Klinische Neuroradiologie Fallbericht Progressive multifokale Leukenzephalopathie: Diagnose und Differentialdiagnose Eckart Grönewäller1, Ulrich Herrlinger2, Wilhelm Küker1 Zusammenfassung Hintergrund: Die progressive multifokale Leukenzephalopathie ist eine opportunistische Virusinfektion des Gehirns, die bei Patienten mit Immunschwäche auftritt. Die Prognose der Erkrankung ist schlecht. Das charakteristische Zeichen in der MRT sind Läsionen in den subkortikalen U-Fasern des Gehirns ohne Schrankenstörung. Eigener Patient: Wir berichten den seltenen Fall einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie als initialen Befund bei einem Patienten mit einer später erkannten chronisch lymphatischen Leukämie und diskutieren die Differentialdiagnosen. Schlüsselwörter: Progressive multifokale Leukenzephalopathie · MRT · JC-Virus Klin Neuroradiol 2001;11:212–5 DOI 10.1007/s00062-001-2321-7 Progressive Multifokal Leukencephalopathy: Diagnosis and Differential Diagnosis Abstract Background: Progressive multifocal leukencephalopathy is an infectious demyelinating disorder of the central nervous system, occurring due to internal reactivation of JC-virus. Patients always have an immunological deficit, mostly due to AIDS, immunosuppressive treatment or an immunoproliferative disorder. Progressive multifocal leukencephalopathy has a desperate prognosis. Imaging signs are subcortical lesions involving the U-fibers without demonstration of contrast enhancement. Own Patient: We report imaging and clinical signs in a rare patient, who presented with progressive multifocal leukencephalopathy as the initial sign of a immunological disease and discuss differential diagnoses. Key Words: Progressive multifocal leukencephalopathy · MRI · JC virus · Encephalitis Einleitung Opportunistische Infektionen des Zentralnervensystems haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Gründe sind vor allem die Ausbreitung des erworbenen Immunschwächesyndroms (AIDS) sowie die Zunahme von Organ- und Knochenmarktransplantationen. In allen diesen Fällen resultiert krankheitsbedingt oder iatrogen eine Schwäche der Immunabwehr. Verbreitete Erreger einer solchen Infektion sind Toxoplasma gondii, das Zytomegalievirus oder Pilzinfektionen. Bei der 1 2 HIV-Infektion kann auch eine virusbedingte Enzephalopathie auftreten. Gemeinsam ist allen Patienten in der Regel, dass die Schwächung des Immunsystems zum Zeitpunkt des Auftretens der zerebralen Symptomatik schon bekannt ist und daher die differentialdiagnostischen Erwägungen in die entsprechende Richtung verlaufen. Probleme können resultieren, wenn die opportunistische Infektion das erste Symptom einer hämatologischen Erkrankung ist. Abteilung für Neuroradiologie und Neurologische Klinik, Klinikum der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Eingang: 24. September 2001; Annahme: 17. Oktober 2001 212 Klin Neuroradiol 2001 · Nr. 4 © Urban & Vogel Grönewäller E, et al. Diagnose der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie Wir berichten über die klinischen und radiologischen Befunde bei einem Patienten mit einer durch JC-Viren verursachten, progressiven multifokalen Leukenzephalopathie, die auf dem Boden einer vorher nicht bekannten chronisch lymphatischen Leukämie entstanden war. Fallbericht Klinische Befunde: Der zu diesem Zeitpunkt 52 Jahre alte, vorher gesunde Patient stellte sich im Februar wegen einer Erkältungserkrankung bei seinem Hausarzt vor. Die Blutuntersuchung ergab eine Panzytopenie unklarer Genese. Die diagnostische hämatologische Abklärung unter Einschluss einer Knochenmarkuntersuchung erbrachte keine Diagnose. Bei Verlaufskontrollen