___________________________________________________________________________ 2 SWR2 Musikstunde 8. – 12. 10. 2012 Mit Stephan Hoffmann „Junge Hure – alte Betschwester“ Die unterschiedlichen Seiten des Paul Hindemith Folge 1: Hindemith, der junge Wilde Die Ära Zehelein war noch sehr weit weg und die Stuttgarter Oper zu Beginn der 1920er Jahre nicht gerade eine Heimstätte des kompositorischen Fortschritts. Fritz Busch war damals Stuttgarter Generalmusikdirektor; zwei Operneinakter Paul Hindemiths hatte er zwar uraufgeführt, nämlich „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und das „Nusch-Nuschi“, aber auch diese beiden Einakter waren in Stuttgart bereits auf den Widerstand des Publikums gestoßen und mussten nach zwei Vorstellungen abgesetzt werden. Beim dritten, „Sancta Susanna“, der das Opern-Tryptichon komplettieren sollte, wurde Busch die Sache endgültig zu heiß, und da half es auch nichts, dass Hindemith dem Dirigenten gut zuredete: „Schott schickt mir einen Brief vom Intendanten, dass Sie die „Sancta Susanna“ nicht aufführen wollen. Schade, es ist das Beste der drei Stücke. Hier, in Frankfurt, wird sie auf jeden Fall gemacht, ein Zeichen, dass man die Stuttgarter Bedenken gegen den Stoff nicht teilt. (Ich auch nicht: ein blödes Publikum wird in der ganzen Sache nur einen Akt religiösen Wahns mit Glorifikation sehen und der Teil der Zuschauer, der schon so viel Grütze hat, die Sache zu kapieren, wird sich schon die richtigen Lehren daraus ziehen.)“ Genau das passierte auch: selbst in Frankfurt, wo die Uraufführung von „Sancta Susanna“ schließlich im März 1922 stattfand, verstand das blöde Publikum dieses Stück als reine Blasphemie, der christlich-konservative Bühnenvolksbund versuchte die Absetzung vom Spielplan zu erreichen und der Katholische Frauenbund hielt eine dreitägige Sühneandacht ab. Für ein konservatives Bürgertum war „Sancta Susanna“ aber auch wirklich starker Tobak: Die Nonne Susanna reißt sich die Kleider vom Leib und dem Kruzifix das Lendentuch ab. Das geschieht zwar nur in einer Vision, dennoch ist der gut 20minütige Einakter ein schwüles, erotisch extrem aufgeladenes Stück. -----------Musik 1: Paul Hindemith, Sancta Susanna. Helen Donath, Susanna; Gabriele Schnaut, Klementia; Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Dir: Gerd Albrecht. Wergo WER 60106-50. Tr. 1, 17’48“ – 21’06“. Dauer: 3’18“ 3 Da war ein Ausschnitt aus Paul Hindemiths Einakter „Sancta Susanna“ mit Helen Donath als Susanna; Gabriele Schnaut als ihre Mit-Schwester Klementia und dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Gerd Albrecht. Hindemith kam 1895 in Hanau zur Welt, er war also bei der Komposition von „Sancta Susanna“ Mitte 20. Er gehört zu der Generation, die vom ersten Weltkrieg ganz zwangsläufig geprägt wurde: Hindemiths Vater fiel 1915 in Flandern, er selbst wurde 1917 eingezogen. Er hatte Glück, wenn man das so nennen kann: seine Musikalität kam ihm zum ersten Mal zugute, er wurde in eine Militärkapelle versetzt und hatte einen musikliebenden Vorgesetzten, der ihn öfters zum Streichquartett-Spiel verpflichtete. Doch selbst dabei kam er mit dem Tod in Berührung, der im Krieg ohnehin allgegenwärtig war. „Im ersten Weltkrieg war ich als Soldat Mitglied eines Streichquartetts, das dem Obersten unseres Regiments ein Mittel war, den gehassten Kriegsdienst zu vergessen,“ erinnerte sich Hindemith später: „Er war ein großer Musikfreund und ein Kenner und Verehrer französischer Kultur. Kein Wunder darum, dass es sein höchster Wunsch war, Debussys Streichquartett zu hören. Wir studierten das Stück und spielten es mit großer Rührung in einem Privatkonzert für ihn. Als wir den langsamen Satz beendet hatten, kam der Offizier, der den Nachrichtendienst leitete, bestürzt ins Zimmer und berichtete, dass soeben Debussys Tod durchs Radio gekommen sei. Wir spielten nicht zu Ende.