dyplomu wyższej uczelni lub tytułów zawodowych. Jednocześnie oświadczam, że w/w praca nie narusza praw autorskich w rozumieniu ustawy z dnia 4 lutego 1994 r. o prawie autorskim i prawach pokrewnych innych osób (DZ. U. tj. z roku 2000 Nr 80 poz. 904) oraz dóbr osobistych chronionych prawem cywilnym.