MEINE BEGEGNUNG MIT PAUL HINDEMITH Cevad Memduh ALTAR (Rede anlässlich der Hindemith – Woche vom 25. – 29. April 1983 im Deutschen Kulturinstitut Ankara) Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Zuhörer! Gestatten Sie mir zuerst, dem Deutschen Kulturinstitut in Ankara meinen Dank und meine Anerkennung dafür auszusprechen, dass es die Organisation und Durchführung eines so brillanten und interessanten Programms übernommen hat. Als Abteilungsleiter für die Schönen Künste beim Nationalen Erziehungsministerium hatte ich im Jahr 1935 die Gelegenheit, im Namen des damaligen - heute verstorbenen – Erziehungsministers, Herrn Saffet Arıkan, und des Vorsitzenden des ministeriellen Aufsichtsrates, Herrn Cevat Dursunoğlu, Paul Hindemith hier in Ankara begrüßen und mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Obwohl seitdem 48 Jahre verstrichen sind, denke ich immer mit Liebe und Begeisterung an jene unvergeßlichen Tage und Begegnungen zurück. Paul Hindemith gält nicht nur als ein großer Komponist, sondern auch als ein hochangesehener Musikpädagoge. Das ein so genialer Mensch durch das außerordentliche Interesse des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk nach Ankara geholt wurde, um bei der konsequenten Durchführung der bereits im Kahr 1923 eingeleiteten Reformen auf dem musikalischen Bereich als Experte mitzuwirken, bedeutete für uns ein großes Glück. Damals waren zahlreiche Experten in die republikanische Türkei gekommen. Viele von ihnen hatten auch sehr viel Positives geleistet. Es bedeutete aber ein großes Glück, wenn der Betreffende so Vielseitiges und Bedeutendes leistete. Für unsere musikalischen Erneuerungen war es wesentlich und wichtig, das ein so hervorragender Komponist und Pädagoge wie Hindemith für diese Aufgabe in der Türkei gewonnen werden konnte. Herr Dr. Rexroth, der Leiter des Hindemith-Instituts in Frankfurt, hat in seinem gestrigen Referat in eindrucksvoller Weise die Persönlichkeit und das Wirken von Paul Hindemith geschildert. Nun möchte ich Ihnen meine Begegnung mit Paul Hindemith hier in Ankara erzählen. Cevat Dursunoğlu, der vor 1935 als Erziehungsrat bei der türkischen Botschaft in Berlin tätig war (sein wird in der großen Rede Atatürks als Dursun Beyzade Cevat Bey zitiert), erhielt eines Tages die Direktive aus Ankara, für die geplanten Musikreformen einen passenden Experten ausfindig zu machen und ihn für die Arbeit in der Türkei zu gewinnen. Herr Dursunoğlu hatte kaum eine Beziehung zur Musik, außer der, daß er gerne Musik hörte, Ich war am Pädagogischen Institut (Gazi) als Lehrer tätig und unterrichtete dort Kunst - und Musikgeschichte, ich bekleidete damals noch kein Amt im Ministerium. Nun beginnt Herr Dursunoğlu unverzüglich zu recherchieren. Herr Hamdi Arpağ ist zur damaligen Zeit Botschafter in Berlin. Als Botschafter kennt er zwar die führenden Persönlichkeiten des deutschen Staatsapparates, ist aber bei der Suche nach dem richtigen Musikexperten, der von der Türkei gefordert wird, trotzdem ratlos. Nach zahlreichen Recherchen werden Herrn Dursunoğlu verschiedene Namen empfohlen, darunter auch Erich Kleiber. In jener Zeit wirkt in Berlin ein großer Dirigent und „thront“ auf dem Höhepunkt seines glanzvollen künstlerischen Lebens: Wilhelm Furtwägler. Cevat Dursunoğlu versucht vergeblich, bei diesem vorzusprechen. Eine Möglichkeit, die Tür zum Arbeitszimmer des großen Dirigenten zu öffnen, bietet sich ihm aber nicht. Andererseits weiß Herr Dursunoğlu sehr wohl, daß er nur bei Furtwängler die nötigen Informationen erhalten kann. Er will keine falsche Entscheidung treffen und keinen ungeeigneten Fachmann nach Ankara schicken. Deshalb versucht er es hartnäckig weiter. Aber Furtwängler ist ein voll ausgelasteter Mensch und empfängt niemanden. Es ist fast ausgeschlossen, bei ihm einen Termin zu erhalten. Sämtliche Versuche schlagen fehl. Nun macht er einen letzten Versuch über seine Sekretärin, um deren Bekanntschaft er sich bemüht. Wie bekannt ist, war Cevat Dursunoğlu ein liebenswürdiger und redegewandter Bürokrat mit enormen Ausstrahlungskraft. Anscheinend hat er auf dem Erzurum-Kongress sogar Mustafa Kemal so beeindruckt, daß dieser ihn in seiner großer Rede erwähnt hat. Endlich glückt es Dursunoğlu, mit der Sekretärin zu sprechen. Aus Zeitmangel des Dirigenten will sie ihm aber keinen Termin versprechen, oder ihn möglichst hinausschieben. Aber Dursunoğlu beharrt auf einem baldigen Gespräch mit der Begründung, das der türkische Staatspräsident Kemal Atatürk auf einen Bescheid warte. Nun endlich findet das erste Gespräch mit Furtwängler in Berlin statt. Ich bezeichne das alles als die „Berliner Bemühungen“. Schon beim ersten Gespräch erfasst Furtwängler voll die Bedeutung seiner Vermittlung und bringt der Angelegenheit großes Interesse entgegen. Herrn Dursunoğlu sagt er, er sei bereit zu helfen, brauche jedoch ein paar Tage Zeit. Kurz darauf schlägt er als seinen einzigen Kandidaten Paul Hindemith vor. Welch vortreffliche Einsicht! Furtwängler hatte bei seiner Wahl sicher auch die pädagogischen Fähigkeiten Hindemiths mitberücksichtigt. Sonst hätte er eine ganze Reihe von namhaften Musikern vorschlagen können, die er alle gut kannte. Warum wohl Paul Hindemith? Weil wir nicht nur einen Komponisten, sondern auch einen erfahrenen Musikpädagogen und Lehrer brauchten. Nun wird unser Wunsch erfüllt, und Hindemith ist bereit in die Türkei zu kommen. Um diese Zeit wird Cevat Dursunoğlu nach Ankara zurückberufen und wird dort zum Präsidenten des Schulaufsichtsrates