7 Borderline-Persönlichkeitsstörung – Diagnostik, Epidemiologie

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7 Borderline-Persönlichkeitsstörung –
Diagnostik, Epidemiologie, Verlauf,
Prognose und Psychopathologie
Martin Bohus und Christian Schmahl
Kaum ein Störungsbild verdeutlicht so klar die
befreiende Wirkung von datengestütztem Wissen auf eine psychiatrisch-psychotherapeutische Konzeptionalisierung wie die BorderlinePersönlichkeitsstörung (BPS). Noch vor wenigen Jahren galt dieses Störungsbild als chronisch verlaufend und schwierig zu behandeln,
mit hohen Suizid- und geringen Remissionsraten. Die Diagnostik war unscharf und abhängig
davon, welcher therapeutischen Schule der jeweilige Behandler angehörte. Die neurobiologische Grundlagenforschung machte folgerichtig
einen weiten Bogen um dieses undifferenzierte
Konvolut, und auch die pharmakologische Forschung beschränkte sich auf einige wenige Untersuchungen mit kleinen n-Zahlen und daher
kaum interpretierbaren Ergebnissen.
In den letzten Jahren jedoch hat eine sprunghafte Entwicklung eingesetzt, die unser Wissen über die Borderline-Störung, aber auch unsere Behandlungskompetenz deutlich erweitert
(Übersicht: Lieb et al. 2004). Dies liegt zum einen sicherlich in der verbesserten operationalisierten Diagnostik begründet, zum anderen
aber auch in der therapeutischen Pionierarbeit
von M. Linehan. Mit der Dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) wurde in den 80er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts ein störungsspezifisches Behandlungskonzept entwickelt, dessen Wirksamkeit erstmals einer empirischen
Überprüfung standhielt. Beide Komponenten,
die phänomenologisch basierte Charakterisierung des Syndroms sowie das langsame Zurückdrängen des therapeutischen Nihilismus,
Schattauer, Frau Rieble, Remmel „Bewegungstherapie“, MS
bereiteten die Basis für breitere neurobiologische und neuropsychologische Untersuchungen, deren Ergebnisse allmählich zur Konsistenz heranreifen und damit zur Konzeptionalisierung eines neurobehavioralen Modells der
Borderline-Störung herangezogen werden können.
Ziel dieses Artikels ist es, zunächst einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diagnostik und Psychopathologie der BPS zu geben. (In Kapitel 18 dieses Buchs werden die
Grundzüge der Dialektisch-behavioralen Therapie beschrieben.)
Diagnostik
Persönlichkeitsstörungen
Die zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen entwickelten Instrumente lassen sich grob in
3 Gruppen unterteilen: Selbstbeurteilungsverfahren, Checklisten und Interviews. Die Selbstbeurteilungsverfahren sind ähnlich konzipiert
wie diejenigen zur Erfassung der Persönlichkeit
im Sinne von »traits«. In den Checklisten finden
sich Zusammenstellungen der Kriterien zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen, entweder über alle Störungen hinweg nach inhaltlichen Bereichen zusammengefasst oder getrennt
für die jeweiligen Störungen. Ähnliches gilt auch
für die Interviewverfahren.
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Diagnostik
Alle 3 Verfahrensgruppen lassen sich weiterhin
dadurch unterscheiden, inwieweit sie versuchen, alle Störungen oder nur bestimmte Subgruppen eines Klassifikationssystems zu erfassen (z. B. Borderline-Störungen). Ein weiteres
Unterscheidungskriterium betrifft die konzeptuelle Grundlage. Die meisten Verfahren orientieren sich an ICD-10 oder DSM-III-R/DSM-IV
bzw. versuchen, die Störungen in Bezug auf beide Systeme abzubilden (sog. polydiagnostisches
Vorgehen). Nur wenige Verfahren basieren auf
eigenen theoretischen Annahmen.
Selbstbeurteilungsverfahren führen eher zu einer falsch positiven Diagnose und sind daher
auch primär im Sinne von Screening-Instrumenten zu betrachten. Um den aufwändigen
Prozess der Informationserhebung zu vereinfachen, haben Interviews wie das SKID-II und das
IPDE dem diagnostischen Prozess zusätzliche
Screening-Bögen vorgeschaltet.
