Freitag, 18. Oktober 2013 20 Uhr, Volkshaus 19 Uhr Konzerteinführung 2. Philharmonisches Konzert Reihe C Zum 50. Todestag von Paul Hindemith Paul Hindemith (1895 - 1963) Sinfonische Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber Allegro Turandot.Scherzo Andantino Marsch Paul Hindemith Der Schwanendreher, Konzert nach alten Volksliedern für Bratsche und kleines Orchester Zwischen Berg und tiefem Tal Nun laube, Lindlein, laube – Der Gutzgauch auf dem Zaune saß Seid ihr nicht der Schwanendreher? Pause Johannes Brahms (1833 - 1897) Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 68 Un poco sostenuto Andante sostenuto Un poco allegretto Adagio – Più andante – Allegro con tropo ma con brio – Più Allegro Dirigent: Marc Tardue Viola: Hartmut Rohde 1 Der Dirigent Marc Tardue wurde als Sohn franco-italienischer Eltern in Amerika geboren. Er absolvierte das Peabody Conservatory in Baltimore und studierte anschließend Klavier bei Alexander Lipsky und Wiktor Labunsky sowie Dirigieren bei Frederik Prausnitz, Leo Müller und Constantin Bugeanu. Darüber hinaus ist er ausgebildeter Gesangslehrer und arbeitete als Klavierbegleiter in den Meisterklassen von Francesco Valentino, Eileen Farell, Tito Gobbi und Beverly Sills. Von 1982 bis 1984 war er Chefdirigent der National Opera von Reykjavik (Island). 1984 gewann Marc Tardue den internationalen Dirigentenwettbewerb Concours International d’Execution Musicale „Ernest Ansermet“ (CIEM) in Genf und wurde mit dem prestigeträchtigen Swiss Prize ausgezeichnet. Danach begleitete er die CIEM-Wettbewerbe regelmäßig mit dem Orchestre de la Suisse Romande. Er war zu hören in Radio- und Eurovisions-Übertragungen sowie auf der Preisträger-CD-Serie von Musica Helvetica. Von 1985 bis 1995 war Marc Tardue Musikdirektor beim Ensemble Instrumentale de Grenoble (EIG), dessen kammermusikalisches und zeitgenössisches Repertoire unter seiner Leitung um die großen Sinfonien sowie Opern- und Chorwerke erweitert wurde. Zwischen 1991 und 2002 war er Chefdirigent des Symphonieorchesters Biel (Schweiz), von 1999 bis 2009 Chefdirigent des Orquestra Nacional do Porto (Portugal). Gastdirigate verbinden ihn mit renommierten internationalen Orchestern wie dem Orchestre de la Suisse Romande, dem Nouvel Orchestre Philharmonique de la Radio France, dem Orquesta Sinfónica Radio Television Española oder dem Russian National Orchestra in Moskau. Opernaufführungen leitete er u. a. bei den Opernfestspielen in Heidenheim und Schenkenberg (Schweiz) sowie an den Opernhäusern von Dublin und Malmö. Für seine künstlerischen Leistungen wurde Marc Tardue 1989 der französische Kulturorden Chevalier des Arts et des Lettres verliehen, 2004 erhielt er vom portugiesischen Kultusministerium die Medalha de Mérito Cultural. Der Solist Für Hartmut Rohde waren Auszeichnungen in Wettbewerben (1. Preis Deutscher Musikwettbewerb und Preisträger Internationaler Naumburg Wettbewerb, New York 1991) die Basis für seine intensive internationale Konzerttätigkeit als Bratschist. Danach führten ihn Tourneen solistisch und später mit seinen Ensembles regelmäßig durch Europa, in die USA, nach Kanada, Australien, Asien sowie Russland. Hartmut Rohde wurde 1993 als Professor für Viola an die Universität der Künste Berlin berufen. Daneben ist er Ehrenmitglied der Royal Academy of Music London, wo er regelmäßig Kammermusikkurse gibt. Als gefragter Dozent ist er darüber hinaus bei internationalen Meisterkursen tätig. Er ist seit 1997 künstlerischer Leiter des internationalen Max-Rostal-Wettbewerbs für Violine und Viola in Berlin und Juror weiterer namhafter Wettbewerbe. Ein Hauptinteresse liegt für ihn in der historischen Hinterfragung der verschiedenen Stilrichtungen, der Wirkung der rhetorischen Musiksprache des Barock und der Klassik hinein