beim Erziehungsministerim ernannt. Im Erdgeschoß des damaligen, später ausgebrannten, Ministeriumsgebäudes bezieht er ein dunkles Arbeitszimmer, das wir „Tiefbrunnen“ nannten, und beginnt dort seine neue Tätigkeit. Im Jahr 1935 wechsle auch ich vom Pädagogischen Institut (Gazi) zum Ministerium über und erhalte dort provisorisch die Leitung einer Abteilung, die man dann „Abteilung für Schöne Künste“ nennt. Natürlich ist zunächst alles provisorisch und stützt sich noch nicht auf einen gesetzlichen Rahmen. Die Verwaltungsakte sollen später durch neue Gesetze legalisiert werden. Aber die mir zugeteilten Aufgabenbereiche entsprechen durchaus meinen beruflichen Qualifikationen, denn ich habe in Leipzig studiert und dann die Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie der Universität Ankara absolviert. Ich spreche Deutsch und Französisch. Ich kenne Hindemith und sein Werk sehr gut und nehme die Nachricht, er würde nach Ankara kommen, mit großer Begeisterung auf. Nun war der Zeitpunkt gekommen, wo die von Atatürk mit Nachdruck geforderten Reformen in den Schöne Künsten, besonders im musikalischen, besonders im musikalischen Bereich, allmählich Gestalt annehmen sollten. Außer Hindemith stand auch die Anstellung des weltbekannten Berliner Architekten Pölzig für den vakanten Lehrstuhl für Architektur an der Istanbuler Akademie der Schönen Künste unmittelbar bevor. Hans Pölzig hatte schon während des ersten Weltkrieges die Pläne für ein deutsch-türkisches Freundschafts-heim in Istanbul entworfen. Bei der Grundsteinlegung zu diesem Haus im Jahr 1915 in Çemberlitaş war auch ich als 13-jähriger anwesend. Im April 1935 erwarteten wir Hindemith und Pölzig in Ankara. Ich begab mich zum Hauptbahnhof, um eben diese beiden Deutschen abzuholen. Aus dem Schlafwagen stiegen aber drei Personen, die sich anscheinend gut kannten. Der dritte war der bekannte österreichische Architekt Holzmeister. Er war nach Ankara gekommen, um die drei Baustellen, wo Gebäude nach seinen Plänen entstehen sollten, zu besichtigen. Es waren das Regierungsviertel, das Parlamentsgebäude und das Gebäude der Zentralbank. Ich stellte mich ihnen vor, überreichte Blumen und hieß sie im Namen des Ministers herzlich willkommen und brachte unsere beiden Gäste zum Ankara Palas Hotel. Für beide hatte ich für den Nachmittag ein Treffen mit dem Minister und Herrn Dursunoğlu organisiert. Hindemith zog sich auf sein Zimmer zurück. Pölzig bat mich, ihn zum Baugelände der Zentralbank zu bringen. Ich willigte ein und brachte ihn zur Baustelle. Die Energie dieses hervorragenden Menschen habe ich bewundert. Nach einigen Tagen kehrte er nach Berlin zurück, wo er in der türkischen Botschaft den Arbeitsvertrag formell unterzeichnen sollte. Leider kam es aber nicht mehr dazu, da er kurz nach seiner Ankunft in Berlin verstarb. Sie können sich vorstellen, wie traurig wir alle waren. Am Nachmittag holte ich Hindemith ab. Wir gingen ins Ministerium. Zuerst machte er einen Besuch beim Minister Saffet Arıkan. Herr Arıkan sprach sehr gut Deutsch. Hindemith hatte seinen Arbeitsvertrag bei dem Botschafter, Herrn Hamdi Arpağ, unterzeichnet. Im Ministerium wurden eine Reihe von Arbeitsgesprächen mit Hindemith geführt, und er blieb bis Mitte Mai in Ankara. Seine verehrte Gattin, Frau Gertrud Hindemith, war in Berlin geblieben. Mit ihr hatten wir ja zuerst ständig korrespondiert. Hindemith ging gleich an die Arbeit und lernte die Situation kennen. In kurzer Zeit überreichte er dem Ministerium vier Berichte. Die Übersetzungen dieser Berichte habe ich übernommen. Das freute ihn sehr. Er schenkte mir eine Fotographie mit einer persönlichen Widmung, womit er mir eine große Freude bereitete. Die Widmung lautet: „Der von Stolz geblaehte Musikschriftsteller seinem getreuen Übersetzer Cevat. Paul Hindemith Ankara, April 1935“ In seinem ersten Bericht ging Hindemith auf die Gründungsbedingungen eines Staatskonservatoriums in Ankara ein. Im zweiten Bericht unterbreitete er Vorschläge zur Erneuerung des symphonischen Orchesters des Staatspräsidenten. Der dritte Bericht handelte vom Ankauf von neuen Orchesterinstrumenten. Und im vierten Bericht entwickelte er Gedanken zur Verbreitung der musikalischen Erneuerungsbemühungen über das ganze Land und machte hierzu Vorschläge. Die Originale dieser vier Berichte müssten im Archiv des Erziehungsministeriums liegen. Ich persönlich bewahre 36 teils handgeschriebene, teils getippte Privatbriefe von Hindemith in meinem eigenen Archiv auf. Die meisten dieser Briefe sind an Herrn Dursunoğlu gerichtet, ein Teil en mich selbst. Darunter ist auch das Original seines Arbeitsvertrages, der auch vom Berliner Boschafter, Herrn Hamdi Arpağ, unterzeichnet ist. Der verehrte Herr Dursunoğlu hatte mir kurz vor seinem Tod dieses Dokument mit den in seinem Besitz befindlichen Hindemith-Briefen übergeben. Bei den im Foyer ausgestellten Briefen können Sie auch dieses Original sehen. In diesem Vertrag wird Hindemiths Tätigkeit in Ankara Punkt für Punkt aufgezählt. Aus den Tagen, die wir zusammen mit Hindemith in Ankara verbrachten, ist mir eine Erinnerung besonders im Gedächtnis haften geblieben: Wir hatten gehört, daß Hindemith eine Vorliebe für Zoologische Gärten habe. Einmal, als auch seine Gattin mit ihm in der Türkei weilte, fragte er mich, ob Ankara einen Zoo hätte. „Ein Zoo ist erst im Entstehen“, antwortete ich. Worauf er ersiderte: „Also gehen wir hin und sehen ihn uns mal an“. Necdet Pençe, der mit der Gründung des Tiergartens für Ankara beauftragt: worden