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SWR2 Musikstunde 8. – 12. 10. 2012
Mit Stephan Hoffmann
„Junge Hure – alte Betschwester“
Die unterschiedlichen Seiten des Paul Hindemith
Folge 5: Hindemiths Spätwerk
Es muss hoch hergegangen sein beim Tridentiner Konzil Mitte des 16. Jahrhunderts
– jedenfalls, wenn man Hans Pfitzner glauben darf, der in seiner Oper „Palestrina“
von deftigen Prügeleien und von Schusswaffen-Gebrauch berichtet.
Handlungsrahmen der Oper ist eben jenes Konzil, bei dem es unter anderem um die
Zukunft der Kirchenmusik ging. Man diskutierte, in welcher Form sie stattzufinden
habe: als polyphone Musik, die zwar dem kompositorischen Stand dieser Zeit
entsprach und zweifellos die Erbauung beförderte, die aber den Nachteil hatte, dass
die Texte, also die sakralen Inhalte, nur schwer zu verstehen waren. Die Alternative
bestand im Verzicht auf jegliche Polyphonie und in der Beschränkung auf schlichte
Einstimmigkeit. Was für ein Glück, dass ein Komponist wie Palestrina zur Stelle war,
der die brisante Situation dadurch entschärfte, dass er einige Messen komponierte,
in denen die gegensätzlichen Prinzipien Polyphonie und Textverständlichkeit aufs
Wohlklingendste versöhnt sind. Die prominenteste dieser Messen benannte
Palestrina nach seinem Förderer, Papst Marcellus II., Missa Papae Marcelli.
-----------Musik 1: Giovanni P. da Palestrina. Missa Papae Marcelli. Kyrie.
Archiv-Nr. 19-46897. CD 2, Tr. 8. Dauer: 4’43“
-----------Die Tallis Scholars sangen das Kyrie aus Palestrinas Missa Papae Marcelli, durch
die der Komponist die katholische Kirchenmusik womöglich vor jahrhundertelanger
einstimmiger Langeweile bewahrte. Sie fragen sich jetzt vielleicht, was das alles mit
Paul Hindemiths Spätwerk zu tun hat, denn das ist das Thema der heutigen
Musikstunde. Der Weg von Palestrina zu Hindemith ist kürzer als man denkt. „Dieser
Mythos“, schreibt Clytus Gottwald und meint damit den Mythos, den Palestrinas
Messe inzwischen darstellt, „dieser Mythos ist in Hindemiths Messe ganz
eingegangen.“ Der Musikwissenschaftler Franz Heidlberger fügt hinzu: „Für
Hindemith war mit Palestrina der Gipfel dieser Kunst musikalisch erreicht“ und
Hindemith selbst bewunderte, wie er schrieb, „die übermenschliche Glätte und
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vollkommene Ausgewogenheit jedes technischen Ausdrucksmittels in Palestrinas
Werken.“ In seiner eigenen Messe, dem letzten Werk überhaupt, das er komponierte,
bezog sich Hindemith erkennbar auf Palestrina schon ganz äußerlich, in der
Besetzung: Er schreibt wie sein Vorgänger 400 Jahre zuvor für einen unbegleiteten
Chor – wohl wissend, dass sich die Situation der Kirchenmusik in diesen 400 Jahren
nicht eben zum Besseren verändert hat. „Heutige katholische Kirchenkomposition:
niedriger Stand,“ schreibt Hindemith in seinen handschriftlichen Notizen. „Guter Wille,
Berufung auf frommen Zweck. Schlechte Technik, Komponisten dritten Ranges
...Kirchenkitsch, fast Unterhaltungsmusik.“ Hindemith steuerte mit seiner Messe
dagegen.
-----------Musik 2: Paul Hindemith, Messe 1963. Agnus Dei. Schola Cantorum Stuttgart. Dir:
Clytus Gottwald.
Archiv-Nr. 19-040330. CD 1, Tr. 6. Dauer: 3’38“
-----------Die Schola Cantorum Stuttgart unter Clytus Gottwald war das mit dem „Agnus Dei“
aus Paul Hindemiths Messe, die in seinem Todesjahr 1963 entstand. Ein Werk des
Abschieds ist diese Messe eigentlich nicht, Hindemith hatte noch viel vor, zum
Beispiel wollte er noch zwei weitere Messen schreiben.
