Universität Zürich Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut Prof. Dr. Hans Geser Peter Weiss HS 2011 08.12.2011 «Erosionstendenzen an der Parteibasis» Andreas Ladner, Urs Meuli (2005) Aufbau: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Anlass/Ausgangspunkt Bedeutung Lokalparteien Bedeutung Befragung: Forschungslücke Ergebnisse a) Mitgliederschwund b) Aktivisten rosten ein c) Nachwuchssorgen Auswirkungen a) Für Parteien b) Gesamtgesellschaftlich Krise nach Regionen und Parteien Anmerkungen/Diskussion 1. Ausgangspunkt Im internationalen Vergleich weisen Schweizer Parteien zweierlei auf: Erstens vergleichsweise viele Mitglieder (Ende 1990er-Jahre waren rund 6% der Stimmberechtigten Mitglied einer Partei). Damit liegt die Schweiz international gesehen im vorderen Mittelfeld. Zweitens: mit etwas mehr als 5000 Sektionen in 2800 Gemeinden, von denen weit über die Hälfte weniger als 1000 Stimmberechtigte haben, auch sehr viele lokale Parteisektionen. Beides zusammen steht für eine sehr breite Basis. Doch diese bröckelt in der jüngeren Vergangenheit zusehends: Schweizer Ortsparteien haben immer weniger Mitglieder und Aktivisten, und dementsprechend immer grössere Rekrutierungsprobleme. Andreas Ladner und Urs Meuli wollen diese Entwicklung erfassen und erklären. 2. Bedeutung der Schweizer Lokalparteien Schweizer Lokalparteien werben und organisieren Mitglieder, treiben Beiträge von ihnen ein und finanzieren so die übergeordneten Parteiorganisationen; sie rekrutieren Parteikader und Gemeindebörden-Mitglieder. Im schweizerischen Milizsystem ist letzteres eine sehr zentrale Funktion. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Folgen darum der Mitgliederschwund nicht nur für die Parteien selbst, sondern auch für die Organisation des vielgliedrig-föderalistischen Schweizer Staatswesens hat. Kurz: Bröckelt die Parteienbasis, so bröckelt auch die Basis des Milizsystems. 3. Bedeutung der Befragung: Forschungslücke Der föderalistische Aufbau nicht nur des Schweizer Staats-, sondern auch des Parteienwesens führt dazu, dass Parteien hierzulande geradezu als Blackbox erscheinen. So können die nationalen Parteiorganisationen selbst können keine verlässlichen Angaben etwa über die Anzahl ihrer Mitglieder und Lokalsektionen liefern. Zwei Erhebungen des soziologischen Instituts der Universität Zürich von 1989/90 und 2003/2004 versuchen Universität Zürich Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut Prof. Dr. Hans Geser Peter Weiss HS 2011 08.12.2011 daher, überhaupt erst einmal verlässliche Daten über die Entwicklung der Parteien zu gewinnen. Bei den Erhebungen handelt es sich um Befragungen unter Lokalparteien, an denen jeweils etwa die Hälfte von diesen teilnahm. 4. Ergebnisse a) Mitgliederschwund Zwischen 1990 und 2005 haben die – 1990 bereits bestehenden – Lokalsektionen der vier Bundesratspartien insgesamt rund 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Die Polparteien SVP und SP schrumpften „nur“ um 13 und 15 Prozent, während die CVP mit 25 Prozent weniger Mitgliedern fast ebenso stark Federn lassen musste wie die FDP mit einem Verlust von 27 Prozent. Die SVP bildet, was ihre Gesamt-Mitgliederzahl angeht, einen Sonderfall: Dank ihrer „Gebietserweiterung“, sprich: ihrem Vordringen in die einstigen CVP-Hochburgen der Innerschweiz sowie in die Romandie erzielt sie einen Mitgliederzuwachs. ABER: ihre 1990 bereits bestehenden Sektionen schrumpften in ähnlichem Mass wie diejenigen der übrigen damaligen Bundesratsparteien. b) Aktivisten rosten ein Unter Parteiaktivisten sind jene Mitglieder zu verstehen, die sich für ihre Partei