Barbara Flatten (2000): „Irja“, Serie von fünf Farbfotografien In: Otto Benkert und Jochen Heufelder: Von Chaos und Ordnung der Seele II Diagnose und Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung Hubertus Himmerich Claussen-Simon-Stiftungsprofessur für Neurobiologie affektiver Störungen Gliederung der Vorlesung • • • • • • • • Einleitung Persönlichkeitsstörungen Einleitung Borderline-Persönlichkeitsstörung Epidemiologie Diagnostik Ätiologie und Symptomatik Psychotherapie Pharmakotherapie Zusammenfassung Definition Persönlichkeitsstörungen • • • • • • Merklich von den Erwartungen der Umgebung abweichendes, überdauerndes Erlebens- und Verhaltensmuster: Kognition, Affektivität, zwischenmenschliche Beziehungen, Impulskontrolle Unflexibel und tiefgreifend in mehreren Bereichen persönlicher und sozialer Situationen Klinisch bedeutsames Leiden / psychosoziale Beeinträchtigungen Stabil und langandauernd (Beginn Adoleszenz / frühes Erwachsenenalter) Nicht besser als Manifestation oder Folge einer psychischen Störung (Achse I) erklärbar Nicht auf medizinischen Krankheitsfaktor oder Substanzen rückführbar Cluster der Persönlichkeitsstörungen nach DSM-IV A: sonderbar/exzentrisch • Paranoide • Schizoide • Schizotypische B: dramatisch/launisch • Antisoziale • Borderline (BPS) • Histrionische • Narzistische C: ängstlich/furchtsam • Vermeidendselbstunsichere • Dependente • Zwanghafte Diagnostische Kriterien der BPS nach DSM-IV Mindestens fünf der folgenden neun Kriterien müssen erfüllt sein: Affektivität • Unangemessene starke Wut oder Schwierigkeiten, Wut oder Ärger zu kontrollieren • Affektive Instabilität, die durch eine ausgeprägte Orientierung an der aktuellen Stimmung gekennzeichnet ist. • Chronisches Gefühl der Leere Impulsivität • Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen beispielsweise Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren oder Fressanfälle • Wiederkehrende Suiziddrohungen, -andeutungen oder -versuche oder selbstschädigendes Verhalten Diagnostische Kriterien der BPS nach DSM-IV Kognition • Vorübergehende stressabhängige paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome • Identitätsstörungen: eine ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes oder des Gefühls für sich selbst Interpersoneller Bereich • Verzweifeltes Bemühen, reales oder imaginäres Verlassenwerden zu verhindern • Ein Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen Epidemiologie • • • • • • • • Häufigkeit der BPS: etwa 2%. Geschlechterverhältnis von Frauen zu Männern 2:1 Alter der Betroffenen: zwischen 15 und 45 Jahren Etwa 80 Prozent aller Betroffenen suchen psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. 15 Prozent aller Patienten in psychiatrischpsychotherapeutischen Kliniken. Die jährlichen Behandlungskosten in Deutschland: etwa drei Milliarden Euro. 90% dieser Kosten: stationäre Behandlungen. Erste stationäre psychiatrische Behandlung meist im Alter von etwa 24 Jahren. Klinische Diagnostik der Borderline-Störung Leitsymptome Einschießende intensive aversive Anspannung, Selbstverletzung Operationalisierte Diagnostik SKID II (Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IVPersönlichkeitsstörungen) oder IPDE („International Personality Disorder Examination, Borderline-modul“) Schweregradeinschätzung BSL (Borderline-Symptom-Liste) Komorbidität SKID I (strukturiertes klinisches Interview für Achse-I-Störungen, nach DSM-IV) oder M-CIDI (Münchner Composite International Diagnostic