Kanin Udommana Antonín Dvořák Amerikanisches Quartett Wissenschaftliche Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of arts Institut 3, Saiteninstrumente Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Betreuer: Ao. Univ. Prof. Mag. Phil. Dr. phil. Harald Haslmayr Graz, Mai 2016 Abstract Diese Arbeit befasst sich mit dem „Amerikanischen Quartett“ - Quartett in F-Dur op. 96. Dvořák schrieb dieses Werk während seines dreijährigen Aufenthaltes in Amerika. Die Besonderheiten dieses Quartetts sind die idyllischen Noten, die von Dvořáks Sommeraufenthalt in Spillville geprägt sind bzw. die folklorischen Einflüsse, die hier einfließen. Dvořák hat sich sehr stark mit der sogenannten „Neger- und Indianermelodien“ auseinandergesetzt und sie in seine Kompositionen einfließen lassen. Diese Arbeit beleuchtet zum einen die Biographie Dvořáks, und zum anderen die amerikanischen Einflüsse auf sein Schaffen. Im Anschluss daran wird das Quartett in F- Dur analysiert und auf diese Einflüsse hin untersucht. The thesis is analyzing the „American Quartet“ – Quartet in F-Major op. 96. Dvořák composed this opus during his triannual stay in America. The peculiarities of this String quartet are the idyllic touch, which is influenced by Dvořáks stay in Spillville during the summer, and the ethnic influence which both were integrated in it. Dvořák dealt with „Negro spirituals and Indian music“ which he tried to integrate into his works. The thesis focusses on Dvořáks biography and the influence of the ethnic music of „Negro spirituals and Indian music“ into his works. In connection with it the quartet in F-major will be analyzed about this influence. 2 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung........................................................................................................................... 4 2. Das Leben Antonín Dvořáks ............................................................................................. 6 2.1. Kindheit und Jugendjahre ........................................................................................... 6 2.2. Nationaler und internationaler Durchbruch als Komponist ........................................ 8 2.2.1. Dvořák und Brahms ............................................................................................ 10 2.2.2. Englandreisen und Lehrtätigkeit in Tschechien .................................................. 12 2.2.3. Aufenthalt in Amerika ........................................................................................ 15 2.3. Letzte Jahre ............................................................................................................... 27 3. Streichquartett in F-Dur op.96 ......................................................................................... 30 3.1. Entstehungsgeschichte .............................................................................................. 30 3.2. Exkurs: Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ .................................................................. 33 3.3. Amerikanische Einflüsse .......................................................................................... 36 3.4. Analyseteil ................................................................................................................ 42 4. Conclusio ......................................................................................................................... 63 5. Anhang............................................................................................................................. 69 3 1. Einleitung Diese Arbeit soll die Besonderheiten des Streichquartett F-Dur opus 96 in Bezug auf die „amerikanische Volksmusik“, also der afroamerikanischen und indianischen Musik, analysieren und die tatsächlichen Einflüsse in dem Werk erörtern und gegebenenfalls aufzeigen. Zuvor soll Dvořáks Einfluss auf die amerikanische Musik und die Auswirkungen seines mehrjährigen Aufenthaltes in Amerika untersucht werden. Das zwölfte Streichquartett F-Dur-Quartett opus 96, welches Dvořák 1893 während seines Aufenthaltes in Amerika komponierte hat, gilt auf Grund seines so spezifischen und unverwechselbaren Tonfalles als Ideal der Kammermusik. Der Beiname Amerikanisches Quartett bezeichnet nicht nur den Umstand, dass es ebendort komponiert wurde, sondern vor allem die Ausprägung eines besonderen Stils, der von „amerikanischen“ Einflüssen geprägt wurde. Dvořák und Jeanette Thurber, Präsidentin des New Yorker National Conservatory of Music und verantwortlich dafür, dass der Meisterkomponist seine Lehrtätigkeit an ihrem Konservatorium aufnahm, waren beide sehr weltoffen und Thurber förderte Dvořáks Bestreben, die amerikanische Musik der Afroamerikaner und Indianer zu studieren und einzusetzen. Unzählige Briefe belegen Dvořáks Interesse an „Negro Spirituals“ und „Indianergesängen“, die er in seinen eigenen Kompositionen einsetzte, und seine Absicht, seine Studenten dazu zu ermutigen, in ihre Arbeit und Geister „amerikanische Volksmusik“ einfließen zu lassen und nicht immer der europäischen Musik nachzueifern. Dvořáks unorthodoxer Denkansatz löste teils heftige Diskussionen sowohl in Amerika als auch in Europa aus. Grundsätzlich begrüßten die meisten seiner Musikerkollegen die Idee, Afroamerikaner in den Musikhochschulen und Konservatorien auszubilden, doch einige blieben skeptisch in der musiktheoretischen Frage, ob „amerikanischen Volksmusik“ mit der klassischen Musik vereinbar ist. Zudem gab es unterschiedliche Ansichten, ob Dvořáks „amerikanische“ Kompositionen, wie beispielsweise das zwölfte Streichquartett oder die neunte Sinfonie Aus der Neuen Welt, tatsächlich amerikanische Einflüsse beinhalten oder nicht. Gerade deshalb ist sein Aufenthalt in Amerika für die amerikanische aber auch europäische Musik von so großer Bedeutung und gilt damals wie heute als einer der 4 Mitbegründer des Aufstiegs der amerikanischen, klassischen Musikkunst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dvořák selbst verweist in einem Brief auf die Sonderstellung, die dieses Quartett einnimmt, denn er wollte „einmal was Melodisches und Einfaches niederschreiben“.1 Einerseits ist sie in einer der anspruchsvolleren Gattungen der Kammermusik beheimatet, aber andererseits sind die spieltechnischen Anforderungen beträchtlich reduziert. Das erste Kapitel setzt sich mit der bewegten Biographie Dvořáks auseinander, wobei der Schwerpunkt auf dem Aufenthalt in Amerika liegt. Diesen gilt es besonders zu beleuchten, da seine Lebensumstände in Amerika eine wichtige Verbindung zu seinen „amerikanischen Werken“ sind. Der darauffolgende Abschnitt beginnt mit einer profunden Erörterung der tatsächlichen „amerikanischen Einflüsse“ in Dvořáks Werken. Die Erörterung wird anhand von Notenbeispielen und Briefmaterial dargelegt. Es folgt die Analyse des zwölften Streichquartetts F-Dur opus 96, die ihr Hauptaugenmerk auf die Besonderheiten in Bezug auf die „amerikanische Volksmusik“ legt. 1 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 263. 5 2. Das Leben Antonín Dvořáks 2.1. Kindheit und Jugendjahre Antonín Dvořák wurde am 8. September 1841 in Nelahozeves in Prag geboren. Er wuchs als erstes der acht Kinder von František Dvořák, einem Metzger und Gastwirt, und Anna Zdeňková in einfachen Verhältnissen auf. Seine ersten musikalischen Erfahrungen sammelte er im Volksschulalter, wobei er Sing- und Violinenunterricht von Josef Spitz, dem Dorflehrer und Kanton von Nehalozeves, erhielt. Schon früh wurde sein Talent für Musik erkannt, mit zwölf Jahren wurde Dvořák nach Zlonice, einer benachbarten Kleinstadt, geschickt, damit er nicht nur seine deutschen Sprachkenntnisse erweitern, sondern auch weiterbildende musikalische Ausbildung genießen konnte. So erhielt er Instrumentalunterricht in Violine, Klavier und Orgel und theoretischen Musikunterricht u.a. bei Antonín Liehmann. Dieser war der Organist von Zlonice und übte einen großen Einfluss auf Dvořák und seinen späteren künstlerischen Weg aus. Nach Dvořák war Liehmann „ein guter Musiker, aber er war jähzornig und unterrichtete noch nach der alten Methode: Wer etwas nicht spielen konnte, bekam soviel Rippenstöße, als Noten auf dem Papier waren“ 2. Später widmete Dvořák seine erste Sinfonie der Stadt, in der er zum ersten Mal die für seinen Lebensweg entscheidende Ausbildung erhalten hatte, und gab ihr den Beinamen Die Zlonicer Glocken. In den Jahren 1856-1857 besuchte Dvořák die deutsche Stadtschule in der nordböhmischen Stadt Böhmisch Kamnitz, wo er seine Fähigkeiten des Orgelspiels weiterentwickeln konnte, und nahm schließlich 1857 mit 16 Jahren das Organistenstudium an der Prager Orgelschule auf. Dort erhielt er Unterweisungen in Gesang, Orgelspiel, Generalbass, Harmonielehre, Modulation, Choralspiel etc. und trat als Bratschist in den Konzerten des Prager Cäcilienvereins auf. Das Studium an der Prager Orgelschule ermöglichte es ihm, das Wissen über Musiktheorie zu vertiefen, sein Repertoire zu erweitern und Aufführungen berühmter Künstler mitzuerleben. Dvořák über Liehmann, zitiert nach Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 15 2 6 Abbildung 1: Antonín Liehmann Abbildung 2: Die Organistenschule in Prag Nach der Absolvierung seines Studiums im Jahr 1859 war Dvořák weiterhin als Bratschist tätig. Er wurde Mitglied des kleinen, privaten Orchesters des Kapellmeisters Karel Komzák, das schließlich Anfang der 60er Jahre als Theaterorchester ins sog. Interimstheaters 3 übernommen wurde. Als Solobratschist im Orchester des Theaters, das u.a. unter Leitung von Bedřich Smetana (1824-1884) stand, wirkte er bei vielen Aufführungen mit. Das Repertoire reichte dabei von deutschen, französischen und italienischen Bühnenwerken bis hin zu Kompositionen slawischer Herkunft. Da jedoch die Entlohnung gering ausfiel, verbesserte Dvořák sein Einkommen, indem er privaten Klavierunterricht erteilte und als Organist aushalf. Dvořák beschäftigte sich während der Zeit als Orchestermitglied auch mit der Entwicklung seiner Kompositionstechnik, wobei er sich an der Musik von Künstlern verschiedener Epochen, angefangen bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Ludwig van Beethoven (1770-1827) über Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und Robert Schumann (1810-1856) bis Richard Wagner (1813-1883), orientierte und eine stufenweise Erarbeitung der Kompositionsformen durchmachte. Hierbei entstanden Werke wie Streichquintett op.1 (1861), Streichquartett op.2 (1862) etc. 4 Wagners Auftritt konnte Dvořák als Bratschist selbst miterleben, als dieser im Jahr 1863 in Prag bei Konzerten 3 Das Interimstheater war das erste tschechische Theater Prags und wurde 1862 eröffnet. Vgl. Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1954, S. 1739 4 7 Ausschnitte aus seinen Opern wie z.B. Die Meistersinger von Nürnberg, Tristan und Isolde, Walküre etc. dirigierte. 2.2. Nationaler und internationaler Durchbruch als Komponist Im Jahr 1871 trat Dvořák aus dem Orchester des Interimstheaters aus und konzentrierte sich auf die Komposition eigener Werke. Im Rahmen von privaten Liederabenden präsentierte Dvořák verschiedene Stücke, darunter befanden sich Lieder wie Vzpomínání, Proto und Sirotek und Instrumentalwerke wie z.B. das Klavierquintett A-Dur op.5. Erste große öffentliche Anerkennung als Komponist erhielt Dvořák nach der Uraufführung des Hymnus „ Die Erben des Weißen Berges“ für Chor und Orchester, basierend auf dem gleichnamigen Gedicht von Vítězslav Hálek (1835-1874) 5 . Diese bezieht sich auf die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 6 und hat einen patriotischen Charakter – der letzte Satz des Werks lautet: „Es ist ein einziges Vaterland, es ist eine einzige Mutter!“ 7 . Die Uraufführung fand fand im März 1873 in einem Konzert des Prager Gesangsverein „Hlahol“ mit einer Besetzung von 300 Stimmen statt und war ein großer Erfolg. Dies verschaffte ihm einen Ruf als angesehener Komponist in Prag, einen Vertrag mit dem Prager Verlag Starý für den Druck einiger Lieder, sowie weitere Aufführungsmöglichkeiten seiner Werke. Die Veröffentlichung vieler weiterer Werke folgte, als Beispiele können die 3. Sinfonie in Es-Dur, Streichquartett f-Moll op.9, a-Moll op.16 etc. genannt werden. Am 17. November 1873 heiratete Dvořák in der Peterskirche in Prag die 19jährige Tochter eines Goldschmieds, Anna Čermáková, der er ehemals Klavierunterricht erteilt hatte. Sie wohnte zunächst bei den Eltern der Braut, bevor sie in eigene Wohnung umziehen konnten. Die ersten drei Kinder starben frühzeitig, später hatten sie weitere sechs weitere Kinder, von denen einige das musikalische Talent ihres Vaters erbten. Dvořák hatte er zuvor Josefina, die ältere Schwester von Anna, Sopranistin am Interimstheater und ebenfalls 5 Tschechischer Dichter, Schriftsteller, Dramaturg und Journalist. Die Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620 war eine der Schlachten im Zuge des Dreißigjährigen Krieges. Sie endete mit der Niederlage der protestantischen böhmischen Stände und dem Sieg der katholischen Reichsstände. Als Folge wurden die Stände Böhmens entmachtet und Deutsch wurde zur Sprache der gebildeten Schicht des tschechischen Volks. 