“ -------------Musik 2: Claude Debussy, Streichquartett g-Moll op. 10. 3. Satz. Carmina-Quartett. Denon CO-75164. Tr. 3. Dauer: 7’16“ ------------Das Carmina-Quartett spielte den langsamen dritten Satz aus Claude Debussys Streichquartett opus 10. Mag sein, dass Hindemiths ausgeprägte Lust an der Provokation in seinen Werken der frühen 20er Jahre auch etwas mit der Verarbeitung und Bewältigung seiner Kriegserlebnisse zu tun hat. Jedenfalls gibt es diese Lust an der Provokation in jenen Jahren. Manchmal auch weniger um der Provokation willen – auch wenn es solche Fälle gibt -, sondern um ganz ernsthaft den Musikbetrieb und das Musikleben zu verändern, die Ausbildung genauso wie das Konzertwesen. Und so erklären sich Sätze wie der folgende: „Wir sind überzeugt, dass das Konzert in seiner heutigen Form eine Einrichtung ist, die bekämpft werden muss, und wollen versuchen, die fast verloren gegangene Gemeinschaft zwischen Ausführenden und Hörern wieder 4 herzustellen... Irgendwelcher nationale oder persönliche Ehrgeiz wird ausgeschaltet bleiben. Die Namen der Ausführenden werden nicht bekannt gegeben... Die Veranstaltungen werden nicht in den Zeitungen kritisiert.“ Die Sätze stehen im Gründungsmanifest der „Gemeinschaft für Musik“, an deren Gründung im Jahre 1922 Hindemith maßgeblich beteiligt war. Was Hindemith an dieser „Gemeinschaft für Musik“ am besten gefiel, formulierte er in einem Brief vom September 1922: „Hier ist endlich einmal die Musik um ihrer selbst willen da! Kein persönlicher Ehrgeiz wird berücksichtigt, keine Kritik erscheint. Und was das Allerschönste ist: die ganzen Frankfurter dürfen nicht hinein!“ Die Parallele zu Arnold Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“, der 1918 gegründet wurde, liegt auf der Hand. Auch wenn sich die Zielsetzung im Detail unterschied, bei Schönberg wie bei Hindemith ging es um die Förderung der damals zeitgenössischen Musik in einem geschützten, nicht von einer ignoranten Öffentlichkeit belästigten Rahmen. Konzerte veranstaltete man natürlich nicht, die sollten ja gerade abgeschafft werden. Deshalb sprach man von Veranstaltungen. Bei der ersten Veranstaltung dieser Art standen Werke einiger Hindemith-Zeitgenossen auf dem Programm, zum Beispiel Francis Poulencs „Rhapsodie nègre“. -------------Musik 3: Francis Poulenc, Rhapsodie nègre. Prélude und Ronde. Alexandre Tharaud, Klavier; Céline Nessi, Flöte; Sabine Toutain, Viola; Francoise Groben, Cello; Jean-Marc Phillips und Thibault Vieux, Geigen; Ronald van Spaendonck, Klarinette. Naxos 8.553614. Tr. 17 + 18. Dauer gesamt: 3’27“ -------------Das waren die beiden ersten Sätze, Prélude und Ronde, aus Francis Poulencs „Rhapsodie nègre“ mit einer Gruppe französischer Musiker um den Pianisten Alexandre Tharaud. Hindemith bezog aber nicht nur eine radikale Gegenposition zum traditionellen Konzertbetrieb, sondern auch zur traditionellen Musikausbildung. Bereits 1908, also mit 13 Jahren, besuchte er das Hochsche Konservatorium in Frankfurt und hatte dort Unterricht im Fach Geige, aber eben auch im Fach Komponieren. Zu den frühen Reife-Beweisen des Komponisten Hindemith zählen die 1917 entstandenen drei Orchesterlieder opus 9, auf die aber sein Lehrer Bernhard Sekles, gewiss ein erfahrener, aber eben auch ein konservativer Kompositionslehrer, mit großer 5 Zurückhaltung reagierte: „Weißt du, was er für Bedenken hatte?“ schreibt Hindemith an eine Freundin; „Die Lieder wären doch eigentlich sehr frei, hätten in der Form gar keine Ähnlichkeit mit den ‚gewöhnlichen’ Liedern! Und das sind die modernen Musiker! Etwas, was aus ganzer Seele heraus geschrieben ist und sich den Teufel um Liedform und sonstigen Schwulst kümmert, was ihnen ein wenig neu ist – das macht sie kopfscheu! Ich will doch Musik schreiben und keine Lied- und Sonatenformen!!...Ich sehe immer mehr, dass es höchste Zeit wird, dass ich von diesem ganzen Konservatoriumskram loskomme.