Interviewverfahren führen zwar zu einer höheren Zuverlässigkeit der Erfassung, setzen jedoch
ein umfassendes Training voraus und sind zudem oft sehr zeitaufwändig, was die Durchführung betrifft (bis zu mehreren Stunden).
Checklisten nehmen hier eine Zwischenstellung
ein, sind auch in der klinischen Routine einsetzbar, erfordern jedoch gründliche Kenntnisse
der jeweils zugrunde liegenden Klassifikationssysteme sowie umfangreiche klinische Erfahrung. Die meisten Checklisten beziehen sich auf
die im DSM-IV und in der ICD-10 enthaltenen
Störungen.
Generell kann gegenwärtig das IPDE als das elaborierteste Instrumentarium für die Diagnostik
von Persönlichkeitsstörungen angesehen werden. Es besteht aus einem ICD-10- und einem
DSM-IV-Modul, ermöglicht neben einer kategorialen Diagnostik auch eine dimensionale Beschreibung der Patienten und ist das offizielle
Instrument der WHO für Persönlichkeitsstörungen (Loranger et al. 1999).
In der Forschung werden vermutlich in Zukunft diejenigen Verfahren Anwendung finden,
die Diagnosen sowohl nach ICD-10 als auch
nach DSM-IV erlauben. Zurzeit kann jedoch
kein Instrument als Goldstandard angesehen
Schattauer, Frau Rieble, Remmel „Bewegungstherapie“, MS
werden, wenngleich das SKID-II und das IPDE
vor allem im deutschsprachigen Bereich am
häufigsten eingesetzt werden.
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Wie bereits ausgeführt, gilt auch für die Diagnostik der Borderline-Störung derzeit das
IPDE (International Personality Disorder Examination; Loranger et al. 1999) als Instrument
der Wahl. Es integriert die Kriterien des DSMIV und der ICD-10. Die Interrater- und TestRetest-Reliabilität ist gut und deutlich höher als
für unstrukturierte klinische Interviews (z. B.
k = 0,68 bis 0,96 für Interrater-Reliabilität). Alternativen sind das von M. Zanarini entwickelte
Diagnostic Interview for DSM-IV Personality
Disorders (DIPD-IV; Zanarini et al. 1996) und
das Structured Interview for DSM-IV Personality (SIDP; Pfohl et al. 1997).
Zusätzlich zu diesen allgemeinen Instrumenten
wurden in den letzten Jahren eine Reihe von
Verfahren spezifisch zur Diagnostik und
Schweregraderfassung der Borderline-Störung
entwickelt. Lange Zeit galt das Diagnostic Interview for BPD-Revised Version (DIB-R; Gunderson u. Zanarini 1992; Zanarini et al. 1989)
als Standardinstrument. Da es nicht DSM-basiert ist, verliert es jedoch zunehmend an Bedeutung. Dies gilt auch für Instrumente wie das
Schedule for Interviewing Borderlines (SIB; Baron 1981), die Borderline Personality Disorder
Scale (BPDS; Perry 1982) und das Structural Interview von Kernberg (Kernberg 1977).
Diese Instrumente wurden primär zur kategorialen Diagnostik der BPS entwickelt. Instrumente zur Quantifizierung der Symptomatik, das
heißt zur Schweregradbestimmung, kamen erst
in jüngster Zeit auf den Markt: M. Zanarini publizierte eine DSM-basierte Fremdrating-Skala
(ZAN-SCALE), die ausreichende psychometrische Kennwerte aufweist (Zanarini 2003). Arntz
und Mitarbeiter entwickelten den Borderline
Personality Disorder Severity Index (BPDSI;
Arntz et al. 2003) und veröffentlichten erste
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7 Borderline – Diagnostik, Epidemiologie, Verlauf, Prognose und Psychopathologie
Prä-post-Messungen. Bohus und Mitarbeiter
entwickelten die Borderline-Symptom-Liste
(BSL; Bohus et al. 2001) als 90-Item-Selbstrating-Instrument. Die psychometrischen Kennwerte sind sehr gut, dies betrifft auch die Veränderungssensitivität. Das Instrument liegt
mittlerweile auch als 17-Item-Kurzfassung vor.