Doch ich habe vorgegriffen. Am 16. November 1945 wurde Paul Hindemith 50 Jahre
alt. Der hatte zwar seinen Wohnsitz nicht wieder in Deutschland; das hatte er
überhaupt nicht mehr: zunächst lebte er wie seit 1940 in den USA, 1953 übersiedelte
er in die Schweiz, nach Blonay am Genfer See. Doch sein runder Geburtstag wurde
in Deutschland groß gefeiert. Willy Strecker, einer der Leiter des Schott-Verlages,
meldete im Oktober 1945 an Hindemith: „Der 16. November wird in allen Rundfunks
etc groß gefeiert werden. Es werden Dir die Ohren klingen, aber vielleicht ist es gut,
dass Du nicht alle Aufführungen zu hören brauchst.“ Und dann zählt Strecker eine
imponierende Anzahl von bevorstehenden Aufführungen Hindemithscher Werke auf
und fügt drei Tage nach Hindemiths 50. Geburtstag die Sätze an: „Die Zeitungen
bringen Artikel über Artikel...Alles dies zeigt Dir immerhin den erfreulichen
Umschwung auf der ganzen Linie.“ Hindemith bremste zwar den Enthusiasmus
seines Verlegers und reagierte eher verhalten: „Von den deutschen Aufführungen
bekamen wir überallher Berichte. Ich finde, man übertreibt das Ganze und das
einzige Ergebnis wird eine heftige Gegenwelle sein.“ Doch der Hindemith-Boom und
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deshalb auch die Begeisterung Willy Streckers hielten an: „Von der Mathis-Sinfonie
hatten wir seit 1. Januar 1946 bereits etwa 50 Aufführungen; 15 Mal das
Violinkonzert; etwa 20 ‚Temperamente’...und für den Winter eine Unzahl
Voranmeldungen für ziemlich alle Werke.“ Mit den „Temperamenten“ meinte Strecker
Hindemiths Komposition „Die vier Temperamente“ für Klavier und Streichorchester
aus dem Jahre 1940. Hindemith verlieh in diesem Werk den vier Temperamenten der
sogenannten Viersäftelehre, von denen man in der Antike ausging, musikalischen
Ausdruck: melancholisch, sanguinisch, phlegmatisch und cholerisch. Hier die zweite
Variation, die dem sanguinischen Typus gewidmet ist – ein Walzer.
------------Musik 3: Paul Hindemith, Die vier Temperamente. Howard Shelley, Klavier; BBC
Philharmonic, Dir: Yan Pascal Tortelier.
Archiv-Nr. 19-039061. Tr. 6. Dauer: 5’40“
------------Das waren Howard Shelley, Klavier, und die BBC Philharmonic unter Yan Pascal
Tortelier mit der zweiten, der sanguinischen Variation aus Paul Hindemiths „Die vier
Temperamente“. Das Werk wurde nach dem zweiten Weltkrieg, als Hindemith für das
deutsche Musikleben wiederentdeckt wurde, besonders häufig aufgeführt.
Das wohl wichtigste Ereignis im Zusammenhang mit dieser Wiederentdeckung aber
war die deutsche Erstaufführung der Oper „Mathis der Maler“ – nicht zu verwechseln
mit der gleichnamigen Sinfonie - im Dezember 1946 in Stuttgart. Die Uraufführung
hatte 1938 in der Schweiz stattgefunden, an eine Aufführung in Nazi-Deutschland
war nach dem Skandal um die Sinfonie „Mathis der Maler“ im Jahre 1934 natürlich
gar nicht zu denken. Jetzt hatten sich die politischen Umstände zwar grundlegend,
die künstlerischen allerdings nur zum Teil geändert. Aus dem Brief eines Besuchers
der Stuttgarter Aufführung an Hindemith: „Eine typisch norddeutsche Frau meinte zu
ihrer Begleitung: ‚Ist es nicht sonderbar, wie überall die entartete Musik wieder an der
Reihe ist?’“
-------------Musik 4: Paul Hindemith, Mathis der Maler. Roland Hermann (Mathis); Gabriele
Rossmanith (Regina). Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Dir. Gerd Albrecht.
