Fridolin Marxer – Andreas Traber Wiedergeburt Hoffnung oder Illusion? Über das Buch Die Wiedergeburt der „Seele“ ist zumindest seit der griechischen Antike eine der Antworten auf die Frage nach einem möglichen Weiterleben nach dem Tod. Heute sind auch bei uns viele von den fernöstlichen Religionen und ihren Reinkarnationsvorstellungen fasziniert. Lässt sich das mit der christlichen Auferstehungshoffnung vereinbaren? Verträgt sich das mit dem, was uns die Naturwissenschaften über Mensch und Kosmos sagen? Sachkundig, informativ und für alle verständlich geht dieses Buch diesen Fragen nach. Über den Autor Fridolin Marxer SJ, 1925–2009, Dr. theol., war Religionslehrer in Basel und zudem in der Erwachsenenbildung tätig. Andreas Traber, geboren 1950, Dr. phil., wohnt in Kerns (Schweiz). Er unterrichtete Physik und ist ebenfalls in der Erwachsenenbildung tätig. Verlagsgemeinschaft topos plus Butzon & Bercker, Kevelaer Don Bosco, München Echter, Würzburg Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern Paulusverlag, Freiburg (Schweiz) Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Tyrolia, Innsbruck Eine Initiative der Verlagsgruppe engagement www.topos-taschenbuecher.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8367-1057-2 2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim Paulusverlag Freiburg/Schweiz Umschlagabbildung: © Sanit Fuangnakhon, shutterstock.com Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany Inhalt Vorwort 9 Erster Teil Die Reinkarnation in der Geistesgeschichte Einleitung 15 I. Mythos, Gnosis, frühes Christentum 18 1. Mythos – das Menschenleben eins mit dem Natur18 geschehen 2. Gnosis – eine höhere geistige Erkenntnis 23 3. Das frühe Christentum im Streit mit der Gnosis 26 II. Aufstieg des Geistes im modernen Europa 33 1. Faustische Lern- und Tatenlust: Lessing 33 2. Ewige Wiederkehr des Gleichen: Nietzsche 36 3. Auf der Leiter des Fortschritts: Der Spiritismus 39 4. Das selbstgeschaffene Schicksal: Die Anthroposophie 42 Zwischenbilanz: Weite Verbreitung der Reinkarnations-Idee 47 5 III.Die Reinkarnation in den Religionen des Ostens 49 49 A. Im Hinduismus 1. Der Tod – ein Wandlungsprozess 50 2. Die Wiederverkörperung der Seele 51 B. Im Buddhismus 57 1.Erscheinungsformen 57 2. Radikale Loslösung 59 Zusammenfassung: Daseinsanalyse und Heilsweg 65 Zweiter Teil Die Reinkarnation als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung I. Materialismus und Spiritismus 77 II. Neue Entwicklungen in den Naturwissenschaften 81 1. Die Revolution der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts 81 2.Teilchenphysik 85 86 3. Naturphilosophische Konsequenzen 88 4. Naturwissenschaftlicher Spiritismus III.Grenzwissenschaften 91 91 1.Parapsychologie 2.Astrologie 107 3. Thanatologie (Sterbelehre) 114 6 IV. Belege für das Leben nach dem Tod und für Reinkarnation 118 119 1. Leben nach dem Tod 2.Reinkarnation 125 3. Kritische Würdigung 138 Dritter Teil Die Reinkarnation im Urteil von Philosophie und Theologie I. Bibelkritische Überlegungen 149 150 A. Die Apokryphen 1.Namen 150 2.Einteilung 151 3.Bedeutung 153 B. Umstrittene Textstellen 154 1. Das Wiederkommen des Elija 154 2. Allgemein menschliches Schicksal 156 159 II. Philosophisch-theologische Reflexion A. Einmaligkeit oder Mehrmaligkeit der Geschichte 159 1. Natur oder Schöpfung 159 2. Kreis oder Pfeil 161 3. Der Ernstfall des Kairos 163 B. Bipolarität oder Dualismus 166 1. Bipolares oder dualistisches Menschenbild in der Philosophie 166 7 2. Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung des Leibes 174 C. Durch Gott oder durch sich selbst erlöst 179 1. Der Pelagianismusstreit 179 2. Karma oder Gnade 181 3. Das Prinzip Gnade 185 4.Läuterung 187 Der Streit der Hoffnungen 190 Epilog 195 Anmerkungen 202 Literaturverzeichnis 215 8 Vorwort Während einiger Jahre haben wir im Bildungshaus Bad Schönbrunn (heute Lassallehaus), Kanton Zug, Wochenend-Seminare zur Frage der Reinkarnation gehalten. Das sichtlich rege Interesse für die Fragestellung hat uns dazu bewogen, weitere Seminare im Franziskushaus Dulliken und eine Reihe von Kursabenden in der Erwachsenenbildung von Basel und in Orten der Umgebung zu halten. Die über Erwarten große Teilnehmerzahl und das anhaltende Interesse haben uns dazu geführt, eine Drucklegung ins Auge zu fassen, um unsere Darlegungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit im Spiel war auch die Überlegung, dass wir in einem zweitägigen Seminar wie auch in einer Folge von wenigen Kursabenden die an Aspekten reiche Thematik nicht genügend entfalten konnten. Zur Thematik der Reinkarnation oder, wie man auch sagen kann, der Wiedergeburt oder der Seelenwanderung ist zwar in den letzten Jahren eine große Zahl von Büchern auf den Markt gekommen. Abgesehen von vielen unseriösen, oberflächlichen und zuweilen reißerischen Taschenbüchern, auf deren Herausgabe sich einige Verlage spezialisiert haben, gibt es auch eine ernst zu nehmende wissenschaftliche und philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit der Reinkarnationsfrage. Tiefer begründete philosophisch-theologische Stellungnahmen finden sich aber meist innerhalb einer Gesamtschau der Eschatologie, d. h. der Lehre von den letzten Dingen des menschlichen Lebens; sie sind darum nicht leicht zugänglich. Wissenschaftliche, kritisch fundierte Darstellungen gibt es 9 nur wenige, was zu bedauern ist. Die Verbindung einer geistesgeschichtlichen philosophisch-theologischen Darstellung der Reinkarnationslehre mit einer wissenschaftstheoretischen Untersuchung der als Beweise ausgegebenen Wiedergeburtserlebnisse ist erst recht eine Mangelware auf dem Büchermarkt. Es scheint uns also, dass wir durch unser Werk, das in fächerübergreifender Zusammenarbeit des Theologen und des Naturwissenschaftlers entstanden ist, eine wertvolle Ergänzung zur vorhandenen Reinkarnations-Literatur anbieten können. Die Absicht, die uns in den Seminaren und Kursen geleitet hat und der wir im Rahmen eines Buches leichter nachkommen können, ist primär der Wille zur objektiven Darstellung der Reinkarnationslehre in der Geschichte und in der Gegenwart. Die Vertreter der Reinkarnations-Vorstellung bzw., vorsichtiger gesagt, die Autoren und Leser, die zu dieser Denkart neigen, müssen sich in unserer Darstellung mit ihrer Überzeugung wiederfinden können. Der objektiven Darlegung in Geschichte und Gegenwart ist insgesamt der erste Teil gewidmet; aber auch die kritische Auseinandersetzung im zweiten Teil gründet auf der objektiven Feststellung wissenschaftlich nachgewiesener Tatsachen und Fakten, die den Gedanken an die Reinkarnation nahelegen können. Der Wille zur Objektivität, das ist weiter zu bemerken, hält uns aber nicht von einer klaren Stellungnahme ab. Wir huldigen nicht einem standpunktlosen Irenismus, der jedem Recht gibt und damit im Grunde dem andern die Achtung verweigert. Vielmehr soll da, wo es die Sache verlangt, die Verschiedenheit der Positionen deutlich herausgestellt werden. Dies geschieht, um es anders zu sagen, nicht aus Rechthaberei, sondern aus 10 Respekt vor der Meinung des andern, die nicht für die eigene vereinnahmt werden soll. Ein Grundmerkmal des Buches, das der Leser im Ganzen verifiziert finden dürfte, ist die einheitliche Auffassung, die die beiden Verfasser in ihrer Stellungnahme vertreten. Das ist nicht selbstverständlich; es könnte auch anders sein, ohne dass dagegen etwas einzuwenden wäre. In den letzten Jahren sind viele Sammelwerke unter dem Namen eines oder mehrerer Herausgeber erschienen, bei denen die Verfasser der einzelnen Artikel nur für ihren Beitrag zeichnen. Dem gegenüber finden sich hier beide Autoren, unter Achtung der entsprechenden Fachkompetenz des andern, für das ganze, in mehrjähriger, intensiver Zusammenarbeit entstandene Werk verantwortlich. Sie hoffen, auf diese Weise einen Beitrag zur Klärung und zur persönlichen Meinungsbildung in einer Frage leisten zu können, die viele Menschen heute beschäftigt. Die Verfasser legen Wert darauf, dem Lektor, Herrn Thomas, und der Leitung des Paulusverlags, die die Drucklegung übernommen haben, ihren tiefempfundenen Dank auszusprechen. Basel, Allschwil F. Marxer, A. Traber 11 III. Die Reinkarnation in den Religionen des Ostens A. Im Hinduismus In den Religionen des Ostens, im Hinduismus und Buddhismus, hat die Reinkarnation seit alters her eine große Bedeutung. Sie wird aber von diesen ganz anders eingeschätzt als im Westen seit der Zeit der Aufklärung. Die Wiederverkörperung wird nicht positiv, als eine erstrebenswerte Möglichkeit der Selbstentfaltung gesehen, sondern sie wird als ein schweres, auferlegtes Schicksal empfunden, dem man nach Möglichkeit zu entgehen sucht. Das gilt, global betrachtet, abgesehen von einigen