war, war ein guter Freund von mir und lehrte am Gazi Institut. Ich rief ihn also an. Necdet Pençe sagte mir am Telefon, daß es im neuen Zoo noch nicht viel zu sehen gäbe, außer fünf Löwen verschiedenen Alters, die man erst vor kurzem erworben habe und die in einem provisorischen Eisengitterkäfig untergebracht seien. Am nächsten Tag fuhren wir mit unseren Frauen zusammen zum Atatürk Orman Çiftliği (Atatürk Mustergut). Neben dem Verwaltungsgebäude, an einer stillen Ecke, hatte man mit Eisengittern einen großen Käfig errichtet. Darin war eine Löwenfamilie, bestehend aus fünf Tieren, untergebracht. Der Anblick dieser Tiere bereitete Hindemith große Freude. „Ach, wie schön, wie niedlich“, rief er aus. In diesem Augenblick sah ich zu meinem Schrecken, wie ein kleines Tier durchs Gitter herausschlüpfte, ohne daß jemand es bemerkte. Das Tier lief zu Hindemith hin und streichelte mit seinem Kopf seine Beine. Ich, Hindemith, wir alle wurden blass vor lauter Aufregung und Schreck. Schnell eilten Arbeiter herbei und brachten das Tier wirder weg. Es war zwar ein Löwenbaby, aber doch nicht so klein. War es nicht bedeutsam, daß es, kaum aus dem Käfig entwichen, schnurgerade auf Hindemith zugelaufen war? Wissen Sie, warum ich so erschrocken war? Unsere deutschen Freunde würden uns sagen: „Wir schicken Euch unseren großen Komponisten, und Ihr lasst ihn von Löwen fressen“. Glauben Sie mir deshalb, bitte, daß dieses Erlebnis mit als eine der bedeutendsten Erinnerungen unserer ersten Begegnung im Gedächtnis haften geblieben ist. Lassen Sie mich jetzt zu den zweibeinigen Löwen kommen, die in jenen Tagen in Ankara Hindemith herauszufordern wagten. Gegen seine Einladung nach Ankara argumentierten sie etwa so: Warum einen Musiker aus Deutschland in die Türkei holen? Reichen unsere eigenen Musiker nicht aus? Wenn unbedingt ein ausländischer Musiker, warum nicht aus Frankreich, Österreich oder auch aus Ungarn? Sie kennen die türkische Redewendung, wonach im tiefen herzen von jedermann ein Löwe schlummert. Und jeder wollte seinen Löwen en die Arbeit schicken. Ich glaube aber fest daran, daß wir keinen Fehler begangen haben, als wir bestimmten, wo wir unseren Löwen, den wir brauchten, herzuholen hätten. Die im Laufe der Zeit erzielten Erfolge sprechen für sich selbst. Gleich zu Anfang stürzte sich Hindemith in seine Arbeit. Er besuchte Schulen und hospitierte Musikstunden. Gleich danach beschäftigte er sich mit Volksliedmelodien. Den bis zu unserer Zeit erhaltenen klassischen Werken der traditionalen türkischen Musik mit modalem und einstimmigem Aufbau begegnete er voller Respekt. Man merkte ihm an, daß er diesbezüglich in Quellen nachgeschlagen hatte, bevor er in die Türkei kam. Er war überzeugt davon, daß jede Erneuerung auf den tief verwurzelten Traditionen basieren und von ihnen getragen werden müsse. Er hatte auch in Deutschland an solchen Bestrebungen mitgearbeitet und solche interessanten Bewegungen gefördert. Mit Hindemith war man übereingekommen, zuerst bei der Volkmusik anzusetzen. Wir hatten ja ein Volkliederarchiv, besser gesagt, wir waren gerade dabei, ein solches Archiv aufzubauen. Manche von den gesammelten Volksliedern untersuchte Hindemith seht gründlich. Unter diesen Volksliedern waren auch solche wie „Akkoyun“, die als älteste Beispiele anatolischer Folklore galten. Er hatte auch selber versucht, die oben erwähnte Volksliedmelodie mehrstimmig zu setzen, war aber mit dem Ergebnis nicht ganz zurfieden. Daraufhin beschloss er, sich diese Melodien öfters anzuhören und sich die mehrstimmigen Bearbeitungen türkischer Komponisten genau anzusehen und zu analysieren. Er hielt sich hieran und empfahl uns, über mehrstimmige Volksliedbearbeitungen zu einer zeitgenössischen nationalen Kunstmusik zu finden. Um uns dies anschaulicher zu machen, nannte er uns Beispiele aus anderen Ländern. Wir stellten ihm die beiden Chöre für klassischtürkische Musik und für Volksmusik beim Ankaraner Rundfunk vor, was ihn sehr freute. Dann kehrte Hindemith wieder nach Deutschland zurück und begann mit seiner Suche nach Fachleuten, die wir brauchten. Das dauerte einige Monate. Dann kam der langjährige Generalmusikdirektor der Stadt Weimar, Dr. Ernst Praetorius, nach Ankara, um an erster Stelle die Reorganisation des Symphonieorchesters des Staatspräsidenten durchzuführen, es zu leiten und am staatlichen Konservatorium zu unterrichten. Dr. Praetorius lebte und wirkte erfolgreich über 15 Jahre in Ankara. Diesem hervorragenden Künstler, der hier verstarb und hier begraben wurde, verdanken wir viel. Geistig und materiell erneuerte er das Orchester vollständig, das bis dahin bleichzeitig so etwas wie eine Orchesterschule gewesen war. Um den eigenen Bedarf zu decken, rekrutierte das Orchester junge Musiker und bildete sie zu Orchestermusikern aus. Von nun aber wurde das neugegründete Konservatorium die Hauptquelle für das Orchester. Durch die hier voll ausgebildeten Instrumentalisten erreichte es ein höheres Niveau und wurde somit zu einer bedeutenden Künstlerischen Institution. Hindemith gab sein erstes Konzert eben mit diesem traditionsreichen Orchester. Bevor er das Orchester dirigierte, wollte er eine kurze Ansprache halten. Er bat mich um Papier und Stift und machte sich Notizen für seine Rede. Die Fotokopie dieses Blattes können Sie ebenfalls draußen im Foyer unter den ausgestellten Briefen finden. In seiner Rede schilderte er uns die Möglichkeiten, die man auch mit einem einzigen Orchester haben könnte. Dann nahm er den Taktstock in die Hand und