7 Zitiert nach Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 37 6 8 Klavierschülerin Dvořáks, verehrt, die jedoch den Aristokraten Graf Kaunitz heiratete. Trotzdem blieben sie lebenslang gute Freunde. Abbildung 3: Öffentliche Bekanntgabe der Premiere des "Hymnus" Abbildung 4: Anna (sitzend) und Josefina Čermáková Abbildung 5: Antonín Dvořák in 1870 Dvořák erhielt eine Lehrstelle in der privaten Prager Musikschule von Jan August Starý und im Februar 1874 übernahm er das Organistenamt an der Kirche St. Adalbert. In den 1870er Jahren kam es zu einem Wendepunkt in seinem Kompositionsstil, der von der Selbstkritik an seiner bisherigen musikalischen Orientierung und Versuchen, einen neuen Weg zu finden, geprägt war. Dies war vor allem auf die Probleme bei der Entstehung der Oper Der König und der Köhler zurückzuführen, deren erste Fassung abgewiesen wurde, da sie zu schwierig und unspielbar sei. Dvořák fing daraufhin an, sich von der neudeutschen Schule loszulösen und wandte sich stattdessen einem Kompositionsstil zu, dessen musikalische Sprache Elemente der slawischen Folklore beinhaltete. Unter den Werken, die während dieser Zeit entstanden, befinden sich u.a. die zweite Fassung der Oper Der König und der Köhler, sowie die Streichquartette f-Moll op.9, a-Moll op.12 und a-Moll op.16. Die Werke der Jahre 18761881 sind vollends von Elementen slawischer Folklore geprägt – Ideen und Konzepte für die 9 Kompositionen entnahm Dvořák dabei aus Studien von Volksliedsammlungen (Karel Jaromír Erben8, František Sušil9 etc.).10 2.2.1. Dvořák und Brahms Ab dem Jahr 1875 erhielt Dvořák fünf Jahre lang das staatliche Künstlerstipendium des Wiener Unterrichtsministeriums, das für ihn sowohl eine finanzielle Unterstützung, als auch einen weiteren Schritt seiner künstlerischen Laufbahn darstellte. Johannes Brahms (18331897), der in der musikalischen Fachkommission saß, war von Dvořáks Musik begeistert und vermittelte den Komponisten an seinen Berliner Verleger Fritz Simrock (1837-1901). Der Zyklus Klänge aus Mähren wurde verlegt und war so erfolgreich, dass Dvořák den Auftrag bekam, ein Klavierwerk mit böhmisch-slawischen Charakter zu schreiben. Die so entstandenen Slawischen Tänze op.46 wurden mit Begeisterung aufgenommen und auch international wurde Dvořák bekannt. Weitere populäre Werke waren u.a. Slawische Rhapsodien, Streichsextett und die 6. Sinfonie; Diese und viele andere Werke wurden in Städten wie Dresden, Berlin, London, New York gespielt. 8 K. J. Erben (1811-1870) war ein tschechischer Historiker und u.a. städtischer Archivar In Prag, wo er Volksmärchen und Volkslieder aus Böhmen sammelte und diese publizierte. 9 F. Sušil (1804-1868) war katholischer Priester, der v.a. für die Publikation von Sammlungen traditioneller Volksmusik aus Mähren bekannt ist, die aus etwa 2000 Liedern und 2300 Texten besteht. 10 Vgl. Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1954, S. 1740 10 Abbildung 6: Fritz Simrock Abbildung 7: Johannes Brahms Dvořák machte mit vielen Persönlichkeiten Bekanntschaft, dazu gehören der Dirigent Hans Richter (1843-1916), der deutsche Pianist und Dirigent Hans von Bülow (1830-1894) und der österreichische Musikkritiker Eduard Hanslick (1825-1904), wobei er mit Brahms, der ihm die Verbindung zu Simrock ermöglicht hatte, eine besondere Freundschaft entwickelte. Diese hielt zeitlebens an, die mit vielen Briefen belegt werden kann (Bsp. dafür siehe weiter unten). Dvořák empfand eine große Dankbarkeit für Brahms und war für dessen Kritik immer offen. „[…] Aber ein noch größeres Glück ist die Sympathie, die Sie, hochgeehrter Herr, meinem geringen Talente zutheil werden liessen und auch das Wohlgefallen (wie mir Herr Prof. Hanslick schreibt), welches Euer Wohlgeboren an meinen zweistimmigen böhmischen Lieder gefunden haben. […] Indem ich Euer Wohlgeboren um Ihre hochgeschätzte Gunst flehe, mir dieselbe auch für die Zukunft zu bewahren, bitte ich zugleich um die gültige Erlaubnis, Ihnen einige meiner Kammermusik- und Instrumentalkompositionen zur gefälligen Ansicht vorlegen zu dürfen. […]“11 „Most exteemed Sir, I regret most exceedingly that I was away on a trip during your stay here. All the more so since I cannot hope, on account of my great aversion to writing, that Dvořák an Brahms, zitiert nach Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 48. 11 11 conversing by letter can be even the least substitute. And so I will simply tell you today that it gives me the greatest pleasure to occupy myself with your things, and that I would therefore give a lot to be able to chat with you about particulars. You write somewhat hastily. However, while adding the many missing sharps, flats, and naturals, you might also take a closer look at the notes themselves, sometime, at the voice leadings etc. Do please forgive me, it is very presumptuous of me to express such wishes to a man like you! […]”12 In Tschechien wurden Dvořáks Erfolge im Ausland gewürdigt. So wurde er z.B. zum Ehrenmitglied des Gesangsvereins Hlahol und Vorsitzenden der Musiksektion der Umělecká beseda ernannt und erhielt Kompositionsaufträge für besondere Anlässe des Prager Musiklebens. In dieser Zeit entstanden Werke wie Festmarsch, Prager Walzer, Klaviertrio in f-Moll (1883), Scherzo capriccioso und die tragische Oper Dimitrij. Das Libretto von Dimitrij stammte von Marie Červinková-Riegrová13 (1854-1945) und handelt von einer Episode der russischen Geschichte Anfang des 17. Jahrhunderts. Dimitrij, der sich für den jüngsten Sohn Iwans des Schrecklichen ausgab, regierte kurze Zeit als russischer Zar, bis er bei einer Revolte ermordet wurde. Die Oper wurde im Oktober 1882 im Neuen tschechischen Theater uraufgeführt und wurde zu einem großen Erfolg. Trotz Bestreben Dvořáks, auch internationale Anerkennung für dieses Werk zu finden, wurde die Oper erst nach seinem Tod ab 1958 populär. 14 2.2.2. Englandreisen und Lehrtätigkeit in Tschechien Dvořák reise ab März 1884 insgesamt achtmal nach London. Die im Jahr 1883 gefeierte Aufführung von Dvořáks Stabat mater15 unter der Leitung des englischen Komponisten und Dirigenten Sir Joseph Barnby (1838-1896) führte dazu, dass Dvořák von der Philharmonic Society London eingeladen wurde, in der folgenden Saison seine eigenen Werke zu dirigieren, und er wurde zum Ehrenmitglied ernannt. In London fanden unter seiner Leitung in großen Konzerthäusern wie Albert Hall, St. James Hall und Crystal Palace und bei Brahms an Dvořák, zitiert nach Avins, Styra (Hrsg.): Johannes Brahms. Life and Letters. Oxfords University Press, 1997, S. 537. 13 Tschechische Schriftstellerin und Tochter des bedeutenden Politikers František Ladislav Rieger. 14 Vgl. Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 60ff. 15 Stabat Mater ist ein mittelalterliches Gedicht, das dem italienischen Franziskanermönch Jacopone da Todi (1230-1306) zugesprochen wird. Die Vertonung dieses Gedichts zu einem Oratorium (1877) wird als Reaktion auf den Tod seiner ersten drei Kinder gesehen. 12 12 verschiedenen Festivals die Aufführung seiner Werke statt, darunter befanden sich Stabat Mater, die Ouvertüre Husitská, die 6., 7. und 8. Sinfonie, 2. Slawische Rhapsodie, Scherzo capriccioso, Notturno H-Dur, Die Geisterbraut, Die Heilige Ludmilla, Requiem etc. Die begeisterte Aufnahme in England wurde von Dvořák selbst in verschiedenen Briefen an Freunde und Familie erwähnt: „Ich kann Euch gar nicht sagen, wie diese Engländer mich auszeichnen und mögen! Überall schreiben und reden sie von mir und behaupten, ich sei der Löwe der diesjährigen Musiksaison in London! […] In einigen Zeitungen war auch von Euch die Rede, daß ich von armen Eltern abstamme und daß mein Vater Fleischer und Gastwirt in Nelahozeves war und daß er alles tat, um seinem Sohn die rechte Erziehung zu geben! Ehre sei Euch dafür!“ 16 Dieser Erfolg brachte eine Steigerung seines Wertes als Autor und Verlagspartner mit sich, sodass Dvořáks Position gegenüber Simrock gestärkt wurde und er eine Erhöhung der Honorierung seiner Werke erreichen konnte. 17 Des Weiteren kaufte er in Vysoká, einem Bergarbeiterdorf in der Landschaft um Příbam eine Residenz, wo er zwischendurch Ruhe finden und an seinen Kompositionen arbeiten konnte. Dvořák an seinen Vater, zitiert nach Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 72. 17 Vgl. Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1954, S. 1743 16 13 Abbildung 8: Dvořák (Zweiter von links) mit Familie und Freunden vor dem Anwesen in Vysoká In den Jahren nach seinen Englandreisen unternahm Dvořák Konzertreisen nach Moskau und St. Petersburg; des Weiteren wurden seine Leistungen durch verschiedene Auszeichnung gewürdigt. 1889 wurde ihm bei einer Audienz beim österreichischen Kaiser in Wien der Orden der Eisernen Krone III. Klasse verliehen, er wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Prag und Ehrendoktor der Prager Tschechischen Universität. Schließlich wurde ihm eine Lehrstelle für Komposition und Instrumentation am Prager Konservatorium angeboten, die er nach längerem Zögern annahm. Unter seinen Schülern gehörten Vítězslav Novák (1870-1949), Oskar Nedbal (1874-1930) und Josef Suk (18741935, die sich später zu bedeutenden Künstlern der tschechischen Musikgeschichte entwickeln sollten. Josef Suk wurde zu einem bekannten Violinisten, der Dvořáks älteste Tochter Otilie im jahr 1898 heiratete. Laut ihren Aussagen und Schilderungen anderer Schüler war Dvořák als Lehrer sehr fordernd: „[Er war] ein launenhafter Mensch und auch er litt – wie vielleicht jeder große Geist – an der sog. ewigen Unzufriedenheit. So z.B. gefielen ihm einige Stellen in unseren Kompositionen, er war beim ersten Eindruck geradezu von ihnen begeistert, später aber 14 gefielen ihm dieselben Stellen nicht mehr und er forderte, daß sie geändert, verbessert oder sogar entfernt und durch andere ersetzt würden.“ 18 Nichtdestotrotz war er bei seinen Schülern beliebt, da sein Unterricht sehr lehrreich und originell war. Sein Ziel war es, den Schülern eigenständiges kompositorisches Denken und Arbeiten näher zu bringen19. 2.2.3. Aufenthalt in Amerika Bereits 1884 hatte der Komponist Dudley Buck aus Brooklyn, New York, Dvořák in London den Vorschlag gemacht, doch nach Amerika zu reisen und dort seine eigenen Kompositionen zu dirigieren. Es folgten spätere weitere Angebote und Einladungen nach Amerika, die er allesamt ausschlug. Erst 1891 sollte ein weiteres Angebot an den Meister einen neuen Lebensabschnitt bedeuten. Im Juni erreichte Dvořák aus Wien ein Angebot, die Leitung des Nationalen Konservatoriums in New York zu übernehmen. Hinter dem Angebot stand Jeanette M. Thurber (1850-1946), Präsidentin des New Yorker National Conservatory of Music. Und wieder war die Antwort Dvořáks ein klares „nein“, doch Thurber, selbst Tochter eines Violinisten, der 1837 aus Dänemark nach Amerika ausgewandert war, ließ sich nicht so einfach abwimmeln. Sie war bestrebt, eine einzigartige Schule für Klassische Musik aufzubauen und dafür einen der besten Komponisten an diese Schule zu holen. Dvořák hatte mehrere Gründe das Angebot von Thurber auszuschlagen: Zum einen hatte er dem Prager Konservatorium vor seinem Engagement abgesagt, da er Zeit für sein kompositorisches Schaffen haben wollte und er jetzt fühlte er sich dem Prager Konservatorium verpflichtet, zumal er gerade einmal sechs Monate im Amt war. Des Weiteren war seine Tochter gerade erst dreizehn Jahre alt und die jüngste gerade drei. Thurber blieb hartnäckig und besserte nicht nur ihr Angebot finanziell nach, sondern schickte dem Komponisten auch einen unterschriftsreifen Kontrakt nach Prag. Das finanziell und prestigeträchtige Angebot erweichte Dvořák sehr wohl, denn an seinen Freund Göbl schrieb er: „Sie wundern sich gewiß, warum ich so lange nicht geantwortet habe! … Ich will den kurzen Aufenthalt in Vysoká nutzen und habe mir daher vorgenommen, die Feder etwas ruhen zu Josef Michl über Dvořák, zitiert nach Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 89-90. 19 Vgl. Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1954, S. 1744 18 15 lassen. Den ganzen Tag streife ich durch die Felder, durch unseren Garten und spiele mit den Tauben … Und jetzt etwas über Amerika. Gestern habe ich die Kopie des Kontraktes erhalten. Er ist sehr lang, aber ich weiß noch nicht, ob ich ihn annehme. Danach soll ich täglich drei Stunden Komposition und Instrumentation unterrichten und außerdem in acht Monaten vier Konzerte mit den Schülern des Konservatoriums und sechs Konzerte in amerikanischen Städten einstudieren, wo vor allem Stabat, Geisterbraut, Ludmilla, Requiem, Symphonien und Ouvertüren usw. aufgeführt werden sollen. Dafür bekomme ich 15.000 Dollar, das heißt tschechisch 35.000 Gulden. Bevor ich abreise, wird die Hälfte der Gage in Prag hinterlegt und die andere Hälfte würde ich monatlich im vorhinein erhalten. Es hat nur noch einen Haken. Ich will nämlich, daß mir die 7.500 Dollar bis Ende Mai 1893 ausbezahlt werden, damit ich dann im Juni, Juli, August und den halben September Ferien haben kann – die ich am liebsten in Böhmen verbringen möchte. Wenn sie auf diese Bedingungen eingehen, nehme ich es wohl an. Das, was die Menschen über Amerika sagen, ist nicht viel wert. Sie sind immer dafür und dagegen, so wie es eben in der Welt zugeht. Aber ich gehe ja ins Sichere. Diese Woche fahre ich nach Sušice zu Prof. Kopta. Er hat lange in Amerika gelebt. Er hat Praxis, seine Gattin ist eine gebürtige Amerikanerin, und sie werden mir wohl am besten sagen können, wie und was …“20 Das Angebot, welches ihm unterbreitet wurde war natürlich gewaltig, denn umgerechnet würde er an nur einem Tag fast so viel verdienen wie in einem Monat in Prag. Anfang 1892 einigten sich Mrs. Thurber und Dvořák auf den von ihr so lang ersehnten Vertrag. Am 17. September 1892 sollte die Abreise nach Amerika erfolgen. Zuvor gab Dvořák jedoch noch eine „Abschiedstournee“. Am 26. September lief das Schiff mit Dvořák, seiner Frau und den zwei ältesten Kindern in New York ein. Sämtliche amerikanische Zeitungen berichteten über die Ankunft Dvořáks und feierten sein Engagement in New York. Bereits Anfang Oktober war Dvořák mit den Aufnahmeprüfungen für seine Klasse beschäftigt. Über die Stadt New York berichtete Dvořák am 1. Oktober: Zit. in: Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, 58f. 20 16 „Es ist eine riesige Stadt, fast wie London, das Leben in den Straßen ist vom Morgen bis fast die ganze Nacht hindurch sehr bunt und lebhaft, und scheint, daß es und hier gut gehen wird.“ 21 Dvořák lebte sich sehr schnell und gut am Konservatorium ein und auch die amerikanische Lebensweise schien ihm zu imponieren. Die Armut in seiner Jugend hatte ihn Sparsamkeit gelehrt und Reichtum imponierte ihn nicht, ihm schien, dass die amerikanische Demokratie das christliche Gebot erfülle, wonach alle gleich sein sollten vor Gott und auf Erden, ohne Rücksicht auf Besitz. Über die Erwartungen an ihn berichtete er an einen Freund wie folgt: „Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir, vor allem soll ich ihnen den Weg ins gelobte Land und in das Reich der neuen, selbständigen Kunst weisen, kurz, eine nationale Musik schaffen! […] Es ist gewiß eine große und hehre Aufgabe für mich und ich hoffe, daß sie mir mit Gottes Hilfe gelingen wird. Anregung gibt es hier genug und genug.“ Im Verlauf des Briefes geht Dvořák auch auf seine Lehrtätigkeit und seine privaten Wohnverhältnisse ein: „Was meine Tätigkeit anbelangt, so sieht sie wie folgt aus: Am Montag, Mittwoch und Freitag unterrichtet ich morgens ab 9 bis 11 Uhr Komposition, zweimal wöchentlich von 4 bis 6 Uhr Orchester [Instrumentation] und über die übrige Zeit kann ich selbst verfügen. Sie sehen, es ist nicht viel und Mrs. Thurber ist sehr `considerate´, wie sie mir schon nach Europa schrieb, daß sie es sein werde. Einen Teil der Administr. Führt sie selbst, sie hat einen Sekretär, ein sehr reicher Mann, Herr Stanton, ein vertrauter Freund von Herr Cleveland, während Mrs. Thurber Republikanerin ist – aber in allen künstl. Sachen vertragen sie sich gut und arbeiten für das Wohl unseres noch nicht voll entwickelten Instituts. Und das ist gut so. Zweiter Sekretär ist Mrs. Mac Dawel – die hauptsächlich die Korrespondenz erledigt. Und jetzt noch etwas über unsere häuslichen Angelegenheiten […] ich habe es nur vier Minuten bis zur Schule und mit der Wohnung sind wir sehr zufrieden. Den Flügel hat mir Herr Steinway gleich geschickt, er ist sehr schön, und, versteht sich, umsonst, so daß wir auch ein schönes Möbelstück in unserem Salon haben. Außerdem haben wir noch drei weitere Zimmer und ein kleines Zimmer (gleichfalls möbliert) und wir zahlen monatlich 80 Dollar. Für uns viel, hier ein gewöhnlicher Preis. Frühstück und Abendessen haben wir zu Hause, zum Mittagessen gehen wir (ins Boardinghouse). Es ist sehr Zit. in: Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 97. 21 17 schmackhaft (nicht englisch) und sehr billig. Für fünf Personen zahlen wir 13 Dollar wöchentlich. Wir bekommen Suppe, Fleisch – immer anderes, Truthahn, Geflügel, Mehlspeisen, manchmal auch Knödel und Liwanzen (aber etwas andere), Kompott, Käse, Kaffee, Wein und Bier, und das alles für etwa 1,70 Dollar pro Mahlzeit. “ 22 Abbildung 9: Familie Dvořák vor dem Haus Nr. 237 in der East 17th Street Zu Ehren Dvořáks Ankunft fand am 9. Oktober 1892 ein großes tschechisches Konzert mit über 3000 Menschen statt. Das erste Konzert dirigierte Dvořák am 21. Oktober in der Carnegie Hall. Aufgeführt wurden In der Natur, Karneval, Othello und Te Deum op.103. Einige Wochen später leitete er eine D-Dur-Sinfonie mit der New-Yorker Philharmonie. Sein erstes Konzert in Boston dirigierte er am 27. November und verlief musikalisch und gesellschaftlich äußerst erfolgreich. Dvořák gewöhnte sich an die neue Umgebung, an die Arbeit und hielt sich an einen bestimmten Tagesablauf. Kompositorisch waren die ersten Monate in New York weniger fruchtbar, lediglich ein Werk, The American Flag, komponierte er in dieser Zeit. Im Dezember wurde unter der Leitung von Anton Seidl Dvořáks Orchestersuite D-Dur op. 39 aufgeführt und das Beethoven-Quartett brachte sein Klavierquartett Es-Dur op. 87 zur Aufführung. Dvořák an einen Prager Freund. Zit. in: Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 100 ff. 22 18 Dvořák hatte sich also musikalisch und gesellschaftlich besten in Amerika eingelebt. Es ist Januar 1893 und Dvořák arbeitet an seiner 9. Sinfonie in e-Moll Aus der neuen Welt op. 95. Jeanette Thurber erinnerte sich an diese Zeit: „Seine größte Tat in Amerika, was wohl nicht eigens gesagt werden muß, war die Komposition der Sinfonie ,Aus der neuen Welt´, eines der am stärksten [vom amerikanischen Milieu – d. A.] inspirierten sinfonischen Werke, die je geschaffen wurden. Als er dieses Werk schrieb, versuchte er in ihm hin und wieder, den Geist (wenngleich nicht auf die Note genau) der Negerlieder zu reproduzieren. Ich half ihm nach meinen besten Fähigkeiten bei der Sichtung von Material, und das gleiche tat Harry T. Burleigh, sein Schüler, heute führender Komponist seiner Rasse. Wenn ich auf meine fünfunddreißigjährige Tätigkeit als Präsidentin des amerikanischen Nationalen Musikkonservatoriums zurückblicke, dann gibt es nichts, worauf ich so stolz wäre wie darauf, daß es mir gelungen ist, Dr. Dvořák nach Amerika zu bringen und daher das Privileg zu haben, einem der sinfonischen Meisterwerke der Welt den zu öffnen, ebenso wie einigen Kammermusikwerken, von denen man sagen kann, daß sie sogar besser sind als die Kammermusik, die er in Europa schrieb. Wie sollte ich mich nicht daran erinnern, wie das Kneisl-Quartett ins Konservatorium kam, um diese Musik in Anwesenheit des Komponisten zu proben! Ein Festtag im New Yorker Konzertleben war die Uraufführung der Sinfonie ,Aus der neuen Welt´, die durch die New Yorker Philharmonie unter Leitung von Anton Seidl erfolgte. In der langen Geschichte der Philharmonie war dies das bedeutendste Ereignis. Insgesamt schien Dvořák in seiner neuen Umgebung glücklich zu sein, obwohl er als echter Patriot große Sehnsucht nach der Heimat hatte […] Anton Seidl hatte vielleicht recht, daß das starke Pathos des langsamen Satzes der Sinfonie von Nostalgie – von Sehnsucht nach der Heimat – inspiriert wurde. Es war mein Vorschlag, diese Sinfonie zu komponieren. Heimweh empfand er besonders an den nebligen Tagen, wenn er die Schiffsmeldungen im ,Herald´ las. Die Gedanken an die Heimat rührten ihn zu Tränen. An einem solchen Tag schlug ich vor, eine Sinfonie zu schreiben, in der seine Erfahrungen und Empfindungen in Amerika ihren Niederschlag finden würden, ein Vorschlag, den er sofort akzeptierte.“23 Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 188 ff. 23 19 Die erste Erwähnung, dass Dvořák an einer neuen Sinfonie arbeitete, ist in einem Brief vom 24. Januar 1893 an seinen Freund Geisler zu finden. Die zweite Bemerkung über die Sinfonie ist in einem Brief an Dr. Emil Kozánek zu finden. Dvořák spricht von „Einfluß von Amerika“, was darauf hindeutet, dass er sich des Neuen, das die Sinfonie enthält, sehr wohl bewusst ist.24 Ein einem Brief schreibt Dvořák davon, dass er „diese Komposition niemals so geschrieben hätte, wenn er (ich) Amerika nicht hätte sehen können!“ Die Sinfonie findet noch dreimal Erwähnung und belegt, dass die Sinfonie nicht in Böhmen oder Spillville, wie es in einem Zeitungsartikel erschienen war, sondern in New York. 25 Im Hinblick auf die neue Sinfonie ist Dvořáks Umgang mit den amerikanischen Wurzeln und der traditionellen Musik aus sog. Indianermusik oder „Neger-Melodien“, wie die afroamerikanische Musik damals genannt wurde. Er studierte sie und las sich eingehend in zu diesem Thema ein. Rechtzeitig zur Beendigung der Sinfonie brachte die „New York Herald“ am 21. Mai 1893 ein umfangreiches Interview mit Dvořák über seine Ansichten zur amerikanischen Musik heraus. Dieser Artikel ist von grundsätzlicher Bedeutung und beschreibt zum einen, die bereits erwähnte Einstellung Dvořáks zur traditionellen Musik Amerikas, und andererseits, die damalige gesellschaftspolitische Situation: „Vom wahren Wert der Negermelodien Nach Dr. Dvořák können sie als Grundlage für eine amerikanische musikalische Schule dienen – Negermelodien, reich an verborgenen Themen – Amerikanische Komponisten sollten die Plantagenmelodien studieren und auf diesen ihre Werke aufbauen – Den Minstrelgesang der Neger nutzen – Das Nationale Konservatorium nimmt farbige Studenten auf – Preise, die die Amerikaner ermutigen sollten. Rubinstein hat einst verbittert vermerkt, daß die Weltmusik nie voranschreiten werde, solange sie sich nicht vom Einfluß Wagners, Berlioz´ und Liszts befreit. Kurz nach dem Ausspruch dieses Verdikts kam Dr. Antonin Dvořák nach Amerika, einer der größten lebenden Komponisten, ein führender Vertreter der dramatischen Schule und bevorzugte Zielscheibe für die Pfeile der lyrischen Schule. Vgl. Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 196. 25 Vgl. Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 195 ff. 24 20 Der größte tschechische Komponist hat gerade seine ersten Erkundungen auf musikalischem Gebiet in New York beendet, und seine Ansichten sollten das Herz eines jeden musikliebenden Amerikaners erfreuen. ,Ich bin jetzt überzeugt´, sagte er, ,daß die künftige Musik dieses Landes sich darauf gründen muß, was wir Negermelodie nennen. Diese muß die wirkliche Grundlage einer jeden wahrhaften und originellen Kompositionsschule bilden, die sich in den Vereinigten Staaten entwickeln sollte. Schon zu Beginn meines hiesigen Aufenthaltes hat mich dieser Gedanke gefesselt und im Laufe der Zeit ist aus ihm eine feste Überzeugung geworden. Diese wunderschönen und vielfältigen Themen sprudeln aus dem Boden dieses Landes. Sie sind amerikanisch. Ich würde gern die Ursprünge der Negermelodien entdecken, denn das würde mir helfen, die Frage zu klären, mit der ich mich zur Zeit am meisten befasse. Es sind die Volkslieder und Ihre Komponisten müssen sich ihnen zuwenden. Alle großen Musiker schöpften aus den Liedern des einfachen Volkes … Ich selbst bin selbst zu den einfachen, halbvergessenen Melodien der tschechischen Dorfbevölkerung zurückgekehrt, um mich von ihnen inspirieren zu lassen für meine ernstesten Werke. Nur auf diese Weise kann ein Musiker wahrheitsgetreu die Empfindungen seines Volkes zum Ausdruck bringen. Er kommt so in Verbindungen mit den schlichten Menschen seines Landes. Möglichkeiten der Negermelodie In den amerikanischen Negermelodien habe ich alles entdeckt, was zu einer großen und erhabenen musikalischen Schule notwendig ist. Sie sind pathetisch, sanft, leidenschaftlich, melancholisch, feierlich, religiös, vorwitzig, lustig, lebendig, man kann gut wählen. Es ist eine Musik, die sich jeder Stimmung anpaßt. jeder Gelegenheit. In der ganzen Komposition gibt es keinen Bereich, der nicht Impulse aus dieser Quelle schöpfen könnte. Der amerikanische Musiker versteht diese Melodien, und die Melodien selbst vermögen seine Gefühle zu bewegen. Mit ihren assoziativen Impulsen wirken sie auf seine Imaginationskraft. Als ich in England war, beklagte sich einer der fähigsten Londoner Musikkritiker, daß dortzulande keine ausdrucksvolle englische Musikschule bestehe, nichts, was anziehend auf den britischen Sinn und das Herz einwirken könnte. Ich erwiderte ihm, daß die englischen 21 Komponisten den herrlichen Melodien Irlands und Schottlands den Rücken kehren, daß die englischen Musiker diese reichen Vorräte nicht nutzen. Die alten irischen und schottischen Balladen passen ihnen irgendwie nicht oder haben keinerlei Wirkung auf sie. Ich hoffe, daß dem in diesem Land nicht so sein wird, und ich will alles, was in meinen Kräften steht, tun, um auf den wunderbaren Melodieschatz hinzuweisen, den Sie hier besitzen. Unter meinen Schülern am Nationalen Musikkonservatorium habe ich erstaunliche Talente entdeckt. Es gibt dort einen jungen Mann, auf den ich große Hoffnungen setze. Seine Kompositionen gehen von den Negermelodien aus, und ich unterstütze ihn in dieser Hinsicht. Die übrigen Kompositionsstudenten meinen offensichtlich, daß es nicht zum guten Geschmack gehört, sich von den alten Liedern der Plantagen inspirieren zu lassen. Sie irren sich, und ich bin bemüht, sie zu überzeugen, daß die größten Komponisten es nicht unter ihrer Würde erachtet haben, Motive in den einfachen Volksliedern zu suchen. Ich bin nicht nach Amerika gekommen, um hier Beethoven oder Wagner zu propagieren. Das ist nicht meine Aufgabe, und ich werde auch keine Zeit damit verlieren. Ich bin gekommen, um festzustellen, was in den jungen Amerikanern steckt und ihnen zu helfen, dies auszudrücken. Und wenn es einen Auftritt von schwarzen Minstrel-Sängern geben wird, habe ich die Absicht, meinen jungen Komponisten dorthin zu führen und sie zu bitten, diese Melodien zu kommentieren.