___________________________________________________________________________ 2 SWR2 Musikstunde 8. – 12. 10. 2012 Mit Stephan Hoffmann „Junge Hure – alte Betschwester“ Die unterschiedlichen Seiten des Paul Hindemith Folge 2: Paul Hindemith und die alte Musik Am 23. Februar 1958 erhielt Paul Hindemith eine Nachricht, die ihn offenbar tief erschütterte: Hedi Straumann war gestorben, die nicht nur in dem von Hindemith geleiteten Collegium vocale der Universität Zürich mitgesungen hatte, mit dem Ehepaar Straumann war Hindemith auch eng befreundet, er hatte seine Berufung an die Universität Zürich nicht zuletzt dem Anglisten Heinrich Straumann zu verdanken. Die Nachricht vom Tod der Freundin hatte unmittelbare kompositorische Auswirkungen. Hindemith arbeitete in diesen Tagen an fünfstimmigen Madrigalen auf Texte des österreichischen Lyrikers Josef Weinheber; als die Todesnachricht eintraf, lag gerade Weinhebers Gedicht „An eine Tote“ aufgeschlagen vor Hindemith: „Stille Blume, erblasst unter herbstlichen Sternen, demütig Licht, in den schweigenden Abend verweht: Mögen von dir die Liebenden ehrfürchtig lernen.“ Es liegt nahe, die Gefühlslage der melancholischen und, wie Hindemith im Vorwort schreibt, „pessimistischen“ Gedichte Weinhebers auf Hindemith selbst zu beziehen, der sich auch der eigenen Vergänglichkeit mehr und mehr bewusst wurde. Hindemith widmete nicht nur das Madrigal „An eine Tote“, sondern den gesamten MadrigalZyklus der verstorbenen Freundin Hedi Straumann. -------------Musik 1: Paul Hindemith, Weinheber-Madrigale (1958). „An eine Tote“. Rundfunkchor Berlin, Dir: Stefan Parkman. Wergo 6629-2. Tr. 11. Dauer: 8’00“ ------------Das war der Rundfunkchor Berlin unter Stefan Parkman mit Paul Hindemiths Madrigal „An eine Tote“ auf ein Gedicht Josef Weinhebers. Kurz bevor Hindemith die Weinheber-Madrigale komponierte, hielt er an der Zürcher Universität im Wintersemester 1957/58, in seinem letzten Unterrichts-Semester überhaupt, drei Vorlesungen über die Madrigale des italienischen SpätrenaissanceKomponisten Carlo Gesualdo da Venosa, mit denen er sich intensiv beschäftigte. Im 3 Frankfurter Hindemith-Institut gibt es einen ganzen Ordner aus Hindemiths Besitz mit Notenausgaben von Gesualdo, mit Notizen zu Gesualdos abenteuerlichem Leben – er war wohl der einzige Komponist von Weltrang, der einen Doppelmord aus Eifersucht beging -, mit Exzerpten aus der Gesualdo-Literatur, mit Überlegungen zu den expressiven Inhalten der Gesualdo-Madrigale. Es gibt eine enge Verbindung zwischen den Weinheber-Madrigalen Hindemiths und Gesualdos Werken: die zeitliche Nähe der Gesualdo-Vorlesungen und der Madrigal-Kompositionen Hindemiths; der bei Gesualdo wie Hindemith gleichermaßen reine, unbegleitete Vokalsatz; schließlich die Tatsache, dass Hindemith überhaupt Madrigale schrieb – das war nicht gerade die Gattung, mit der ein Komponist in den 1950er Jahren Aufsehen erregen konnte. Der Blütezeit des Madrigals im späten 16. Jahrhundert trauerte Hindemith oft nach, niemals wurde seiner Ansicht nach „jene äußerste Wohlproportion von kompositorischem Können, idealer Materialbehandlung und restlosem Aufgehen in den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Verbrauchenden erreicht“ wie in den Madrigalen Gesualdos oder