verdeckt strategisches Handeln

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5. Vorlesung:
Theorie des kommunikativen Handelns
Meine Damen und Herren!
Am Ende der letzten Vorlesung habe ich Ihnen die Gebrauchstheorie der Bedeutung vorgestellt:
"Das Sprechen der Sprache (ist) ein Teil einer Tätigkeit.." Wittgenstein nahm damit die
Sprechakttheorie vorweg, die der englische Linguist John Austin in seinem Buch How to do
Things with Words (1962, deutsch 1972) begründet hat. In der Sprechakttheorie geht es um den
Handlungszusammenhang sprachlicher Äußerungen: Wir handeln durch unsere Worte, wenn wir
•
Sagen, wie etwas ist
•
Andere veranlassen, etwas zu tun
•
Versprechen, selber etwas zu tun
•
Unsere Gedanken, Gefühle, Erfahrungen mitteilen
•
Durch Worte die Realität verändern.
Sprachliche Äußerungen sind in einen sozialen Kontext eingebettet: Behauptungen, Wünsche,
Befehle und Fragen haben nicht nur eine Bedeutung, sondern sie haben über ihren semantischen
Inhalt hinaus Verpflichtungen zwischen Sprecher und Hörer zur Folge. So bindet mich etwa die
Äußerung "Ich komme heute Abend vorbei" daran, mein Versprechen auch zu halten. Wenn ich
es nicht tue, muß ich mich rechtfertigen - oder ich verliere meine soziale Glaubwürdigkeit.
Handeln durch Sprechen bezieht sich aber nicht nur auf elementare Äußerungen: Einen Witz,
eine Geschichte erzählen, sich entschuldigen, ein Streitgespräch führen, flirten, jemandem einen
Heiratsantrag machen, ein Interview führen oder interpretieren - all das sind Beispiele für
komplexe Sprechhandlungen, die sich aus elementaren Sprechakten - und den damit
verbundenen nichtsprachlichen Handlungskomponenten - zusammensetzen.
Auf diesen sprachphilosophischen und linguistischen Grundlagen aufbauend formulierte der
Soziologe und
Philosoph
Jürgen Habermas
(geb. 1929) eine umfassende
Kommunikationstheorie, die uns als nächstes beschäftigen soll.
1. Kommunikations- und Gesellschaftstheorie
Habermas steht in der Tradition der Kritischen Theorie der "Frankfurter Schule"
(Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm und andere). In seiner "Theorie des
kommunikativen Handelns" legt er (1981a, 1981b) eine Gesellschaftstheorie vor, die
sowohl das Lebenswelt-Konzept wie die Sprechakttheorie, als auch psychoanalytische
Erkenntnisse über verzerrte Kommunikation integriert. Diese Theorie verbindet den
lebensweltlichen mit einem systemtheoretischen Zugang zum Alltag und erlaubt damit
die Berücksichtigung objektiver Lebensbedingungen in ihren Auswirkungen auf den
Alltag.
Ich halte Habermas' Theorie für den derzeit umfassendsten Rahmen für eine verstehende
Diagnostik. Ich möchte Ihnen, bevor ich auf diese recht abstrakte Theorie eingehe, einen
Eindruck von Habermas' Vision eines "herrschaftsfreien Diskurses" vermitteln, d.h. einer
Kommunikation, in der nicht Machtverhältnisse "das Sagen haben", sondern in der es um
Verständigung auf der Basis von Freiwilligkeit und Gleichberechtigung der
Teilnehmenden geht.
Ich zitiere aus einem Interview (aus Ästhetik und Kommunikation 45/46, 1981), in dem
Habermas von seiner grundlegenden Intuition spricht:
"Die Intuition stammt aus dem Bereich des Umgangs mit anderen; sie zielt auf
Erfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität, fragiler als alles, was bisher die
Geschichte an Kommunikationsstrukturen aus sich hervorgetrieben hat - ein Netz von
intersubjektiven Beziehungen, das gleichwohl ein Verhältnis zwischen Freiheit und
Abhängigkeit ermöglicht, wie man es sich immer nur unter interaktiven Modellen
vorstellen kann. Es sind Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten und
Distanz, Entfernungen und gelingender, nicht verfehlter Nähe, Verletzbarkeiten und
komplementäre Behutsamkeiten - all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid,
von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit
Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf. Diese Freundlichkeit schließt nicht
etwa den Konflikt aus, sondern was sie meint, sind die humanen Formen, in denen man
Konflikte überleben kann."