in die Romantik. Perspektiven und neues Erleben im musikalischen Dialog sind Grundlage der Interpretationen. Daraus resultiert auch sein Engagement für zeitgenössische Musik in Kooperation mit Komponisten wie Aribert Reimann, Krzysztof Penderecki oder Brett Dean. Als Solist trat Hartmut Rohde bisher unter anderem mit der Staatskapelle Weimar, dem Beethoven Orchester Bonn und den Lithauischen Philharmonikern auf. Hartmut Rohde ist gern gesehener Gast bei den Salzburger Festspielen, dem Ravinia-Festival in Chicago, dem Concert du Louvre in Paris, dem Kumho Asiana Festival in Seoul, dem Internationalen Jerusalem Music Festival, dem Kuhmo Festival in Finnland und vielen mehr. Neben zahlreichen Rundfunk- und CD-Aufnahmen bei großen internationalen Sendern erhielt er im Jahr 2003 den begehrten Echo-Klassik-Preis sowie 2004 den Supersonic Award. 2 Gewohnheit und Vertrauen Aus Vorlieben und Abneigungen ergeben sich für uns Gewohnheiten. Sie sind von ähnlichen Situationen sowie den daraus resultierenden gleich ausgebildeten Reaktionen geprägt und werden von uns durch Wiederholung verinnerlicht. Gefällt uns etwas gut, werden wir immer versuchen, die Situation und die Abläufe wiederherzustellen oder zu imitieren. Solche Prozesse können jedoch auch ein routiniertes Verhaltensmuster hervorbringen, das einer kreativen Lebensführung im Wege steht. Ein Konzertgänger könnte in diesem Fall die großen, nur zu berühmten Klassiker bevorzugen. Hier weiß er, worauf er sich einlässt, weiß, dass ihm die Musik überaus gut gefallen und der Abend angenehm verlaufen wird. Zeit und Geld sind hervorragend investiert. Dies ist nun schon seit Jahren auf das Beste erprobt: Das gleiche Konzerthaus, das gleiche Orchester, das immergleiche hohe künstlerische Niveau. Wenn man nun weiß, dass man sich auf alle Mitwirkenden stets verlassen kann, wäre es eigentlich ein leichter Schritt, sich einmal auf etwas Neues einzulassen, eine kleine Veränderung vorzunehmen: Das Werk eines unbekannteren Komponisten oder einen unkonventionelleren Musikstil auszuprobieren. Allen, denen es heute Abend so ergeht und jenen, welche in sich eine Portion Neugier verspüren, wünsche ich ein farbenprächtiges Konzerterlebnis. Vertrauen Sie den Komponisten, den Musikern und ihrem eigenen Geschmack. Sehen Sie über das bisherige hinaus und lassen Sie Neues zu. Die Komponisten und ihre Werke Zumeist lässt man sich von Ungewohntem durch stereotype Vorurteile abhalten. Wer den Namen Paul Hindemith hört, denkt zuerst an die Neue Musik. Eine Assoziationskette eröffnet sich uns: Wiener Schule – Arnold Schönberg – Zwölftonmusik. Doch es gab auch andere Richtungen und Strömungen im Musikleben des 20. Jahrhunderts. Paul Hindemith begann seine Laufbahn als Rebell, als Bürgerschreck, der auf Konfrontationskurs zur gewohnten Tradition ging. Als Militärmusiker hatte er mit 22 Jahren an der Westfront die Grauen des ersten Weltkrieges hautnah miterlebt. Seine Generation sah das Kaiserreich zusammenbrechen. All das Herrschaftliche und Klassische war untergegangen. Man stand vor dem Nichts und konnte nicht wie gewohnt weiterleben. Die politischen Umwälzungen hatten auch Auswirkungen auf die Kultur. Nichts wurde mehr beschönigt. Die Tendenz ging über zu zweckmäßiger, knapper, einfacherer und damit entschlossenerer Musik. 1915 war sein Vater in der Champagne gefallen, Paul war nun das Oberhaupt der Familie und musste den Unterhalt verdienen. Für ihn war dies nichts Neues, denn schon als Kind traten er und seine beiden Geschwister Antonie und Rudolf als Frankfurter Kindertrio auf, um die finanzielle Situation der Familie zu verbessern. Musik war für ihn also keine romantische Träumerei, sondern hatte schon immer etwas Zweckbestimmtes, wonach sich auch sein Kompositionsstil ableiten lässt. Seine Erfahrungen hatte er als Interpret von Kaffeehaus-, Militär-, Kino- und Tanzmusik gesammelt. Es war inspirierend für ihn, die Kunstmusik mit diesen Facetten zu erweitern, sie zu karikieren und zu parodieren, knackige Tanzrhythmen und frivole Melodien einzufügen. Besonders mit »Das Nusch-Nuschi« (Komödie für birmanische Marionetten, 1920/21) stieß er Kritikern und dem klassischen Publikum vor den Kopf, indem er die Musik der Spätromantik parodierte. 