Monteverdis. Besonders angetan hatte es Hindemith das Madrigal „Itene, o miei sospiri“ – Geht, meine Seufzer – aus Gesualdos fünftem Madrigalbuch. Er analysierte das Stück mit äußerster Gründlichkeit und legte Tabellen der harmonischen Verläufe an. ----------Musik 2: Carlo Gesualdo da Venosa, „Itene o miei sospiri“ (5. Madrigalbuch). The Hilliard Ensemble. ECM 2175 4764755. Tr. 3. Dauer: 2’52” ----------Das Hilliard Ensemble sang Carlo Gesualdo da Venosas Madrigal „Itene, o miei sospiri“ aus dem fünften Madrigalbuch. Das Interesse Hindemiths an der Aufführung alter Musik durchzieht seine Biographie wie ein roter Faden. 1943 – Hindemith war aus Nazi-Deutschland emigriert, er lebte damals in den USA und unterrichtete an der Yale-University – unternahm er eine für damalige Verhältnisse spektakuläre Tat: eine Einrichtung von Claudio Monteverdis „Orfeo“, jener Oper von 1607, die gemeinhin als Startpunkt der gesamten Gattung angesehen wird. Das Besondere an Hindemiths Einrichtung bestand im „Versuch einer Darstellung in der ursprünglichen Form“ – alle früheren Fassungen dieser Oper hatten sich wenig um das Original gekümmert. Das war auch kaum möglich, denn der Erstdruck der Partitur war erst seit 1927 als Faksimile zugänglich. Hindemith 4 versuchte dagegen, die Original-Instrumente aufzutreiben und unternahm zusammen mit seinen Studenten 1944 in Yale einen ersten Aufführungsversuch. 10 Jahre später wiederholte er diesen Versuch in Wien. Bei dieser Aufführung war ein 24jähriger junger Musiker mit dabei, der für die historisch informierte Aufführungspraxis wahrscheinlich wichtiger wurde als jeder seiner Kollegen: Nikolaus Harnoncourt. „Diese Aufführung“, sagte Harnoncourt später, „hatte bei mir die Wirkung eines Blitzschlags.“ Damals, 1954, gab Paul Hindemith selber für das Publikum eine Einführung in diese völlig neue musikalische Welt, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. ------------Musik 3: Paul Hindemith, Einführung in Orfeo. Auf: Monteverdi, Orfeo. Archiv-Nr. 12-61733. CD 1, Tr. 2, nach 3’16“ ausblenden („...was zur damaligen Zeit erklang.“). Dauer: 3’16 ------------Musik 4: Monteverdi, Orfeo. Archiv-Nr. 12-61733. CD 1, Tr. 5, nach 3’16“ ausblenden. Dauer: 3’16. -----------Das war der Anfang von Claudio Monteverdis „Orfeo“ in der Fassung, die Paul Hindemith 1954 verfertigte. Es musizierten Patricia Brinton als La Musica und Mitglieder der Wiener Symphoniker unter Paul Hindemith. Zuvor hörten Sie Hindemith selbst mit einer Einführung in seine Fassung des „Orfeo“. An der fällt neben dem außerordentlich raschen Tempo vor allem auf, wie ähnlich Hindemiths Version den neueren Aufnahmen des „Orfeo“ ist. Wir reden bei Hindemith immerhin über eine Aufnahme aus dem Jahr 1954, also aus der Steinzeit der historisch informierten Aufführungspraxis. Hindemiths Beschäftigung mit alter Musik geht wesentlich weiter zurück als in die 1940er Jahre, in denen er an seiner „Orfeo“-Fassung arbeitete. Schon in den 20er Jahren, die man mit Fug und Recht als seine Sturm-und Drangzeit bezeichnen darf, versuchte er einen abenteuerlichen Brückenschlag zwischen dem damals populären Ragtime und Johann Sebastian Bach; Bach begleitete Hindemith sein ganzes Leben hindurch. An Ostern 1921 schrieb Hindemith innerhalb weniger