2. Handlungstypen
Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns. 1981, Bd. 1) geht aus von der
soziologischen Grundfrage, wie soziales Zusammenleben von Menschen möglich ist.
Seine Handlungstheorie teilt mit dem dialektischen Materialismus die Auffassung, daß
der handelnde Mensch sowohl Produkt als auch Schöpfer seiner sozialen Umwelt ist.
Habermas unterscheidet gegenstandsbezogenes oder instrumentelles Handeln (z.B. ein
Haus bauen) und soziales Handeln (z.B. die Abstimmung der Bauleute beim Hausbau).
Innerhalb des sozialen Handelns unterscheidet er strategisches (erfolgsorientiertes) und
verständigungsorientiertes Handeln. Der strategisch Handelnde versucht, seine Ziele
unabhängig vom Einverständnis der Mithandelnden zu erreichen, z.B. durch Zwang oder
Belohnung
(offenes
strategisches
Handeln)
oder
indem
er
scheinbar
verständigungsorientiert
handelt
(verdeckt
strategisches
Handeln).
Verständigungsorientiertes Handeln heißt demgegenüber, dem Gesprächspartner ohne
Tricks und Hintergedanken zu begegnen, so daß dieser sich aus freien Stücken
entscheiden kann.
Im letzteren Fall kann die Täuschung dem Handelnden bewußt sein (der Fall der
beabsichtigten Manipulation) oder sich für ihn selber unbewußt einstellen (der Fall der
durch Selbsttäuschung verzerrten Kommunikation, z.B. wenn jemand seinen Partner in
scheinbar "bester Absicht" manipuliert, ohne es selber zu bemerken). Das
verständigungsorientierte oder kommunikative Handeln dient demgegenüber der
einvernehmlichen Abstimmung der Kommunikationsteilnehmer ("Überzeugen"). Die
Unterscheidung zwischen verständigungsorientiertem Handeln, bewußter und unbewußter
Täuschung ergibt auch eine erste Orientierung für die Interpretation und Validierung
diagnostischer Kommunikationsakte.
Innerhalb des sozialen Handelns unterscheidet er strategisches (erfolgsorientiertes) und
verständigungsorientiertes Handeln. Der strategisch Handelnde versucht, seine Ziele
unabhängig vom Einverständnis der Mithandelnden zu erreichen, z.B. durch Zwang oder
Belohnung
(offenes
strategisches
Handeln)
oder
indem
er
scheinbar
verständigungsorientiert
handelt
(verdeckt
strategisches
Handeln).
Verständigungsorientiertes Handeln heißt demgegenüber, dem Gesprächspartner ohne
Tricks und Hintergedanken zu begegnen, so daß dieser sich aus freien Stücken
entscheiden kann.