dirigierte das Orchester mit dem ihm eigenen gefühlsam-zarten Stil. Eigentlich hatte er vor, zwei Konzerte zu geben. Aus Zeitmangel käm es jedoch nicht mehr zum zweiten Konzert. Dr. Ernst Praetorius, kaum in Ankara angekommen, stürzte sich eifrig in seine Arbeit. In kurzer Zeit lernte er Türkisch. Seine verehrte Gattin ist im letzten Jahr hier in Ankara verstorben und ruht jetzt im Cebeci-Friedhof neben ihrem Mann. Für das Staatskonservatorium Ankara, das nach den Vorschlägen von Hindemith gegründet worden war, konnte in kurzer Zeit ein in- und ausländisches Lehrerkollegium gewonnen werden. Diesen Kollegium gehörten etwa 20 ausländische und 15 türkische Fachlehrer an. Eine Auswahl, die unter den Schülern des alten Musiklehrerseminars getroffen wurde, bildete die erste Schülerschaft des neu gegründeten Konservatoriums, dessen Gründungsgesetz erst 1940 verabschiedet werden konnte. Durch Hindemiths Vermittlung kam auch ein anderer großer Künstler, der namhafte Theater- und Opernintendant Carl Ebert, nach Ankara. Ebert leitete zuletzt in Buenos Aires eine deutsche Oper, die im Teatro Colon unter dem Namen „Deutsche Operntemporada“ spielte. Außerdem hatte er die künstlerische Leitung der Mozart-Festspiele in Glyndebourne (England) und des „Maggio Musicale“ in Florenz inne. Nach Hindemiths Vermittlung korrespondierten wir mit Ebert und konnten ihn auch für Ankara gewinnen. Nach Ankara kam er direkt aus Buenos Aires. Auch die anderen Experten, die von Hindemith ausgesucht und vorgeschlagen wagen, trafen in Ankara ein. Unter ihnen war der neue Konzertmeister des Symphonieorchesters, Herr Winkler. Auch Eduard Zuckmayer, ein hervorragender Musikpädagoge, gehörte zu diesem Experten-Team. Zuckmayer blieb dann Zeit seines Lebens in der Türkei und bildete zahlreiche hochqualifizierte Musiklehrer aus. Ich glaube, sein Bruder, der bekannte Schriftsteller Zuckmayer, ist noch am Leben. Unter den deutschen Experten ist auch Lohmann, der große Gesangpädagoge, besonders zu erwähnen. Auch ihm haben wir viel zu verdanken. Soweit ich mich erinnern kann, waren auch Friedel Böhm, Kuchenbuch, Braun, Hans Erwin Hey u.a. im ersten Lehrerkollegium des Konservatoriums. H.E. Hey war der Sohn des berühmten Wagner-Interpreten Hey. Er hatte mit dem Titel „Der kleine Hey“ eine Gesangsschule publiziert, die in der deutschen Stimmerziehung eine wichtige Rolle gespielt hat, aber auch weltweit bekannt wurde. Wie es auch Hindemith in einem Brief erwähnt, wurde uns dieser Hey auch von Furtwängler, Pfitzner und von anderen Persönlichkeiten warm empfohlen. Auch eine berühmte Sängerin spanischer Abstammung, Elvira Hidalgo, gehörte zu den hervorragenden Lehrern der Gesang- und Opernabteilung. Nun einiges über türkische Fachleute: Da sind unsere namhafte Pianistin Ferhunde Erkin, die ihre pianistische Fachausbildung am Leipziger Landeskonservatorium erhalten hatte, und ihr Bruder Necdet Remzi Atak, der sein Violinstudium auch in Leipzig abschloss. Dann der erste türkische Opernsänger Nurullah Şevket Taşkıran, der Bass-Bariton Nummer 1 der nationaltürkischen Oper, der am Sternsches Konservatorium in Berlin studiert und anschließend lange Zeit in Italien seine Gesangskunst vervollkommnet hatte. Da ist unser kürzlich verstorbener Pianist Mithat Fenmen, der in Paris studiert hatte, Necil Kâzım Akses, der in Prag und Wien Komposition gelernt hatte. Noch zwei bekannte Komponisten, beide in Paris ausgebildet: Ahmet Adnan Saygun und Ulvi Cemal Erkin. Dann zwei namhafte Musikologen: Mahmut Ragıp Gazimihal und Halil Bedi Yönetken. Und schließlich ich selbst, Cevad Memduh Altar, der in Leipzig studiert hatte und neben seiner ministerialen Tätigkeit auch am Konservatorium Kunst- und Musikgeschichte lehrte. Es gab noch einen bekannten Komponisten, Ferit Alnar, der zusammen mit Necil Kâzım Akses in Wien bei Joseph Marx Komposition studiert hatte. Ihn haben wir leider vor einigen Jahren verloren. Außer diesen oben namentlich erwähnten türkischen Musikern gibt es heute eine Reihe von türkischen Komponisten und Instrumentalisten, die am Konservatorium tätig sind. Sie alle haben in Paris oder in München studiert. Viele von den erwähnten Namen wie Necdet Remzi Atak, Nurullah Şevket Taşkıran, Mithat Fenmen, Mahmut Ragıp Gazimihal, Halik Bedi Yönetken sind leider nicht mehr am Leben. Sie sehen aber, daß wir Aus- bzw. Fortbildung vieler erfolgreicher Lehrer und Musiker der türkisch-deutschen kulturellen Zusammenarbeit zu verdanken haben. Schließlich noch einige Worte über einen Hindemith-Freund und Mitarbeiter, über den Gründer des Amar-Streichquartetts, den Violinisten Lico Amar: Der verstorbene Violinist Lico Amar war auch einer der von Hindemith empfohlenen ausländischen Musikexperten. Während seiner Lehrtätigkeit in der Türkei hat auch dieser namhafte Künstler und Pädagoge zahlreiche begabte Violinisten herangebildet. Wir sind auch ihm zu Dank verpflichtet. Jetzt möchte ich Ihnen ein interessantes Ereignis schildern, das sich in meiner Gegenwart zwischen Hindemith und Carl Ebert abspielte: Carl Ebert blieb von 1936-1945, also neun Jahre, in Ankara und wirkte bei der Gründung sowohl des Konservatoriums als auch des Staatstheaters und der Staatsoper mit. Als er 1945 „Carmen“ einstudierte, wurde sein Vertrag nicht mehr verlängert und seine Kompetenzen wurden einem anderen Regisseur namens Renato Mordo übertragen. Über diese Entwicklung waren wir alle unglücklich. Ich war damals schon lange nicht mehr beim Erziehungsministerium tätig, sondern hatte beim Generaldirektorium für