neueren westlichen Einflüssen, für den Hinduismus und ebenso für den Buddhismus. Genau genommen dürfte man nicht einfach vom Hinduismus in der Einzahl sprechen; denn der Hinduismus ist eigentlich nach einer Bemerkung des Kenners Heinrich von Stietencron „ein Kollektiv von Religionen“62. Was die Reinkarnation im Hinduismus angeht, so versucht sie Richard Friedli in einer Art von „Typologie“ in vier Weltentwürfen vorzustellen. Er beschreibt die Erscheinungsformen der Wiedergeburt als „Nahrungszyklus“, als „Erkenntnisproblem“, als „Schicksalsannahme“ und als „Fehlentwicklung“63. Wir folgen der eher phänomenologischen Darstellungsweise von Reinhart Hummel, Heinrich von Stietencron und Hubert Hänggi, wobei wir weiterhin Richard Friedli zu Rate ziehen64. Wie R. Hummel festhält – was H. von Stietencron und andere bestätigen –, ist in den frühesten vedischen Schriften noch 49 nicht von der Wiederverkörperung die Rede. Der Kreislauf des Lebens, das Samsāra, kommt erst in den Upanischaden (um 800 v. Chr.) ausführlich zur Sprache. 1. Der Tod – ein Wandlungsprozess Um die Idee der Wiederverkörperung im Hinduismus richtig zu situieren, müssen wir vorerst auf die Bedeutung von Tod und Leben in der indischen Geisteswelt eingehen, die von unserer westlichen Auffassung verschieden ist. H. von Stietencron bemerkt dazu: „Wir sehen den Tod als etwas, das dem Leben ein Ende setzt. Er steht im Gegensatz zum Leben, und da er Leben vernichtet, ist er auch ein Feind vom Leben … In Indien hat man Tod und Leben nicht in einer solchen Opposition gesehen. Nur bei den alten Materialisten gibt es etwas Ähnliches. Alle andern philosophischen und theologischen Schulen haben ein Ende vom Leben, wie es bei uns der Tod herbeiführen soll, als Trugschluss aufgefasst … Nach der Anschauung der indischen Religionen wird Leben durch den Tod nicht beendet, sondern nur in seinen Bedingungen gewandelt. Man sieht das Leben als ein Geschehen, das in ständigem Aufbau und Abbau von Formen begriffen ist. Es ist ein kontinuierlicher Wandlungsprozess. Dabei wäre es ein Irrtum, zu glauben, das Leben beginne mit der Geburt und ende mit dem Tod. Vielmehr sind beide, Geburt und Tod, im Leben ständig zugegen … Im Unterschied zu unserer westlichen Auffassung ist demnach der Tod nur eine Zäsur, die einen Abschnitt des Lebens markiert und einen neuen Abschnitt einleitet. Er ist kein Zustand, sondern ein Wandlungsprozess, der zu einem neuen Zustand führt: dem Zustand der Toten nach dem Tode“65. Was uns im allgemeinen auch nicht bewusst ist, worauf uns der Gelehrte hinweist, ist die Tatsache, dass es in der hinduis50 tischen Tradition drei verschiedene Vorstellungen vom Schicksal der Verstorbenen nach dem Tod gibt, die seit mehr als zweitausend Jahren nebeneinander bestehen. Wir halten uns wieder an die Darstellung von H. von Stietencron: „– Die erste (Vorstellung) reicht in die ältesten Schichten indischer Überlieferung zurück. Sie weiß von einer Welt der Väter, in der sich die Verstorbenen am himmlischen Nektar und an den Opfergaben der noch lebenden Nachkommen laben. – Die zweite lokalisiert die Welt der Toten im Reich des Totengottes Yama, der auch Richter über die Toten ist. Während die Guten in der herrlichen Stadt Yamas alle Freuden genießen, geraten die Übeltäter in Höllen, in denen sie unter Qualen ihr schlechtes karman abtragen müssen. – Die dritte Vorstellung basiert auf der Lehre von der Wiedergeburt, der zufolge sich jedes verstorbene Wesen irgendwo im Bereich des Lebendigen neu verkörpert, bis ihm endgültig Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten zuteilwird“66. 2. Die Wiederverkörperung der Seele Um ausdrücklich von der dritten Form, der Wiederverkörperung der Seele oder der Seelenwanderung, zu sprechen, die uns interessiert, stellt sich die Frage, was die Seele eigentlich ist, die da wandert und sich wiederverkörpert. Die frühen Upanischaden sagen mit einer gewissen Unbefangenheit: der Ātman, das Selbst. Wie eine Raupe an einem Halm herunter- und am nächsten wieder hochkriecht, so wandert der Ātman von einer Geburt zur andern. „In Wirklichkeit ist die Sache natürlich komplizierter“, hält R. Hummel demgegenüber fest67. 