Handlungstypen nach Habermas (1981)
3. Lebenswelt und Kommunikation
Aus der Perspektive handelnder Subjekte ist der Ort des sozialen Handelns die alltägliche
Lebenswelt. Den Begriff der Lebenswelt übernimmt Habermas aus der Tradition der
Phänomenologie (Alfred Schütz). Das phänomenologische Lebensweltkonzept erhält allerdings
bei Habermas eine kommunikationstheoretische Wendung. Der Zugang zur Lebenswelt
konkreter Menschen erschließt sich nicht über die phänomenologische Wesensschau (die führt
höchstens zur Lebenswelt des Phänomenologen!), sondern nur über die gelebte Teilnahme an
sozialen Interaktionen. Habermas formuliert hier sozusagen eine Grundregel verstehender
Diagnostik (1981 I, S. 164-165):
"Sinnverstehen ist .. eine solipsistisch undurchführbare, weil kommunikative Erfahrung. Das
Verstehen einer symbolischen Äußerung erfordert grundsätzlich die Teilnahme an einem Prozeß
der Verständigung. Bedeutungen, ob sie nun in Handlungen, Institutionen, Arbeitsprodukten,
Worten, Kooperationszusammenhängen oder Dokumenten verkörpert sind, können nur von
innen erschlossen werden. Die symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit bildet ein Universum,
das gegenüber den Blicken eines kommunikationsunfähigen Beobachters hermetisch
verschlossen, eben unverständlich bleiben müßte. Die Lebenswelt öffnet sich nur einem Subjekt,
das von seiner Sprach- und Handlungskompetenz Gebrauch macht. Es verschafft sich dadurch
Zugang, daß es an den Kommunikationen der Angehörigen mindestens virtuell teilnimmt und so
selber zu einem mindestens potentiellen Angehörigen wird."
Diese Grundregel gilt ebenso für das heranwachsende Kind, das erstmals in eine Lebenswelt
hineinwächst, wie für jemand, der eine fremde Menschengruppe kennenlernt, wie auch für den
Sozialwissenschaftler oder Diagnostiker, der die Lebenswelt eines Menschen oder einer Gruppe
von Menschen erforschen möchte.
Habermas orientiert sich hier an der Tradition "dialogischer Philosophie" im Gegensatz zur
monologischen Bewußtseinsphilosophie (Descartes, Kant, Husserl, Schütz). ("Ich spreche mit
Dir - also bin ich" im Gegensatz zu "Ich denke, also bin ich".) Die "Ich-Du-Beziehung" ist etwa
für Martin Buber (1878-1965) grundlegend für die menschliche Existenz und nicht weiter
ableitbar.
Buber
schreibt
in
Übereinstimmung
mit
den
Ergebnissen
der
Entwicklungspsychologie: "Nicht durch ein Verhältnis zu seinem Selbst, sondern nur durch ein
Verhältnis zu einem anderen Selbst kann der Mensch selbst werden" (Buber 1979).
Habermas' Lebenswelt-Begriff ist komplex. Er unterscheidet
•
die materielle Grundlage der Lebenswelt (unbelebte und belebte Natur und vom
Menschen gestaltete Umwelt),
•
die symbolischen Komponenten der Lebenswelt, die durch die Teilnahme der Menschen
am "Netz kommunikativer Alltagspraxis" erhalten und von Generation zu Generation
weitergegeben werden. Diese symbolischen Komponenten sind
1. Kultur: unser gesellschaftlicher Wissensvorrat an Deutungsmustern (im Sinne von
Schütz) - als symbolische Grundlage jeder Verständigung
2. Gesellschaft: das "soziale Band", d.h. die konkreten sozialen Beziehungen, Solidaritäten
und Einbindungen des einzelnen
3. Persönlichkeit: die durch Sozialisation entwickelte kommunikative Kompetenz des
einzelnen
4. Grundvoraussetzungen für Verständigung
Kommunikatives Handeln erfolgt in sozialen Situationen (s. Folie), in denen aufgrund eines
Problems oder Konfliktes ein Verständigungsbedarf entsteht. Die soziale Situation ist ein
Ausschnitt aus der Lebenswelt der Beteiligten, der aufgrund von Interessen und Handlungszielen
von mindestens einem Beteiligten zum Thema gemacht wird. Weitere Bestimmungsstücke der
sozialen Situation sind der Ort, Zeit, die sozialen Beziehungen der Beteiligten und die für das
Thema relevanten objektiven und subjektiven Rahmenbedingungen. (Für gegenstandsbezogenes
Handeln gelten entsprechend modifizierte Bestimmungsstücke der Handlungssituation.) Den
Hintergrund kommunikativer Äußerungen ("Sprechakte") bilden die lebensweltlichen
Situationsdefinitionen der Beteiligten, die sich genügend überlappen müssen, wenn die
Verständigung gelingen soll. Andernfalls muß versucht werden, zunächst im Prozeß der
Verständigung eine gemeinsame Situationsdefinition auszuhandeln. Indem sich die
Kommunikationsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständigen, benutzen und erneuern
sie ihre kulturellen Wissensbestände, bekräftigen sie ihre sozialen Beziehungen und
Gruppenzugehörigkeiten und entwickeln sie - besonders als Heranwachsende - ihre
kommunikative Handlungsfähigkeit und Identität. Der Erhalt und die Erneuerung der Lebenswelt
einer sozialen Gruppe wie auch eines jeden Mitglieds ist also gebunden an die Teilnahme am
"Netz kommunikativer Alltagspraxis". Soziale Situationen im oben beschriebenen Sinn stellen
die kleinsten sinnvollen Analyseeinheiten für eine verstehende Diagnostik dar.