´ Dr. Dvořák verstummt, setzt sich ans Piano und streicht mit leichten Fingern über die Klaviatur. Er spielt eine Südstaaten-Melodie, die sein favorisierter Student adaptiert hat. Hier ist also das Programm der musikalischen Zukunft, so wie es der fähigste Mensch, der je die amerikanische Musik studiert hat, formuliert. Es ist das Ergebnis eines fast mikroskopischen Studiums, und es kommt von einem Mann, der alles was er sagt, absolut aufrichtig meint. Er teilt mit, daß das Nationale Konservatorium seine Tür auch den farbigen Studenten öffnet. Daß Bedarf an musikalischer Ausbildung für Schwarze vorhanden ist, belegt zum Beispiel ein Brief vom 8. Mai 1893 aus Richmond im Staat Virgina. Die dortige Schuldirektorin, die schwarze Sängerin Fanny Payne Walser, bittet darin die Präsidentin 22 des Nationalen Musikkonservatoriums inständig, die ,ihr freundliches Herz zu öffnen´ und sie als Schülerin am Nationalen Musikkonservatorium aufzunehmen.“26 Dvořáks Ansichten wurden heftig diskutiert und bereits am 28. Mai 1893 erschein ein erweiterter Text von Dvořák und im Anschluss daran folgte folgender Artikel: „Dvořáks Theorie der Negermusik Wir sprechen mit europäischen Komponisten über die Realität eines solchen Gedankens – Rubinstein zweifelt eher – Er nimmt an, daß der Plan möglich, aber phantastisch sei, denn Amerika folgt in der Musik Europa – Er glaubt aber , daß eine Probe lohnt – Die übrigen Komponisten behaupten, daß niemals daraus Klassik entstehen könne – Ansichten von Berliner und Wiener Musikern. Die Europa-Ausgabe des ,Herald´ bringt heute folgenden Bericht ihres Korrespondenten: Berlin, am 27. Mai 1893 Ich hatte Glück, daß ich Anton Rubinstein bei seinem kurzen Besuch antraf. Der berühmte Komponist hat sich ein einfaches Zimmer in einem der besseren Hotels am Ort gemietet. Er mag keinen Luxus. Schwer zu beweisen Er hörte auf, Noten zu schreiben, damit er den Text mit seinen Theorien der Negermusik lesen konnte, den die Europa-Redaktion des ,Herald´ telegraphisch aus New York erhalten hatte. Mit der bekannten Geste strich er sich danach über die langen Stirnlocken und sagte: .Ich erinnere mich, daß ich einst ein Buch gelesen habe, welches die Ungarn sehr aufgeregt hat. Es hieß hierin nämlich, daß die ungarische Musik eigentlich Musik der Zigeuner sei. Dvořáks Theorie läßt sich sehr schwer beweisen. Gleichzeitig ist es aber möglich, daß sie richtig ist. Die amerikanischen Komponisten ließen sich nie von Negermelodien inspirieren, immer folgten sie europäischen Vorbildern. Wenn indes ein großer Fonds von Negermelodien existiert, dann ist Dvořáks Gedanke realisierbar. Ich bin Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 227 ff. 26 23 aber der Meinung, daß dies bereits Phantasie ist. In Südamerika könnte ein solcher Gedanke Fuß fassen, aber in Nordamerika ist die europäische Musik schon zu sehr verwurzelt.´ Eine neue Schule möglich Rubinstein fügte nach dem Lesen des Textes hinzu: ,Der Gedanke, Negern unentgeltlich Musikausbildung zu gewähre, ist interessant. Wenn sie eine ordentliche Ausbildung bekämen, könnte sie die neue Musikschule begründen. Nichtsdestoweniger können gegenwärtig keine Schlüsse gezogen werden. Vielleicht werden wir in fünfundzwanzig oder dreißig Jahren sehen, ob die Schwarzen fähig sind, ihr Talent zu entfalten und eine neue Musikschule begründen.´ Ein origineller Gedanke Dr. Liebling, der Direktor des neuen Konservatoriums in Berlin, erklärte: ,Der Griff zu Negermelodien stellt einen originellen Gedanken dar. Es lohnt eine Probe. Die nationalen Melodien gehören bei manchen großen Komponisten zu den Grundlagen ihrer Musik. Meiner Ansicht nach wird Amerika im Verlauf der nächsten zwanzig oder dreißig Jahre zur ersten Weltgroßmacht der Musik werden. Die derzeitigen amerikanischen Studenten sind nämlich die fleißigsten, und insbesondere die Oper rückt in den Vordergrund. Die amerikanischen Fortschritte in der Musik sind wirklich bemerkenswert.´ Vielleicht ein guter Gedanke Der bekannte Virtuose Joachim äußerte: ,Schwer zu sagen, ob Dr. Dvořák recht hat. Zu diesem Thema könnte ein ganzes Buch geschrieben werden. Vielleicht wäre es ein guter Gedanke, die Negermelodien in eine ideale Form zu bringen. Dann könnte die amerikanische nationale Musik bereichert werden. Es stimmt, da in der Musik von Grieg, Hazdn, Schubert und anderen Meistern Volksmelodien zur Geltung kommen. Aber wir sollten diesen Melodien keine zu große Bedeutung beimessen. Ansonsten könnte es zur Monotonie kommen. Mögen diese Melodien dazu genutzt werden, der Musik Lokalkolorit zu verleihen. Ich freue mich, daß sich die Menschen in den Vereinigten Staaten so für die Musik interessieren.´ 24 Ein Versuch lohnt Arthur Bird, derzeit in Berlin, sagte: ,Oft habe ich, insbesondere mit Morris Bagley, über die Begründung einer amerikanischen Musikschule gesprochen. Wir sprachen über Indianermusik, aber niemals über Negermelodien. Dieser Gedanke lohnt einen Versuch. Wir Amerikaner befinden uns gegenwärtig auf dem Gebiet der Musik nirgendwo und zugleich doch irgendwie, aber zum Schluß werden wir mit Männern wie McDowell und Strong in den Vordergrund gelangen. Mein Ideal einer amerikanischen Musikschule ist ein Gemisch aus französischer und deutscher Schule. Die Franzosen sind heute weiter als die Deutschen. Was die Negermelodien anbelangt, so sind ihre Hauptzüge Schlichtheit und Trauer. Sie sind musikalisch, aber ihre Einfachheit würde in größeren Werken echte Schwierigkeiten bereiten. Es ist eine Frage, ob sie in der Instrumentierung nicht vieles von ihrer Bedeutung einbüßen würden.´ Was die Wiener Musiker zu Dvořák sagen Die Europa-Ausgabe des ,Herald´ bringt heute folgenden Bericht ihres Korrespondenten: Wien , am 27. Mai 1893 Im Zusammenhang mit Dvořáks Gedanken sprach ich mit Anton Bruckner, Eusebius Mandyczewski und Hans Richter. Bruckner sagte: ,Grundlage jeglicher Musik muß die Klassik sein. Negermelodien können niemals als Grundsteine für eine neue Musikschule dienen.´ Mandyczewski äußerte sich in ähnlichem Sinn. Er nimmt an, daß sein Landsmann Dvořák allzu sehr beeinflußt ist von dem Milieu, das ihn zur Zeit umgibt. Richters Zweifel Professor Richter, der Intendant der Kaiserlichen Hofoper, vermag sich nicht vorzustellen, daß aus der Musik, die von einer bestimmten Rasse auswendig betrieben wird, eine wirkliche nationale Musik entstehen könnte. ,Die ungarischen Zigeuner´, sagt er, ,spielen alle auswendig – Männer, Frauen und Kinder – und trotzdem ist ein wirklicher Musiker unter ihnen eine absolute Ausnahmeerscheinung.“27 Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 234 ff. 27 25 Soweit zur von Dvořák initiierten Diskussion über traditionelle Melodien Amerikas in Amerika und Europa. Mitten in dieser Diskussion beendete er die Sinfonie. Die Uraufführung fand im Dezember 1893 in der Carnegie Hall mit dem New York Philharmonic Orchester unter der Leitung von Anton Seidl (1850-1898) statt und war ein großer Erfolg. Sie enthielt laut Dvořák nicht wirklich „Neger- und Indianermelodien“, sondern charakteristische Themen bzw. Eigenheiten der traditionellen Musik, die mithilfe von modernen Rhythmen, Harmonisierung und orchestralen Elementen entwickelt wurden. Zum Beispiel erscheint in Aus der Neuen Welt die halbtonlose fünftönige Skala der Pentatonik, sowie für Negro Spirituals typische Synkopen. 28 Die Sinfonie war die letzte Sinfonie, die Dvořák komponierte, und gehört heute zu seinen bekanntesten und meist gespielten Werken. Den Sommer 1893 verbrachte Dvořák in Spillville im Bundesstaat Iowa und reiste nicht nach Böhmen. Es war ein Ort der Ruhe, wo er sich zurückziehen und im Kreise seiner Familie erholen konnte. Der Tag begann trotzdem sehr früh, denn Dvořák stand um vier Uhr auf und machte einen einstündigen Spaziergang. Danach besuchte er die Kirche und besuchte im Anschluss einige tschechische Landsleute in der Umgebung. Die Ortschaft Spillville wurde von einem Deutschen namens Spielmann gegründet, der ihr auch den Namen gab. Sie wurde hauptsächlich von tschechischen Landsleuten besiedelt und das gab Dvořák ein Gefühl von Heimat. Während seines Aufenthaltes in Spillville erhielt er Besuch von einer Abordnung aus Chicago, die ihn um Mitwirkung beim Konzert anlässlich des Tschechischen Tages auf der Chicagoer Weltausstellung am 12. August 1893. Die Chicagoer Weltausstellung sollte alle bisherigen Weltausstellungen in den Schatten stellen. Amerika wollte sich selbstbewusst der Weltöffentlichkeit präsentieren und gleichzeitig den 400. Jahrestag ihrer Entdeckung durch Columbus feiern. Sie lief vom 1. Mai bis 26. Oktober 1893. Am 12. August dirigierte Dvořák unter großer Begeisterung den Tschechischen Tag in Chicago. Andere Stücke, die während seines Aufenthaltes in Amerika entstanden, waren z.B. Streichquartett F-Dur op.96, Streichquintett Es-Dur op.97, Sonatine G-Dur op.100, Suite ADur op.98 und Biblische Lieder op.99. Der Zyklus der Biblischen Lieder besteht aus zehn 28 Vgl. Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 97 26 Gesängen für tiefe Solostimme (Bariton oder Alt) und Klavier. Der Text stammt aus dem Buch der Psalmen und basiert auf der tschechischen Bibelübersetzung, anders als bei anderen Werken mit religiösem Hintergrund von Dvořák wie z.B. Stabat mater oder Requiem, deren Text in lateinischer Sprache gehalten ist. Dies könnte ein Ausdruck dafür sein, dass der Komponist im Höhepunkt seiner musikalischen Karriere sein nationales Bewusstsein zur Darstellung bringen wollte. Mit der Zeit wurde Dvořák immer stärker von Heimweh vom Verlangen, in Ruhe komponieren zu können, ergriffen: „Könnte ich so sorglos arbeiten wie in Vysoká, wäre ich schon längst fertig. Aber hier geht es nicht – Montag habe ich in der Schule zu tun – Dienstag habe ich frei – die übrigen Tage bin ich auch mehr oder weniger beschäftigt – kurz, ich kann meiner Arbeit nicht soviel Zeit widmen – und wenn ich wieder könnte – habe ich keine Lust – usw. kurz das beste wäre, in Vysoká zu sein – dort lebe ich wieder auf, ruhe aus – und bin glücklich. Wäre ich doch wieder dort!“29 Als durch die amerikanische Wirtschaftskrise im April 1893 Thurbers reicher Ehemann finanzielle Probleme bekam, war die Präsidentin des New Yorker National Conservatory of Music nicht mehr in der Lage, Dvořák die vertraglich ausgemachte Entlohnung auszuzahlen und wurde ihm sogar mehrere Monatsgehälter schuldig. Schließlich kehrte Dvořák vor Ende seines Vertrags im April 1895 in seine Heimat zurück. 2.3. Letzte Jahre Dvořák war über seine Wiederkehr aus Amerika nach Böhmen überglücklich und ruhte sich einige Monate aus. Schon bald begann er, seine kompositorische Tätigkeit wiederaufzunehmen, und schrieb Werke wie z.B. Streichquartett in G-Dur und As-Dur und sinfonische Dichtung wie Der Wassermann op.107, Die Mittagshexe op.108, Das goldene Spinnrad op.109 und Die Waldtaube op.110. Diese im Jahr 1896 komponierten sinfonischen Dichtungen beruhten auf der Folklore-Sammlung Kytice (dt. Blumenstrauß) des tschechischen Dichters Karel Jaromír Erben und sind an der sog. neudeutschen Richtung 30 Brief von Dvořák, zitiert aus Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1954, S. 1748 30 Die neudeutsche Richtung bzw. Schule war eine musikalische Strömung im 19 Jahrhundert, Vertreter sind u.a. Franz Liszt, Hector Berlioz und Richard Wagner. 