Interview) Klinische Diagnostik der Borderline-Störung Klinische Diagnostik der Borderline-Störung Ätiologie und Symptomatik: Genetische Befunde • Wechselwirkungen zwischen genetischen und psychosozialen Variablen sowie dysfunktionalen Verhaltens - und Interaktionsmustern • Zwillingsstudie, die Konkordanzraten von monozygoten mit dizygoten Zwillingen vergleicht: erhebliche genetische Bedeutung für die Entstehung der Borderline-Störung (Torgersen et al. 2000). • Hinweis auf genetische Beteiligung: 50 Prozent der Betroffenen haben retrospektiv ein ADHS in der Kindheit, hierfür klare genetische Prädisposition gesichert ist. • Signifikante genetische Befunde im SerotoninTransporter-Gen (SNPs in Promotorregion und Tandemrepeats in Intron 2) Ätiologie und Symptomatik: Bildgebung, orbitofrontaler Cortex • • Reduzierte FDG-Aufnahme im orbitofrontalen Cortex von BorderlinePatientinnen (FDG-PET-Studie; Soloff et al. 2003; hier auf ein MRT-Bild projiziertes PET-Studienergebnis). Hippocampus und Amygdala – Zentren der Emotionskontrolle – sind nach mehreren Studien bei Patienten mit BPS um etwa 16% kleiner. Verkleinerung möglicherweise Folge von traumatischen Erfahrungen der Patienten. Ätiologie und Symptomatik: Bildgebung, Corpus callosum Assoziation zwischen Dicke des Corpus callosum und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) MRT-Studie von Rüsch et al. 2007 Ätiologie und Symptomatik: Biographische Belastungsfaktoren • Sexuelle Gewalterfahrung (etwa 65 Prozent): sehr frühe, langwierige Traumatisierungen, meist in der Familie machen (Zanarini et al. 1997). • körperliche Gewalterfahrungen (etwa 60 Prozent) • Schwere Vernachlässigung (etwa 40 Prozent) • Die Annahme, dass es sich bei der BPS um ein chronisches posttraumatisches Belastungssyndrom handelt, findet auf wissenschaftlicher Ebene keine Evidenz (Bohus und Schmahl 2006). Ätiologie und Symptomatik: Dysfunktionale Verhaltensmuster • Häufige Suizidversuche: 80% aller Borderline-Patienten • Suizid: 8% Prozent • Risikofaktor für Suizid: selbstschädigendes Verhalten wie Schneiden, Schlagen, Brennen, Verätzen (85%). • Absicht der Selbstverletzung: heftige negative Emotionen oder Spannungszustände mindern • Während dieser Phasen Unempfindlichkeit gegen Schmerzen. • 20% schneiden sich trotz intensiver Schmerzempfindung. • Diese Gruppe erfährt durch die Selbstverletzungen „Kicks“, also Euphorisierung, Verbesserung der Kognition und der Leistungsfähigkeit. • Drogen- und Alkoholmissbrauch, Essstörungen Ätiologie und Symptomatik: Emotionale Dysregulation • Störung der Affektregulation: niedrige Reizschwelle, hohes Erregungsniveau. • Verzögertes Erreichen des emotionalen Ausgangsniveaus • Gefühle werden als quälende, diffuse Spannungszustände erlebt. • Ausgeprägtes Gefühl der Unwirklichkeit • Wesentliche Anteile der zentralen sensorischen Reizverarbeitung sind gestört. • Selbstschädigende Verhaltensmuster reduzieren aversive Spannungszustände (negative Verstärkung). Ätiologie und Symptomatik: Emotionale Dysregulation • Störungen der Emotionsregulation führen zu auffälligen Verhaltensmustern. • Schwierigkeiten in der Regulation von Nähe und Distanz • Intensive Angst vor dem Alleinsein • BPS-Patienten versuchen, Bezugspersonen permanent an sich zu binden. • Langwierige, schwierige Beziehungen mit häufigen Trennungen und Wiederannäherungen. • Selbst unter Studienbedingungen werden 50% aller unspezifischen Psychotherapien vorzeitig abgebrochen. • „Flashbacks“, Alpträume und