“ Das ist eine Position, ein Bekenntnis zur künstlerischen Freiheit und eine Absage an jeden Akademismus, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Doch schon 1922, also gerade mal fünf Jahre nach der Komposition der drei Lieder, distanziert sich Hindemith von ihnen ebenso eindeutig und schreibt über ein in Düsseldorf geplantes Tonkünstlerfest: „Dort sollten Orchesterlieder von mir aufgeführt werden. Uralte Sachen, die einer ohne mein Wissen in das Programm geschoben hatte. Ich habe sie natürlich zurückgezogen.“ Und so wurden die drei Orchesterlieder opus 9 erst 1974, elf Jahre nach Hindemiths Tod, uraufgeführt. Das ist vielleicht das früheste Beispiel einer Distanzierung Hindemiths von sich selbst. Hier das wohl schönste und berührendste dieser drei Lieder, „Weltende“ nach einem Gedicht von Else Lasker-Schüler: „Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär.“ -----------Musik 4: Paul Hindemith, Weltende. Op. 9, 2. Janis Martin, Sopran; RadioSymphonie-Orchester Berlin, Dir: Gerd Albrecht. Wergo WER 60106-50. Tr. 3. Dauer: 6’30“ ----------Sie hörten die Sopranistin Janis Martin und das Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Gerd Albrecht mit Paul Hindemiths Orchesterlied „Weltende“. Gerade mal ein Jahr vor der Distanzierung von sich selbst, die Hindemith bei den Liedern opus 9 vornahm, komponierte er jenes Werk, das zusammen mit „Sancta Susanna“ beispielhaft für den jungen und wilden Hindemith steht, der alle Konventionen über den Haufen wirft und der sich in der Rolle des Bürgerschrecks offenbar ganz wohl fühlt: Die Kammermusik Nummer 1 für 12 Instrumente. Das Werk ist deutlich vom Jazz beeinflusst und tilgt auch durch sein Instrumentarium bewusst alle romantischen Erinnerungen an satte Streicher und weiche Hörner-Klänge. Ein Horn kommt so wenig vor wie eine Posaune, dafür aber Klavier und Harmonium 6 gleichzeitig, was dem Gesamtklang eine deutlich jazzige Färbung verleiht. Am Schluss des vierten und radikalsten Satzes, dem Hindemith den programmatischen Titel „Finale 1921“ gab, kommt ein Instrument hinzu, das in der sogenannten ernsten Musik nun wirklich nichts verloren hat und dessen Einsatz damals allein schon eine Provokation war: eine Sirene. ------------Musik 5: Paul Hindemith, Kammermusik op. 24, Nr. 1. 4. Satz. Ensemble modern, Dir: Markus Stenz. RCA 09026 61730 2. CD 1, Tr. 4. Dauer: 5’52” ------------Sie hörten den letzten Satz, das „Finale 1921“, aus Paul Hindemiths Kammermusik opus 24, Nummer 1, gespielt vom Ensemble modern unter Markus Stenz. Die Jahreszahlen, die Hindemith einigen seiner Kompositionen im Titel mitgab, geben nicht einfach nur Auskunft über die Entstehungszeit, sie sind programmatisch zu verstehen. Etwa so: Hört her, ihr Leute, so hört sich im Jahr 1921 ein zeitgemäßes Finale an. So ist auch die Jahreszahl im Titel der „Suite 1922“ für Klavier zu verstehen, in der ein Marsch, ein Shimmy, ein Boston und ein Ragtime vorkommen – also eine klassische Suite als Folge von Tanzsätzen; wenn da in der Mitte nicht als Zentrum und als längstes Stück von allen ein „Nachtstück“ stünde. Im weiteren Verlauf der Suite fand Hindemith zu seiner frotzlig-ironischen Art zurück, Musik zu schreiben und Musik zu kommentieren. Spielanweisung für den letzten Satz, den Ragtime: „Nimm keine Rücksicht auf das, was du in der Klavierstunde gelernt hast. Überlege nicht lange, ob du Dis mit dem vierten oder sechsten Finger anschlagen musst. Spiele dieses Stück sehr wild, aber stets sehr stramm im Rhythmus, wie eine Maschine. Betrachte hier das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug und handle dementsprechend.“ Eine letzte Anweisung lautet: „Vor Gebrauch ordentlich schütteln (Der Pianist – sich).