Als Leitlinie für die Diagnostik im klinischen
Alltag kann folgender Algorithmus empfohlen
werden:
• Leitsymptom: einschießende intensive aversive Anspannung
• operationalisierte Diagnostik: Diagnostisches Interview für DSM-IV Persönlichkeitsstörungen (DIPD-IV) oder IPDE (Borderline-Segment)
• Schweregradeinteilung: BSL (ZAN-Skala)
• Komorbidität: SKID-I
Die Erfahrung von rasch einschießenden,
manchmal lange anhaltenden intensiven Erfahrungen von äußerst unangenehmer innerer Anspannung ist pathognomonisch für das Störungsbild der BPS (Stiglmayr et al. 2001,
2005b). Da diese Symptomatik auch relativ
trennscharf von anderen psychiatrischen Störungen diskriminiert (Stiglmayr et al. 2005a),
kann dieses Phänomen als Indikator für affektive Instabilität und Irritabilität im Sinne eines
Leitsymptoms herangezogen werden.
Da die Komorbidität bei der Borderline-Störung Verlauf und Prognose, damit aber auch
die Therapieplanung, erheblich beeinflusst, ist
deren vollständige Erfassung mithilfe eines operationalisierenden Instruments dringend anzuraten.
Epidemiologie
Die Punktprävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung, also die Häufigkeit der Störung zu
einem definierten Zeitpunkt in der Allgemeinbevölkerung, wird mit Zahlen zwischen 0,8 und
2% angegeben (Übersicht: Stone 2000). Meri-
Schattauer, Frau Rieble, Remmel „Bewegungstherapie“, MS
kangas und Weissman (1986) schätzen die Prävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung
in Bevölkerungsstudien vor 1980 auf 1,7 bis
2%. 1990 führten Swartz et al. (1990) an 1541
Einwohnern in der Gegend der Duke University
in North Carolina eine DSM-III-basierte Studie
durch und fanden eine Prävalenz von 1,8%. Die
Arbeitsgruppe untersuchte Personen zwischen
18 und 55 Jahren, also die Altersspanne, in der
sich die BPS primär manifestiert, sodass die
Prävalenz in der Gesamtbevölkerung geringer
ausfallen dürfte. Auch Reich et al. (1989) ermittelten in einer Studie an 235 Einwohnern eine
Prävalenz von 2,1%, wobei die Fallzahl sicherlich zu niedrig ist, um repräsentative Aussagen
machen zu können. Eine Untersuchung von
Maier et al. (1992), die in der BRD auf DSM-IIIR-Basis durchgeführt wurde, erfasste eine Stichprobe von 447 Personen und ihren Verwandten
aus zufällig ausgewählten Familien und fand
eine Prävalenzrate für BPS von 1,2%. Eine groß
angelegte epidemiologische Feldstudie in Norwegen findet eine Punktprävalenz von 0,8%
(Torgersen et al. 2001). Über 80% dieser Betroffenen befinden sich in psychiatrischer bzw.
psychotherapeutischer Behandlung. Etwa 70%
der Betroffenen sind Frauen. Auch diese Zahl ist
sicherlich kritisch zu interpretieren, da die Untersuchungen zur Geschlechterprävalenz an
Personen durchgeführt wurden, die sich bereits
in psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung befanden.
Differenzialdiagnose
und Komorbidität
Gegenwärtig liegen 15 Studien vor, die zeitgleich Achse-I- und Achse-II-Störungen des
DSM-III-R mittels operationalisierter Messinstrumente erfassten. Die methodisch sorgfältigste mit nach DIB-R und DSM-III-R diagnostizierten Borderline-Persönlichkeitsstörungen
fand retrospektiv im Langzeitverlauf bei 96%
der Patienten eine depressive Erkrankung.
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Psychopathologie
88,5% litten an Angststörungen, 64% an Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit und 53%
an einer zusätzlichen Ess-Störung. Im Langzeitverlauf zeigt sich, dass mit Remission der
Borderline-Störung sich auch die komorbide
Achse-I-Symptomatik deutlich zurückbildet
(Zanarini et al. 2003). Eine Ausnahme bilden
die dysthymen Störungen. Die Bedeutung komorbider Achse-I-Diagnosen lässt sich daran
ermessen, dass sich komorbider Alkohol- und
Drogenmissbrauch als wichtigster Prädiktor für
eine Chronifizierung der BPS errechnen lässt,
gefolgt von komorbider Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), depressiven Störungen
und Ess-Störungen.