29 27 orientiert 31 . Ihre Uraufführung fand im April 1896 am Prager Konservatorium statt, wo Dvořák wieder unterrichtete und 1901 zum Direktor gewählt wurde. Im Oktober 1897 wurde Dvořák als Nachfolger von Brahms, der im gleichen Jahr verstorben war, in der Jury für das Wiener Künstlerstipendium bestimmt und verhalf vielen tschechischen Musikern, die großes Talent zeigten, zu einem Stipendium. Die letzten Jahre Dvořáks waren geprägt von Opernkompositionen: „In den letzten fünf Jahren schrieb ich nichts anderes als Opern. Ich wollte mich mit all meinen Kräften, soweit mir der liebe Gott noch Gesundheit schenkt, dem Opernschaffen widmen. Nicht etwa aus einer Sehnsucht nach Bühnenruhm, sondern aus dem Grunde, weil ich die Oper auch für die geeignetste Schöpfung für das Volk halte. Dieser Musik lauschen die breitesten Massen und zwar sehr oft; wenn ich aber eine Symphonie komponiere, könnte ich vielleicht jahrelang warten, bevor sie bei uns aufgeführt würde. Ich erhielt von Simrock Aufforderungen zu Kammermusikwerken, die ich stets ablehne. Meine Verleger wissen nun, daß ich für sie nichts mehr schreiben werde. Man bestürmt mich mit Fragen, warum ich nicht dies oder jenes komponiere; ich habe zu diesen Genres keine Lust mehr. Man sieht mich als Symphoniker an, und doch habe ich schon vor langen Jahren meine überwiegende Neigung zur dramatischen Schöpfung bewiesen.“ 32 Die erste dieser Opern, Die Teufelskäthe op. 112, ist dreiaktig und ihr Libretto von Adolf Wenig (1874-1940) basiert auf dem Märchen vom dummen Teufel und dem forschen Mädel Käthe der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová (1820-1862). Weitere Opern folgten, darunter Rusalka op. 114, ein lyrisches Märchen in drei Akten. Diese entstand im Jahr 1900 und handelt von einer Wassernixe, die ein Mensch sein möchte. Das Libretto stammt vom tschechischen Dichter Jaroslav Kvapil (1868-1950) und beruht auf slawischen Volksmythen über Ruálki (dt. Wassergeister, Nixen), ein Stoff, der auch in den Erzählungen anderer Länder behandelt wird. Als Beispiel für solche Erzählungen können Undine von Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843) und Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen (1782-1816) genannt werden. Die Oper wurde im März 1901 uraufgeführt und wurde zu einem großen Triumph Dvořáks. Sie zählt neben Bedřich Smetanas Die verkaufte Vgl. Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 105 Interview mit Dvořák in der Zeitschrift „Die Reichswehr“ vom 1. März 1904, zitiert aus Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 111-112 31 32 28 Braut zu den bekanntesten tschechischen Opern und ist heute ein fester Bestandteil des Opernrepertoires in Tschechien. Abbildung 10: Ruzena Maturova in Rusalka Abbildung 11: Ruzena Maturova in Armida Das letzte Werk, das Dvořák schrieb, ist die Oper Armida op.115. Der Stoff Armida wurde schon von vielen Komponisten behandelt, wie z.B. Händel, Haydn, Gluck, Rossini, und geht auf Torquato Tassos33 (1544-1595) Epos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem) aus dem Jahr 1575 zurück. Der tschechische Poet Jaroslav Vrchlický (1853-1912) wandelte die Liebesgeschichte des Kreuzritters Rinaldo und der Protagonistin Armida zu einem Libretto um. Die Uraufführung der Oper fand am 25. März in 1904 statt, der Dvořáks jedoch aufgrund plötzlicher Schmerzen nicht bis zum Schluss beiwohnen konnte. Dvořák lebte noch einige Wochen, bis er am 1. Mai 1904 aufgrund eines Schlaganfalls starb. Vier Tage später wurde er bei Beisein vieler Menschen auf dem Vyšehrader Friedhof, der Ruhestätte vieler berühmter tschechischer Persönlichkeiten, begraben. 33 Italienischer Dichter des 16. Jahrhunderts. 29 3. Streichquartett in F-Dur op.96 3.1. Entstehungsgeschichte Das Streichquartett in F-Dur op. 96 komponierte Dvořák während seines Sommeraufenthaltes 1893 in Spillville, wovon im vorangegangenen Kapitel bereits berichtet wurde. Zur Entstehung findet das Quartett Erwähnung in einem Brief von Dvořáks Landsmann Kovařík: „Den großen Komponisten entzückte nicht nur die natürliche landschaftliche Schönheit des Ortes, sondern auch die Tatsache, daß er sich mitten unter seinen Landsleuten befand, erinnerte ihn an seine Heimat, und er fühlte sich hier wie zu Hause. Doch kaum war er einigermaßen eingerichtet, als ihn auch schon der schöpferische Genius packte, und am 8. Juni, drei Tage nach seiner Ankunft, saß er bereits am ersten Satz seiner neuesten Komposition, des Streichquartetts in F-dur. Er beendete ihn in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages und begann sofort den zweiten Satz, ja fing am gleichen Abend sogar noch den dritten an. Am Tag darauf schrieb er den vierten Satz, so daß am 10. Juni das ganze Quartett vollendet war. Mit gutem Gewissen und großer Genugtuung durfte er unter die letzten Takte setzen: ,Gott sei Dank. Ich bin zufrieden. Es ist schnell gegangen.´ Daraufhin machte er sich an die Ausarbeitung der Partitur, die er in kurzer Zeit fertigstellte. Für jeden Satz brauchte er etwa drei Tage, so daß am 23. Juni die ganze Partitur fertig vorlag. Dvořák war so erfreut darüber, daß er den Wunsch hegte, es zu hören. Er bildete ein Quartett, er selbst spielte erste Violine, ich zweite, meine Tochter Cecilia Bratsche und mein Sohn Josef Cello.“34 In Summe arbeitete Dvořák von 8. Juni bis 23. Juni, also sechzehn Tage, an diesem Streichquartett und komponierte im Anschluss daran das Streichquartett op. 97. Beide spiegeln die glückliche Verfassung in der sich der Meister im Beisein seiner Familie befand. Spillville ist nach Ansicht Claphams der einzige Ort, wo Opus 96 entstehen konnte, doch das Attribut des Quartetts als „amerikanisches“ geht nicht auf Dvořák zurück und kennzeichnet lediglich den Ort der Entstehung. 35 Im Englischen hatte das Streichquartett das Attribut „the Nigger“, was aber wegen rassistischer Vorurteile später als in „amerikanische 34 Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 160 f. Vgl. Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 162. 35 30 Quartett“ umbenannt wurde und somit die in dem früheren Namen liegende Anerkennung für die bedeutende Musik der afroamerikanischen Wurzeln verlorenging. 36 Dvořáks Sohn Otakar erinnerte sich später an eine Situation, in der sein Vater an dem Streichquartett arbeitete: „Ich erinnere mich, wie gern Vater zu den Ufern des Turkey River ging, wie er dort in völliger Stille den zarten Tönen der Natur lauschte und wie gern er entweder den Bruder Tonik oder mich oder auch uns beide mitnahm. Einmal ging es, ausgestattet mit einfachen Angelruten, mit meinem Freund Frantik Kapler gemeinsam mit dem Vater an den Ort, den man als River Side Park nannte. Wir wollten Vater seinen Gedanken überlassen und selbst angeln gehen, Vater kamen jedoch die Einfälle schneller als wir mit unseren Vorbereitungen fertig waren und so geschah es, daß er schon nach kurzer Zeit zu uns zurückkam und befahl: ,Jungs, packt Euer Angelzeug zusammen, wir gehen wieder heim´. Ich brachte meine Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß der Spaziergang zu diesem seinen Lieblingsort so plötzlich enden sollte. Er erwiderte knapp: ,Ich habe bereits so viel auf meiner Manschette notiert, daß sie ganz voll ist´… Wie viele Erinerrungen habe ich an dieses Quartett, das für mich Vaters teuerstes Kammermusikwerk ist! Sind ihm doch die Motive dazu in meiner Nähe an den Ufern des Turkey River eingefallen, wo so mancher Fisch mir nur deshalb wegschwamm, weil seine Hemdmanschetten bereits voller Noten waren. Vater brachte vom Fluß den ganzen Aufbau eines Satzes mit, während ich mit Kapler erfolglos zurückkehrte …“37 Das Streichquartett op. 96 ist mit Abstand das kürzeste Streichquartett Dvořáks und ist leichtgängig, was ihm den Vorwurf eintrug, dass es zu primitiv sei. In einem Brief vom 7. November 1894 erwidert Dvořák auf den Vorwurf der Simplizität: „Als ich dieses Quartett im Jahre 1893 in der tschechischen Ortschaft Spillville (1200 Meilen von New York entfernt) schrieb, wollte ich etwas ganz Melodisches und Einfaches 36 Vgl. Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 158. 37 Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 273 f. 31 niederschreiben, und immerfort hatte ich Väterchen Haydn vor Augen, und deshalb ist es so einheitlich ausgefallen. Und es ist gut so.“38 Klaus Döge spricht davon, dass dieses Quartett deutlich wie sonst in kaum einem anderen Werk Dvořáks biographische Züge beinhaltet. „Es ist die Natur, die in den ersten beiden, nur mäßig bewegten und auf einem Orgelpunkt ruhenden Takten am Anfang des wohl nicht zufällig in F-Dur stehenden Werkes musikalisch angedeutet wird: Eine Natur, in der vom dritten Takt an der Mensch auftritt, der eine fröhliche Melodie singt und der Dvořák heißen könnte, denn es ist ,sein´ Instrument, die Bratsche, die hier jubilierend dem Erwachen heiterer Gefühle auf dem Lande Ausdruck verleiht. Ein stilisierter Vogelruf, den Dvořák auf seinem Spaziergang durch die Umgebung ablauschte, spielte bei der Komposition des dritten Satzes eine wichtige Rolle, und, wie es schon Sourek beschrieb, könnten jene choralartigen, in ihrer Faktur sich rhythmisch und satztechnisch vom Vorausgehenden und Nachfolgenden deutlich abhebenden Passagen im Mittelteil des Finale eine musikalische Andeutung des allmorgendlichen Orgelspiels in Spillville darstellen. Nach einem kurzen imitatorischen gehaltenen Vorspiel.“39 Mit dem Verweis auf Haydn meinte Dvořák bestimmt nicht, dass er sich an den Kompositionsstil Haydns orientierte, sondern viel mehr um die Ästhetik: „um ein Komponieren, das in seinen Ambitionen – auch in seinem spieltechnischen Anspruch und bezügliche der äußeren Dimensionen - bewußt hinter Beethovens opus 59, hinter den Typus des sich an ein großes Publikum wendendes Konzertquartettes, zurückgeht zu einem – am Ende des 19. Jahrhunderts ganz unzeitgemäßen – Quartettstil, der den Tonfall eines privaten Divertissements wiedergewinnt, wie er dem vor-beethovenschen, klassischen Streichquartett des 18. Jahrhunderts (bei aller Subtilität im musikalischen Detail) immer eigen war.“40 Die Uraufführung erfolgte am 1. Januar 1894 in Boston durch das Kneisel-Quartett. In New York spielte jenes Quartett zusammen mit dem Quintett op. 97 und dem Sextett op. 48, verstärkt durch Zach an der Viola und Schultz am Cello im Rahmen des Dvořák-Abends das Quartett F-Dur ein weiteres Mal. „Das Bostoner Quartett Kneisel spielte bereits 50mal das Quarett F-Dur! Das ist ein Erfolg, was?“, schreibt Dvořák nicht ohne Stolz an Josef Boleška 38 Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 163. Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 275 f. 40 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 263. 39 32 im Januar 1895.41 Dvořák zählt seine in Amerika komponierte Sinfonie, das Quartett und das Quintett zu seinen „besten und originellsten“ Werken und auch die die New York Herald fragt sich: „Warum ist dieser Dvořák nicht schon früher zu uns hergekommen, wenn er hier in Amerika eine solche Musik zu schreiben vermag?“42 Abbildung 12: Kneisel-Quartett 3.2. Exkurs: Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ Wenn man vom „Amerikanischen Quartett“ Dvořáks schreibt und seine Zeit in Amerika beleuchtet, dann muss man sich mit seiner Meistersinfonie „Aus der Neuen Welt“ beschäftigen. Sie ist nicht nur musikalisch ein Meisterwerk, sondern auch aus gesellschaftspolitischer Sicht ein herausragendes Werk. Es verbindet „amerikanische Volksmusik“ mit traditioneller europäischer Kunstmusik. Damit verleiht Dvořák einerseits der amerikanischen Kunstmusik einen erheblichen Aufschwung und andererseits ist er Pionier für eine damals neuartige Art der Komposition, vor allem im konservativen Europa. Durch seinen Aufenthalt und seiner intensiven Beschäftigung mit der amerikanischen Volksmusik und deren Förderung, löste er sowohl in Amerika als auch Europa heftige Diskussionen aus. Umso genugtuender war es wohl, als er seine Sinfonie beendete und sie von den Kritikern hochgelobt wurde. 41 42 Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 168. Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 168. 33 Der Behauptung, die Sinfonie sei während Dvořáks Sommeraufenthaltes in Spillville entstanden, kann ein authentischer Bericht von Kovaříks entgegengehalten werden. „Am achten Januar 1893 beendete der Meister die Instrumentierung von ,American Flag´ und bat mich, die Partitur abzuschreiben – und nach zwei Tagen, am 10. Januar, begann er mit der Skizze eines neuen großen Werkes, das als Sinfonie e-Moll bezeichnet wurde. An der Skizze des ersten Satzes arbeitete er bis zum 21. – an der des zweiten Satzes bis zum 25. Und an der des dritten bis zum 31. – die Skizze des letzten Satzes überließ er einem späteren Zeitpunkt. In den Tagen vom 9. Bis 28. Februar war der Meister mit der Instrumentierung des ersten Satzes beschäftigt, den zweiten Satz beendete er am 14. März und den dritten am 10. April. Inzwischen, in den Tagen vom 18. Januar bis zum 17. Februar, arbeitete er am Klavierauszug von ,American Flag´. Ende März gelangte der Meister zu der Überzeugung, daß die Beendigung der Sinfonie bis zum 15. Mai [1893], wo er zum Sommeraufenthalt nach Böhmen reisen wollte, einfach unmöglich sei, und so begann er mit seiner Gattin zu beratschlagen, was sie tun sollten – die Reise nach Böhmen um einige Zeit aufzuschieben, bis das Werk, an dem ihm sehr lag, ohne Unterbrechung beendet sein würde: oder ihre vier Kinder nach Amerika kommen lassen. Nach längeren Überlegungen wurde beschlossen, die Kinder herzuholen und den Sommer statt in Böhmen in Spillville zu verbringen. Jetzt, da der Meister versichert sein konnte, das Werk ohne Unterbrechung zu Ende zu bringen, arbeitete er viel ruhiger, die Skizze des vierten Satzes arbeitete er bis zum 12. April aus, und das gesamte Werk wurde in der Partitur am 24. Mai (9 Uhr morgens) beendet. Inzwischen bereiteten sich des Meisters Kinder auf die Reise nach Amerika vor. Am Dienstag, dem 23. Mai lief das Schiff ,Havre´ mit ihnen aus Bremen aus und sie erreichten am Mittwoch, dem 24. Mai, zufällig am gleichen Tag, da der Meister sein großes Werk beendete, Southhampton in England. Und so finden sich am Schluß des Partiturautographs neben des Meisters erster Anmerkung ,beendet um 9 Uhr morgens´ nachträglich hinzugefügt die Worte: ,Kinder sind in Southhampton eingetroffen, 1.33 nachm. Telegramm angekommen!