3 In dieser Zeit erhielt er auch die Möglichkeit, seine Musik bei der Donaueschinger Kammermusik-Aufführung zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst vorzustellen. Eigens zu diesem Zweck wurde das Amar-Quartett gegründet. Paul Hindemith hatte mit diesem Ensemble bald große Berühmtheit erlangt. Darüber hinaus wurde ihm vom Musikverlag Schott ein Vertrag angeboten. Sogleich fragte er dort nach: „Können Sie auch Foxtrotts, Bostons, Rags und anderen Kitsch gebrauchen? Wenn mir keine anständige Musik mehr einfällt, schreibe ich immer solche Sachen.“ Auch in seinen seriösen Werken hinterließ die Unterhaltungsmusik ihr Spuren. Die neuen Machthaber um Hitler hingegen betrachteten Hindemith zu Beginn der 1930er Jahre mit Argwohn. Es war absehbar, dass die Regierung den Einfluss fremdländischer Musik in Deutschland nicht dulden würde. Mittlerweile unterrichtete Hindemith sowohl an der Berliner Hochschule für Musik als auch an der Musikschule Neukölln. Als Pädagoge verfolgte er seinen Grundsatz, die Tradition durch intensives Studium für sich zu gewinnen, um sie sich in der Folge anverwandeln und umgestalten zu können. Dabei muss man die Verantwortung für das musikalische Material übernehmen und durch die kompositorische Arbeit dessen Verständlichkeit gewährleisten. Paul Hindemith, der Bürgerschreck, war erwachsen geworden und hatte seinen eigenen Stil gefunden. Schon bald nach der Aufführung seiner Mathis-Sinfonie 1934, wurde ihm von Seiten der Nationalsozialisten Geschmacklosigkeit vorgeworfen und kurze Zeit später folgte durch Goebbels seine Verurteilung zum „atonalen Geräuschemacher“. Damit gingen ein Aufführungsverbot seiner Werke und die Suspendierung von seiner Lehrtätigkeit einher. Die Repressalien veranlassten ihn, mehr und mehr Engagements im Ausland anzunehmen, was ihn 1938 endgültig ins Exil führte: über die Schweiz gelangte er zwei Jahre später in die USA. Dort erhielt er nun häufiger Kompositionsaufträge der großen amerikanischen Orchester, so auch 1943 des New York Philharmonic Orchestra. In diesem Fall griff Hindemith auf ein Werkfragment des Jahres 1939 zurück. Damals hatte der Choreograph Léonide Massine ihn um Musik für ein Ballett über Webersche Themen gebeten. Dabei ergaben sich Unstimmigkeiten, da Massine lediglich eine Orchestration der Vorlagen verlangte, Hindemith ihm aber Kompositionen in seiner eigenen Tonsprache lieferte. An seine Frau schrieb er diesbezüglich: „Weber-Ballett ist ins Wasser gefallen. Ich habe zwar schöne Nummern dafür geschrieben, die Weber-Musik leicht gefärbt und ein bisschen schärfer gemacht – es war ein wirkliches Vergnügen, sie zu sehen und zu hören.“ Er hatte bereits die ersten beiden Sätze der Sinfonischen Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber geschrieben. Aus dem Titel des Werks ergibt sich ein Irrtum, denn es handelt sich nicht um Themen, sondern um ganze Stücke: im ersten und letzten Satz das 4. und 7. Stück der 8 Stücke für Klavier zu vier Händen, op. 60, im zweiten Satz die Ouvertüre zu Turandot, im dritten Satz das 2. Stück aus den 6 Stücken für Klavier zu vier Händen, op. 10. Es ist fast unmöglich, hierbei die Werkvorlage Webers herauszulösen. Wichtiger erscheint es daher, das Augenmerk auf das Kompositionsverfahren zu legen. Mit diesem Werk kann er seinen kompositorischen Grundsatz