51 a) Die Leibhüllen Eine differenziertere Antwort auf die Frage, wer und was durch den Geburtenkreislauf wandert, haben die indischen Denker mit Hilfe der Lehre von den verschiedenen Leibhüllen (Koshas), meist sind es fünf, gefunden. Sie waren sich darüber klar, dass die Vorstellung eines Selbst, das von einem voll ausgebildeten Körper zu einem gleichen andern wandert, zu einfach war. So entwickelten sie die Vorstellung, dass der Ātman, das Selbst, von verschiedenen Hüllen umgeben ist oder dass er selbst aus verschiedenen Schichten besteht. Bei der Seelenwanderung würden dementsprechend nur die äußeren Hüllen bzw. Schichten abgestreift, während das tiefere Selbst als solches bleibt. In der Hinduliteratur wird dafür oft das Bild eines Handschuhs gebraucht, den das Selbst abstreift, um nachher wieder einen anderen überzustreifen. H. von Stietencron gibt unter Berufung auf den Sanskrit-Begriff der Seele eine nähere Erklärung: „Das, was schon vor der Geburt als Träger einer Individualität vorhanden war und auch nach dem Tode weiter besteht und sich wieder verkörpert, wird auf Sanskrit jīva oder jīvātman genannt, und in unseren Übersetzungen erscheint es häufig als Seele. Das Wort ist von der Wurzel jīv = leben abgeleitet. Der jīva ist lebendig. Als jīvātman ist er das Leben-selbst oder die Lebensseele … Dieser jīvātman, die Lebensseele, setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, von denen die eine unvergänglich, die andere vergänglich ist. Er besteht aus einem unvergänglichen lebendigen Funken göttlichen Bewusstseins, dem ātman, und einem vergänglichen feinstofflichen Leib, genauer gesagt: einem feinstofflich-materiellen Aggregat von Wahrnehmungsbedingungen, dem sogenannten inneren Instrument (antaḥkaraṇa). Solange das Bewusstsein dieses feinstoffliche Instrument für seine Wahrnehmungen 52 benutzt, solange existiert und lebt die Lebensseele. Zusammen wandern sie durch die Geburten, wobei das Bewusstsein stets gleich bleibt, das Instrument aber seine Qualitäten aufgrund von Tatfolgen (karman) verändert. Trennen sich die beiden Komponenten der Seele, so fällt das Instrument an die undifferenzierte Materie zurück, und das individuelle Bewusstsein (ātman) wird wieder zum unbeschränkten absoluten Bewusstsein (brahman), mit dem es immer schon identisch war.“68 b) Das unerbittliche Gesetz des Karma Die äußere, vergängliche Komponente der Lebensseele wird durch die Tatfolgen verändert. Die Lehre vom Karma (Sanskrit: karman) bildete sich, wie die Vorstellung vom Geburtenkreislauf (= Samsāra) und zusammen mit ihr, in der Zeit der frühen Upanischaden (um 800 V. Chr.) aus. R. Hummel gibt dazu eine nähere Erklärung: „Karma heißt eigentlich ‚Tat‘, ‚Werk‘, meint dann aber auch die Furcht oder Folge der Tat oder gar den Bedingungszusammenhang zwischen der Tat und ihren Folgen. Helmut von Glasenapp hat die Karmalehre als Lehre von der ‚automatisch funktionierenden Vergeltungskausalität der Taten‘ definiert. Freilich handelt es sich bei der Rede von ‚Vergeltungskausalität‘ und ‚Karmagesetz‘ um moderne Begriffe. Die ursprünglichen Vorstellungen waren stärker von einem feinstofflichen Substanzdenken geprägt“, von dem wir eben gesprochen haben69. H. von Stietencron betont in erster Linie die Unerbittlichkeit des Dharma, der Weltordnung, die der Götter- und der Menschenwelt übergeordnet ist, und in zweiter Linie, diesem untergeordnet, die Determiniertheit des Menschen durch das frühere Tun: 53 „Das Wort: Jeder ist seines Glückes Schmied, ist somit in Indien bis in die letzten Konsequenzen gültig. Hier wirkt sich mit der Konsequenz eines Naturgesetzes ein kosmisches Vergeltungsgesetz aus, das menschlicher, auf begrenzter Erkenntnis beruhender Gerechtigkeit weit überlegen ist. Das Ergebnis ist Ungleichheit: aber eine Ungleichheit, bei der die äußere Situation der inneren genau entspricht. Die Plausibilität der Karma-Lehre beruht nicht zuletzt auf dem Glauben an diesen Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Determiniertheit, d. h. zwischen gesellschaftlichem Status und menschlicher Qualität, und an die ihm innewaltende Gerechtigkeit. Ob sich dieser Glaube angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchhalten lässt, ist freilich eine andere Frage. Der moderne Hinduismus hat … den determinierenden Charakter der Karma-Lehre so weit wie möglich abgeschwächt und neigt dazu, auch frühere Quellen in diesem Licht zu deuten. Viele von diesen sprechen aber eine harte und deutliche Sprache, indem sie jeden Menschen zum alleinigen Verursacher und Verantwortlichen für sein