“ Aber diese letzte Bemerkung hat Hindemith im Autograph wieder gestrichen. -------------Musik 6: Paul Hindemith, Suite 1922. Ragtime. Archiv-Nr. 19-30172. CD 2, Tr. 11. Dauer: 3’03“ ------------- 7 Sviatoslav Richter spielte den letzten Satz aus Paul Hindemiths „Suite 1922“, den Ragtime. Ragtimes gibt es bei Paul Hindemith öfter, in der morgigen Musikstunde werden wir einen weiteren kennen lernen. Ohnehin erfreute sich der Ragtime zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch bei den sogenannten ernsten Komponisten großer Beliebtheit, auch Debussy und Strawinsky schrieben mehr oder weniger stilisierte Ragtimes. Um 1900 war der Ragtime in seinem Ursprungsland Amerika eine der Quellen, aus denen sich der Jazz entwickelte. Der Begriff Ragtime bedeutet zerrissene oder synkopierte Zeit, und genau das ist ja auch das Wesen des Ragtime. ------------Musik 7: Scott Joplin, Elite Syncopations. Walter Chodack, Klavier. Mandala MAN 4838. Tr. 11. Dauer 3’35“ -----------Der Ragtime „Elite Syncopations“ stammt von Scott Joplin, dem Großmeister des Ragtimes; gespielt wurde das Stück von Walter Chodack. Zurück zu Paul Hindemith und zu seiner Lust nicht nur an Ragtimes, sondern auch zu seiner Lust an, sagen wir: ungewöhnlichen Spielanweisungen, provokativen Bemerkungen aller Art und sonstigen Ungewöhnlichkeiten, die zu Hindemiths ganz persönlichen roaring twenties gehören wie das Salz zur Suppe. Zum Beispiel die zweite Sonate für Bratsche solo, komponiert im März 1922, deren Entstehungsumstände Hindemith folgendermaßen präzisiert: „Die zwei Sätze I und V habe ich im Speisewagen zwischen Köln und Frankfurt komponiert und bin gleich aufs Podium und habe die Sonate gespielt.“ Satz I und V sind zusammen in Hindemiths eigener Interpretation immerhin sechs Minuten Musik, und die muss auch ein Hindemith erst einmal aufschreiben. In unserem Zusammenhang soll es aber um den vierter Satz der Sonate gehen, denn der trägt einen Titel, der in der Musikgeschichte wahrscheinlich nur ein einziges Mal vorkommt: „Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache.“ -----------Musik 8: Paul Hindemith, Sonate für Viola solo op. 25, Nr. 1. 4. Satz. Paul Hindemith, Viola. Archiv-Nr. 19-038171. CD 1, Tr. 4. Dauer: 1’50“ ------------ 8 Paul Hindemith spielte seine eigene Sonate für Viola solo, opus 25, Nummer 1. Es ist wohl weniger die Lust an der Provokation als die an der Parodie, die Hindemith veranlasste, ein Stück zu schreiben wie die „Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt.“ Hindemith wusste übrigens, was er da komponierte, er hatte in seiner Jugend verschiedentlich in Kurkapellen mitgespielt. Er wusste also, wie es klingt, wenn lustlose und übermüdete Kurmusiker um sieben Uhr morgens ihren ersten Auftritt haben. Das Stück hat keine Opuszahl, wann genau es entstanden ist, weiß man auch nicht - um 1925 wahrscheinlich. Hindemith hat das Stück also nicht besonders wichtig genommen und besonders ernst schon gar nicht. Doch auch solche Parodien gehören eindeutig zum Hindemith der 1920er Jahre, er schrieb eine ganze Reihe davon, viele sind verschollen; interessant wäre sicher auch die „Musik für 6 Instrumente und einen Umwender“ oder das „Lied mit großer Orchesterbegleitung im Stile Richard Strauss’. Text aus einer Imkerzeitung.“ Diese Preziosen sind wohl unwiederbringlich dahin. Aber die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, gespielt von einer schlechten Kurkapelle am frühen Morgen, die gibt es. Das Buchberger-Quartett muss mutig alle üblichen Streichquartett-Tugenden hintan stellen, um dieses Stück angemessen interpretieren zu können. Viel Vergnügen! ------------Musik 9: Paul Hindemith, „Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt.“ Buchberger Quartett. Wergo WER 6197-2. Tr. 12. Dauer: 7’28“ (auf Ende einblenden) --------------