Information und Presse die Leitung der neugegründeten Abteilung für Rundfunkwesen übernommen (1943). Carl Ebert verließ die Türkei und wurde gleich wieder mit der künstlerischen Leitung der Mozart-Festspiele in Glyndebourne beauftragt. İm Jahre 1945 war ich wieder beim Erziehungsministerium tätig, diesmal als Generaldirektor der Schönen Künste. In den vorangegangenen vier Jahren stand ich als Generaldirektor dem Ankaraner Staatstheater und der Staatsoper vor. In all den Jahren hatte ich die negativen Folgen der Abwesenheit von Carl Ebert bitter erfahren. Auf eigene Verantwortung habe ich ihn zweimal nach Ankara eingeladen. Er schlug meine Bitte nicht ab und kam 1952 und 1958 zu kurzen Aufenthalten nach Ankara. Er hat hier wieder Werke inszeniert und auch einen Bericht über den Stand und die Weiterentwicklung der von ihm gegründeten Staatsoper und des Staatstheaters Ankara verfasst. Aber eine Daueraufgabe wollte er hier nicht mehr übernahmen, er hatte in Europa und Amerika bereits wichtige Verpflichtungen. Hindemith und Carl Ebert, der uns ja von diesem selbst empfohlen worden war, haben zuerst, d.h. in den Jahren 1937/38, sehr harmonisch zusammengearbeitet. Aber als das Werk, bis zu dessen Gründung beide intensiv mitgewirkt hatten, nämlich das Konservatorium, zu gedeihen begann, wurden Kompetenzstreitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden sichtbar. Carl Ebert meinte, die Oper wäre allein sein Fachgebiet. Dagegen beanspruchte Hindemith die volle Verantwortung auch für die Oper, da ja Oper an erster Stelle Musik sei. Diese Streitigkeiten häuften sich mit der Zeit so sehr, daß sich die beiden Herren nicht mehr vertragen konnten. Sie können sich vorstellen, wie traurig wir alle darüber waren. Eines Tages beschwor mich Cevat Dursunoğlu, alles zu tun, um ein gutes Arbeitsklima zwischen den beiden Experten wiederherzustellen, bevor unser Minister Saffet Arıkan von diesen Streitigkeiten etwas gehört habe. Ich ging daher zu Hindemith und sagte ihm: „Sie sind ein großer Meister. Sie haben uns Carl Ebert vorgeschlagen als einen tüchtigen Experten in seinem eigenen Fach. Außerdem sind Sie beide gut befreundet. Ich bitte Sie also, kommen Sie, wir wollen einen Friedensvertrag erarbeiten, der die Kompetenzen klar voneinander trennt.“ Die Punkte, über die wir Einigung erzielen, wollen wir aufs Papier bringen, damit in Zukunft wieder Arbeitsfriede herrscht. Beide waren mit diesem Vorschlag einverstanden. Wir gingen in Dursunoğlu’s Arbeitszimmer im Erdgeschoß, das wir auch „Keller“ nannten, und setzten uns in diesem dunklen Zimmer an den Verhandlungstisch. Wir verhandelten bis tief in die Nacht. Hindemith und Ebert diskutierten und stritten lange. Aber zum Schluss kam die Einigung. Ich tippte sie Punkt für Punkt auf der Schreibmaschine. Diesen sog. „Kellervertrag“ können Sie auch draußen unter den Hindemithbriefen sehen. Zum Schluss waren beide froh über die mühsam ausgehandelte Einigung. Ich meinerseits war glücklich darüber, daß sich diese sechsstündige harte Arbeit gelohnt hatte, und daß diese zwei großen Manschen sich wieder finden konnten. Nach dieser Episode gehe ich weiter zurück, und zwar in die Jahre vor der Gründung des Konservatoriums. Unser großer Wegweiser Atatürk war persönlich an den Vorarbeiten, die auf die Gründung eines Staatskonservatoriums in Ankara hinzielten, sehr interessiert. Schon im Jahr 1934 wurde durch seine Direktive in Ankara ein Musikfachkongress zusammengerufen. Der damalige Erziehungsminister, Abidin Özmen, hatte die Leitung dieses Kongresses übernommen. Wir alle waren dazu eingeladen. Auf diesem Fachkongress sollten die Fragen der Kunstbereiche Musik, Oper, Theater und Ballett erörtert, und die Gründung einer neuen Ausbildungsanstalt für diese Kunstfächer diskutiert werden. Die Intentionen und Vorschläge des Kongresses sollten in einem Abschlussbericht zusammengefasst und dem Erziehungsministerium zugeleitet werden. Für den verehrten Minister – obwohl er voll guten Willens war – waren all diese Fragen so fremd, daß die langen Diskussionen ihn sichtlich ermüdeten. Hinzu kam, daß sein Sekretär immer wieder in den Saal kam, ihm etwas ins Ohr flüsterte und wieder wegging. Dies machte den Minister noch ungeduldiger. Wir erfuhren erst später, was dieses Kommen und Gehen bedeutete. In seinem Amtsitz soll Atatürk ungeduldig auf das Ergebnis dieses Kongresses gewartet haben. Er hatte öfters das Ministerium angerufen und den Minister fragen lassen: „Sind Sie noch nicht fertig?“ Deshalb die Eile und Ungeduld des Ministers. Im Endbericht gingen wir aber auf alle Fragen und Vorschläge ein, die bei der bevorstehenden Gründung eines Staatskonservatoriums zu berücksichtigen waren. Die Vorschläge dieses Berichtes wurden ein Jahr später in Angriff genommen, und so wurde der Weg vorbereitet, an dessen Ende die Einladung Paul Hindemiths nach Ankara stand. Die Gründung eines Staatskonservatoriums in Ankara und die Anstellung von ausländischen Experten wurde schnell vorangetrieben. Der Endbericht des erwähnten Kongresses war von sechs Fachleuten, darunter auch von mir, unterzeichnet worden. Atatürk hatte schon früher vorsorglich ein „Gesetz zur Gründung einer Akademie für Musik und darstellende Kunst“ durchs Parlament verabschieden lassen. Dieses Gesetz ließ er jedoch nicht in Kraft treten, denn es wurde von einem einzelnen Experten unbefriedigend zur Seite gelegt. Deshalb hatte er das. Zusammenkommen eines Kongresses in Ankara initiiert. Und ein Jahr später, 1935, wurde, wie wir oben erwähnt