Geschick erklären. Kein Mensch kann je Glück oder Unglück eines andern verursachen. Einzig das Karma, das wir selbst in der Vergangenheit angehäuft haben, ist die Ursache von Glück und Unglück …“70. c) Moksha – der Weg der Befreiung Die Notwendigkeit des immer wiederholten Geborenwerdens wird von den Hindus als Unheil empfunden. Von alter Zeit her hat man nach Mitteln und Wegen der Befreiung (= Moksha) aus dem unheilsamen Kreislauf gesucht. Nach der Auffassung des Hinduismus, die im Buddhismus noch verstärkt worden ist, entstehen die Taten, also das Karma, aus Wünschen. Anders gesagt, das Begehren verursacht das Handeln. Dieses lässt gutes oder schlechtes Karma entstehen, und als Folge davon 54 ergeben sich immer wieder neue Existenzen. Also muss das Begehren überwunden werden. Das bedeutet konkret, dass der Mensch aufhören muss, sich mit seiner empirischen Person zu identifizieren, um statt dessen den unvergänglichen Personkern (= Ātman) zu realisieren. „Der Weg der Erkenntnis“ (Jnāna-Marga) legt besonderen Wert auf die Überwindung der Unwissenheit, „der Weg des Werkes“ (Karma-Marga) bemüht sich um leidenschaftsloses Handeln, die Bhagavadgítā legt den Akzent auf die hingebende Gottesliebe. Von der Bhagavadgītā bemerkt R. Hummel, dass sie „den Glauben an Karma und Wiedergeburt in eine theistische Gesamtkonzeption, nämlich in die Verehrung Krischnas als des höchsten Gottes, eingebettet“ hat71. H. Hänggi, der nur eine Unterscheidung zwischen Erkenntnis- und Yogaweg trifft, bemerkt zum Erkenntnisweg, dass es dabei „um die Erfahrung (geht), dass das ewig Bleibende in mir, der Ātman, identisch ist mit dem Brahman, dem absoluten Urgrund des Seins. Die Formel dafür lautet ‚tat tvam asi‘, du bist das. Diese Erkenntnis befreit, weil es in Wirklichkeit nichts zu befreien gibt, da ich erfahre, dass ich immer schon befreit bin, eins mit der letzten Wirklichkeit“72. Anders gesagt, es geht um die Einsicht in das tiefste Wesen des menschlichen Seins. Der sublime Weg der Erkenntnis ist aber für die große Zahl der Menschen, die im Arbeits- und Berufsleben stehen, nicht leicht zu realisieren. Für diese verweist H. Hänggi auf den Weg der Hingabe (= bhakti), der in der Bhagavadgītā vorgezeichnet ist. Dieser besteht dem Wesen nach darin, dass man „auf die Begierde“ verzichtet, die in jedem Tun enthalten ist, oder, wenn dies nicht möglich ist, dass man „die Begierde auf Gott“ richtet73. 55 d) Die Verbindung von Reinkarnation und Evolution Eine Neuinterpretation und eine grundlegende Umwandlung erfuhr der Reinkarnations-Gedanke durch die Aufnahme der westlichen Evolutionstheorie. Bahnbrechend gewirkt hat hier Swami Vivekananda in einer Rede, die er 1896 in den USA gehalten hat. Das traditionelle Kreislaufdenken wird auf der von ihm vorgezeichneten Linie nach vorn aufgebrochen. Aus der Synthese des östlichen Kreises und des westlichen Pfeils wird die nach oben sich windende Spirale. Die radikalste Kritik des traditionellen Wiedergeburtsmodells kommt von (Sri) Auribindo Gosh (1872–1950). Das Modell sei „zu deterministisch“; es enthalte ein Leistungsschema, „das zu sehr rächend und wenig gnadenhaft sei“. Nach Auribindo besteht das einzige positive Ziel der Wiedergeburts-Theorie – dem westlichen Denken entsprechend – darin, „zur fortschreitenden Selbstentfaltung der Seele beizutragen“74. Einen bedeutsamen Platz nimmt in seiner Konzeption der Gedanke des steten Wachstums, der Evolution, der Weiterentwicklung ein; die Möglichkeit eines Abfalls, einer Rückentwicklung wird nicht in Betracht gezogen. Sri Auribindo Gosh schreibt: „Die Seele wird jedes Mal geboren, und jedes Mal werden aus den Stoffen der universalen Natur ein Geist, Leben und Körper gebildet, die der vergangenen Evolution der Seele und ihren Erfordernissen für die Zukunft entsprechen. Bei der Auflösung des Körpers nach dem Tode geht das Vitale in die Vital-Ebene ein und bleibt dort eine Zeitlang, doch danach löst sich die vitale Hülle auf. Das letzte, was sich auflöst, ist die geistige Hülle. Die Seele oder das seelische Wesen endlich zieht sich in die Seelenwelt zurück, um dort zu ruhen, bis eine neue Geburt naht … Die Seele gelangt um der Erfahrung des Wachstums, der Entwicklung willen zur Geburt, bis sie das Göttliche in die Materie zu bringen 56 vermag. Es ist das zentrale Wesen, das sich inkarniert, nicht die äußere Persönlichkeit – die