Stunden – er gehörte sicher zu den begabtesten Schnellschreibern der Musikgeschichte – ein Orchesterstück, das er „Rag Time (wohltemperiert)“ nannte. Mit gutem Grund, denn 5 das Thema dieses Ragtimes stammt aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, aus der c-Moll-Fuge des ersten Bandes. Hindemith hat hier wohl als erster das getan, was viel später nicht nur durch Jacques Loussier und die Swingle Singers so populär wurde: Die Verbindung Bachs mit Swing oder anderen Richtungen der Unterhaltungsmusik. Eine gewisse Lust an der Provokation merkt man nicht nur dem Ragtime selbst an, sondern auch Hindemiths Vorwort zu diesem Werk: „Glauben Sie, Bach dreht sich im Grabe herum? Er denkt nicht dran! Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden oder zum mindesten in die anständige Musik aufgenommen. Vielleicht hätte er dazu auch ein Thema aus dem wohltemperierten Klavier...genommen.“ ------------Musik 5: J. S. Bach, Das Wohltemperierte Clavier I. Fuge c-Moll. Daniel Barenboim, Klavier. Warner Classics 2564 61553-2. CD 1, Tr. 4. Dauer: 2’05” -----------Das war das Bachsche Original mit Daniel Barenboim am Klavier. Und daraus machte Hindemith folgendes Orchesterstück – zwar ebenfalls wohltemperiert, aber auch ziemlich frech. -----------Musik 6: Paul Hindemith, Rag Time (wohltemperiert). Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Dir: Gerd Albrecht. Wergo WER 60150-50. Tr. 13. Dauer: 3’25“ -----------Das Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Gerd Albrecht spielte Paul Hindemiths „Rag Time (wohltemperiert)“ aus dem Jahre 1921 über ein Thema aus Bachs Wohltemperiertem Clavier. Welche Ausnahmestellung Bach für Hindemith hatte, sieht man an seinen schriftlichen Äußerungen über ihn genauso wie an seiner kompositorischen Beschäftigung mit Bach. Hindemith nannte ihn die „letzte ungeheuere Krönung eines Gebäudes“, denn was „ein Bach musikalisch tut, muss notwendigerweise alles um ihn herum verdunkeln.“ Verglichen mit Bach sei „jeder Musiker, auch der allerbegabteste, von vornherein benachteiligt.“ Solche hymnischen Urteile werden beglaubigt von der Häufigkeit und Intensität der Werke Hindemiths, die sich auf Bach beziehen. Nehmen wir als Beispiel das zweite Stück aus dem zweiten Teil von 6 Hindemiths Klaviermusik opus 37. Das Stück ist zweistimmig und ein streng durchgeführter Kanon – und diese Eigenschaften hat es gemeinsam mit Bachs zweistimmiger Invention in c-Moll. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. ------------Musik 7: J. S. Bach, 15 zweistimmige Inventionen. Nr. 2 c-Moll. Andras Schiff, Klavier. Decca 4801226. CD 1, Tr. 2. Dauer: 1’57” ------------Andras Schiff spielte die zweite von Bachs zweistimmigen Inventionen – die einzige übrigens in strenger Kanonform. Das ist in Hindemiths Klaviermusik opus 37 nicht anders. -----------Musik 8: Paul Hindemith, Klaviermusik op. 37, zweiter Teil, Nr. 2. Siegfried Mauser, Klavier. Archiv-Nr. 19-079795. Tr. 10. Dauer: 0’55“ -----------Das war Siegfried Mauser mit einem Stück aus dem zweiten Teil von Paul Hindemiths Klaviermusik opus 37. Vielleicht am allermeisten zeigt sich die grenzenlose Bach-Verehrung Hindemiths in den Werken, die nicht auf ein bestimmtes Stück Bachs Bezug nehmen, sondern allgemein auf dessen