Cogito ergo sum – ich klicke, also bin ich? Strategische Perspektiven zum veränderten Wissensverständnis einer digitalisierten Gesellschaft und den Konsequenzen für Markenführung und Marketing Juni 2012 Holger Ellerbrock | Masterplan Unternehmens- und Marketingberatung Ellerbrock Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich, so lautet die korrekte Übersetzung des berühmten Grundsatzes in der Ursprungsfassung des Philosophen René Descartes. Einst gegen Mitte des 17. Jahrhunderts zu Beginn der Aufklärungsepoche als erste und einzige unwiderlegbare Wahrheit der rationalen Erkenntnistheorie sowie als menschliche Existenz begründendes Argument formuliert, erscheint der dieser Feststellung zu Grunde liegende Kausalzusammenhang von Denken und Sein heute rund drei Jahrhunderte später im digitalen Zeitalter vordergründig betrachtet zumindest relativiert. Der zuletzt breit diskutierte Begriff des Cloud-Computing, das Speichern, Verarbeiten und Vernetzen von Informationen im digitalen Off, prägt nicht nur die konzeptionellen Überlegungen zur Gestaltung von IT-Infrastrukturen, sondern mag zuweilen auch als Leitbild verstanden werden, wie wir selbst denken, d. h. aus einer inneren Beschäftigung mit Informationen und Wahrnehmungen eine Erkenntnis zu gewinnen versuchen – wenn wir es in diesem Sinne überhaupt tun. Schon Henry Ford hatte seinerzeit festgestellt, dass das Denken die schwerste Tätigkeit sei, die es gibt, weswegen sich auch nur wenige damit beschäftigen würden. Dieser Trend hat sich zuletzt verstärkt; denn das segensreiche digitale Zeitalter hat uns eben auch die Möglichkeit geschenkt, ungenutzte Teile unserer Gehirnkapazität nicht weiter zu bemühen und stattdessen auf externe Informationsspeicher, sprich anfangs die Festplatte des heimischen Computers und heute das Internet auszuweichen. Die ultimative Ubiquität von Informationen, die in jeder inhaltlichen Ausprägung für jeden zu jeder Zeit verfügbar sind, relativiert die Bedeutung unseres eigenen Kopfes als Speichermedium und in der Folge auch die Art, Informationen aufzunehmen und überhaupt zu denken. Noch vor wenigen Jahren entschieden wir selbst sowohl über Breite und Tiefe als auch Geschwindigkeit der Informationsaufnahme. Der explodierende Information-Overkill führt faktisch zu einem Kontrollverlust bezogen auf zwei Kerndimensionen der Informationsverarbeitung, nämlich Breite und Dynamik des Informationsangebots. Man muss Informationen nicht mehr generieren, es gibt sie einfach und wir kommen jeden Tag mit mehr Informationen in Kontakt als uns lieb ist (entspricht in etwa dem Umfang von 170 Zeitungen). Wie von einem überdrehten Shushi-Laufband picken wir uns selektiv diejenigen Informationen aus dem unser Gehirn schlicht überfordernden, kollektiv befeuerten und gesteuerten High-Speed-Information-Flow um uns herum, die uns spontan wesentlich erscheinen und die wir glauben verarbeiten bzw., um im Bild zu bleiben, (be-)greifen zu können. Eher als Schutzmechanismus denn als geplante Verhaltensstrategie beschränken wir uns auf die letzte Entscheidungsebene, die Tiefe der Informationsaufnahme. www.masterplan-consult.de Seite 1 von 5 Um diese verbleibende, aber letztlich für den Wissensaufbau zentrale Entscheidung treffen zu können, muss Information heute grundsätzlich anders aufbereitet sein, als noch vor zehn Jahren. So verlangt beispielsweise gerade auch Gehaltvolles einen Appetizer oder besser einen Brain-Catcher, der uns in möglichst kurzer Zeit erlaubt, eine Entscheidung für oder gegen eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem betreffenden Sachverhalt zu treffen. Kick-by-click – entweder es kickt sofort oder gar nicht, die Seite wird als zu anstrengend wahrgenommen und weggeklickt bzw. das Shushi-Band läuft weiter. Die Art des Informationsangebots – breit, schnell, kurz und damit oft oberflächlich – prägt also auch unseren Umgang mit Information und mithin unser Denken. Instant Thinking lautet das