Persönlichkeit ist lediglich eine Form, welche die Seele sich in diesem Leben für die Art ihrer Erfahrungen schafft. In einer nächsten Geburt wird sie sich eine andere Persönlichkeit bilden, andere Fähigkeiten, ein anderes Leben und einen andern Weg …“75. Ähnlich wie Rudolf Steiner lehnt Auribindo Gosh ein grobes Vorstellungsschema von Lohn und Strafe entschieden ab. Der westliche Denker, der in Indien Anleihen macht, und der indische Gelehrte, der sich nach dem Westen orientiert, treffen sich bei ihrer Konzeption in der Mitte. Auribindo drückt sich freilich entschiedener und deutlicher aus: „Sich die Wiedergeburt und Umstände des Lebens als Belohnung oder Strafe für punya (Verdienst, der durch Tugend erworben wird) oder papa (Sünde) vorzustellen, ist eine grobe menschliche Vorstellung von ‚Gerechtigkeit‘, die gänzlich unphilosophisch und unspirituell ist und die wahre Bedeutung des Lebens entstellt. Das Leben hier ist eine Evolution, und die Seele wächst durch Erfahrung, mit deren Hilfe sie dies oder jenes in der menschlichen Natur ausarbeitet; man leidet um dieses Ausarbeitens willen und nicht als Folge eines Urteils, das Gott oder ein kosmisches Gesetz über unser Irren und Fehlen fällte, das unvermeidlich ist in der Welt der Unwissenheit“76. B. Im Buddhismus 1. Erscheinungsformen Wie der Hinduismus, so ist auch der Buddhismus keine einheitliche Religion. Alle Kenner weisen darauf hin, dass es mehrere buddhistische Traditionen gibt, die in ihren Erscheinungsfor57 men und Grundeinstellungen verschieden sind. Nach dem Systematiker Richard Friedli lassen sich drei strukturell verschiedene Religionstypen unterscheiden, die nach den Sanskritnamen Hīnayāna (= Kleines Fahrzeug), Mahāyāna (= Großes Fahrzeug) und Vajrayāna (= Diamant bzw. Donnerkeil-Fahrzeug) benannt werden77. Die erste Form, die für Mönche bestimmt ist, gilt als eine Methode der Selbsterlösung aus dem Leiden und dem Kreislauf des Lebens. Die zweite Form, die für die breite Masse des Volkes realisierbar ist, will Kraft vermitteln durch die Anrufung des Ewigen Buddha, der sich in Gautama Siddharta manifestiert hat. Sie ist also eine Art von Gnadenreligion. Die dritte Form, die im tibetanischen Lamaismus gepflegt wird, will Erlösung vermitteln durch die magische Verwendung des Donnerkeils (= vayra, tib, dorje) und das gesprochene Wort (= mantra). Um genau zu sein, müsste man noch den Ur-Buddhismus, den sog. „Weg der Alten“, eigens hervorheben78, doch für unser Thema müssen wir nicht auf alle Verästelungen eingehen. Was für unseren Fragepunkt wichtig ist, alle erwähnten Formen beziehen sich auf die Rede, die Buddha gemäß der Überlieferung nach seiner Erfahrung der Erleuchtung (= bodhi) um 528 bei Benares gehalten hat: „Dies ist, ihr Mönche, die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden. Kurz, die fünf Aggregate, die vom Anhaften entstehen, sind Leiden. Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: Es ist der Durst, der das Wiedergeborenwerden im 58 Werden verursacht, begleitet von sinnlichen Freuden, der hier und dort seine Befriedigung findet, der Durst nach Lust, der Durst nach Werden, der Durst nach Nicht-Existenz. Dies ist, ihr Mönche, die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist die Aufhebung jenes Durstes, so dass kein Begehren übrigbleibt. Es ist das Aufgeben, Fahren-Lassen, Sich-Befreien und sich Entäußern von diesem Begierdedurst. Dies ist, ihr Mönche, die edle Wahrheit vom Wege zur Aufhebung des Leidens: Es ist der edle, achtgliedrige Pfad, der da heißt: rechtes Glauben, rechtes Entschließen, rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken, rechtes Sich-Versenken.“ (zitiert nach: Karl Eugen Neumann) 2. Radikale Loslösung Buddha gibt eine Anweisung zur Vermeidung des „Wiedergeborenwerdens“, zum Austreten aus dem Kreislauf des Werdens. Es stellt sich die Frage: Was wird wiedergeboren? Oder anders formuliert: Was wandert von einer irdischen Existenz in eine andere? Ist es das empirische Ich oder das wesenhafte Selbst oder, allgemeiner gesprochen, die Seele? In diesem letzteren Fall ist die Antwort nicht leicht zu geben. Man hat, wie Reinhart Hummel erwähnt, im Buddhismus von einer Seelenwanderung „ohne Seele“ gesprochen79. Der Autor führt näher dazu aus: „Der Unterschied zum Hinduismus liegt darin, dass der Buddhismus die Existenz des Ātman, des göttlichen Personkerns, leugnet, damit