haben, mit den begabtesten Schülern des alten Musiklehrerseminars in demselben Gebäude der Unterrichtsbetrieb des neuen Staatskonservatoriums aufgenommen. Erst 1940 erhielt die Neugründung durch intensive Bemühungen des derzeitigen Erziehungsministers, Hasan Ali Yücel, einen gesetzlichen Rahmen. Wir hatten den großen Vorteil, in den dazwischenliegenden fünf Jahren wertvolle Erfahrungen zu sammeln, die dann in das Gründungsgesetz einfließen konnten. Und gerade das war der Wunsch Atatürks. Welchen Änderungen wäre das Gesetz ausgesetzt, wenn wir aus den Erfahrungen der ersten Jahre nichts gelernt hätten, und dies bei der Formulierung des Gesetzes nicht hätten einbringen können. Heute, nach 43 Jahren, bildet dises Gesetz, abgesehen von wenigen Lücken, immer noch eine brauchbare Frundlage für die Weiterentwicklung dieser Bildungsanstalt. Das Musiklehrerseminar wurde wenig später als eine eigenständige Abteilung dem Pädagogischen Institut (Gazi) angegliedert. Das Konservatorium etablierte sich dagegen im alten Gebäude des Musiklehrerseminars. Und wie ich jetzt erfreulicherweise erfahre, steht der Umzug in einen modernen Neubau unmittelbar bevor. Schon 1937 hatte Hindemith in einem Brief laut geschrieben: „Ein neues Schulgebäude! Ein neues Schulgebäude! Ein neues Schulgebäude!“ Der von Hindemith schon damals als dringend nötig empfundene Bedarf an geeigneten Räumlichkeiten für eine künstlerische Lehranstalt wird nun erst mit 46-jähriger Verspätung gedeckt! Paul Hindemith war ein außerordentlich lebhafter und arbeitsfreudiger Mensch. Vielleicht haben wir seine Energie nicht erschöpfend genutzt, aber wir versuchten unser Bestes. Das Jahr 1938 war für uns Türken das größte Trauerjahr. Unser Republik-Gründer und Beschützer des Ankaraner Staatskonservatoriums, der große Wegweiser Atatürk, hatte uns für immer verlassen. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst, insbesondere der Musik, hatte er in der Türkei das Unmögliche möglich gemacht. Aber leider konnte er nicht einmal die Aufführung einer kleinen Oper miterleben, so sehr er es wollte. Denn die erste Opernaufführung, nämlich die Inszenierung des Singspiels „Bastien und Bastienne“, eines Jugendwerkes von Mozart, fand ein Jahr nach dem Tode Atatürks im Rahmen eines PresseKongresses in Ankara in türkischer Sprache statt. Bei dieser türkischen Erstaufführung wirkten die Schüler, der Opernabteilung des Konservatoriums erfolgreich mit. So wurde dieses Singspiel zum ersten ausländischen Werk des nationalen Opern-Repertoires. Die Aufführung wurde zum größten Ereignis dieses Presse-Kongresses, und Viele Zeitungen berichteten sehr positiv darüber. Die Lobenden Kommentare der namhaften Journalisten wie Halit Fahri Ozansoy, Falih Rıfkı Atay, Aka Gündüz, Nahit Sırrı Örik, Mümtaz Faik Fenik u.a. beflügelten die Opern-Schüler zu neuen Leistungen. Die zweite Inszenierung der selben Oper erfolgte dann nach zwei Jahren, nämlich im Jahre 1941, wieder in Ankara. Noch eine wichtige Erinnerung! Eines Tages waren wir, der Erziehungsminister Saffet Arıkan, Carl Ebert und ich, im Arbeitszimmer des Konservatoriumsdirektors versammelt. Der Minister stellte Carl Ebert die Frage: „Unser Staatspräsident möchte gerne wissen, wann wir in der Türkei eine Oper in türkischer Sprache und mit türkischen Künstlern aufführen können“. Ohne zu zögern antwortete Ebert: „Erst in fünf Jahren“. Tatsächlich, nach fünf Jahren hatten wir die MozartOper in türkischer Sprache aufgeführt. Ebert hatte Recht behalten. Bei der Übertragung des Librettos ins Türkische hatten vier Fachleute, darunter auch ich, zusammengearbeitet. Ich hatte den Operntext aus dem Deutschen ins Türkische übersetzt. Die beiden Komponisten Necil Kâzım Akses hatten die phrasodische Bearbeitung des türkischen Textes übernommen. Schließlich versuchte der Literat Celal Emre, die letzte Poesie in den Text hineinzubekommen. Später hat gas gleiche Team auch je einen Akt der Opern „Butterfly“ und „Tosca“ ins Türkische übertragen. Sie wurden ebenfalls in türkischer Sprache aufgeführt. Atatürk jedoch konnte keinen dieser ersten Versuche miterleben. Mit Hindemith hatte ich noch andere zahlreiche Erlebnisse: Als der groß Komponist zum ersten Mal in Ankara weilte, wollte er die Umgebung kennenlernen. Als Überraschung für ihn hatten wir ein traditionales Picknick veranstalten und ein Lamm am Spieß grillen wollen. Hindemith erkundigte sich nach dem „Lamm am Spieß“, und ich erklärte es ihm ausführlich. „Gibt es so was?“, fragte er ein wenig misstrauisch. An einem wunderschönen Frühlingsmorgen suchten wir uns in der nächsten Umgebung einen Bach und eine herrliche grüne Wiese aus. Teppiche wurden ausgebreitet, Köche waren bereits da, machten ein großes Feuer und grillten ein Lamm am Spieß. Hindemith war zunächst ein wenig verwundert. Aber der herrliche Duft des gegrillten Lammes hatte anscheinend seinen Appetit so angeregt, daß er munter unf fröhlich wurde und mit großem Appetit vom Lamm aß. Gleich dort am Bach, an einen Baum gelehnt, begann er an einem seiner Berichte zu schreiben. Ein Foto zeigt Hindemith in dieser munteren Stimmung. Im Jahr 1936 wurde in Berlin die Olympiade veranstaltet. Ich wurde als Vertreter meines Ministeriums offiziell nach Berlin eingeladen. Im Rahmen dieses Besuches waren auch Gespräche mit den Spitzenfunktionären des Olympischen Komitees vorgesehen. Auch der Komponist Necil Kâzım Akses war mit mir in Berlin. Hindemith hatte uns wiederholt gesagt, wir sollten ihn in Berlinunbedingt aufsuchen. Also riefen wir ihn an. Er lud uns für den gleichen Abend zu einer „Kalten Ente“ zu sich ein. Am Abend begaben wir uns zu Hindemith in der Hoffnung, eine kalte Ente zu verspeisen. Ich dachte mir, es könnte vielleicht auch eine Wildente sein. Der Tisch war zwar gedeckt, aber von einer Ente war überhaupt nichts zu sehen. Nach einer Weile fragte ich Hindemith: „Wo bleibt denn die kalte Ente?