TB 10 Angst und Aggressionen Pflegephänomen Angst Sie ist eine der elementarsten Triebkräfte des Menschen und kann als ein unangenehmes bis unerträgliches Gefühl der physischen oder psychischen Bedrohung/Gefahr beschrieben werden. Ist ein Mensch einer Herausforderung nicht oder noch nicht gewachsen, kann Angst entstehen, deshalb ist Angst unmittelbar mit der menschlichen Existenz verbunden. Auch Entwicklungs- und Reifungsprozesse (Pubertät, Altern) werden oft von Angst begleitet. Ein gesunder Mensch überwindet seine Angst und Entwickelt sich somit fort. In bedrohlichen Situationen wirkt die Angst als Alarmsignal, das die Aufmerksamkeit schärft und Energien freisetzt. Angst kann durch zahlreiche Symptome begleitet werden: Puls und BD steigen die Atmung beschleunigt sich Engegefühl Unruhe Schwitzen Zittern Durchfall vermehrter Harndrang erweiterte Pupillen eventuell Übelkeit und Erbrechen zitternde oder bebende Stimmen Achtung: Treten Symptome isoliert auf, besteht die Gefahr, das die Angstsymptome nicht als solche erkannt werden. Bei Angst ist der Adrenalinspiegel erhöht, welche eine sinnvolle körperliche Reaktion auf den Organismus hat und ihn bei Gefahr in Alarmbereitschaft versetzen und ihn somit zu Kampf, Flucht oder wie es heute häufiger der Fall ist, zur Problemlösung befähigt. Der Grad der Aufmerksamkeit und Wachsamkeit steigt an, die Wahrnehmung wird eingeschränkt. Als Begleitmerkmale können Erregung, Unruhe, Nervosität und Anspannung so weit ansteigen, dass der betroffene Mensch unfähig ist, sein Verhalten willentlich und verstandesmäßig zu steuern. In Abhängigkeit von den Lebensbedingungen, Erfahrungen und der Persönlichkeit eines Menschen wird Angst individuell sehr unterschiedlich erlebt. Auch gesellschaftliche Bewertung spielt eine Rolle. Da das Zeigen von Angst auch als Schwäche oder Inkompetenz interpretiert wird, ist es für einige soziale Gruppen fast unmöglich, in der Öffentlichkeit Angst einzugestehen. Dies gilt für Jungen und Männer mehr als für Mädchen und Frauen, für einige bestimmte Berufsgruppen (Ärzte, PP, etc) in weitaushöherem Maß als für andere. 1 Sonja Jugl, K 2005 HT Eine vollkommen gleiche Situation kann den einen lähmen, einen anderen kann der Impuls zur Überwindung im Vordergrund stehen und ihn zu Handlungen aktivieren. Da Ängste oft als bedrohlich empfunden werden, wird ihnen oft ausgewichen oder sie werden verdrängt. Folgende Ziele stehen beim Pflegepersonal im Vordergrund: Ängste abbauen Bewältigung ermöglichen unterstützen bei Problemlösungen durch: Infosammlung über Ursache, Auslöser, Grad und Intensität der Angst und vorhandende Coping-Strategien Angst zulassen, nicht bagatellisieren, nicht verstärken Empathie zeigen, eine vertrauensvolle Pflegebeziehung aufbauen Evtl. für Sicherheit sorgen Beruhigen, trösten und ablenken Spirituelle Bedürfnisse berücksichtigen Angstlösende, entspannende Techniken vermitteln oder einsetzen: Entspannungsübungen Physikalische Maßnahmen: warmes Bad etc. Bei entsprechender Diagnose und Anordnung medikamentöse Behandlung (Psychopharmaka) bei starker Angst und Panik: Intensitätsgradsbestimmung, Patient nicht allein lassen, Überforderung vermeiden, für eine sichere Umgebung sorgen; Ruhe, Klarheit und Zuversicht vermitteln, Kontakt mit weiteren ängstlichen Patienten verhindern, um eine Eskalation zu vermeiden. Erkennen von Ängsten und Zwängen Ängste sind dann krankhaft, wenn sie vom Patient und der Umwelt als unangemessen oder gar unsinnig empfunden werden oder das Erleben eines Menschen und sein Verhalten fast ausschließlich bestimmt. Misstrauen, beim Vertreter an der Tür sicher angebracht, wird zum krankhaften Symptom, wenn der Betreffende gegenüber allen Personen seiner Umwelt Misstrauen