Wergo WER 6255-2. CD 3, Tr. 2. 2’30“ – 6’15“. Dauer: 3’45“
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Das waren Roland Hermann als Mathis, Gabriele Rossmanith als Regina und das
Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Gerd Albrecht mit einem Ausschnitt aus
dem sechsten Bild von Paul Hindemiths Oper „Mathis der Maler“. Jetzt haben wir
auch eine Vorstellung davon, was manche Menschen noch 1946 für entartete Musik
hielten. Für schlecht gespielte Musik – das schon eher! Die Orchester, soweit es sie
überhaupt gab, müssen in einem erbärmlichen Zustand gewesen sein. Heinrich
Strobel, der erste Hindemith-Biograph und langjährige Musikchef des damaligen
Südwestfunks, äußerte sich gegenüber Hindemith über dieselbe Aufführung von
„Mathis der Maler“: „Sie machen sich vom Niedergang der Qualität in Deutschland
überhaupt keine Vorstellung. Die primitivsten Begriffe der Sauberkeit, der Rhythmik
usw. sind ausgelöscht.“
Es dauerte eine Weile, bis sich die Aufführungsbedingungen in Deutschland wieder
normalisierten. 1950 scheinen sie immerhin wieder akzeptabel gewesen zu sein; in
diesem Jahr, in dem Bachs 200. Geburtstag gefeiert wurde, hielt Hindemith beim
Hamburger Bach-Fest eine Gedenk-Rede mit dem Titel „Johann Sebastian Bach: Ein
verpflichtendes Erbe“ und dirigierte unter anderem Bachs „Magnifikat“.
--------------Musik 5: Johann Sebastian Bach, „Magnificat“ BWV 243.
Archiv-Nr. 19-008681. Tr. 1. Dauer: 2’56“
--------------Das war der erste Satz aus Johann Sebastian Bachs “Magnificat” BWV 243 mit dem
Niederländischen Kammerchor und dem Orchester „La Petite Bande“ unter Sigiswald
Kuijken.
Die Rede, die Hindemith beim Bach-Fest 1950 hielt, war für die Bach-Rezeption der
Nachkriegszeit von allergrößter Bedeutung – schon um die grauenhaft
nationalistische Bach-Sicht der Nazis zu relativieren. Es ist hier nicht der Ort,
Hindemiths Bach-Rede ausführlich zu würdigen, neben sehr bedenkenswerten
Aspekten zum Künstlertypus, den Bach verkörperte, enthält die Rede Positionen, die
aus heutiger Sicht nur schwer nachzuvollziehen sind. So sind die GoldbergVariationen für Hindemith fast schon ein Nebenwerk, jedenfalls eines, dessen
„Herstellung den Komponisten bei seiner so oft bewiesenen Gewandtheit kaum mehr
als ein paar Tage gekostet haben dürfte.“
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Musik 6: J. S. Bach, Goldberg-Variationen. Andreas Staier, Cembalo. Variationen 13.
Harmonia mundi HMC 902058. Tr. 2-4. Dauer gesamt: 6’22”
-----------Andreas Staier spielte die ersten beiden Variationen und den ersten Kanon aus
Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen.
Dass Hindemith unmittelbar nach dem Krieg so häufig aufgeführt wurde, hatte einen
Grund, der an Banalität kaum zu übertreffen ist: Während von fast keinem der
führenden Avantgarde-Komponisten in Deutschland Noten verfügbar waren, verhielt
sich die Sache bei Hindemith anders: Zwar waren seine Werke seit 1936 mit einem
Aufführungsverbot belegt, ein Druckverbot aber hatte es nie gegeben – mit der
Folge, dass Hindemiths Kompositionen während der gesamten Nazizeit
unbeschränkt zu kaufen waren; jetzt, in den Jahren des Mangels nach dem Krieg,
waren diese Werke im Gegensatz etwa zu denen Schönbergs eben verfügbar und
konnten gespielt werden. Willy Strecker vom Schott-Verlag hatte sich, wie er schrieb,
einen „Sport“ daraus gemacht, Hindemiths Werke auch während der Nazi-Zeit zu
verlegen.
In Wahrheit aber war Hindemiths Position im deutschen Musikleben längst nicht so
unangefochten wie seine Aufführungszahlen glauben machen. Um es auf eine
bündige Formel zu bringen: Hindemith war den Konservativen, die sich nach Richard
Strauss zurücksehnten, nicht konservativ genug und den wenigen avantgardistisch
gesinnten nicht avantgardistisch genug. Die hörten lieber Komponisten wie Olivier
Messiaen, zum Beispiel dessen damals brandneue Turangalila-Symphonie.