“ Er begriff sofort und lachte herzlich. „Kalte Ente heißt bei uns dieses kalte Getränk, das wir gerade trinken“, sagte er. So war unser Ententraum ausgeträumt. Später waren wir noch einmal bei ihm eingeladen. Da erfuhren wir, daß Hindemith großen Spaß am ModellEisenbahnspiel habe wie ein kleines Kind. Sein Spielpartner sei dieses Mal der große Pianist Walter Gieseking, der an diesem Abend auch zu Gast war. Wir lernten uns kennen. Inmitten des Raumes waren große Elektro-Loks, Waggons, Eisenbahnschienen, Brücken, Tunnels, Bahnhöfe, Lichtsignals usw. ordentlich aufgestellt, alles als Modell. An den Wänden hingen Kursbuchtabellen mit Ankunfts- und Abfahrtszeiten verschiedener Züge. Das Spiel ging los. Er war ein Wettrennen. Die Züge sollten heil, ohne Unfall und Zusammenstoß, aber möglichst schnell den Zielbahnhof erreichen. Ich war begeistert von dem Spiel und erinnerte mich an meine Kindheit. Wer konnte es glauben, daß diese zwei großen Künstler einen Abend lang auf dem Boden saßen und wie Kinder Eisenbahn spielen würden? Also noch eine ınteressante Eigenschaft von Hindemith. 1895 geboren, war er in jenem Jahr gerade 41 Jahre alt. Und jedes Jahr spielte er mit Freunden wie Gieseking leidenschaftlich Modell-Eisenbahn. So erlebten wir den großen Künstler auch von dieser Seite. Manchmal kam Frau Gertrud Hindemith in Begleitung ihres Mannes nach Ankara mit. Wir nannten sie Tante Gertrud und hatten sie sehr gern. Sie besuchte uns öfters und sang mit meiner Frau Lieder. Sie hatte eine zierliche und schöne Stimme. Meine Frau begleitete sie am Klavier, während sie Schubert-, Schumann-, Mendelssohn- und Brahms-Lieder markiert sang. Aber sie sang so schön, daß wir ihr begeistert zuhörten. All diese Erinnerungen und unvergesslichen Erlebnisse werden in mir wachbleiben, so lange ich lebe. Hindemith hatte gesagt: „Denk‘ nicht an Dich selbst, sondern überlege Dir, was Du Deinen Nächsten mitgeben kannst“. Wie treffend hat gestern Abend Herr Dr. Rexroth diesen guten Ratschlag von Hindemith interpretiert. Haute Vormittag habe ich dasselbe Zitat von Hindemith meinen Zuhörern vorgelesen. Hindemith war wirklich ein Mensch, der sein Wissen freigebig anderen weitergab. Was für eine gute Eigenschaft! Geben, ohne dafür etwas nehmen zu müssen, bedeutete für ihn die Erfüllung. Er war ein großer Pädagoge. Durch seine Empfehlungen und Ratschläge konnten wir sehr viel erreichen. Bevor ich schließe, möchte ich Bilanz ziehen: Das Ankaraner Staatskonservatorium stellte schon im Jahre 1940 mit seiner wichtigsten Abteilung und in seiner gesetzlichen Verankerung eine Realität dar. Mit Hilfe der ersten Absolventen, die eine fünfjährige künstlerische Grundausbildung erhalten hatten, konnten wir schon an die Gründung des Staatstheaters und der Staatsoper als einer eigenständigen Institution herangehen. Diese Institution wurde im Jahre 1948 gegründet und konnte schon innerhalb von drei Jahren auf eigenen Beinen stehen. Damit kam auch die Zeit näher, wo eine nationale türkische Oper mit eigenständigen türkischen Opernwerken, die aus eigenen kulturellen Traditionen Schöpfen, bereichert werden würde. In der Gründungszeit war es natürlich wichtig, eine Reihe von europäischen Opern aufzuführen, die das Entstehen einer nationalen türkischen Opernkunst als beispielhaft galten. Wir bemühten uns, in den ersten Jahren das ganze Opus des Verismus, also Puccini, Mascagni und Leoncavallo aufzuführen. Nach fünfjähriger Lehrtätigkeit des Konservatoriums war das erreichte Niveau beachtenswert. Hindemiths Bemühungen fingen an, Früchte zu tragen. Im Laufe der späteren Jahre wurden auch andere Opernwerke inszeniert. Die weitere Entwicklung verlief so erfolgversprechend, daß bereits 1957 eine in der Türkei ausgebildete türkische Opernsängerin (Leyla Gencer) bei der Uraufführung Francis Poulencs „Les dialogues des carmelites“ in der Scala die Titelrolle mit außerordentlichem Erfolg singen konnte. Leyla Gencer hatte am städtischen Konservatorium in Istanbul studiert, und ihre künstlerische Tätigkeit zuerst auf der Bühne der Staatsoper Ankara und auf verschiedenen ausländischen Bühnen mit außerordentlichem Erfolg entfaltet. Durch einen glücklichen Zufall war ich bei der Uraufführung der Oper von Francis Poulenc in der Scala auch anwesend und konnte mit dem Publikum zusammen unsere Künstlerin bejubeln. Das Jahr 1958 bildet einen neuen Meilenstein in der Entwicklungsgeshcichte der Staatsoper. Der damalige Intendant Necil Kâzım Akses hatte für den Spielplan jenes Jahres die Strauss-Oper „Salome“ und „Die Kluge“ von Carl Orff angekündigt. Hätten wir die reichen Erfahrungen der vierziger Jahre, die eigentlich durch Hindemiths Einsatz ermöglicht wurden, nicht gehabt, so hätten wir uns nicht an ein solches Programm wagen können. Das alles war das Ergebnis der zurückliegenden 23 Jahre, der relativ kurzen Zeit von 1935 bis 1958. In Europa blickt-die Opernkunst auf eine mindestens vierhundertjährige Geschichte zurück. Wir kennen die Früchte dieser langen Geschichte. Aber für ein Volk, das sich zum ersten Mal mit dieser Kunst auseinandersetzt, heißt das nicht, daß es auch vierhundert Jahre warten muss. „Salome“ wurde 1958 