empfindet. Patient mit Hypochondrie (eingebildetes Kranksein) befürchten ständig krank zu sein, oder in Kürze zu erkranken, ohne das dies durch vorhandene Befunde zu rechtfertigen wäre. Phobien sind Angstgefühle angesichts bestimmter Objekte oder Situationen, wobei dem Betroffenen vom Verstand der klar ist, dass diese Angst unbegründet ist. Kennzeichnend für den krankhaften Zwang ist, dass sich den Betroffenen Ideen, Vorstellungen oder Handlungsimpulse immer wieder stereotyp aufdrängen. Sie werden als quälend oder sinnlos erlebt, aber dennoch kann ihnen der Kranke nicht ausweichen. Häufig ist z.B. der Waschzwang, bei der sich der Patient alle paar Minuten die Hände wäscht, aus Angst, dass sie schmutzig sein könnten. 2 Sonja Jugl, K 2005 HT Formen der Angst Realangst: Menschen reagieren auf bedrohliche Situationen mit Angst. Angst ist hier ein Signal, der Gefahr auszuweichen und im Kampf gegen die Gefahr besonderer Energien zu mobilisieren. Realängste sind zum Beispiel Ängste vor Prüfungen. Kindliche Ängste: Kinder durchleben in ihrer Entwicklung Phasen, in denen Ängste geradezu normal sind. Der ältere Säugling fremdelt, das Kindergartenkind hat zu Beginn Trennungsängste, und fast alle Kinder durchleben eine Zeit, in der sie sich z.B. vor Dunkelheit fürchten und ein Nachtlichtchen möchten. Existenzangst: Ist eine scheinbar unmotivierte, nicht an bestimmte Situationen gebundene Angst. Angst bei psychischen Erkrankungen: häufigstes Symptom psychischer Erkrankungen und bei Angsterkrankungen das vorherrschende Phänomen. Neurobiologisch gibt es Hinweise, dass Angstgefühle durch eine Störung im serotonergen System des ZNS ausgelöst werden. Psychoanalytisch wird Angst als Folge seelischer, möglicherweise ungelöste Konflikte gedeutet. Plegephänomen: Aggression und Gewalt Die Bereitschaft zur Aggression kann als ein normaler Bestandteil der Persönlichkeit z.B. als Durchsetzungswille, verstanden werden und die Selbstachtung eines Menschen erhalten. Ein gewisses Aggressionspotential ist notwendig, um sich selbst behaupten zu können und Problemen nicht ausweichen, sondern sie aktiv anzugehen. In ihrer gestörten Form bezeichnet Aggression ein verbales oder körperliches Handeln, das auf absichtliche Verletzung oder Zerstörung gerichtet ist. Aggressives Verhalten kann gegen andere, die eigene Person oder Gegenstände gerichtet sein. Gewaltausübung ist eine extreme Form der Aggression und gesellschaftlich nicht akzeptiert. Bei der Anwendung von Gewalt werden aktive (Misshandlung) und passive (Vernachlässigung) Formen unterschieden. Die Frustrations-Aggressions-Hypothese begreift Frustrationen als Ursache von Aggressionen. Sie entstehen durch eine Ansammlung enttäuschender Situationen oder ergebnisloser Anstrengungen, sind also extern bedingt und nicht angeboren. Ob eine andauernde Frustration zu Aggressionen führt, hängt von der Wahrnehmung und Interpretation des Patienten ab. Aggressionen richten sich zunächst auf die Quelle der Frustration. Ist dies nicht möglich (z.B. aus Angst vor Bestrafung) kann sie sich schwächere Ersatzziele suchen (Kinder, Frauen). Physiologische Faktoren spielen bei der Entstehung von Aggression ebenfalls eine große Rolle. Gehirnerkrankungen in der Region des Schläfenlappens und des limbischen Systems können ein erhöhtes Aggressionspotential zur Folge haben. Erwogen werden auch der Einfluss von Hormonen und Neurotransmittern. 