fand sich keine Änderung der Befunde. Im August klagte der Patient dann über Schmerzen der linken Hand und Schulter sowie Sensibilitätsstörungen und eine Ungeschicklichkeit. Eine Minderung der groben Kraft oder Reflexdifferenzen waren bei der klinischen Untersuchung nicht festzustellen. Zum Ausschluss eines Bandscheibenvorfalls wurde eine MRT der Halswirbelsäule durchgeführt. Hier fanden sich geringe degenerative Veränderungen, aber keine Zeichen einer Rückenmarksschädigung oder eines Vorfalls. Eine foraminale Stenose war gleichfalls nicht vorhanden. In den nächsten 4 Wochen kam es zu einer deutlichen Kraftminderung der linken Hand; jedoch wurde der Patient erst nach dem Auftreten einer zusätzlichen Beinparese neurologisch vorgestellt. Es bestand nun eine armbetonte, rechtsseitige zentrale Hemiparese mit lebhaften Reflexen und pathologischen Reflexen der Babinski-Gruppe. Unter der Verdachtsdiagnose einer zerebralen Raumforderung wurde zunächst eine kraniale CT-Untersuchung angefertigt. CT: Es fand sich eine hypodense Läsion im Marklager unter dem Gyrus frontalis superior rechts und dem Gyrus praecentralis ohne raumfordernde Wirkung (Abbildung 1a). Eine Kontrastmittelaufnahme ließ sich computertomographisch nicht sichern. Weitere Läsionen waren in der CT nicht nachweisbar. Der CT-Befund sprach insgesamt für einen niedriggradigen hirneigenen Tumor. Für diese Verdachtsdiagnose untypisch waren jedoch die ausgeprägten klinischen Defizite, die zu einem Tumor ohne Ödem und Nekrose nicht passten. Zur weiteren Abklärung wurde daher eine ergänzende MRT durchgeführt. MRT: Die Untersuchung erfolgte bei 1,5 T (Siemens Magnetom Vision). Es wurden axiale T2-gewichtete Klin Neuroradiol 2001 · Nr. 4 © Urban & Vogel FLAIR-Aufnahmen, koronare T2-gewichtete TSE-Sequenzen sowie axiale und koronare T1-gewichtete Aufnahmen vor und nach Gabe von Gd-DTPA angefertigt. Zusätzlich wurden diffusionsgewichtete EPI-Aufnahmen akquiriert. Es fand sich eine in T2-Wichtung hyperintense Läsion im Marklager unter der rechten Zentralregion (Abbildungen 1b bis 1e). Der Durchmesser betrug etwa 2 cm. Der Schwerpunkt der Veränderungen lag in den U-Fasern unmittelbar subkortikal. Die Rinde war nicht nachweisbar infiltriert. Es war weder eine Kontrastmittelaufnahme noch eine raumfordernde Wirkung vorhanden. Die diffusionsgewichteten Sequenzen zeigten keine Auffälligkeit. Eine zweite, etwas kleinere Läsion mit ähnlichem Signalverhalten fand sich links parietal. Der Verdacht auf eine entzündliche Läsion statt eines Tumors ergab sich aus der fehlenden kortikalen Infiltration bei eindeutiger Beteiligung der U-Fasern und der fehlenden raumfordernden Wirkung. Die Liquoruntersuchung erbrachte normale Werte für Zellzahl und Protein. Die wegen der radiologischen Verdachtsdiagnose durchgeführte PCR-Untersuchung wies aber eindeutig JC-Virusgenom im Liquor nach. HIV-Viren konnten demgegenüber nicht gefunden werden. Diagnose und Verlauf: Eine erneute hämatologische Abklärung sicherte jetzt die Diagnose einer chronisch lymphatischen Leukämie. Insgesamt wurde damit die endgültige Diagnose einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie durch JC-Virusinfektion auf dem Boden einer durch eine chronisch lymphatische Leukämie verursachten Immunschwäche gestellt. Unter einer antiviralen Therapie mit Cidofovir und Foscarnet kam es zu einer deutlichen Progredienz der Erkrankung. Auch die Therapie der chronisch lymphatischen Leukämie konnte die Progredienz nicht aufhalten. Diskussion Die progressive multifokale Leukenzephalopathie ist eine demyelinisierende Erkrankung des Gehirns [5]. Sie wird durch die endogene Reaktivierung von Papovaviren