engagieren und für Parteiarbeiten eingesetzt werden können. Schweizweit gab es 2005 nur noch 80 000 solcher Aktivposten, was einem gesamthaften Rückgang entspricht. Dieser fiel in den einzelnen Parteien unterschiedlich stark aus: FDP und SVP büssten etwa 30 Prozent ihrer Aktivisten ein, die CVP deren 40 und die SP „nur“ 15 Prozent. Dank des Aufholeffekts nach der späten Integration ins politische System hatte die Zunahme an weiblichen Aktivistinnen bis 1990 deren Rückgang bei den Männern kompensiert, seitdem aber nicht mehr. Hierbei bestehen jedoch starke Unterschiede zwischen den Parteien. So nahm die Zahl der weiblichen Aktivistinnen nach 1990 zwar insgesamt ab, für den Rückgang waren aber fast ausschliesslich die CVP-Frauen verantwortlich. Deren Aktivenzahl sinkt um 50 Prozent, in allen anderen Parteien sind die Veränderungen in Sachen weibliche Aktivistinnen hingegen nur minimal. Dies wiederum führt insgesamt zu einer gewissen Nivellierung der Gender Gap in Sachen Parteiaktivisten. Denn in allen Parteien brach die Anzahl der aktiven Männer regelrecht ein: Bei der CVP um 40, der FDP um 33, der SP und SVP um jeweils 25 Prozent. Der Frauenanteil unter den Partei-Aktivisten war daher 2005 deutlich höher als 15 Jahre zuvor, und das in allen Parteien. c) Nachwuchssorgen Schweizer Lokalparteien drohen insgesamt zu überaltern: Waren 1990 noch mehr als 50 Prozent ihrer Mitglieder noch unter 45-jährig, so waren es 2005 nur noch rund 43 Prozent. Dazu ist zu sagen, dass die 30- bis 45-Jährige als Nachwuchs gelten, während die 45- bis 60-Jährigen die Ämter in Parteien und Gemeinden einnehmen. In den vergangenen Jahren ist die Nachwuchskategorie geschrumpft und die Alterskategorie der Veantwortungsträger dementsprechend gewachsen. Auf Dauer ist somit ein gravierendes Nachfolgeproblem absehbar. Und dieses wird nicht etwa dadurch gelindert, dass die Rentner, die ja sonst als immer aktiver werden, in die Bresche sprängen. Universität Zürich Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut Prof. Dr. Hans Geser Peter Weiss HS 2011 08.12.2011 5. Auswirkungen a) Auf Parteien selbst: Die enorme Vielzahl an Gemeinden führt zu einem hohen Bedarf an Amtsträgerinnen und -trägern: schweizweit sind schätzungsweise zwischen 150 000 und 170 000 Ämter in den Gemeinden zu besetzen. Dies ist noch immer eine Hauptaufgabe der Parteien. Bei der Kandidatensuche bekunden sie aber zunehmend Mühe, auch wenn es um die Suche nach geeigneten Personen für parteiinterne Ämter geht. Dies trifft auf alle Parteien in gleichem Masse zu. Ausserdem lag die ausgesprochen hohe Stabilität des Schweizer Parteiensystems nicht zuletzt in ihrer starken Verankerung in bestimmten Bevölkerungs-segmenten sowie in den Gemeinden begründet. Wenn man die vorherigen Befunde der sinkenden Mitglieder- und Aktivistenzahlen bedenkt, erscheint die zunehmende Volatilität der Wählerstimmenanteile daher alles andere als zufällig. Die Folge davon ist sicherlich ein spannenderes politisches Geschehen. Für das Konkordanzsystem, das auf Stabilität beruht, ist sie jedoch auch eine grosse Herausforderung. b) Gesamtgesellschaftlich Die Erosion der Parteibasis stellt langfristig das politische Modell der Schweiz mit seiner feingliedrigen föderalistischen Struktur und Behörden im Milizsystem infrage. Die Kluft zwischen dem grossen Personalbedarf auf der einen Seite und den immer wenigeren Leuten, die für die Besetzung von Ämtern infrage kommen, auf der anderen, erscheint vor allem für kleinere Gemeinden bedrohlich. Der Verlust von wenigen Aktiven kann dort schnell einmal zum Ende einer Parteisektion führen. Kommt dies oft vor, muss man sich irgendwann fragen, wie Gemeinden überhaupt noch ihre Behördenmitglieder finden??? 