Beispiel einer sozialen Situation mit Verständigungsbedarf (nach Schulz von Thun 1981)
Nehmen wir zur Veranschaulichung ein Beispiel aus dem Buch "Miteinander reden" (Schulz von
Thun 1981): Ein Paar in einem Auto. Thema ist hier das Autofahren. Hypothetische
Handlungsziele: Schneller vorankommen aber auch Besserwisserei. Zeitliche, räumliche , soziale
Randbedingungen: Kreuzung, Ampel, Eile, Paarbeziehung. Situationsdefinition des Mannes: "Du
paßt nicht auf!" Situationsdefinition der Frau: "Du sollst mir nicht ´reinreden". Es liegt also ein
Konflikt vor, möglicherweise auch ein Verständigungsbedarf. (Es kann aber auch sein, daß dieser
Wortwechsel zwischen den beiden zu einem "Ritual" erstarrt ist, über das eine Verständigung
nicht mehr möglich ist oder nicht mehr gewünscht wird!)
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund dem Vorgang der Verständigung zu. Habermas stellt in
Anlehnung an Kant die grundsätzliche Frage nach der "Bedingung der Möglichkeit von
Verständigung" (in Kants Kritik der reinen Vernunft ging es um die Bedingung der Möglichkeit
von Erkenntnis). Diese Bedingung ist nach Habermas erfüllt, wenn Sprecher und Hörer sich an
die folgenden vier Grundregeln oder Geltungsansprüche der Verständigung halten:
1) verständlich zu sprechen
2) in bezug auf die Welt der Tatsachen bei der Wahrheit zu bleiben
3) in bezug auf die Welt der sozialen Beziehungen angemessen zu kommunizieren
4) in bezug auf die innere Welt der eigenen Absichten und Gefühle aufrichtig zu sein.
Die vier Geltungsansprüche der Verständigung leiten sich ab aus vier Weltbezügen
kommunikativer Äußerungen. Diese Welten, auf die sich Kommunikation bezieht, sind
1) die formale Welt der Sprache (Verständlichkeit)
2) die objektive Welt der Tatsachen und der "äußeren Natur" (z.B. "Ich bin in Berlin geboren")
3) die soziale Welt der interpersonalen Beziehungen (z.B. "Meine Vorstrafen gehen Sie nichts
an!")