ausgelöst, die bei 80–90% der Bevölkerung latent im Körper vorhanden sind. Die Viren führen zu einer Zerstörung der Oligodendrogliazellen und der Astrozyten. Im Gegensatz zu anderen demyelinisierenden Erkrankungen wie der multiplen Sklerose oder der akuten disseminierten Enzephalomyelitis sind die Demyelinisierungsherde bei progressiver multifokaler Leuk- 213 Grönewäller E, et al. Diagnose der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie Abbildung 1a Abbildung 1b Abbildung 1c Abbildung 1d Abbildung 1e Abbildung 1f Abbildungen 1a bis 1f. a) Native CT. Man erkennt eine hypodense Läsion rechts subkortikal mit Schwerpunkt im Gyrus frontalis superior. Die Hirnrinde ist weitgehend erhalten. – b) Die T2-gewichtete FLAIR-Sequenz an entsprechender Stelle weist ebenfalls eine Marklagerläsion ohne kortikale Schwellung oder Infiltration nach. Der Gyrus praecentralis ist ebenfalls betroffen. – c) Auch diese T1-gewichtete Aufnahme zeigt die Läsion mit Schwerpunkt im Bereich der U-Fasern. – d) Die sagittale T2-gewichtete TSE-Sequenz lässt erkennen, dass die Gyri nicht wie bei einem typischen Tumor aufgetrieben sind. – e) In der koronaren T2-gewichteten TSE-Schicht ist das Marklager unter dem Gyrus frontalis superior betroffen. – f) Die koronare T1-gewichtete Aufnahme nach Gabe von Gd-DTPA zeigt keinerlei Kontrastmittelaufnahmen wie bei anderen Demyelinisierungsherden. enzephalopathie nicht durch eine Schrankenstörung gekennzeichnet. Der klinische Verlauf ist rasch progredient [4]. Die Überlebenszeit der Patienten beträgt selten mehr als 1 Jahr, häufig weniger als 6 Monate. Für die Diagnosesicherung steht heute eine Polymerasekettenreaktion (PCR) gegen das Virusgenom im Liquor zur Verfügung. Diese Untersuchung hat eine Sensitivität von mehr als 80% bei sehr hoher Spezifität. Eine Hirnbiopsie sollte heute nicht mehr erforderlich sein. Therapeutisch werden die Virostatika Foscarnet und Cidofovir eingesetzt [1, 3]. Obwohl vereinzelt über 214 positive Resultate bei Patienten mit AIDS berichtet wurde, ist eine wesentliche Verbesserung der Prognose nicht belegt. Der Zeitpunkt des Therapiebeginns hat auf die Prognose keinen Einfluss. Eine bildgebende Diagnostik des Zentralnervensystems wird bei Patienten mit AIDS, immunoproliferativen Erkrankungen oder immunsuppressiver Therapie in der Regel bei Auftreten neurologischer Symptome durchgeführt. Die Anzahl möglicher Ursachen einer zerebralen Schädigung ist groß und umfasst neben opportunistischen Infektionen auch eine zerebrale Mit- Klin Neuroradiol 2001 · Nr. 4 © Urban & Vogel Grönewäller E, et al. Diagnose der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie beteiligung im Rahmen der Grunderkrankung, Medikamentennebenwirkungen oder eine Graft-versusHost-Reaktion. Die endgültige Diagnose ist häufig mit bildgebenden Verfahren nicht möglich, jedoch kann der Ausschluss von einer der Differentialdiagnosen für die Kliniker bereits sehr hilfreich sein. Zerebrale Lymphominfiltrationen oder Aspergillosen unterscheiden sich deutlich von einer viralen Enzephalitis. Der Nutzen der bildgebenden Untersuchung ist somit die Eingrenzung der Anzahl möglicher Ursachen einer zerebralen Schädigung, die die Ursachensuche mittels Liquoranalyse oder anderer Verfahren in eine bestimmte Richtung lenkt. Die progressive multifokale Leukenzephalopathie ist entgegen ihrer Nomenklatur eine virale Enzephalitis. Das Charakteristikum der Erkrankung ist die Ausbildung von Marklagerläsionen ohne Schrankenstörung oder kortikale Beteiligung. Damit unterscheidet sich die Infektion in der bildgebenden Diagnostik von den meisten anderen viralen Enzephalitiden, wie die durch