vorherrschende Paradigma, das uns allzu häufig verleitet, auf der reinen Daten- bzw. Informationsebene stecken zu bleiben. Reflexion und Wissensaufbau, d. h. die Vernetzung von Informationen mit dem Ziel, konkretes und überlegtes Handeln abzuleiten, ist nur noch selektiv möglich; denn diese Fähigkeit bleibt nach wie vor dem Bottleneck Kopf vorbehalten, kann nicht nach außen delegiert werden. Generell steigende Wahrnehmungsschwellen und weiter zunehmendes Spezialistentum sind logische Folgen. Für das Marketing ergeben sich hieraus wesentliche Konsequenzen in zweierlei Hinsicht. Zum einen bestimmt die skizzierte Entwicklung auf der Outbound-Seite, d. h. Marketing in seiner Kernfunktion als Sender von marktgerichteten Botschaften, im hohen Maße, die Art und Weise wie Marken heute kommunizieren müssen, um zunächst überhaupt und im Weiteren als interessant und relevant wahrgenommen zu werden. Zum anderen ergeben sich auf der Inbound-Seite neue Anforderungen für Mitarbeiter im Marketing, ihrerseits relevante Informationen für ihre Arbeit zu nutzen, um ergebniswirksames Wissen zur Ausrichtung und Steuerung eines zielgerichteten Marketings aufzubauen und darüber letztlich Wettbewerbsvorteile zu generieren. Zunächst zum Marketing als Sender von Informationen: Die Markenkommunikation erfordert im beschriebenen Szenario eine zunehmend kurzwellige Taktung, um Aktualität und überhaupt Wahrnehmung im dichten Information-Flow sicherzustellen. Die Kommunikation ist zunehmend direkt und dialogorientiert, d .h. sie bindet den Empfänger aktiv in den Informationsaustausch mit ein. Dies hat zwei auf der Hand liegende Vorteile für den Sender: zum einen erhöht die Zwei-Wege-Kommunikation mit dem Kunden dessen Involvement-Level und damit den Grad seiner Informationsaufnahme. Zum anderen ergibt sich auf diese Weise vice versa die Chance, wertvolle Kundenreaktionen und -insights zu generieren. Die neuen Medien eignen sich dabei in besonderer Weise, die Reaktionspotenziale der Kunden quer über die gesamte Wertschöpfungsstrecke, sei es als Co-Produktentwickler und -tester, als Multiplikator oder auch als fachkundiger externer Servicesupport voll auszuschöpfen. Es versteht sich von selbst, dass die Botschaften prägnant und einfach formuliert sein müssen. Diese Grundanforderung an Markenkommunikation gewinnt im Internetzeitalter nur nochmals zusätzlich an Bedeutung. Zeitgemäße interaktive www.masterplan-consult.de Seite 2 von 5 Markenkommunikation wird zudem breiter, setzt zeitlich eher an und hört bei weitem nicht mit dem eigentlichen Kaufakt am POS oder im Internet auf, d. h. die Marke wird heute ganzheitlicher über viele Markenkontaktpunkte (Touchpoints) wahrgenommen und definiert sich mehr über Beziehungen als nur über Produkte. Nicht nur Kunden, sondern auch Interessenten, die – wie gerade im Internet üblich – Informationen häufig noch nicht bezogen auf eine spezifische Marke, sondern bestenfalls zu einem Thema suchen, sollen die Markenbotschaften als relevant erachten. Dies impliziert neue Anforderungen an das Relevanz- und Kompetenzspektrum der Marke, sowohl mit Blick auf die Verschiedenartigkeit anvisierter Empfänger als auch die Themenbreite, die glaubhaft und attraktiv besetzen werden muss. Involvement auf Empfängerseite hilft dabei wie gesagt, steigende Wahrnehmungsschwellen zu überwinden. Auch das ist wirklich nicht neu, schon vor zehn Jahren wurde im Bereich der klassischen Werbeforschung die besondere Relevanz des Involvements für die Wahrnehmung und Wirkung von Werbung detailliert erläutert (vgl. Dr. U. Lachmann, 2002). Entsprechende Abfragefilter sind zentraler Bestandteil von guten, sensibel messenden Tools zur Messung der Werbewirkung geworden (z. B. Ad Dynamics von ISM Global Dynamic). Mit wachsender Informationsflut wird das Kriterium des Involvements generell weiter an Bedeutung gewinnen, je nach Produktgruppe jedoch unterschiedlich hoch und mit unterschiedlichen InvolvementVerläufen. Neue Medien