in Ankara mit großem Erfolg in türkischer Sprache aufgeführt. Für die Inszenierung war ein Regisseur aus Europa eingeladen. Derselbe Regisseur inszenierte auch „Die Kluge“, welche ebenfalls in Türkisch gespielt wurde. Die Künstler wurden vom Publikum herzlich bejubelt und beklatscht. Dies waren alles Früchte einer modernen künstlerischen Erziehung. Solche bedeutungsvollen Werke der Kulturgeschichte wirkten beispielhaft bei der Entstehung einer eigenständig-türkischen Opernkunst mit. Hauptsächlich waren die eigene Sprache, eigene Geschichte und Tradition Quellen der Inspiration für neue nationale Opernwerke. Auch traditionsfreie Themen wurden später in Angriff genommen, um das türkische Opernrepertoire zu bereichern. Aber auch viel früher, als in der Türkei noch keine solchen Kunstanstalten existierten, war durch intensive Förderung Atatürks der Versuch unternommen worden, Opern mit nationalem Inhalt zu komponieren und zu spielen. Die in Europa ausgebildeten türkischen Komponisten bemühten sich, auch in dieser Kunstgattung Werke zu schreiben. Manche von diesen Opern, wie Öz Soy, Taşbebek und Bayönder, wurden auch erfolgreich aufgeführt. Diese alle waren als erste Versuche einer zeitgenössisch-nationalen Musikkunst von großer Bedeutung. In jenen Jahren besaß Ankara weder eine Oper oder Ballett, noch ein Opernorchester oder einen Chor. Abgesehen von einigen Künstlern, standen damals keine Sänge für solche Vorhaben zur Verfügung. Im Jahre 1934 stand der Staatsbesuch des Schahs des Iran, Rıza Schah Pehlevi, unmittelbar bevor. Die ersten beiden Opernwerke, die oben erwähnt wurden, waren für eine Opern-Aufführung zu Ehren des hohen Gastes anlässlich dieses Staatsbesuchs komponiert worden. Und das dritte Werk wurde zur 15. Wiederkehr des Tages, an dem Atatürk zum ersten Mal in Ankara eigetroffen war, komponiert. Für die Aufführungen wurde aus ausgewählten Gymnasiasten ein Chor gebildet. Für das Ballett sorgten die Studenten der Sporthochschule. Dann suchten wir in Istanbul und Ankara nach geeigneten Sängern für Titelrollen. Und das Opernorchester wurde schließlich von den Musikern des Symphonieorchesters, des Staatspräsidentenorchesters, des Istanbuler Streichorchesters und der Militärmusikkapelle des Staatspräsidenten zusammengesetzt. Zu den oben schon erwähnten Anlässen wurden alle drei Opern auf der Bühne des Ankaraner Volkshauses mit einem ungewöhnlichen Erfolg aufgeführt. Allein Atatürks ungebrochener Wille war es, welcher dieses unmöglich erscheinende Vorhaben doch möglich machte. Nachdem wir nun 1957 und 1958 auf dem Gebiet der Opernkunst große Erfolge verzeichnen konnten, hatten sich auch die Türen der großen Opernhäuser für türkische Künstler geöffnet: San Carlo, Wien, München, Venedig, Paris, San Francisco, London, Moskau, Leningrad, Dublin, Prag, Hannover, Hamburg, Düsseldorf, Brno, Bratislava, Amsterdam, Helsinki, Bukarest, Belgrad u.s. Die türkischen Ballett-Tänzer wurden sogar in Moskau im Bolschoi-Theater bewundert. Junge türkische Spieler, die am Staatskonservatorium ausgebildet wurden, konzertieren und gastieren heute ständig in allen namhaften Musikstädten Europas und Amerikas. Sie interpretieren auch Werke der zeitgenössisch-türkischen Komponisten erfolgreich und verhelfen diesen Werken somit zu weltweiter Anerkennung. Die Uraufführung des großen Opernwerkes des weltbekannten türkischen Komponisten Adnan Saygun, die Oper „Kerem“, fand 1953 in der Ankaraner Staatsoper statt. Ich war damals Generalintendant dieser Oper und hatte mich für dieses Werk voll eingesetzt. Später komponierte Saygun eine weitere große Oper, „Köroğlu“, die 1973 im Rahmen der 1. Internationalen Istanbuler Festspiele uraufgeführt wurde. Saygun komponierte sein drittes großes Bühnenwerk „Gilgamış“ als episches Drama. Unter den Komponisten der jüngeren Generation ist Nevit Kodallı zu nennen, der bei Arthur Honneger in Paris sein Kompositionsstudium vervollkommnete. Kodallı schrieb zum Geburtstag van Gogh’s seine Oper „Van Gogh“, die in das Repertoire des Théâtre Royal de la Monnais in Brüssel aufgenommen wurde. Auch Nevit Kodallı hat das Epos „Gilgamış“ als Oper vertont. Ein anderer Komponist, Sabahattin Kalender, hat Opern wie „Nasreddin Hoca“, „Deli Dumrul“ und „Karagöz“ komponiert. Ferit Tüzün, den wir sehr jung verloren haben, hatte sich für seine Oper „Die Ohren von Midas“ ein antikes Thema ausgesucht. Heute gibt es eine Reihe von Komponisten der jüngsten Generation, die sich mit der Opernkunst beschäftigen. Erwähnenswert scheinen mir Cengiz Tanç’s „Deli Dumrul“, Çetin Işıközlü’s „Gülbahar“ und Okan Demiriş’s „Murat IV.“. Manche jungen Komponisten, die aus den Staatskonservatorien in Ankara, Istanbul und Izmir hervorgegangen sind, pflegen die Tradition des Opernschreibens intensiv weiter. Wie Sie sehen, bleiben Hindemiths Vorschläge und Bemühungen, in Ankara ein Staatskonservatorium zu gründen, keineswegs auf das Ankaraner Konservatorium beschränkt. Was er damals in Ankara säte, hat innerhalb von 50 Jahren auch in Istanbul und Izmir Früchte getragen. Die in diesen drei Städten gegründeten Staatskonservatorien ebneten erst den Weg zur Gründung von Opern und Balletthäusern und von Symphonie- und Opernorchestern auch in Istanbul und Izmir. All dies sind Ergebnisse der fruchtbaren Zusammen arbeite mit Hindemith. Deshalb gedenken wir heute im Rahmen dieses Seminars und dieser PaulHindemith-Woche, die vom Deutschen Kulturinstitut Ankara mit großem Erfolg veranstaltet wurden, herzlich und ehrfurchtsvoll dieses großen Künstlers.