Die Komorbidität mit Erkrankungen aus dem
schizophrenen Formenkreis ist mit 1% äußerst
selten. Wie die meisten spezifischen Persönlichkeitsstörungen auch, erfüllen Borderline-Patienten häufig zeitgleich die Kriterien für andere
Persönlichkeitsstörungen. Im Vordergrund stehen dabei folgende:
• Dependente Persönlichkeitsstörungen (50%)
• Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörungen (40%)
• Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörungen
(25%)
• Paranoide Persönlichkeitsstörungen
(ca. 40%)
• Antisoziale Persönlichkeitsstörungen (25%)
• Histrionische Persönlichkeitsstörungen
(15%)
Deutliche Geschlechterunterschiede zeigen sich
vor allem bei der komorbiden Paranoiden Persönlichkeitsstörung (signifikant häufiger bei
Männern) (Zanarini et al. 1998b).
Verlauf und Prognose
Alter von 14 Jahren Verhaltensauffälligkeiten
(Ess-Störung, Selbstschädigung, Suizidversuche, Auffälligkeiten des Sozialverhaltens, affektive Störung), die einer stationären Behandlung
bedurften, während eine zweite Gruppe im Mittel mit 24 Jahren erstmals stationär behandelt
wurde.
In retrospektiven Analysen unserer Arbeitsgruppe gaben etwa 30% der untersuchten erwachsenen Borderline-Patientinnen an, sich
bereits im Grundschulalter intendierte Selbstverletzungen zugefügt zu haben.
Die Suizidrate der BPS liegt bei 5 bis 10%
(Frances et al. 1986). Als Risikofaktoren für
vollendete Suizide werden impulsive Handlungsmuster, höheres Lebensalter, Depressionen, komorbide antisoziale Persönlichkeitsstörung sowie frühkindlicher Missbrauch benannt.
Auch Selbstverletzungen gelten als Risikofaktor
für vollendete Suizide.
2 Studien (Grilo et al. 2004; Zanarini et al. 2003)
konnten zeigen, dass 6-Jahres-Katamnesen bzw.
2-Jahres-Katamnesen (bei Grilo et al.) überraschend hohe Remissionsraten (basierend auf
DSM-IV-Kriterien) aufweisen. So erfüllen 2 Jahre nach der Diagnose nur noch 60% der Betroffenen die DSM-IV-Kriterien, nach 4 Jahren 50%
und nach 6 Jahren noch 33%. Die Rückfallraten
sind mit jeweils 6% sehr gering. Während die affektive Instabilität persistiert, scheinen sich insbesondere dysfunktionale Verhaltensmuster wie
Selbstverletzungen und Suizidversuche deutlich
zu reduzieren.
Psychopathologie
Neurobehaviorales Entstehungsmodell
Psychosoziale Komponenten
Umstritten ist das durchschnittliche Alter bei
Erstmanifestation. Eigene Untersuchungen
(Jerschke et al. 1998) fanden eine bimodale Verteilung: Eine große Gruppe zeigte bereits im
Schattauer, Frau Rieble, Remmel „Bewegungstherapie“, MS
Neben den zentralen Risikofaktoren (weibliche
Sozialisation und frühe Erfahrung von Gewalt
und Vernachlässigung) scheint das Fehlen der
zweiten Bezugsperson von Bedeutung zu sein,
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also einer Schutz und Sicherheit gewährenden
Person, die insbesondere die Wahrnehmung
der Betroffenen teilt und deren Emotionen bestätigen könnte. Trotz der hohen Missbrauchsrate (etwa 60% weiblicher Patienten mit BPS
berichten über sexuelle Gewalterfahrung in der
Kindheit), ist der kausale Zusammenhang zwischen erlebter Traumatisierung und Entwicklung einer BPS sicherlich nicht geklärt.