bieten hier mit der Erstellung dezidierter Nutzerprofile deutlich effektivere Möglichkeiten einer Filterung nach Interesse und InvolvementNiveau und der gezielten Ansprache fragmentierter Zielgruppenlandschaften als klassische Medien. So wird beispielsweise im Zuge der Entwicklung einer Social Media-Strategie der Netzwerkdienst Google+ mit seinen heute auch schon rund 170 Millionen Usern trotz des gegenüber Facebook bestehenden signifikanten Nachteils in der Reichweite allein aufgrund seiner optimalen Verknüpfungsmöglichkeiten mit dem im Suchmaschinenkonzern vorhandenen gigantischen Nutzerwissen aus Marketingsicht zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen. Der Planungsaufwand steigt mit den wachsenden Möglichkeiten. Aktionismus ist trotz der gebotenen Dynamik fehl am Platz, Strategie ist zwingend. Sämtliche Kommunikationsansätze in allen zielgruppenrelevanten neuen und klassischen Kanälen sind systematisch auf die Informationsanforderungen der Kunden in den einzelnen Phasen des jeweiligen Verkaufsprozesses von der Leadgenerierung bis zur Weiterempfehlung abzustimmen und entsprechend ihren Beitragspotenzialen bezogen auf definierte Zielsetzungen einzusetzen und intelligent miteinander zu verknüpfen. Auf diese Weise entsteht ein verzahntes Gesamtkonzept zur Steigerung von Effektivität und Effizienz in der Markenkommunikation mit geringerer Streuung und hohem verkaufsunterstützenden Wirkungspotenzial. So können Marketingmaßnahmen generell und die neuen Medien im speziellen auch und nicht zuletzt im B2B-Segment mit häufig begrenzten Budgets zur Ansprache von zumeist hochinvolvierten Fachzielgruppen zielgerichtet eingesetzt werden. www.masterplan-consult.de Seite 3 von 5 Ungeachtet der erhöhten Schlagzahl in der Kommunikation bleibt ein langer Atem in der Verfolgung der eingeschlagenen Strategie als Kernelement jeder Markenführung ein zentraler Erfolgsfaktor. Kontinuität und Konsistenz sind nach wie vor Grundtugenden guter Markenführung. Marken generell und besonders Unternehmensmarken fungieren heute mehr denn je als Fels in der Brandung und zentraler Orientierungsanker in einer zunehmend virulenten und komplexen Welt. Die festgelegte Markenidentität beschreibt nach wie vor im Abgleich von markt- und ressourcenbezogener Perspektive (vgl. Meffert 2002) möglichst mit hohem Alleinstellungs- und Wiedererkennungswert, wofür die Marke steht und welchen Nutzen sie stiften will. Das Konzept der fraktalen Markenführung (vgl. Gerken 1994) erfährt auch in dem beschriebenen dynamisierten, zunehmend durch äußere Einflüsse bestimmten Szenario keine Renaissance – Markenführung braucht Leitplanken. Wenn jedoch die Markenkommunikation nach Zielgruppen und Themen breiter wird, die Mitarbeiter in der Ausübung ihrer Funktion häufig als Botschafter der Marke selbst ein Teil der Identität werden und Markenbotschaften aussenden und in den neuen Medien die Hoheitsrechte, von und über die Marke zu sprechen, teilweise an die Web-Community übergehen (User generated content), wird auch klar, dass das Markenverständnis grundsätzlich einfacher, offener und weniger statisch werden muss. Markenführung sollte bei aller notwendigen strategischen Stringenz weniger als formale Wissenschaft, sondern vielmehr als ein lebendiges und erlebbares Nutzenkonzept verstanden werden. In der Inbound-Perspektive werden an das Marketing als Verwerter von Informationen neue Anforderungen insbesondere mit Blick auf deren Filterung, Verdichtung und Vernetzung gestellt. Wenn Informationsbreite und -geschwindigkeit von außen gesetzt und damit für alle zunächst weitgehend gleich sind, gewinnt die inhaltliche Tiefe, mit der Themen durchdrungen und nachhaltige Strategien entwickelt werden, als Vorteilsebene zunehmend an Bedeutung. Vorsprung durch Wissen, hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Alle haben zwar die gleichen Informationen, aber machen nicht das Gleiche daraus; denn Information ist nicht gleich