4) die subjektive Welt der Gefühle, Wünsche, Absichten und Gedanken, der "inneren Natur"
(z.B. "Mein sehnlichster Wunsch war es, einen Freund zu finden")
In der folgenden Tabelle sind die Geltungsansprüche, ihre Weltbezüge und die zu ihrer Klärung
entwickelten wissenschaftlichen Diskurssysteme zusammengefaßt:
WELTBEZÜGE
GELTUNGSANSPRÜCHE
KLÄRUNGSMÖGLICHKEITEN
"WELT DER SPRACHE"
Verständlichkeit
Philosophischer Diskurs
OBJEKTIVE WELT
Wahrheit
theoretischer Diskurs
SOZIALE WELT
Richtigkeit
ethischer Diskurs
SUBJEKTIVE WELT
Aufrichtigkeit/Autentizität
therapeutische/ästhetische Kritik
Die hier getrennt dargestellten Bezüge kommunikativer Handlungen sind gewöhnlich bei ein und
der selben sprachlichen Äußerung gemeinsam gegeben, d.h. jeder kommunikative Akt bezieht
sich gleichzeitig auf die formale, objektive, soziale und subjektive Welt. Wenn ich spreche, sage
ich zugleich etwas über meine objektive Welt, über meine Beziehung zum Gesprächspartner und
über mich selbst (Inhalts-, Beziehungs- und Selbstdarstellungsaspekt). (Schulz von Thun (1981)
in diesem Zusammenhang von den vier Seiten einer Botschaft, wobei er neben dem
Beziehungsaspekt noch den Appellcharakter der Botschaft hervorhebt.)
Praktisch sind die Geltungsansprüche des verständigungsorientierten Handelns allerdings selten
vollständig erfüllt. Habermas schreibt dazu:
"Typisch sind Zustände in der Grauzone zwischen Unverständnis und Mißverständnis,
beabsichtigter und unfreiwilliger Unwahrhaftigkeit, verschleierter und offener NichtÜbereinstimmung einerseits, Vorverständigtsein und Verständigung andererseits; in dieser Zone
muß Einverständnis aktiv herbeigeführt werden. Verständigung ist also ein Prozeß, der
Unverständnis und Mißverständnis, Unwahrhaftigkeit sich und anderen gegenüber, schließlich
Nicht-Übereinstimmungen auf der gemeinsamen Basis von Geltungsansprüchen zu überwinden
sucht" (Habermas 1984, S. 253).
Während beabsichtigte Unwahrhaftigkeit in Interessen- und Machtkonflikten, in der
Ungleichheit, Unterdrückung und Vorteilssuche begründet ist, findet die unfreiwillige
Unwahrhaftigkeit ihren Nährboden in den Selbsttäuschungen, Lebenslügen und neurotischen
Konflikten der Kommunikationsteilnehmer.
Man könnte fragen, welche Bedeutung die Geltungsansprüche haben, wenn sie gewöhnlich doch
nicht erfüllt werden. Die Antwort lautet:
•
Sie dienen in unserer Alltagskommunikation als wechselseitiger Vertrauensvorschuß der
Zurechnungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit, wobei geringfügige, das jeweilige
Verständigungsziel nicht beeinträchtigende Verletzungen toleriert werden. Gewöhnlich
akzeptieren wir solche Verletzungen nach der "Et-cetera - Regel", die besagt, daß sich die
Unstimmigkeiten entweder später aufklären oder als für das aktuelle Handlungsziel nicht
wesentlich erweisen werden.
•
Die Geltungsansprüche werden nach Habermas bei verständigungsorientierter
Kommunikation stillschweigend vorausgesetzt. Wenn der Hörer annehmen muß, daß sie
in grober Weise verletzt werden, hat er die Möglichkeit, ihre Beachtung durch den
Sprecher einzufordern, d.h. das Gesagte mit guten Gründen" zu kritisieren, und zwar
1) mit sprachlichen Argumenten ("Du drückst Dich unklar aus")
2) mit empirischen Argumenten ("Das entspricht nicht den Tatsachen")
3. 3) mit normativen Argumenten ("Das gehört jetzt nicht hierher") und
4. 4) mit psychologischen Argumenten ("Du machst mir was vor").
5.
Die Grenzen des Verstehens
Habermas stellt die Verständigungsfähigkeit kommunikativ vernünftiger Subjekte in den
Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie. Seine Rahmentheorie kann als Grundlage dienen für die
verstehende Diagnostik. Wir werden später sehen, wie aus der Konzeption der
Geltungsansprüche "Gütekriterien" für die Qualitätskontrolle von Interviews und anderen
kommunikativen Methoden abgeleitet werden können.