die Identität der Person von einem Leben zum andern in Frage stellt und die schon im 59 Hinduismus schwierige Frage, was da eigentlich wandert, noch komplizierter macht“80. Dumoulin weist auf die im Buddhismus übliche Verbindung von Nicht-Ich-Lehre, Wiedergeburt und Karma hin, aus der sich eine Widersprüchlichkeit ergibt: „Das Zusammenbestehen dieser drei Vorstellungen bietet deshalb eine logische Schwierigkeit, weil die Nicht-Ich-Lehre ein kontinuierliches Subjekt leugnet, während Wiedergeburt und Karma ein solches zu fordern scheinen. In der buddhistischen Literatur ist immer wieder die Frage erörtert worden, was da nun wiedergeboren wird, da doch kein Ich da ist. Und die andere Frage, wie die Karma-Vergeltung, gemäß der gute Tat gutes Karma, böse Tat böses Karma gebiert, ohne einen Träger als Subjekt übertragen werden kann. Verschiedene Lösungen wurden vorgeschlagen, die aber die Schwierigkeit bzw. Widersprüchlichkeit der Vorstellungen nur umso stärker hervortreten lassen“81. Zum besseren Verständnis der Problematik verweist H. Dumoulin, ohne eine Antwort in der Sache zu geben, darauf, dass es sich bei den Vorstellungen von Wiedergeburt und Karma „dem Ursprung nach um urbuddhistische Vorstellungen handelt“, die „in der altindischen vorbuddhistischen Geisteswelt beheimatet“ sind82. a) Der Zusammenhang von Samsāra und Nirvāna Um von kontroversen Fragen abzusehen: Zu einem „Grundbestand“ von Buddhas Lehre gehört die Forderung nach der „radikalen Loslösung“83. Davon spricht Hans Waldenfels, indem er die Begriffe Samsāra und Nirvāna in sich und in ihrer Beziehung zueinander näher erläutert: 60 „Buddhistisch gesprochen, geht es um den Zusammenhang von samsāra und nirvāna. Samsāra bedeutet wörtlich „herumgehen“, „kreisen“, im Sinne der indischen Philosophie den Kreislauf der Geburt, des Todes und der Wiedergeburt eines jeden Individuums. Im buddhistischen Verständnis von samsāra verbinden sich die Lehre vom karma, wonach alles Tun sich auswirkt, im fremden wie im eigenen Leben, aber auch über die jeweilige Existenz hinaus, die Lehre von anattā (Skt. anātman), der Leugnung eines jeden substanzhaften Selbst unter gleichzeitiger Betonung radikalen Bemühens um „Selbst-Losigkeit“, und die Lehre von paticcasamuppāda (Skt. pratítyasamutpāda), dem Gesetz des Entstehens in Abhängigkeit bzw. der reinen Existenz aus bzw. in Beziehung. Gerade die dritte Lehre betont in ihren verschiedenen Ausprägungen die Vernetztheit allen Seins, damit auch die Unentrinnbarkeit aus dem gewordenen und immer noch weiter werdenden Geschick. Im Rahmen der Vernetzung hat der Tod aber solange keine entscheidende Bedeutung, als er nicht zu einer – so oder so zu bewertenden – Lösung aus der Vernetzung der Kreisläufe führt. Dass es eine solche befreiende Lösung gibt, ist die Grundbotschaft des Buddhismus“84. Im Hinduismus wird die Möglichkeit der Befreiung aus dem Geburtenkreislauf durch den Moksha-Begriff bestimmt; der Buddhismus ist, in der Reflexion einen Schritt weitergehend, zur Konzeption des Nirvāna gelangt. H. Waldenfels führt dazu näher aus: „Auch wenn das Wort in den klassischen Wiedergaben der ersten Buddhapredigt, in der dieser die vier Edlen Wahrheiten verkündigt hat, nicht fällt, ist nirvāna zum zentralen Ausdruck der Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Sterben geworden, Nirvāna … bedeutet wörtlich ‚verwehen‘, ‚verlöschen‘ und bezeichnet die absolute Vernichtung aller Anhänglichkeit bzw. auch die Überwindung alles Nichtwissens bzw. aller Unerleuchtetheit. Die Sprache wird hier paradox. Einerseits kann sich der Buddhist nicht genug tun in negativen Formulierungen. 61 Andererseits muss nirvāna etwas unsagbar Positives sein. Das ständige ‚Nicht‘ bzw. ‚Nichts‘ erscheint wie mit einem lichten Rande eingefasst, so dass Bernhard Welte mit gutem Grund vom ‚Licht des Nichts‘ sprechen konnte“85. In westlichen Begriffen gedacht, bedeutet Nirvāna vielleicht negativ: das Auslöschen der individuellen menschlichen Seele als Inbegriff und Subjekt allen Wünschens und Strebens, und positiv: das Einswerden der individuellen menschlichen Seele mit der göttlichen Allseele. b) Die Erfahrung des „Großen Todes“ Unter Verweis auf das für alle Gläubigen als Vorbild geltende Sterben Buddhas spricht H. Waldenfels von der „radikalen Loslösung“86. Was er im Blick auf den Tod des Meisters betont, bricht auch