Wissen. Nur in der intelligenten Verknüpfung von Informationen entsteht Erkenntnisgewinn und damit die Grundlage für neue schlagkräftige Handlungsprogramme. Qualität bei der Besetzung jeder einzelnen Position macht den Unterschied und erst Recht im Zusammenspiel des Teams; denn Informationsvernetzung impliziert ein gut funktionierendes Wissensmanagement und damit auch gewinnbringende und effiziente Interaktion zwischen den Teammitgliedern nicht nur im Marketing, sondern auch cross-funktional. Vor diesem Hintergrund avanciert Human Resources zu einer unternehmerischen Königsdisziplin. Auch die Rolle der Marktforschung entwickelt sich mit veränderten Rahmenbedingungen und steigenden Ansprüchen an den Orientierungswert ihrer Arbeitsergebnisse entscheidend weiter. Methodenkenntnisse gerade auch im Hinblick auf innovative, kundennahe Instrumente im Bereich der neuen Medien sind eine conditio www.masterplan-consult.de Seite 4 von 5 sine qua non, aber bei weitem nicht hinreichend. Der zahlenverliebte Informationsund noch mehr der reine Datenlieferant, die primär auf Veranlassung von Marketing Forschungsprojekte abarbeiten, sind Relikte vergangener Zeiten. Marktforschung ist heute proaktiver Sparrings- und Businesspartner des Managements, entwickelt eine ganzheitliche Markt- und Branchenkompetenz und vermittelt auf dieser Grundlage Wissen und Orientierung zur Bewertung unterschiedlicher Handlungsoptionen. Der Erkenntnisgewinn durch Marktforschung ist zunehmend strategisch orientiert und damit klar zukunftsgerichtet, der Blick in den Rückspiegel reicht angesichts der Entwicklungsdynamik von Märkten und Erfolgsfaktoren als Navigationshilfe nicht mehr aus. Der wachsende Handlungsbezug findet auch seine Entsprechung in einer erweiterten Interpretation der Rolle von betrieblichen Marktforschungsfunktionen. Ein Marktforschungsprojekt endet nicht mit Abgabe eines Ergebnisberichts und dessen Vorstellung im Rahmen einer Präsentation. Die detaillierte und vernetzte Kenntnis von Märkten, Trends und Verbraucherwünschen, die Nähe zum Kunden und das Wissen um dessen Bedürfnisse befähigen den Marktforscher, als Treiber von Innovationen und als Vorreiter neuer Strategien und Perspektiven die Verwertung des Erkenntnisgewinns im weiteren Managementprozess über den ursprünglichen Projektrahmen hinaus sicherzustellen. Marktforschung entwickelt sich damit auf der Grundlage eines individuell gewachsenen, tiefgreifenden Marktwissens zum Managementberater und aktiven Gestalter von Marktchancen. Fazit: Klicken heißt nicht zwingend denken, weil Information nicht gleich Wissen ist – ein entscheidender Unterschied; denn nur Wissen ermöglicht überlegtes, zielgerichtetes Handeln. Marken müssen sich im digitalen Information-Flow in vielfältiger Weise auf veränderte Mechanismen der Informationsverarbeitung bei ihren Anspruchsgruppen einstellen, die Grundprinzipien guter Markenführung behalten indes ihre Gültigkeit. Das Verhältnis von Information und Wissen zueinander ist heute ambivalent: das gut zugängliche Informationsangebot im Internet fördert einerseits als Rohstoff den Wissensaufbau; das faktische Überangebot und die teilweise Beliebigkeit von Informationen erschweren ihn andererseits. Erst die strategisch orientierte Selektion und intelligente Verknüpfung von Informationen ermöglicht den Aufbau von entscheidungsrelevantem Wissen und liefert dem Marketing damit die Grundlage zur Entwicklung zielgerichteter Handlungsstrategien. Auch im Zeitalter der digitalen Wissensgesellschaft geht es nicht nur um die Mehrung eines kollektiven breiten, sondern mehr denn je auch um die Kultivierung eines individuellen spezifischen Wissens, das angereichert mit menschlicher Intuition nach wie vor nur in unserem Kopf entstehen und eben nicht in die Cloud ausgelagert werden kann. Geist ist geil und bleibt wohl auch weiterhin unersetzlich – zum Glück für die Menschheit und als Chance für das Marketing. www.masterplan-consult.de Seite 5 von 5