Genetische Komponenten
Für die Gesamtheit der Persönlichkeitsstörungen liegen seit Mitte der 90er Jahre Befunde aus
Zwillingsstudien vor, die den Nachweis eines
starken genetischen Einflusses erbringen (Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen: ca. 55%,
bei zweieiigen: ca. 14%). Bis auf eine Studie
(Torgersen et al. 2000) haben alle jedoch primär
Verhaltens- und Erlebensdispositionen untersucht (z. B. Beziehungsverhalten, affektive Labilität, Zwanghaftigkeit) (Livesley et al. 1998). Die
Autoren dieser Studien verfolgen also ein dimensionales Modell, das heißt, sie gehen von
einem Kontinuum zwischen Persönlichkeitszügen und Persönlichkeitsstörung aus. Diese
Zwillingsstudien weisen auf eine Beteiligung
von 3 empirisch nachweisbaren Varianzquellen
hin (genetische, umweltbezogene und individuumspezifische), wobei bei der Entwicklung von
Persönlichkeitsstörungen nichtgenetische individuumspezifische Einflüsse am stärksten zu
sein scheinen (Übersicht: Maier et al. 2000).
Schon die Ergebnisse der frühen Arbeiten von
Livesley, die eine genetische Disposition für
Verhaltens- und Erlebenskomponenten, wie affektive Labilität, Identitätsprobleme, Narzissmus und Impulsivität bei gesunden Zwillingspaaren fanden, weisen auf die Bedeutung
hereditärer Faktoren bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung hin. Die einzige Zwillingsstudie, welche Konkordanzraten von monozygoten mit bizygoten Zwillingen vergleicht,
von denen ein Zwilling manifest eine nach
DSM-IV diagnostizierte Persönlichkeitsstörung
aufweist, wurde im November 2000 veröffentlicht (Torgersen et al. 2000). Sie zeigt eine er-
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hebliche genetische Bedeutung bei allen nach
DSM-IV diagnostizierten Persönlichkeitsstörungen. Für BPS erklären genetische Faktoren
ca. 69% der Varianz. Die Ergebnisse dieser Studie sind sicherlich vorsichtig zu interpretieren,
da die Komorbidität der untersuchten Populationen nicht berücksichtigt wurde. Wie oben
ausgeführt, erfüllen über 90% aller Patienten
mit BPS die diagnostischen Kriterien für mindestens eine weitere Persönlichkeitsstörung,
sodass die hohe genetische Varianz eventuell alleine durch komorbide andere Persönlichkeitsstörungen erklärt werden könnte. Gesichert
scheint jedoch die Bedeutung genetischer Faktoren für die Entwicklung dissoziativer Symptomatik (bis zu 55% der Varianz).
Störungen der Affektregulation
Autoren wie Coid und Linehan postulierten
schon früh eine erhöhte Sensitivität gegenüber
emotionalen Reizen, eine verstärkte emotionale
Auslenkung und eine Verzögerung des Rückganges der Aktivierung auf das Ausgangsniveau. Diese Hypothesen basierten jedoch zunächst ausschließlich auf klinischer Beobachtung. S. Herpertz veröffentlichte 1997 (Herpertz
et al. 1997) eine erste Arbeit, die auf experimenteller Ebene die affektive Instabilität bei dieser
Patientengruppe belegen konnte. Die Autoren
konnten nachweisen, dass Patientinnen mit BPS
im Vergleich zu Kontrollpersonen auf das Vorlesen einer emotional belastenden Kurzgeschichte
(»Die Eisbären« von Marie-Luise Kaschnitz) signifikant häufiger angaben, intensive Emotionen
zu erleben. Auch Kemperman et al. (1997) hatten bereits beschrieben, dass Selbstschädigungen
von Borderline-Patientinnen häufig eingesetzt
werden, um undifferenzierte intensive aversive
Anspannungszustände zu beenden. Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe (Stiglmayr et al.
2001, 2005b) konnten zeigen, dass Patientinnen
mit BPS im Vergleich zu gesunden Kontrollen
signifikant häufiger, länger und intensiver aversive Anspannung erleben, jedoch Schwierigkeiten haben, dabei Emotionen zu differenzieren.
Psychopathologie
In den letzten Jahren wurde damit begonnen,
die funktionelle und topographische Anatomie
von Hirnarealen bei BPS zu untersuchen, denen
eine Bedeutung für die Induktion und Regulation von Affekten zugemessen wird. So spielen
limbische, paralimbische und neokortikale
frontale Strukturen eine zentrale Rolle für emotionale, motivationale, kognitive und motorische Verarbeitungsprozesse. Auch die Fähigkeit
zur sozialen und emotionalen Selbstregulation
wird dem Zusammenwirken spezifischer frontaler und limbischer Areale zugesprochen.