Schlafstörungen Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung Wirksamkeitsnachweis für: • • • • • Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) der Borderline Störung (Linehan 1996 und 2006) Mentalization-based Treatment (MBT; Bateman et al. 1999 und 2001) Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP; Clarkin, Yeomans, Kernberg, 2001 und 2007) Schematherapie (Jeffrey E. Young 1999; Giesen-Bloo et al. 2006) Aber: … “all therapies remain experimental and the studies are too few and small to inspire full confidence in their results.” (Binks et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007) Psychotherapie wirkt auf bestimmte Kernsymptome Wirkung der DBT • • • • • Depression Ängstlichkeit Globales Funktionsniveau Suizidalität Soziale Kompetenz Keine Wirkung der DBT • • • Wut Irritabilität Verbale Angriffe usw. Clarkin et al. 2007 Prinzipien der Psychotherapie bei BPS • • • • Zeitlicher Rahmen und Therapievereinbarungen Hierarchisierung der Behandlungsziele Multimodaler Ansatz Supervision Prinzipien der Psychotherapie: Zeitlicher Rahmen und Vereinbarungen • Klare zeitliche Begrenzungen vereinbaren • Die meisten Therapien belaufen sich auf einen Zeitrahmen von bis zu drei Jahren. • klare Regeln und Vereinbarungen bezüglich des Umgangs mit Suizidalität, Kriseninterventionen und Störungen der therapeutischen Rahmenbedingungen • „Therapieverträge“ Prinzipien der Psychotherapie: Hierarchisierung der Ziele • Suizidversuche oder drängende Suizidideen werden stets vorrangig behandelt. • Therapiegefährdende Verhaltensmuster sollten Priorität haben, • Körperliche Folgen sollen vorrangig behandelt werden, weil sie emotionale Lernprozesse verhindern (schwere Anorexie, Benzodiazepin-Abhängigkeit, Drogen- und Alkoholabhängigkeit). Prinzipien der Psychotherapie: Multimodaler Ansatz Die meisten Verfahren kombinieren verschiedene therapeutische Module: • • • • Einzeltherapie Gruppentherapie ggf. Pharmakotherapie Telefonberatung zur Krisenintervention Prinzipien der Psychotherapie: Supervision • Supervision der behandelnden Therapeuten sollte Bestandteil der Therapie sein. • Alle wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweise wurden nur unter supervidierten Bedingungen erbracht. Unterschiedliche Wirksamkeit: Schematherapie vs. TFP Figur 1 Figur 2 Pharmakotherapie der BPS • „Pharmacological treatment of people with BPD is not based on good evidence from trials“ (Binks et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2006) • Aber Kernsymptome der BPS sind psychopharmakologischer Behandlung zugänglich (Nose et al. 2006): • Antidepressiva und Mood Stabilizer: Effekt auf affektive Instabilität und unkontrollierbare Wut (SSRIs, Valproat, Topiramat) • Antipsychotika: Effekt auf Impulsivität, Aggressionen und interpersonelle Beziehungen (Olanzapin, Quetiapin) Zusammenfassung • • • • • • • BPS: Störung der Affektregulation, des Selbstbildes und des zwischenmenschlichen Verhaltens Häufigkeit: 2%. 80% aller Borderline-Patienten berichten zumindest über einen Suizidversuch 8% suizidieren sich tatsächlich. Wichtigstes Motiv für Selbstverletzung ist die Absicht, Spannungszustände zu mindern. Psychotherapie: Klare Regeln und Vereinbarungen, Therapieverträge, Suizidversuche oder drängende Suizidideen werden vorrangig behandelt. Psychotherapie und Psychopharmaka wirken gegen Kernsymptome der BPS. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit © Universitätsmedizin Leipzig (2010) Himmerich: BPS