Musiksprache und Kompositionsprinzipien. Sicher, auch andere Komponisten haben das getan: Präludien, Fugen und Kanons komponierten auch Chopin, Busoni, Max Reger oder Schostakowitsch, und sie alle hatten Bach dabei im Hinterkopf. Aber wohl niemand war dabei so konsequent wie Hindemith. Sein „Ludus tonalis“ besteht aus 25 Stücken: aus zwölf Fugen, die durch elf Interludien voneinander getrennt sind, plus einem Präludium und einem Postludium – wobei das letztere die Krebsumkehrung des ersteren ist. Ursprünglich wollte Hindemith die zwölf Fugen in chromatisch aufsteigender Reihe anordnen – c, cis, d, dis usw, genau wie im Wohltemperierten Clavier auch – später entschloss er sich zu einer anderen, nicht weniger barockem Denken verpflichteten Organisation: c, g, f, a, e usw. Hier die letzte Fuge in Fis und das abschließende Postludium. ------------Musik 9: Paul Hindemith, Ludus tonalis. Olli Mustonen, Klavier. Archiv-Nr. 19-097823. Tr. 44+45. Dauer gesamt: 6’19“ ------------ 7 Olli Mustonen spielte die beiden letzten Stücke aus Paul Hindemiths Klavierzyklus „Ludus tonalis“. Wie gleichberechtigt und wie selbstverständlich Hindemith mit ganz alter wie mit ganz neuer Musik umging, belegt ein von ihm verantwortetes Konzertprogramm von 1958: Darauf stand neben seinem eigenen Oktett sein Vokalwerk „Des Todes Tod“ und Strawinskys „Kantate“ – sowie Claudio Monteverdis „Sestina“ und eine Folge von Tänzen von Pierre Attaignant, einem französischen Komponisten aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Hindemith für kleines Orchester eingerichtet hatte. -----------Musik 10: Paul Hindemith, Suite französischer Tänze. Bamberger Symphoniker, Dir: Karl Anton Rickenbacher. Koch/Schwann 3-1299-2H1. Tr. 12-16. Dauer komplett: 5’25“ ----------Die Bamberger Symphoniker unter Karl Anton Rickenbacher spielten die ersten fünf Sätze aus der „Suite französischer Tänze“ nach Tanzsätzen von Pierre Attaignant, die Hindemith 1958 für kleines Orchester einrichtete. Solche Bearbeitungen alter Musik – und das bedeutet Spielbarmachung für die Musikpraxis seiner Zeit - hatte Hindemith im Grunde sein ganzes kompositorisches Leben hindurch angefertigt. In einer Notiz aus dem Jahre 1917 – damals war er 22 Jahre alt - schreibt er: „Das einzige, was ich in den letzten zwei Wochen verbrochen habe, war eine Bearbeitung (Aussetzung des unbezifferten Basses) einer Arie aus einem Passionsoratorium von Keiser.“ Die überlieferten Generalbass-Aussetzungen Hindemiths legen den Schluss nahe, dass er grundsätzlich, wenn er alte Musik spielte, den Bass neu aussetzte und wohl auch sonst die eine oder andere Veränderung am Notentext vornahm. Es ist ein Brief des Cembalisten Fritz Neumeyer aus dem Jahre 1932 über eine Aufführung erhalten, an der Hindemith beteiligt war: „Da lobe ich mir Hindemith mit seiner klaren und doch klingenden Spielart. Er hat auch vor einiger Zeit bei uns musiziert... Wir spielten damals eine herrliche Sonate c-Moll für 2 Violen d’amour und Continuo (ausgesetzt von Hindemith) von Biber, ein phantastisches und sehr schweres Stück, das geradezu berauschend klang.“ 8 --------------Musik 11: Heinrich Ignaz Franz Biber, Partita VII. Arietta variata. The Rare Fruits Council. Astrée E 8572. Tr. 39 (auf Ende einblenden). Dauer komplett: 5’19“