des Umgangs mit der gewohnten Tradition, ihrer Interpretation und Umwandlung, mit dem Zuhörer vertraut machen. Metamorphose bedeutet, das Vorgefundene zu ergreifen, etwas von sich selbst hineinzulegen und einer neuen unerwarteten Verwendung zuzuführen. Hindemith besinnt sich seiner europäischen Musiktradition, exportiert sie in die USA und passt sie bei gleichbleibender Substanz an die neue Umgebung an. Dabei lässt er seine Gewohnheiten, Erfahrungen, aber auch seine Erwartungen mit einfließen. Technisch stellt sich das wie folgt dar: er weitet die Form, indem er variierte Wiederholungen des thematischen Materials einsetzt, das Tonartenverhältnis verändert, den Rhythmus und die Harmonik schärft und pointiert, neue Stimmen hinzufügt. Seine vorübergehende Heimat wird mit synkopierten Jazz-ähnlichen Passagen und dem Zitat eines amerikanischen Studentenliedes im vierten Satz mit Jazz-artigem Drive in die Musik eingeflochten. 4 In seinem zweiten Werk des heutigen Abends, Der Schwanendreher, Konzert nach alten Volksliedern für Bratsche und kleines Orchester, verfährt er ähnlich. Bei der Wahl des Ausgangsmaterials geht er jedoch noch weiter in der Musikgeschichte zurück: in das Mittelalter. Eine zweite Interpretation seines Grundsatzes, die Tradition mit dem Neuen zu verbinden, zielt auf die Vereinigung der Kunstmusik mit der Alltagsmusik ab. Hindemith wollte die Kluft zwischen Hochkultur und einfachen Menschen überwinden und somit die Gemeinschaft zwischen Interpreten und Publikum wieder herstellen. Damit wand er sich von der Avantgarde um Schönberg ab und der Jungendbewegung zu. Schon 1927 gründet er in diesem Sinn als Kompositionsprofessor an der Berliner Hochschule für Musik ein Räuberorchester. Denn: „Der Komponist muss selbst der beste Musiker sein.“ Jeder hat ständig ein anderes Instrument gespielt und so musste auch neues Tonmaterial für diese Laienmusiker verfasst werden. Den Höhepunkt dieser Musiken bildete der »Plöner Musiktag« 1932. Für diesen Anlass entwarf er eigens einen gesamten Tag Notenmaterial für ein Schülerorchester. Im Vorwort zu seinem Buch „Unterweisung im Tonsatz“ formuliert er seinen Anspruch an die Musik so: „Kein eigenbrödlerisches modernes Tonsystem […], keine umstürzlerische Ablehnung früherer Satzweisen […], keine trostlose Sammlung unverständlicher und weltfremder theoretischer Aufsätze – dagegen ein Buch [über Musik] lebendiger Praxis, verständlich für jeden […].“ In diese Arbeitsweise lässt sich auch die Verwendung alter Volkslieder als Vorlage für ein Bratschen-Konzert einordnen. Der Schwanendreher war im Mittelalter nicht nur ein Küchengehilfe, der den Braten am Spieß drehte, sondern auch ein Musiker, wie er in seinem Programm dazu beschrieb: „Ein Spielmann kommt in frohe Gesellschaft und breitet aus, was er aus der Ferne mitgebracht hat: ernste und heitere Lieder, zum Schluss ein Tanzstück. Nach Einfall und Vermögen erweitert er als rechter Musikant die Weisen, präludiert und phantasiert. Dieses mittelalterliche Bild war die Vorlage für diese Komposition.“ Man kann davon ausgehen, dass es sich dem Titel nach bei dem Instrument mit Schwanenhals zum Kurbeln um eine Drehleier handelt. Die Ursprungs-Melodien dieser Komposition entlehnte Hindemith dem Altdeutschen Liederbuch aus dem Jahr 1877 des bei Weimar geborenen Franz Magnus Böhme. Dieser lehrte Musikgeschichte und Kontrapunkt am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main, wo auch Paul Hindemith einige Jahre später studierte. Der Verbindung von Tradition und Moderne ist vor Hindemith auch schon Johannes Brahms bei dem Entwurf seiner Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 68 (aus dem Jahr 1876) nachgegangen. Jedoch aus einem anderen Grund. Er wollte nicht primär sein Werk dem Volk verständlich