´ 34 Die Sinfonie entstand in New York und wurde dort auch beendet. Die Bezeichnung ,Aus der Neuen Welt´ fügte der Meister erst nach seiner Rückkehr aus Spillville hinzu, kurz bervor er sie der New Yorker Philharmonie zur Aufführung gab …“43 Diese genauen Aufzeichnungen Kovaříks geben genaue Auskunft über die Entstehung der berühmten Sinfonie und über die schnelle Arbeitsweise Dvořáks. Die Vorfreude auf die Uraufführung der Sinfonie in New York am 15. Dezember 1893 war extrem groß, denn nie zuvor hatte es eine ähnlich wichtige Uraufführung in Amerika gegeben. Die erstmalige Aufführung einer europäischen Sinfonie mit amerikanischen Einflüsse, die noch dazu von einem der führenden Komponisten jener Zeit komponiert wurde, war das Sinnbild des aufstrebenden Kunstempfindens in Amerika und dessen neues Selbstbewusstsein. Die New Yorker musikalische Szene war also voller Vorfreude auf diese Sinfonie; man wusste, dass ihr ausgezeichnetes Orchester unter der Leitung des ebenso berühmten Anton Seidl ein besonderes Werk von Dvořák einstudierte und dass Dvořák seine Thesen über die ursprünglichen Indianer- und Negermotive, welche zur Inspiration für die Entstehung einer neuen, eigenständigen amerikanischen Musik werden könnten, nun in der musikalischen Praxis unter Beweis stellen wollte. Am Tag der Uraufführung erschien in der Morgenausgabe der „New York Herald“ eine große Ankündigung des Konzerts und ein Interview mit dem Komponisten. Darin beschreibt Dvořák seine Sinfonie in groben Zügen. „Die Sinfonie ist in e-Moll geschrieben, nach dem klassischen Modell, und sie hat vier Sätze. Sie beginnt mit einer kurzen Einleitung, einem Adagio, das dreißig Takte umfaßt. Dieses geht dann unmittelbar ins Allegro über, in dem ich mich nach den gleichen Prinzipien richte wie in den Slawischen Tänzen, d. h. den Geist des Volkes ebenso deutlich in die Musik übertrage, wie er in seinen Volksliedern enthalten ist. Der zweite Satz ist eine Art Adagio, das sich jedoch von der klassischen Form unterscheidet. Es ist in Wirklichkeit eine Studie oder Skizze zu einer längeren Komposition, entweder zu einer Sinfonie oder zu einer Oper, die ich nach Longfellows ,Hiawatha´ schreiben möchte. Ich denke bereits lange daran, dieses große Gedicht zu vertonen. Es ist mir erstmals vor etwas dreißig Jahren in der tschechischen Übersetzung begegnet. Bereits damals wirkte es 43 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 201 f. 35 auf meine Vorstellungskraft sehr stark, und mein Aufenthalt hier im Lande hat diese Gefühle noch weiter verstärkt. Das Scherzo meiner Sinfonie ist von der Szene des Festes in ,Hiawatha´ inspiriert, wo die Indianer tanzen und singen. Ich wollte damit den indianischen Volkscharakter mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck bringen. Der Schlußsatz ist ein Allegro von feroce. Alle vorausgegangenen Themen scheinen noch einmal auf, und ich verändere sie verschiedentlich. Ich benutze hier nur Instrumente aus dem sog. Beethovenorchester, d. h. Streicher, Waldhörner, drei Posaunen, zwei Trompeten, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte und Kesselpauken. Es gibt hier also keine Harfe, und ich betrachte es auch nicht als passend, irgendwelche neuen Instrumente hinzuzufügen, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen …“44 Es ist ein bedeutender Tag in der Musikgeschichte Amerikas, denn das Werk hat nahezu kolossale Proportionen. Es ist aus der gleichen musikalischen Form gegossen, wie sie ein Beethoven, Schumann, Schubert, Mendelssohn oder Brahms benutzen, um die Weltmusik zu bereichern. Dieses neue Werk von Dvořák steht jenen der eben erwähnten Meister nicht nach. 3.3. Amerikanische Einflüsse Es wurde bereits ausführlich beschrieben, dass Dvořák sich sehr intensiv mit der amerikanischen Volksmusik der „Neger und Indianer“ auseinandersetzte und sie in allen Belangen förderte. Das Interesse und das Engagement ist auch für sein kompositorisches Schaffen in Amerika nicht folgenlos geblieben, an dessen Anfang die berühmte neunte Sinfonie stand. Zwischen Anfang November 1892 und dem 8. Januar 1893 instrumentierte Dvořák die noch in Böhmen skizzierte Kantate The American Flag und begann am 10. Januar mit der Erstniederschrift seiner neuen Sinfonie. Mitten in der Arbeit zum zweiten Satz schrieb er am 24. Januar: „Die ,American Flag´, einen Hymnus für Chor und Orchester habe ich beendet und jetzt arbeite ich an meiner neuen Sinfonie (e-moll). Es hat mir den Anschein, daß der 44 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 359. 36 amerikanische Boden auf mich segenreich wirken und fast möchte ich sagen, daß schon in dieser neuen Sinfonie etwas derartiges zu hören ist.“ In einem späteren Brief, als die Sinfonie fast beendet war, schreibt Dvořák: „[…] eben beende ich die neue Symphonie E-moll. Sie macht mir große Freude und wird sich von meinen früheren grundlegend unterscheiden. Nun, wer eine ,Spürnase´ hat, muß den Einfluß Amerikas erkennen.“45 An dieser Stelle lohnt sich eine noch profundere Auseinandersetzung mit der Sinfonie op.95 und der Suche nach ihren amerikanischen Einflüssen. In einer Ausgabe der „Chicago Tribune“ spricht Dvořák von seinen Bemühungen, in jener Sinfonie Charakteristika zu portraitieren, welche deutlich amerikanisch seien. Dazu zählte er als Eigenheiten die Pentatonik, den erniedrigten Leitton, Molltonleitern ohne vierte und siebte Stufe sowie im Rhythmischen die starke Synkopierung und die rhythmische Besonderheit der sogenannten scotch snap, musikalische Eigenarten, die alle mit dem Einfluss traditioneller amerikanischer Volkslieder zusammenhingen. Nachfolgend sind die Einflüsse anhand von Beispielen verdeutlicht: Notenbeispl. 1: Pentatonische Wendungen als Thema der langsamen Einleitung 45 Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 268. 37 Notenbeispl. 2: Die scotch snap charakterisiert das HAuptthema Notenbeispl. 3: Der erniedrigte Leitton charakterisiert das Nebenthema Notenbeispl. 4: Pentatonik, scotch snap und Bezüge zum Spiritual Swing low, Sweet Chariaot zusammen kennzeichnen das Schlussthema des ersten Satzes. Notenbeispl. 5: Swing low, Sweet Chariot 38 Es entstanden Diskussionen, inwieweit die von Dvořák genannten Eigenarten als Musik der Farbigen und Indianer Amerikas und damit für einen Teil der amerikanischen Folklore gelten konnten. Kritiker behaupten, dass Dvořák diese Folklore viel zu wenig kannte, um daraus eine wirklich eindeutig amerikanisch gefärbte Musik zu machen. Die damalige Zuhörerschaft und die Presse verstanden die Neunte Sinfonie kollektiv als einen Beitrag zur Schaffung amerikanischer Kunstmusik. In der „Herald“ hieß es: „Eine Symphonie, die von amerikanischen Neger- und Indianermelodien angeregt wurde, eine Symphonie, die beweist, daß es amerikanische Kunstmusik gibt.“ 46 Und die „New York Times“ schrieb: „Die Sinfonie ,Aus der Neuen Welt´, eine Studie nationaler Musik. Eine Lehre für die amerikanischen Komponisten. Der Komponist hat eine Sinfonie geschaffen, deren Themen durchdrungen sind vom Geiste der Neger- und Indianermelodien.“47 Dvořák hat zu den Diskussionen beigetragen, indem er in Interviews, auf das Es-DurQuintett und die e-Moll-Symphonie bezogen, folgendes erklärte: „In this work (sc. the quintet) I think there will be found the American colour with which I have endeavor to infuse it. My new symphony is also on the same lines – namely: an endeavor to portray characteristics, such as are distinctly Americans. I (…) carefully studied a certain number of Indian melodies which a friend gave me and became thoroughly imbued with their characteristics – with their spirits, in fact. It is this spirit which I have tried to reproduce in my new Symphony, I have not actually used any of the melodies. I have simply written original themes embodying the peculiarities of the Indian music, and, using these themes as subjects, have developed them with all the resources of modern rhythms, harmony, counterpoint and orchestral color. Interessant ist die Parallele, die er zieht: Das erste Allegro verkörpere „the pricnciples which I have already worked out in my Slavonic Dances; thats ist o preserve, to translate into music, the spirit of a race as distinct in its national melodies of folk songs.“ Und mit Bezug auf das Es-Dur-Quintett und – nur hier – das F-Dur-Quartett: „They are both written upon the same lines as this Symphony and both breathe the same Indian spirit.”48 Zit. in: Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 272. Zit. in: Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 272. 48 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 264. 46 47 39 Schick äußert sich kritisch, dass Dvořák genauere und authentische Kenntnis der Indianermusik hatte und untermauert seine These mit Dvořáks Aussage: „Now, I found, that the music of the Negros and of the Indians was practically identical.” 49 Schick beruft sich hier auch auf Clapham, der die „stilistische Beziehung zur indianischen Musik für beinahe vernachlässigbar“ hält. 50 Antonin Sychra hingegen führt eine Passage einer Indianermelodie auf, die seiner Meinung nach in ihrem melodischen Umriss dem A-Dur Thema im ersten Satz des F-Dur-Quartetts sehr ähnlich sei. Notenbeispl. 6: (a) Indianermelodie, (b) Streichquartett F-Dur, 1. Satz T. 44 Schick glaubt nicht daran, dass diese oben gezeigte andersartige Melodie Dvořák inspiriert haben könnte, sondern spricht davon, dass Dvořák lediglich vom „Geist“ der Volksmusik inspiriert worden sei. Und „daß etwa der gerne als ,indianischer Trommelrhythmus´ apostrophierte ostinate Rhythmus im zweiten Satz des Es-Dur-Quintetts für einen indianischen Rhythmus zu komplex ist“, was nicht ausschließt, dass er und auch der ostinate Rhythmus im Finale des F-Dur-Quartetts auf der Idee basieren, ostinate Rhythmen in der Art von indianischen Trommelrhythmen zu komponieren, ohne diese selbst darzustellen. 51 Schick führt weiter aus: „Vielleicht sollte man das, was Dvořák ,the peculiarities oft he Indian melodies´ nennt, doch eher recht abstrakt auffassen, als den Tonvorrat oder die ,Skalen´, die den indianischen Liedern zugrundeliegen: ganz allgemein als die Tatsache, daß diese Lieder in der Regel mit weniger als sieben verschiedenen Tönen auskommen, mit allen Spielarten von Zweitönigkeit bis Sechstönigkeit ohne Leitton. Und auf dieser Ebene berühren sich die Indianergesänge dann tatsächlich mit den Negro spirituals, die Dvořák recht genau studiert hat.“52 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 264. Clapham, John: Dvořák and the American Indian. In: Musical Times 107 (1966), S. 863-867. 51 Vgl. Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 265. 52 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 265. 49 50 40 Dvořák war also an der abstrakten Ähnlichkeit interessiert und zieht Parallelen zur schottischen Folklore: „I found that the music of the two races bore a remarkable similiarity to the music of Scotland. In both there is a peculiar scale, caused by the absence of the fourth or seventh, or leading tone. In both the minor scale has the seventh invariably a minor seventh, the fourth is included and the sixth omitted.”53 Diese “Scotch Scale”, wie Dvořák sie nennt, finden sich als Pentatonik in „Dur“ und Moll-tonleiter mit kleiner Septim und ohne Sexte in den amerikanischen Werken und verleihen ihnen das exotischen Kolorit. Hinzu kommt die Vorliebe Dvořáks für eine Synkopik nach Art des Spiritual oder des Cakewalk und eine generelle Tendenz zur Simplizität, die sich unter anderem in vermehrten Wiederholungen und einer Verminderung der Durchführungsarbeit äußert. Paul Griffith beispielsweise schlägt in dieselbe Kerbe wie Schick und geht in einer Beurteilung des FDur-Quartetts noch weiter: „In fact the only American thing about the work is that it was written there – though written while Dvořák was spending the summer among a Bohemian colony in Iowa. For the pentatonic scale that gives the work so distinctive a character (…) is not the exclusive property of black American plantation songs or of American Indian music but is to be found all over the world, and not least in Bohemia.” 