3 Sonja Jugl, K 2005 HT Krankheiten, die eine erhöhte Aggressionsbereitschaft verursachen können, sind z.B.: Vergiftungen Schädel-Hirnverletzungen schwere Verbrennungen Hypo-und Hyperglykämie hypertensive Krise hirnorganisches Psychosyndrom degenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson Alzheimer-Demenz Sucht Angsterkrankungen akute Schizophrener Psychose oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen Auch Medikamente kommen als Ursache in Betracht. Stress und Angst, Frustration, Wut, Ärger und Hass sind psychische Faktoren, die auslösend oder verstärkend wirken können. In größeren Gruppen können Gruppendruck und -erwartungen die emotionale Erregung fördern, die sich manchmal bei Massenveranstaltungen durch Hitze, Propaganda, laute Musik und unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol weiter steigert und in Gewaltausartungen entlädt. Selbstverletzende Verhaltensweisen können bei Menschen, die eine Risikogruppe angehören, aus einem akuten Impuls heraus entstehen, der als Abwehr von Bedrohung, als Selbsthass oder als Angst vor Ablehnung, Enttäuschung oder dem Gefühle, die Aggressionen anders nicht beherrschen zu können, entsteht. Mögliche Formen der Autoaggression reichen vom Haare ausreißen, Verbrennung der Haut oder dem "Ritzen" bis zum Zufügen innerer Verletzungen. Angst fördert Aggression und Aggression fördert Angst: Ein Teufelskreis, der in Gewalt gipfeln kann. Gewalttätige Patienten haben oft selbst Angst vor ihren aggressiven Impulsen und Suchen Hilfe. Pflege von aggressiven Patienten Aggressiven Patienten werden deutlich Grenzen gesetzt, Aggression kann nicht als normales Verhalten geduldet werden. Neben klaren Verhaltensregeln werden dem Patienten Rückzugsmöglichkeiten und Ablenkung angeboten. Im Umgang mit sehr gereizten und angespannten Patienten müssen die Teammitglieder daran denken, dass die Patienten mental eingeengt sind und ihre Umwelt nur begrenzt wahrnehmen. Beleidigungen und Bedrohungen sollten nicht persönlich genommen werden. Drohen Eskalationen werden die Mitpatienten durchs Pflegepersonal auf die Zimmer geschickt und der Stationsarzt benachrichtigt und holen sich Unterstützung: Sichtbare Übermacht verhindert oft tatsächliche Gewalt. Hat der Patient eine Waffe, wird die Polizei gerufen. Derjenige, der den besten Kontakt zum Patienten hat, versucht ihn durch Ansprache zu beruhigen. Dabei wahren alle Helfer Sicherheitsdistanz: Zum einen aus Selbstschutz, zum anderen, damit sich der Patienten nicht in die Enge getrieben führt. Auf keinen Fall konfrontiert man den Patienten zu diesem Zeitpunkt mit seinem 4 Sonja Jugl, K 2005 HT Fehlverhalten. Gelingt es nicht den Patienten durch Ansprache zu beruhigen und verweigert er seine sedierende Medikation, sind ggf. Zwangsmaßnahmen erforderlich. Das Vorgehen ist wie folgt: - Einzelbett mit Fixierungsgurten vorbereiten Auf Anordnung Medikation richten Mit mehreren Versuchen, den Patient ins vorbereitete Patzimmer zu bringen Patient nochmals ansprechen, eventuell wird er zu diesem Zeitpunkt kooperativ Bei weiterer Verweigerung Patient auf ein abgesprochenes Zeichen hin an Armen und Beinen festhalten und ins Bett legen Danach den Patient mit Gurten fixieren Erneut eine orale Medikation anbieten Falls notwendig, die Medikamente injizieren Sitzwache für die Zeit der Fixierung organisieren Nach jeder Arzneimittelgabe Puls und BD kontrollieren Vorgang dokumentieren und später im Team reflektieren Während der Fixierung darf der Patient auf keinen Fall mit Entzug von Zuwendung bestraft werden. Ist der Patient wieder zugänglich, wird das gesamte Vorgehen mit ihm besprochen. Die Rolle der Krankheit, aber auch sein Verhalten in der Krankheit, wird reflektiert. Vorsicht: Die Fixierung muss in jedem Fall gelöst werden, wenn nach der Beurteilung eines erfahrenen Arztes oder bei längerer Fixierung des Gerichts keine Eigen- oder Fremdgefährdung trotzdem besteht, liegt eine Freiheitsberaubung gem. §239 StGB vor, die mit bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Quelle: Pflege Heute 5 Sonja Jugl, K 2005 HT