Mittlerweile zeigen neuere Forschungsergebnisse, dass nicht nur Substanzschädigungen frontaler oder limbischer Strukturen gravierende Persönlichkeitsveränderungen verursachen, sondern
dass auch chronischer Stress oder erhebliche Verwahrlosungserlebnisse in der Kindheit zu einer
Beeinträchtigung neurobiologischer Reifungsprozesse und damit zu assoziierten kognitiven und
emotionalen Störungen führen können.
So ergaben experimentelle Untersuchungen an
Tieren unter unkontrollierbarem Stress Hinweise auf funktionale und strukturelle neuronale Veränderungen im limbischen System. Am
besten untersucht ist derzeit die Auswirkung
von Glukokortikoid-Hyperexpression oder artifizieller Glukokortikoid-Exposition auf eine
Schädigung und Volumenminderung hippocampaler Strukturen. Mehrere unabhängige
Arbeitsgruppen konnten eine Störung der zentralen Stressregulation bei BPS-Patientinnen
auf endokrinologischer Ebene nachweisen.
Sowohl unter experimentellen Stressinduktions-Paradigmen als auch auf dem freien Feld
zeigten sich Überaktivitäten der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HHN-)
Achse (Lieb et al. 2004, Rinne et al. 2002). Aufgrund von Tiermodellen gilt als gesichert, dass
die Erfahrung von frühem, unkontrollierbarem
Stress Auswirkungen auf die adulte CRH-Sekretion hat.
Da bei der Pathogenese der BPS frühe Gewalterfahrungen und unkontrollierbarer Stress eine
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zentrale Rolle spielen, kann zumindest im Analogieschluss eine traumabedingte Störung der
HHN-Achse angenommen werden. Es wird
diskutiert, inwieweit die im MRT nachgewiesenen hippocampalen Volumenreduktionen auf
eine früh einsetzende oder chronisch persistierende Kortisol-Hypersekretion zurückzuführen
sind.
Erste klinische Studien belegen die Bedeutung
des Lebensalters zum Zeitpunkt der Traumatisierung. Da die Hirnentwicklung über die Pubertät bis weit in die Adoleszenz hineinreicht,
wird in Zukunft die Rolle von vulnerablen Entwicklungsphasen für die Generierung traumaassoziierter Persönlichkeitsveränderungen
neu diskutiert werden müssen.
Derzeit liegen Studien bei Patienten mit BPS
vor, die Hinweise auf metabolische Veränderungen im präfrontalen Kortex fanden (Übersicht: Kap. 11). Strukturelle MRI-Untersuchungen kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen,
wobei die methodisch ausgereifteste Studie von
Driessen et al. (2000) eine Volumenreduktion
des Hippocampus bei Patienten mit BPS gegenüber gesunden Kontrollen um 16% findet.
Auch das Volumen der Amygdala ist um 8%
verkleinert.
Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen
von anderen Arbeitsgruppen, die ebenfalls Volumenreduktionen dieser Hirnareale bei Patienten mit chronischer Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) fanden. Sicherlich kann
aus diesen Befunden kein kausaler Zusammenhang zwischen biografischer Stress- oder Trauma-Erfahrung und morphologischen Veränderungen des ZNS gezogen werden. Auch die
Abgrenzung gegenüber anderen psychiatrischen Störungsbildern, wie etwa Major Depression, bei der ebenfalls Volumenreduktionen der
Hippocampi gefunden wurden, ist noch nicht
gesichert. Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe mittels MR-Spektroskopie fanden eine
Reduktion von N-Acetyl-Aspartat (NAA) bei
Patientinnen mit BPS im dorsolateralen präfrontalen Kortex um 19% gegenüber gesunden
Kontrollen. NAA gilt als Indikator für Störungen der zellulären Integrität (Tebartz van Elst et
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al. 2001). Dem frontalen Kortex wird eine wichtige Rolle bei der Regulation der Amygdala sowie bei der Kontrolle von konditionierten
Furchtreaktionen zugewiesen. So kann auch
dieser Befund als Hinweis auf morphologische
oder funktionelle neuroanatomische Störungen
der Affektregulation interpretiert werden.