54 Dieser kategorischen Ablehnung kann Schick nicht beipflichten, denn er sieht sehr wohl, wie in einigen Absätzen zuvor erwähnt, Einflüssen aus dem “Geist” der amerikanischen Volksmusik in den besagten Werken. Er verweist auch darauf, dass selbst wenn Pentatonik für die tschechische Folklore typisch wäre, sie dort zu einer amerikanischen, wo sie von Dvořák mit Absicht als amerikanische eingesetzt wird. Erschwerend zur ganzen Diskussion kommt die Tatsache, dass Dvořák zu dem Begriff „amerikanische Folklore“ auch die Volksmusik der Weißen, vor allem die Musik der irischen und schottischen Einwanderer, gerechnet hat. Denn Dvořák schreibt in Bezug auf seine Neunte Sinfonie von „the influence of this country […] it means the folk songs as are Negro, Indian, Irish etc.“. 55 Clapham, John: Dvořák. London, 1979, S. 201. Griffiths, Paul: The String Quartet. London, 1983, S. 149. 55 Kuna, Milan [Hrsg.]: Antonín Dvořák: Korrespondenz und Dokumente. Kritische Ausgabe in 8 Bänden. Band III. Prag, 1989, S. 268. 53 54 41 Dvořáks Rezeption der amerikanischen Folklore ist mit Sicherheit persönlich gefärbt, denn offensichtlich erkannte er in den Negro Spirituals und in den Indianergesängen ihm bekannte Besonderheiten aus der slawischen und schottischen Volksmusik und der alten Kirchenmusik wieder. Diese selektierte er wohl unbewusst, daß fast ausschließlich diejenigen Stilelemente in seine Musik Eingang fanden, die ihm schon von früher her vertraut waren. Daraus zu folgern, dass der Aufenthalt in Amerika Dvořák dazu anregte, überdurchschnittlich oft jene Stilelemente einzusetzen, wäre falsch. Dazu sagt Schick abschließend: „Themen wie das A-Dur-Thema im Kopfsatz des F-Dur Quartetts, das G-Dur-Epilogthema im ersten Satz der Neunten Symphonie und das E-Dur-Epilogthema im Finale der Sonatine opus 100, alle überwiegend pentatonisch gehalten, besitzen eine eigentümlich ambivalente, gleichsam Schwermut und Lebensfreude vereinigende Ausdrucksqualität, die sich im Negro Spiritual und auch im irischen und schottischen Volkslied findet, nicht aber in Dvořáks voramerikanischen Werken. Und der ebenfalls den Spirituals nachempfundene Fanfarengestus des Hauptthemas im ersten Satz des F-Dur-Quartetts und des entsprechenden Themas in der e-Moll-Symphonie hat zwar gewisse Vorläufer in Werken von 1875, fällt jedoch aus dem Rahmen von Dvořáks sonstiger Themenbildung heraus.“56 3.4. Analyseteil Das F- Dur-Quartett hat im Gegensatz zur zuvor komponierten e-Moll- Sinfonie oder zum danach entstandenen Es-Dur-Quintett weniger folkloristische Einflüsse. Stattdessen spielt die Pentatonik eine zentrale Rolle. Es fehlen auffallende Bezüge zu Swing low, sweet chariot wie in der Sinfonie oder Indianermelodien im Quintett. Trotzdem kann der folkloristische Einfluss nicht in Abrede gestellt werden. Zudem betont die gesteigerte Pentatonik sowie andere Stilmerkmale das besondere Verhältnis dieses Werkes zur Natur. „Wie kein anderes der amerikanischen Werke Dvořáks scheint das Quartett einer bukolisch-pastoralen Sphäre anzugehören, auf die ja schon seine Grundtonart, die Pastoraltonart F-Dur hindeutet, und die Umstände seiner Entstehung erscheinen in dieser Hinsicht nicht belanglos.“ 57 Dvořák genoss die Sommertage mit seiner Familie in Spillville sehr. Er war ein sehr 56 57 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 268. Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 268. 42 naturverbundener Mensch und Vogelfreund und die reizvolle Naturgegend hat das Quartett erheblich beeinflusst. „Der statische, aber in sich bewegte Klangraum über einen Orgelpunkt ist ein alter Topos der Naturdarstellung, und das Instrument, das hier wie der Mensch in diese Natur eintritt und zu jubilieren beginnt, ist wohl nicht zufällig Dvořáks eigenes Instrument, die Bratsche“:58 Notenbeispl. 7: Streichquartett F-Dur, Beginn Neben der Verbindung zur Natur kann jedoch auch ein Bezug zu Smetanas e-Moll-Quartett Aus meinem Leben, wo ebenfalls die Bratsche in eine solche Klangfläche hinein mit dem Thema einsetzt, hergestellt werden. Jedoch unterscheidet sich der Tonfall und der Themencharakter wesentlich von Dvořáks Werksanfang und erinnert mehr an Beethovens Leonoren-Ouvertüren Nr. 2 und 3., deren C-Dur-Hauptthema dem Dvořák-Thema melodisch und rhythmisch verblüffend ähnlich ist. Es beginnt ebenfalls in der kleinen Oktave vor einer statischen pianissimo-Umgebung. 58 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 269. 43 Im Scherzo ist ein Vogelruf nachgeahmt. Es wurde überliefert, dass Kovařik, ein Freund Dvořáks, beim ersten Durchspielen des Quartetts mit der hochgelegenen Violinpassage in T. 21 des dritten Satzes Probleme hatte. Daraufhin erklärte Dvořák, dass er mit dieser Melodie den Gesang eines fremdartigen Vogels imitieren wollte. Clapham konnte aufgrund der Beschreibung ornithologisch Nachrecherchieren und als scharlachrote Prachtmeise identifizieren. Sie lebt tatsächlich in Nordost-Iowa und ihr Gesang hat zwar fünf melodische Einheiten, stimmt jedoch mit Kovařiks Beschreibung überein. 59 Notenbeispl. 8: (a) Vogelruf nach der Notiz von Kovařik, (b) Dvořáks F-Dur-Quartett Der Vogelgesang wirkt auf jedenfall plastischer als die lapidar-realistischen Vogelrufe in Beethovens Pastoralsinfonie. In T. 33 wird er sogar zum Bass des Tonsatzes verfremdet, über dem Abspaltungsmotive aus dem rufartigen Hauptthema erklingen. Diese ostinat wiederholten Dreitonmotive bilden nun ihrerseits eine Art Vogelkonzert. Bei der variierten Wiederholung des Scherzo-Hauptteils in T. 109ff. scheint man weitere Vogelrufe zu erkennen: 59 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 270. 44 Notenbeispl. 9 Es existieren Skizzen eines Quartetts in B-Dur, welches Dvořák in New York geplant hatte. Auf der ersten Seite des dritten Amerikanischen Skizzenbuches unter dem Vermerk Quartett I. Satz: Notenbeispl. 10: Skizze Das Hauptthema exponiert keine pastorale Idylle wie der Beginn des F-Dur-Quartetts. Diese Skizzen stehen im Zusammenhang mit dem F-Dur-Quartett und dessen durchlaufende Kompositionsskizze auf der folgenden Seite zeigt die vier Takte der zweiten Akkolade. Sie wurden von Dvořák in ausgearbeiteter Form untransponiert in den langsamen Satz des F- 45 Dur-Quartetts als Takte 66-69 übernommen. Auch das Finale zeigt Einflüsse der Sommertage in Spillville. Dass es sich um einen tänzerischen Charakter der tschechisch stämmigen Dorfeinwohner handelt, wie Burghauser meint, sei dahingestellt, da der Tanzgestus in Finalsätzen ein gängiger Topos ist und es sich hier nicht einmal um einen bestimmten oder gar tschechischen Tanztyp handelt. 60 Die beiden choralartigen, weitgehend homorhythmisch in halben Noten gehaltenen Abschnitte im Mittelteil des Finales aber kann man durchaus mit Šourek als ein Nachhall des allmorgentlichen Orgelspiels des Komponisten bei der Messe in der Dorfkirche deuten – die erste Stelle (T. 155) entspräche stilistisch einem imitatorischen Präludieren, die zweite (T. 179) einem Kirchenlied. 61 Das Amerikanische Quartett kann durchaus als pastorale Komposition bezeichnet werden, denn Dvořák setzt diese Linie nur konsequent fort, jedoch in einer Gattung, in der es keine Pastoraltradition gibt. „Wenn nun die Pentatonik in Dvořáks F-Dur-Quartett sich einerseits, wie gezeigt, in die Verwendung von Pentatonik als Chiffre für Natur in Dvořáks orchestralem Schaffen einreiht, so widerspricht dies andererseits durchaus nicht Dvořáks Aussagen zur folkloristischen Inspiration des Stils auch des F-Dur-Quartetts, lassen sich doch auch die Gesänge der Indianer vor dem Hintergrund der europäischen Kultur als ein Stück Natur im weiteren Sinne rezipieren, und die doppelte – folkloristische und pastorale – Begründung der Pentatonik in Dvořáks F-Dur-Quartett erklärt denn auch ihre exzeptionelle Bedeutung in diesem Werk.“62 Der pastorale Tonfall des F-Dur Quartetts resultiert in musikalisch-technischer Hinsicht aus einer intendierten „Simplizität“, verglichen zu dem üblichen Standard von Dvořáks Werken. Die Schematik des Hauptthemas, das sich aus zwei plus zwei Takten zusammensetzt, besteht aus vertauschten Stimmen, die sofort wiederholt werden. Das Thema steht vollkommen quer zu Dvořáks Gewohnheit, ein Hauptthema harmonisch und syntaktisch offen anzulegen. Es kehrt nach vier und wieder nach acht Takten zum Ausgangspunkt, dem Grundton, zurück und verharrt bis auf gelegentliche Wendungen zur Tonikaparallele auf der Tonika. Extrem Burghauser, Jarmil: Antonín Dvořák: Die Streichquartette. Textbeilage zur Schallplatten-Gesamtaufnahme mit dem Prager Streichquartett (Deutsche Grammophon Nr. 2740177). 1977. 61 Vgl. Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 272. 62 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 273. 60 46 erscheint hier der Kontrast zur dramatischen Konzeption des Beginnes des C-Dur-Quartett, wo die erste Wiederkehr der Tonika lang hinausgezögert wird. Die Energie des Hauptthemas wird nicht ausgenutzt und so muss der Satz nach den acht Hauptthementakten in T. 11 quasi ein zweites Mal und wieder von der Tonika beginnen. T. 11 und T. 13 werden unverändert wiederholt, und T. 15 ist in sich nur aus Wiederholungen gebildet und wird dann noch insgesamt wiederholt. Das Prinzip der Wiederholung beherrscht diesen Satz wie kein anderes Werk des Komponisten und prägt ebenso das erste Seitenthema: Notenbeispl. 11 Die Taktgruppenstruktur der Exposition ist regelmäßig und quadratisch. In ihr reihen sich bis auf eine dreitaktige Einheit (T. 21) ausnahmslos Gruppen zu vier und zwei Takten aneinander. Es bestehen zwischen den drei Themen der Exposition keinerlei motivische Beziehungen, einzig die Pentatonik verbindet sie lose. Die „Simplizität“ trügt, denn Dvořák verbindet sie durch einen die Exposition durchziehenden, eher unscheinbaren Prozess der entwickelnden Variation. Der dritte Takt des Hauptthemas (a) ist aus dem ersten abgeleitet. Das Hauptthema „etabliert im vierten Takt eine Sechszehntelfigur, die in der Fortspinnung T. 11 ff. abgespalten wird und zum durch die Stimmen wandernden Motiv von T. 17 (b) führt.“63 Das erste Seitenthema (c) entwickelt sich aus dem pentatonischen Quintabstieg der zweiten Hälfte des Hauptthemas. Die kontrapunktische Gegenmelodie zu diesem Thema wird in T. 30 zur Ober- und Hauptstimme (d) und spaltet in den folgenden Takten den Ganztonschritt c´-d´ a, der den Rhythmus und andeutungsweise auch die Diastematik vorwegnimmt, mit denen das zweite Seitenthema (f) beginnt. Dessen synkopischer 63 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 275. 47 Rhythmus im dritten Takt wiederum wird in T. 58f. mehrmals wiederholt (g) und bereitet so die Wiederkehr des ebenso synkopisch beginnenden Hauptthemas (h) im nur vier Takte umfassenden Epilog vor. Notenbeispl. 12 In der zweiten Hälfte der Durchführung (T. 96) beginnt eine Imitationspassage mit einem ebenfalls pentatonischen f-Moll-Motiv. Es wird zwar wie ein neues Thema eingeführt, doch hat es den Geschmack des Bekannten. Notenbeispl. 13 48 Über die Herkunft des obigen Motivs gehen die Ansichten auseinander. Clapham und Kurth halten es für eine Ableitung aus dem Hauptthema. Šourek hingegen hält es für aus dem ersten Seitenthema (a-Moll) gewonnen und Kull sogar für aus dem „Gesangsthema“, also wohl dem zweiten Seitenthema (A-Dur), entwickelt. 64 Hierzu besonders interessant, soeben erwähnte Analyse Šoureks: „In der von einem tremolierenden F-dur-Akkord in beiden Violinen erflimmernden Einleitung des Satzes wird das Thema zuerst von der Bratsche gebracht und sodann von den Violinen wiederholt. Das motivische Schlusselement des Themas bietet dann dem Komponisten Gelegenheit, durch Wiederholung des Elements eine kurze Übergangsepisode zu entwickeln, an die noch einmal das Hauptthema anknüpft, diesmal jedoch nur zu einer beschleunigten Modulation in die Tonart des Nebenthemas (a-moll). Den Heimatboden dieses zweistimmig gebildeten neuen Themas verrät nicht allein die verminderte siebente Stufe […], sondern auch der Orgelpunkt in der Bratsche und die harten Pizzicati der leeren Quint im Violincello. Gerät hier der Grundausdruck des Satzes einigermaßen in Bewegung, so beruhigt er sich gleich wieder in dem sanften, von dem Zauber einer besondern Innigkeit umwebten Schlußthema, das zu den melodisch lieblichsten und holdigsten unter Dvořáks ,amerikanischen´ thematischen Eingebungen zu zählen ist.“65 Notenbeispl. 14 64 Kurth, Ulrich: Aus der Neuen Welt. Untersuchungen zur Rezeption afroamerikanischer Musik in europäischer Kunstmusik des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts. Göppingen, 1982, S. 144. Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 110. Kull, Hans: Dvořáks Kammermusik. Bern, 1948, S. 186. 