6. Krise nach Regionen und Parteien Ladner/Meuli konstruieren einen sogenannten Krisenindex. Dieser fasst die Indikatoren Rückläufige Aktiven- und Mitgliederzahl, Rekrutierungsschwierigkeiten für Partei- und politische Ämter in Gemeinden, Kleinere Präsenz im politischen Leben der Gemeinde sowie Häufiger Rückgriff auf Parteiexterne bei Besetzung von politischen Ämtern gewichtet zusammen. Die Messung nach Parteien und Kantonen fördert interessante Unterschiede zutage (siehe Tabelle 1). Unter den Parteien zeigt die SVP mit grossem Abstand am wenigsten Krisensymptome (Index-Wert 3,2), gefolgt von der SP (4,7), der CVP (5,0) und der FDP (5,2). Die Volkspartei hat einzig in den Kantonen Bern (5,3), Graubünden (4,2) und Uri (5,0) Probleme. Wohlgemerkt sind die beiden erstgenannten Kantone genau jene, in denen drei Jahre nach dem Erscheinen dieses Artikels die Neugründung der BDP massgeblich erfolgte! Die SP zeitigt in den Kantonen Bern, Schyz, Glarus, Zug, Basel Landschaft, Aargau und Thurgau problematische Werte, die CVP gar in der Mehrzahl der Kantone und die FDP überall ausser in Zug, Freiburg, Schaffhausen, Thurgau, Tessin und Wallis. Punkto Gemeinden ist zu sagen, dass der Wert des Krisenindexes mit der zunehmenden Gemeindegrösse negativ korreliert, dies gilt für alle Parteien mit einer Ausnahme: der FDP. Ihr Krisenindex-Wert ist in Gemeinden über 20 000 Einwohnern am höchsten. Universität Zürich Seminar: Soziologie der politischen Parteien Peter Weiss Soziologisches Institut HS 2011 Prof. Dr. Hans Geser 08.12.2011 Kantone, in denen die Parteien gesamthaft überdurchschnittlich grosse Probleme haben, sind Luzern, Glarus, Solothurn, Basel Landschaft, St. Gallen und Aargau. In der Regel gilt hierzu jedoch, dass es der SVP vergleichsweise gut geht, während die anderen drei Bundesratsparteien Probleme haben. Einen Sonderfall bildet hier der Kanton Bern: Dort haben alle vier (damaligen) Bundesratsparteien Probleme, die Kleinparteien aber nicht. Tabelle 1: Krisenindikator nach Parteien und Kantonen 7. Anmerkungen/Diskussion Kritik am Text: Der soeben erwähnte Krisenindikator, so anschaulich er sein mag, wird nur unzureichend bis gar nicht erklärt. So bleibt zum Einen schleierhaft, wie die einzelnen Variablen, die zum Index zusammengefasst werden, operationalisiert und Universität Zürich Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut Prof. Dr. Hans Geser Peter Weiss HS 2011 08.12.2011 gemessen werden. Zum andern werden die Bildung (Gewichtung) sowie die Skalierung und der Wertebereich des Indexes nicht erklärt. Als Diskussionspunkte böten sich an: a) Punkto Nivellierung der Geschlechterunterschiede bei den Aktivisten: Haben sich die Männer möglicherweise aus den Parteien zurückgezogen, gerade weil die Frauen neu dazu kamen? Ein Effekt, der an die Abschaffung der Landsgemeinden in einzelnen Kantonen kurz nach der Einführung des Frauenstimmrechts dort erinnert ... b) Welche Rolle spielt die schwächere Verankerung der Parteien in den Gemeinden wirklich für die stärkere Volatilität bei den Wählerstimmen? Sind nicht vielmehr Makro-Trends wie der Wandel der Arbeitswelt hin zu Dienstleistungsgesellschaften viel wichtiger für den Bedeutungsverlust der traditionellen Cleavages und die damit einhergehende höhere Unberechenbarkeit des Wahlverhaltens? c) Gerät durch die im Text beschriebenen Erosionstendenzen wirklich der Föderalismus in Gefahr oder nicht vielmehr das Milizsystem? d) Warum engagieren sich nicht mehr Junge in Parteien? e) Warum sind die „Alten“ abstinent?