Zytomegalie-, Herpes-simplex- und Varizella-zosterVirus verursachten. Diese Erkrankungen weisen eine Schrankenstörung auf oder haben einen Topismus für die graue Hirnsubstanz. Eine relevante Differentialdiagnose der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie in der MRT ist daher die AIDS-Enzephalopathie, die ebenfalls eine flächige Veränderung der weißen Substanz ohne Kontrastmittelaufnahme verursacht. Als wichtiges differentialdiagnostisches Zeichen wird der Befall der subkortikalen U-Fasern angesehen [2]. Diese sind bei der AIDS-Enzephalopathie fast immer ausgespart, bei der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie aber charakteristischerweise betroffen. Selten ist eine progressive multifokale Leukenzephalopathie das initiale Symptom einer immunologischen Erkrankung. Wegen der geringen Inzidenz in der Normalbevölkerung gehört die progressive multifokale Leukenzephalopathie nicht zu den normalerweise erwogenen Differentialdiagnosen bei einer zerebralen Läsion. Auch in dem hier vorgestellten Fall wurde zunächst nach der CT ein Tumor angenommen. Erst die genaue Auswertung der MRT lenkte den Verdacht auf eine entzündliche Erkrankung des Gehirns. Gegen ein Tumorödem sprach die vollständig fehlende Kontrastmittelaufnahme. Ein hirneigener Tumor ohne Schrankenstörung war wegen der fehlenden raumfordernden Wirkung und der Aussparung der Hirnrinde sehr unwahrscheinlich. Einschränkend muss jedoch erwähnt Klin Neuroradiol 2001 · Nr. 4 © Urban & Vogel werden, dass beide Zeichen bei der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie berichtet worden sind [2]. Auch die fokalen neurologischen Ausfälle sind für einen kleinen hirneigenen Tumor sehr uncharakteristisch, solange keine Nekrosen oder ein Ödem vorliegen. Gegen eine Ischämie sprachen die fehlende Diffusionsstörung und die erhaltene Hirnrinde. Trotz normaler Liquorzellzahl und fehlender Liquoreiweißerhöhung wurde eine PCR-Untersuchung auf das JC-Virus durchgeführt. Die intensive Suche nach einer Ursache der immunologischen Inkompetenz erbrachte dann die Diagnose der chronisch lymphatischen Leukämie. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass die progressive multifokale Leukenzephalopathie auch bei Patienten ohne bekannte immunologische Erkrankung in bestimmten Fällen differentialdiagnostisch erwogen werden muss. Die Durchführung einer Liquoruntersuchung kann dann eine Hirnbiopsie überflüssig machen. Literatur 1. De Luca A, Giancola ML, Ammassari A, et al. Cidofovir added to HAART improves virological and clinical outcome in AIDS-associated progressive multifocal leukoencephalopathy. AIDS 2000;14: F117–21. 2. Hansman Whiteman ML, Bowen BC, Donovan Post MJ, Bell MD. Intracranial infection. In: Atlas SW, ed. Magnetic resonance imaging of the brain and spine, 2nd edn. Philadelpia: Lippincott Raven, 1996:708. 3. Happe S, Bessehnann M, Matheja P, et al. Cidofovir (Vistide) in der Therapie der Progressiven Multifokalen Leukoenzephalopathie (PML) bei AIDS. Literaturübersicht und Beschreibung zweier Fälle. Nervenarzt 1999;70:935–43. 4. Malessa A, Pfister HW. HIV-Infektion und AIDS: Neurologische Manifestation. In: Brandt T, Dichgans J, Diener HC, Hrsg. Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen, 3. Aufl. Stuttgart–Berlin–Köln: Kohlhammer, 1998:472–500. 5. Wasmuth JC, Wasmuth Pietzuch A, Spengler U, Rockstroh JK. Die progressive multifokale Leukoenzephalopathie. Med Klin 1999; 94:264–73. Korrespondenzanschrift Priv.-Doz. Dr. Wilhelm Küker Abteilung für Neuroradiologie Universitätsklinikum Hoppe-Seyler-Straße 3 72076 Tübingen Deutschland Telefon (+49/7071) 29-86024, Fax -5392 E-Mail: [email protected] 215