Dissoziative Phänomene
Manche Autoren unterscheiden zwischen so genannten psychologischen dissoziativen Phänomenen, wie Derealisation und Depersonalisation, und somatoformen Phänomenen, wie
Analgesie, Verlust der Kontrolle über die Willkürmotorik, Veränderung der kinästhetischen
Wahrnehmung, der Optik oder Akustik. Mehrere Studien unterschiedlicher Arbeitsgruppen
konvergieren dahingehend, dass ca. 65% aller Patienten mit Borderline-Störung unter
schwerwiegender, das heißt klinisch relevanter
dissoziativer Symptomatik leiden. Zanarini et
al. (1997) konnten weiterhin nachweisen, dass
die dissoziative Symptomatik bei Patienten mit
BPS hoch korreliert mit Selbstschädigung, häufigen Klinikaufenthalten und niedriger sozialer
Integration. Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe (Stiglmayr et al. 2001, 2005b) ergaben
eine hochsignifikante Korrelation zwischen
aversiven Anspannungsphänomenen und dissoziativer Symptomatik bei Patientinnen mit
BPS. Es kann also zumindest vermutet werden,
dass diese Symptomatik durch intrapsychischen Stress getriggert wird.
Dafür spricht auch die klinische Erfahrung, dass
Clonidin, ein zentral wirksames Sympathikolytikum, die akute dissoziative Symptomatik bei
Patientinnen mit BPS reduziert (Phillipsen et al.
2004). Andererseits kann, wie bereits ausgeführt, als gesichert gelten, dass die Entwicklung
dissoziativer Symptome zumindest einer genetischen Teildetermination unterliegt.
Der Einfluss dissoziativer Phänomene auf psychosoziale Lernprozesse ist bislang nicht untersucht. Es darf jedoch vermutet werden, dass sowohl extrem hohe Anspannungsphänomene als
Schattauer, Frau Rieble, Remmel „Bewegungstherapie“, MS
auch dissoziative Phänomene die Lernkapazität
von traumatisierten Patienten erheblich behindern. Das hieße, die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu machen und diese mit alten Erfahrungsmustern zu verknüpfen, ist erheblich beeinträchtigt (Störung des kontextabhängigen
Lernens). Dies wiederum, so darf hypothetisch
angenommen werden, manifestiert sich in
scheinbar irreversiblen dysfunktionalen Grundannahmen, die häufig widersprüchlich, das
heißt schlecht kompatibel sind und daher ihrerseits zur Labilisierung der Affektregulation beitragen. Wie immer, wenn dysfunktionale Schemata emotional stark aufgeladen prozessiert
werden, sind eine situationsadäquate Interpretation der Realität sowie entsprechende Handlungsentwürfe erschwert. Zur Entwicklung von
dysfunktionalen Strategien zur Problemlösung
ist es nur ein kleiner Schritt. Da diese kurzfristig
oft als sehr wirksam erlebt werden, sind sie trotz
langfristig resultierender psychosozialer Problematik nur schwer zu revidieren.
Störungen der Körperakzeptanz
und der Schmerzwahrnehmung
Störungen der Körperwahrnehmung und der
Körperakzeptanz imponieren bereits in der klinischen Praxis. Patientinnen berichten über
Schwierigkeiten, sich im Spiegel zu betrachten,
über Scham und Ekelgefühle, wenn sie an ihren
Körper denken, bis hin zu ausgeprägten Störungen der Wahrnehmung peripherer Körperareale. Über die Hälfte einer repräsentativen Stichprobe von 400 Borderline-Patientinnen gibt an,
ihren Körper »so, wie er jetzt ist«, intensiv abzulehnen (Bohus et al., in Vorb.). Viele erleben
den Körper als weitgehend getrennt von sich
selbst. Hinzu kommt in aller Regel eine ausgeprägte Angst vor körperlichen Berührungen.
Das Ausmaß dieser Attributionsstörungen
konnte in einer Arbeit von Haaf et al. (2001)
erstmals operationalisiert werden. Unter Verwendung der Frankfurter Körperkonzeptskalen
(Deusinger 1998) wurden die Körperkonzepte
von 47 Patientinnen mit BPS verglichen mit ei-
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