Habermas betont aber auch die Grenzen des Verstehens: Die biologischen, psychischen und
gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns sind den Handelnden immer nur zum Teil
durchschaubar. Die Handelnden sind "in Geschichten verstrickt", d.h. sie sind nicht nur
Handelnde, sondern immer auch Erleidende, die ihren Lebenssituationen oft mehr oder weniger
hilflos ausgeliefert sind. In der Lebensbewältigung stellen sich Probleme der "äußeren" ebenso
wie der "inneren Not". Die Menschen beherrschen und durchschauen ihre objektiv gegebene
Lebenssituation, ihre inneren Konflikte und ihre Verständigungsmöglichkeiten nur zu einem
kleinen Teil.
Dreifacher Zugang zum Gegenstand der Psychologie
Eine sich im lebensweltlichen Verstehen der Gesellschaftsmitglieder erschöpfende
Sozialwissenschaft oder Psychologie greift deshalb zu kurz, weil sie von der Fiktion autonom
handelnder und selbstaufgeklärter Subjekte ausgeht, weil sie die kulturellen
Selbstverständlichkeiten als letzten Verstehenshorizont nicht in Frage stellen kann und weil sie
annehmen muß, daß die Gesellschaftsmitglieder sich über alles verständigen können. Aus diesen
Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit eines dreifachen Zugangs zur alltäglichen
Lebenswelt und zum Gegenstand der Psychologie:
•
Die Analyse der "äußeren Not" erfordert eine objektivierende Beobachterperspektive, in
der sich das menschliche Handeln und Erleiden als Teilaspekt eines größeren
Systemzusammenhangs darstellt. Die Lebensweltanalyse muß deshalb durch eine
(biologische und gesellschaftliche) Systemanalyse ergänzt werden.
•
Die Sicht des Subjekts erschließt sich dagegen nur durch Methoden des Verstehens, d.h.
durch die Teilnahme an Kommunikationsprozessen.
•
Die Analyse der "inneren Not" erfordert ein besonderes Verfahren des Verstehens, das die
Sicht des Subjekts überschreitet und seine Selbsttäuschung und verzerrte Kommunikation
zu entwirren erlaubt. Hier macht sich die Theorie des kommunikativen Handelns die
Methoden und Erkenntnisse einer um Selbstaufklärung des Verdrängten bemühten
Psychoanalyse nutzbar (Habermas, 1973).
6. Anregungen für die Diskussion
•
Welche Typen sozialen Handelns werden nach Habermas unterschieden?
•
Diskutieren Sie Habermas´ Kritik am phänomenologischen Lebenswelt-Konzept und
seine kommunikationstheoretische Erweiterung. Komponenten der Lebenswelt?
•
Diskutieren Sie die soziale Situation und ihre Bestimmungsstücke als Analyseeinheit für
soziales Handeln.
•
Was versteht man unter Weltbezügen und Geltungsansprüchen kommunikativer
Äußerungen? Diskutieren Sie in diesem Zusammenhang die 4 Seiten einer Botschaft
(Schulz von Thun).
•
Was versteht man unter der Et-cetera - Regel? Wieso ist sie wichtig für die
Kommunikation?
•
Begründen Sie die Grenzen des Verstehens und leiten Sie daraus die unterschiedlichen
Zugangsweisen der Psychodiagnostik ab.
7. Literatur
Austin, J.:
How to do Things with Words. Oxford 1962
(deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972
Buber, M.:
Ich und Du. Lambert Schneider: Heidelberg (1979)
Habermas, J.:
Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp: Frankfurt (1973)
Habermas, J.:
Theorie des kommunikativen Handelns. (Bd. 1 und 2) Suhrkamp: Frankfurt (1981)
Habermas, J.:
Vorstudien und Ergänzungen zur Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns.
Suhrkamp: Frankfurt (1984)
Schulz von Thun, F.:
Miteinander reden: Störungen und Klärungen. Rowohlt: Reinbek (1981)
Schulz von Thun, F.:
Miteinander reden Bd. 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle
Psychologie der Kommunikation. Rowohlt: Reinbek (1989)
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