in zen-buddhistischen Texten immer wieder durch. Es geht um die Erfahrung des „Großen Todes“. Als Beispiel sei ein Text aus dem von H. Dumoulin übersetzten Buch „Mumonkan“ angeführt: „Der große Weg aller Buddhas und das letzte Ziel im Buddhismus ist die Loslösung von Leben und Tod und die Verwirklichung der Erleuchtung. Wir müssen vom Leben im Leben und vom Tod im Tod losgelöst sein; d. h. wenn wir lebendig sind, ist das Leben ganze Aktivität. Leben ist die Erfahrung vom Leben; Tod ist die Erfahrung vom Tod. Zusammen sind Leben und Tod das tatsächliche Erscheinen von Wahrheit. Das letzte Ziel ist die Loslösung, das heißt das vollständige Eintauchen in Leben und Tod …“87. H. Waldenfels faßt zusammen: „Es geht im Buddhismus nicht um Leben und Tod im Sinne des samsāra, sondern um den ‚Großen Tod‘ der radikalen Loslösung vom samsarischen Le62 ben und Tod im nirvāna. Diese Loslösung vom samsāra aber ist eine im samsāra selbst vollzogene Loslösung“88. Der zen-buddhistische Text strahlt eine hohe Geistigkeit aus; er ist aber nicht leicht zu verstehen. Leichter zugänglich ist das aus dem Umkreis des Mahāyāna-Buddhismus stammende Tibetische Totenbuch „Bardo Thödol“, das 1927 zum ersten Mal in englischer Sprache erschien und seither immer wieder, u. a. von C. G. Jung, kommentiert wurde. Bardo Thödol heißt wörtlich: „Befreiung durch das Hören im Zwischenzustand“. Bardo ist übersetzt: Zwischenzustand. Das Buch dient „primär dazu, die Seele des Sterbenden und Verstorbenen auf dem Weg ins bzw. durch das Jenseits zu begleiten … und sie möglichst vor dem schlimmen Schicksal der Wiedergeburt in einer der dafür vorgesehenen Welten zu bewahren“89. Der Text stellt eine Art von Ars moriendi dar, d. h. ein Lebensbuch, das bis in die Stunde des Todes und darüber hinaus hilfreich sein will. So heißt es am Ende des Buches: „Man sollte diese (Lehren) immer wieder lesen und den Wortlaut und Sinn auswendig lernen; wenn dann der Tod gewiss ist und man die Zeichen des Todes erkannt hat, sollte man dieses Buch, wenn es der eigene Zustand zulässt, selbst laut lesen und darüber meditieren. Ist man nicht in der Lage, das zu tun, sollte man es einem Dharma-Bruder zum Vorlesen geben, denn diese Mahnung wird mit Sicherheit befreien, daran gibt es keinen Zweifel. Diese Lehre braucht keine Übung, es ist eine tiefe Unterweisung, die befreit, wenn man sie bloß sieht, hört und liest. Diese tiefe Unterweisung führt große Sünder auf den geheimen Pfad. Vergisst man ihre Worte und ihren Sinn nicht, selbst wenn man von sieben Hunden gejagt wird, dann befreit die Anweisung im Bardo des Augenblickes vor dem Tod. Selbst wenn die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft danach suchen würden, könnten sie keine bessere Lehre finden“90. 63 Zur Bedeutung des Textes bemerkt H. Waldenfels, dass es daraus klar geworden sein sollte, „dass es im Totenbuch der Tibeter um das ernsthafte Bemühen geht, den Lebenden wie den Sterbenden auf dem Weg ins Jenseits zu helfen“91. Das Bemühen ist oder müsste in jeder Religion, nicht zuletzt im Christentum zu finden sein. Die Betrachtung abschließend, äußert sich R. Hummel in dem Sinn, dass „sich moderne Buddhisten bei ihren Deutungen der Karma- und Wiedergeburtslehre“ im allgemeinen bemühen, „den Eindruck fatalistischer Schicksalsergebenheit zu vermeiden und die Eigenverantwortlichkeit des Menschen positiv darzustellen“92. Sie treffen sich in ihrem Anliegen mit den modernen Reformern des Hinduismus, die sich vom kosmischen Vergeltungsmechanismus zu distanzieren suchen. „Theologisch bedeutsam“ erscheint dem Autor „die Tatsache, dass die klassischen östlichen Religionen den Kreislauf der Wiedergeburten vor allem als Analyse des menschlichen Daseins, nicht als Heilsweg begriffen haben. Der Mensch bedarf in ihrer Sicht der Befreiung daraus, und dieser dienen die unterschiedlichen Befreiungswege. Ihre Vielfalt hängt auch damit zusammen, dass sie Befreiung nicht nur negativ, als Befreiung aus dem Geburtenkreislauf, definieren, sondern ihr einen positiven Sinn zu geben verstanden haben: als Einswerden mit dem Göttlichen, Erfassen der eigenen Buddhanatur usw. … Für das Christentum ist wichtig, dass die östlichen Religionen auf ihre Weise, nämlich mit Hilfe der Reinkarnationsvorstellung, das Elend und die Verlorenheit des Menschen artikulieren und seine Erlösungsbedürftigkeit herausstellen“93. 64