machen, sondern das übermächtige Erbe Beethovens antreten, das ihm nach seinen ersten Erfolgen seitens der Kritiker und des Publikums aufgebürdet worden war. Sie hatten die Erwartung, dass Brahms nun in gewohnter Weise die Arbeit Beethovens fortsetzen würde. Natürlich stand er in der musikalischen Tradition eines Johann Sebastian Bach (Kontrapunkt), eines Händel (Oratorien), eines Beethoven (zyklische Formengestalt) und eines Robert Schumann (poetische Idee), jedoch wollte er diese nicht kopieren oder einfach Altes durch Neues ersetzen. Diese innere Zerrissenheit und der Druck der Öffentlichkeit erschwerten die Arbeit um einiges und erklären auch, warum er mehr als 14 Jahre bis zur Veröffentlichung seiner ersten Sinfonie benötigte. Früheste Skizzen existierten schon im Jahr 1862, doch erst zwölf Jahre später nahm er die Arbeit daran wieder auf. Diese Sinfonie ist kein Konglomerat der neun Sinfonien Beethovens, wie Hans von Bülows geflügelter Begriff der »10. Sinfonie Beethovens« vermitteln könnte. Natürlich nahm Brahms Material daraus auf, man kann es sogar leicht heraushören, doch komponierte er nicht durch, sondern mit Beethoven. Er benutzte dessen großartige Neuerungen, wie die 5 Motiventwicklung aus einer kleinsten rhythmischen Zelle heraus und den dramatischen Ablauf seiner Sinfonien und erweiterte die um seine eigenen Konzepte, zum Beispiel die „entwickelte Variation“. Diese setzt er sowohl als verbindendes als auch als formgebendes Element in seiner Musik ein. Im 1. Satz folgen, dem nachträglich eine schwergewichtige Einleitung mit dominanten Paukenschlägen vorangesetzt wurde, eine Reihe von Variationen. Themen, wie zum Beispiel am Beginn in den hohen Streichern, werden angedeutet, aber nicht weiter verfolgt. Eine geschlossene Melodieführung ist für das Ohr nicht erkennbar. Brahms arbeitet eher mit Motivakzentuierungen, die lyrisch, dramatisch, rhythmisch oder nur als Intervall präsentiert werden. Richard Wagner hingegen betrachtete das Ganze wie folgt: „Beethovens Nachfolger erscheinen mir wie Menschen, die uns auf eine oft reizend umständliche Weise mitteilen, dass sie uns nichts zu sagen haben.“ Im Andante arbeitet Brahms seine Motivzellen weiter aus. Im Rahmen kammermusikalischen Geschehens werden längere Phrasen von einem Solo-Instrument zum nächsten gereicht. Dabei bestechen Oboe, dann Klarinette und Querflöte durch kantables Schwelgen. Der folgende Satz wirkt spielerischer. Durch suchendes und entdeckendes Kreisen um einen zentralen Gedanken scheint den bisher vorgestellten Motivzellen der vergangenen Sätze nun ein Ziel gegeben zu sein. Alles wirkt kompakter, dynamischer, bis ein Melodievorstoß an Beethoven erinnert. Immer wieder durch Fanfaren-Einschübe unterbrochen, geht er verloren und wird wiedergefunden. Damit wird der 4 Satz vorbereitet. Im Finale steigert sich die Dramatik der Sinfonie. Aus einem gezupften piano pianissimo schwellt das gesamte Orchester bis zum forte fortissimo an, um gleich wieder zu verklingen und sich einzupendeln bis das Alphornthema angespielt wird. Dieses hatte Brahms schon 1868 auf einer Urlaubskarte an Clara Schumann notiert. Nach einer Flötenüberleitung ertönt ein Bläserchoral. Das folgende Finalthema ist nun eindeutig als Beethoven’sche Variation zu erkennen. Brahms stellte die Takte zu „(Deine Zauber) binden wieder, was die Mode (streng geteilt)“, aus der „Ode an die Freude“, dem Schlusssatz der 9. Sinfonie Beethovens, um. Die Trias aus Natur (Alphornthema), Religion (Bläserchoral) und Menschlichkeit („Ode an die Freude“) wird im folgenden Verlauf immer wieder vorzüglich miteinander verflochten. Am Ende des Satzes holt das gesamte Orchester noch einmal Schwung, bevor der Choral im Finalthema aufgeht, womit Brahms Beethoven seine Ehre erweist. Jessica Brömel, M.A. 6