-----------Musik 6: Olivier Messiaen. Turangalila 2. SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und
Freiburg, Dir: Sylvain Cambreling.
Hänssler classic CD 93.225. CD 2, Tr. 7. Dauer: 3’32”
-----------Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling
spielte den Abschnitt „Turangalila 2“ aus Olivier Messiaens „Turangalila-Sinfonie“.
Natürlich, im Vergleich damit klingen Hindemiths Werke wie etwa seine letzte Oper
„Die Harmonie der Welt“, die in dieser Zeit entstand, entschieden altväterlich. Wie
„Mathis der Maler“ und wie „Cardillac“ ist auch „Die Harmonie der Welt“ ein Künstleroder in diesem Fall ein Wissenschaftlerdrama über Leben und Denken des
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Astronomen Johannes Kepler. Hindemith schrieb den Text selbst, doch schon nach
der Uraufführung 1957 wurde die Gedankenüberfrachtung und mangelnde
sprachliche Eleganz des Textbuchs bemängelt: „Dass das fünfaktige
Musikschauspiel auch ein Denkspiel – und ein anspruchsvolles – ist, wurde
weitherum anerkannt, indessen waren sowohl unter den Liebhaber-Hörern wie unter
den beruflichen Referenten diejenigen nicht sehr zahlreich, die in seine Elemente
sich einzuleben willig waren,“ schreibt Andres Briner in seiner Hindemith-Biographie.
Die Oper wurde kaum nachgespielt und wenn, dann in gekürzter Form. Hindemiths
kompositorisches Vorgehen weist verblüffende Ähnlichkeiten zu „Mathis der Maler“
auf. Es gibt auch im Falle der „Harmonie der Welt“ eine dreisätzige Sinfonie gleichen
Titels, auch hier entstand die Sinfonie vor der Oper. Hier der Beginn des zweiten
Satzes dieser Sinfonie, er trägt den Titel „Musica humana“.
-----------Musik 7: Paul Hindemith, Sinfonie „Die Harmonie der Welt“. 2. Satz, Anfang.
Dresdner Philharmonie, Dir: Herbert Kegel.
Ars vivendi 2100178. Tr. 2, nach 4’45“ (ausblenden). Dauer: 4’45“
-----------Die Dresdner Philharmonie unter Herbert Kegel spielte aus Paul Hindemiths Sinfonie
„Die Harmonie der Welt“ den Beginn des zweiten Satzes mit dem Titel „Musica
humana“.
Zu Beginn dieser letzten Musikstunde über Paul Hindemith war die Rede von dessen
Messe und vom Einfluss, den Palestrinas Messkompositionen auf Hindemith
ausübten. Derartige kompositorische Anregungen durch ältere Kollegen gibt es bei
Hindemith gar nicht so selten; bei Johann Sebastian Bach war das zum Beispiel
ausführlich zu beobachten; den hat Hindemith auch ganz besonders verehrt. Die
„Sinfonischen Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber“ – so der
vollständige Titel – scheinen mir deshalb höchst geeignet zu sein, diese
Musikstunden-Woche zu beschließen; weil sie noch stärker als viele andere Werke
die Praxis der Bezugnahme auf prominente Vorgänger wieder aufgreifen und damit
für die Einordnung Hindemiths in einen größeren musikgeschichtlichen
Zusammenhang sorgen; sie sind aber auch deshalb als Schluss-Stück besonders
geeignet, weil in den 1943 entstandenen „Metamorphosen“ eine sympathische
Spitzbübigkeit zum Vorschein kommt, die man viel eher vom Hindemith der 20er
Jahre kennt. Weder hat Hindemith jemals verraten, welche Werke Webers er als
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Vorbild heranzog noch gab er Auskunft über sein kompositorisches Vorgehen. Was
ist von Weber, was von Hindemith? Sollten sich doch die Neunmalklugen die Köpfe
darüber zerbrechen. Hier die zweite der Metamorphosen, sie trägt den Titel
„Turandot“.
-------------Musik 8: Paul Hindemith, „Sinfonische Metamorphosen“. „Turandot“. Berliner
Philharmoniker, Dir: Claudio Abbado.
Archiv-Nr. 12-058750. Tr. 8 (auf Ende einblenden). Dauer komplett: 7’12“
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