65 Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 109 f. 49 Die Intervallik entspricht in den ersten fünf Tönen gewiss den Tönen 4-8 des Hauptthemas, doch beginnt das Imitationsthema eben nicht auf der Sexte in Dur, sondern auf dem Grundton in Moll, so dass diese Ableitung nur theoretisch vorhanden ist. Obwohl das das Seitenthema seit T. 30 nicht mehr erklungen war, wird diese abgeleitet. Hier aber spielt nun die Tonart f-Moll des Imitationsmotivs eine wichtige Rolle, denn sie ist jene im Seitenthema in der Reprise. Durch diese Identität der absoluten Tonhöhen wird nun allerdings nachträglich – bei der Wiederkehr des Seitenthemas - der zunächst nur latente Zusammenhang der Töne 2-8 des Imitationsmotivs mit diesem Thema offenkundig. Notenbeispl. 15 Da pentatonischen Tonfolgen in einer von Pentatonik geprägten Umgebung zu wenig charakteristisch sind, um eine solche spezifische thematische Beziehung alleine und über größere Distanzen zu begründen, ist dieser tonartliche Bezug des Imitationsmotivs zum ersten Seitenthema notwendig. Das Imitationsmotiv in T. 96 hebt an, als würde es ein echtes Fugato mit Quintbeantwortung und Kontrapunkten eröffnen, doch in jeder der vier Stimmen setzt das Motiv auf ein f ein, die Fortführung ist alles andere als eine Gegenstimme und harmonisch tritt die Musik auf der Stelle, da sie sich nicht von der Tonika lösen kann. 66 Zwar wurden im Vergleich zum C-Dur-Quartett hier die harmonischen und modulatorischen Mittel sparsamer eingesetzt, jedoch hat Dvořák nicht zwanghaft an der Simplizität festgehalten. An den Satzanfängen und –schlüssen ergreift die Tendenz zur Pentatonik alle vier Stimmen. In den ersten zehn Takten des Werkes kommt Dvořák sogar im Grunde nur mit den Tönen f, a, c, und d aus. Der Ton g, der diesen Viertonvorrat zur Pentatonik ergänzen würde, erscheint nur zweimal kurz als Sechzehntel (T. 4 und T. 8). Smetana eröffnet sein ähnlich beginnendes e-Moll-Quartett mit einem vollgriffigen Akkord, Dvořák hingegen setzt am Anfang den Tonvorrat gleichsam programmatisch bausteinartig zusammen, wo aus dem 66 Vgl. Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 276 f. 50 Nichts einer Pause die erste Violine mit f und a beginnt und einen halben Takt später die zweite Violine die Dreiklangsquinte c hinzukommt. Erst in der Mitte des dritten Taktes führt das Thema die sensible Sexte d ein, als vierten Thementon nach f, a und c. Aus diesen Tönen lassen sich zwei verschieden Dreiklänge bilden, der F-Dur-Dreiklang und der d-MollDreiklang. Als Tonika und Tonikaparallele sind dies die einzigen Harmonien, die in den ersten zehn Takten vorkommen. D-Moll ist die erste Tonart, zu der der Satz in den folgenden Takten moduliert (T. 13). Auch wenn Dvořák ab T. 11 die Einschränkung auf vier oder fünf Töne und den Verzicht auf Halbtonschritte aufgibt, so fügt er in den Takten T. 15 bis T. 20 einen neuen Fünftonraum aus d f, g, a und b, in dem zwar Töne a und b in einer Halbtonbeziehung stehen, doch erscheint b nie über a, sondern immer über die Terzenfolge b-d-f-a vom Ton a getrennt. Dvořák verzichtet in diesem Quartett sehr häufig auf den Leitton, der ein Spezifikum der europäischen Musik ist. Dabei ersetzt er die Dominante durch die Tonikaparallele (statt T-D-T-D-T erscheint der pentatonsiche Klangwechsel T-Td-T-Td-T). „Der zweite aus den Anfangstönen f, a, c und d erzeugbare Dreiklang wird nun zur Tonika des langsamen Satzes: d-Moll, und den in der d-Moll-Tonika nicht enthaltenen vierten Ton c hebt Dvořák in T. 5 des langsamen Satzes mit einem Pralltriller als weiteren Zentralton hervor. An sich arbeitet Dvořák hier mit einer Mollskala ohne Sexte und mit erniedrigter Septim […], doch setzt er ihre Töne nicht gleichberechtigt ein. Der Ton e kommt nur einmal kurz am Ende des vierten Taktes (und unwesentlich in T. 6) vor und wird etwa in T. 5 dadurch umgangen, daß anstelle der Molldominante der Sextakkord a-c-f erscheint (wiederum also die Parallele als Dominantenersatz).“67 67 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 278. 51 Notenbeispl. 16 Der einzige Halbtonschritt in den Takten T. 1 bis T. 5 ist die Tonfolge e-f von T. 4 auf T. 5 und wirkt umso ausdrucksvoller. Die Melodik und Harmonik ist pentatonisch überformt. Da die modale Septim c in T. 5 hervorgehoben wird, sackt der Satz in T. 9 mittels „mährischer Modulation“ afunktional von d-Moll nach D-Dur ab, dasselbe passiert nochmal in T.16/17. Im weiteren Satzverlauf werden anschließend nur noch F-Dur (T. 23ff.) und a-Moll (T. 55) als Nebentonarten exponiert. Damit ist auch die tonale Anlage des Satzes gleichsam pentatonisch fundiert. Mit d, f, a und c werden die charakteristischen Töne des Hauptthemas zu Tonarten gemacht und zugleich jene vier Töne, aus denen der Beginn des ersten Satzes konstruiert ist. Im Scherzo-Hauptteil, den ersten 48 Takten des dritten Satzes, wird der naturidyllischen Musik des rufartigen Hauptmotivs und der Vogelrufe dreimal ein viertaktiger, kadenzierender Nachsatz gegenübergestellt (T. 3, T. 13, und T. 45), der mit seiner leittönigen Harmonik gleichsam die Sphäre der Menschenwelt verkörpert. Der Scherzo-Hauptteil besteht fast ausschließlich aus den vier Tönen f, a, c, und d und zusätzlich erscheinen als Achtel viermal der Ton g, die Pentatonik komplettierend, sowie viermal der Leitton e. Das Finale beginnt mit einem Vorspann vor dem Thema. Untypisch für seinen 52 Quartettstil, schafft Dvořák zuerst einen Klangraum. Erst allmählich zeigt sich der wesentliche Charakter, der stimmungshaft-idyllische Grundzug des Werkes. Wie am Beginn des ersten Satzes stellt er zuerst die Terz f-a auf, setzt dann wieder den Grundton im Cello darunter und lässt acht Zählzeiten das Thema eintreten, welches im Finale noch keine Vorform des erst in T. 33 einsetzenden Hauptthemas ist. Das Thema komplettiert auch hier mit der Sexte d den Tonvorrat zur Viertonstruktur f-a-c-d, aus der allein die ersten 16 Takte des Finales gebildet sind. Dieselben vier Töne liefern dann auch das Material für die Takte 25-36 und 39-43. In Bezug auf die Rhythmik hat Dvořák ebenfalls „effizient“ komponiert. Am Anfang etabliert sich in den Mittelstimmen ein punktiert-synkopischer Rhythmus und grundiert den Satz über weite Strecken als Ostinato. Er prägt das Einleitungsthema und das Hauptthema und bildet den Untersatz für das kantable As-Dur-Thema von T. 69. Über eine Ableitungskette gehen alle drei Themen diastematisch auf das Hauptthema des ersten Satzes zurück. Notenbeispl. 17 Ebenso „sparsam“ geht Dvořák mit dem Material um, indem er fast jeden Gedanken sofort mindestens einmal wiederholt. Schlicht ist auch die Textur des Satzes, was jedoch 53 keinesfalls die Qualität schmälert. Die Violine ist in den ersten 150 Takten fast pausenlos die führende Stimme über einem kaum mehr als Begleitfunktion wahrnehmenden und rhythmische Akzente setzenden Unterstimmensatz. Entsprechend schroff wirkt dann hierauf der Umschlag zum mittleren Couplet dieses Rondos (T. 155), wo mi den beiden choralartigen Abschnitten erstmals eine stimmige, imitatorische oder homophone Textur erscheint, erstmals der hektische Rhythmus schweigt und erstmals prononciert chromatische Stimmführung begegnet. 68 Diese choralartigen Teile stehen thematisch völlig isoliert ohne Verknüpfung da – einzig von ihrer kirchentonalen Modalität scheint eine Brücke zur leittonlosen Harmonik der pentatonischen Passagen zu führen. Der Verzicht auf eine Durchführung kann dazu dienen, die in T. 310 beginnende Coda in dem eher einfachen und kurzen Satz als den Höhepunkt zu empfinden. Im Folgenden werden die vier Sätze noch einmal zusammengefasst: 1. Satz: Allegro ma non troppo Die wichtigste Funktion im ersten Satz (Allegro ma non troppo) hat das lockergefügte Hauptthema, dessen rhythmische Buntheit in der motivischen Satzarbeit gut zum Ausdruck kommt. Wie bereits erwähnt nimmt sich der Anfang den Beginn von Smetanas Streichquartett Aus meinem Leben zum Vorbild. Notenbeispl. 18 Über einem Orgelpunkt im Cello ein Klangteppich der Streicher und nur das fröhlichenergiegeladene Hauptthema, vorgetragen von der Bratsche, hebt sich ab. Es enthält die Vgl. Beveridge, David: Sophisticated Primitivism.: The Significance of Pentatonicism in Dvořáks American Quartet. In: Currrent Musicology 24. 1977, S. 28. 68 54 Grundgedanken, aus dem alle bedeutsamen Themen der vier Sätze umgeformt oder erweitert werden. Die weiteren Themen sind romantisch-bewegt, Notenbeispl. 19 lieblich Notenbeispl. 20 und ausdrucksstark Notenbeispl. 21 Pentatonik und der synkopisierende Effekt des scotch snap sind die verwendetetn Stilmittel. Sechzehntel-Quintolen zu zwei Vierteln, Achtel-Triolen zu Achteln oder synkopierte Viertel sind für Dvořák nichts Außergewöhnliches. 55 Der Mittelteil des Satzes knüpft an die wiederholte Exposition an. Zur Durchführung gelangt im Mittelteil vor allem das Hauptthema, dessen einzelne Elemente zur Entfaltung einer bunten und dabei keineswegs langwierigen motivischen Mosaik herangezogen werden. Nur am Schluss der Durchführung entspinnt sich ein in kleinem Maßstab gehaltener Kanon mit einem energischen kleinen Motiv, das mit seinem zweiten Takt seinen Ursprung aus dem Nebenthema andeutet. Notenbeispl. 22 Die Reprise weicht von der Exposition darin ab, dass das Violoncello an der Übergangsstelle zur Reprise in das ostinat wiederholte Bruchstück b aus Hauptthema in innigem Gesang nachstehende neue melodische Variante des Schlussthemas anstimmt. Notenbeispl. 23 Der Ausklang ist zuerst in den Gefühlslagen einer ruhevollen und ernsten Innigkeit gehalten, dann aber spricht ein erregter Dialog der Elemente a und b aus dem Hauptthema das sehr energische Schlusswort. 2. Satz: Lento Der zweite Satz zählt zu den Raritäten unter den gesangvollen Sätzen in Dvořáks Kammermusik. „Er ragt durch die schmelzende Schönheit seiner melodischen Linien, durch Gefühlsechtheit, Ausdruckstiefe und den ganzen besonderen Reiz seiner reinen Harmonien hervor. Im harmonischen Gefüge ist das häufige Abwechseln weicher Tonarten mit den parallelen oder zumindest verwandten Dur-Tonarten eine ebenso überzeugend einfache wie bewunderungswürdige und unmittelbare Erscheinung. Der Satz ist ein weitgespanntes Lied, durchhaucht von dem Atem einer Wehmut, für die es keine Worte gibt, die aber zugleich 56 keinen unmittelbaren Schmerz bereitet.“69 Der Wehmut von dem Šourek spricht, ist jener der afroamerikanischen Bevölkerung und auf deren Lebensgefühl bezogen. Der schwermütige Ausdruck wird durch die melodische Linie, die fast den ganzen Satz hindurch über der einförmig auf- und absteigenden Begleitfigur hinschwebt, bekräftigt: Notenbeispl. 24 Dieser wehmütige Satz in 6/8 und in der Parallelltonart d ist eine Art Arietta für die 1. Violine und das Cello. Das Schema ist AA BB CC A´ Coda. Wiese bringt hier neben dem Aspekt des afroamerikanischen Einflusses, wie ihn Schick beschrieben hat, die weitläufige, steppenartige Landschaft Amerikas: „Es hat eine ziemlich monotone, hartnäckig synkopische Begleitung der Viola, aber auch der 2. Geige, und offenbart die melancholische Größe der weiten Prärien des amerikanischen Mittelwestens.“ 70 Der Kern des zweiten Satzes ist die ruhige achttaktige Passage, die zu Anfang von den Violinen und hierauf vom Violoncello gebracht wird: Notenbeispl. 25 Die Violine entwickelt ihren Gesang aus dem vorletzten Taktpaar der vorhergehenden Melodie, wobei die zweite Violine zuerst mit einer selbstständigen Gegenmelodie antwortet Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 111. 70 Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 165. 69 57 und sich dann aber mit der führenden Stimme zu einem melodischen Zweigesang vereinigt. Er ist bezeichnend für den ganzen Mittelteil und nimmt in seiner Entwicklung zu einer wiederum neuen Abwandlung des Hauptthemas an Innigkeit zu. Notenbeispl. 26 Der Gesang steigert seine Spannung und spiegelt eine unendliche Sehnsucht wider. Zugleich ist jedoch auch die Stimme einer tiefen Glückseligkeit herauszuhören. Notenbeispl. 27 Im Ausklang dominiert wieder der Schwermut. Im Violoncello ertönt der trauervollklagende Ton des Hauptthemas über den lastend gemessenen Pizzicati der übrigen Instrumente und zum Schluss auch über dem mystisch klingenden Tremolo der Bratsche. Die Bratsche beschließt dann den Satz in einem Halbtonschritt. 3. Satz: Molto vivace 58 Der dritte Satz ist schlicht und von geringem Umfang. Der ganze Satz entwickelt sich aus einem einzigen Thema. Er hat einen lebhaften, rhythmischen knappen einprägsamen Vordersatz und einen ruhig baumelnden Nachtrag. Notenbeispl. 28 Der zweite Satz ist in zwei unterschiedliche Absätze unterteilt, die nach dem Schema a-b-ab-a abwechseln. Der erste Abschnitt ist durchwegs in F-dur gehalten und es überwiegt eine durch vielgestaltige Zusammenstellung der rhythmischen Elemente des Themas verstärkte rhythmische Heiterkeit und seine heitere Stimmung, die ihren Ausdruck insbesondere in der eigenständigen Modulation des Themas in hohen Geigenlagen findet. Notenbeispl. 29 Der zweite Abschnitt ist durchwegs in f-moll und hat im Gegensatz zum ersten Abschnitt einen mysteriösen Ausdruck und ist so aufgebaut, dass „der augmentierte Vordersatz des Grundthemas als Cantus firmus unverändert von einem Instrument auf das andere übergeht 59 und dabei abwechselnd von einer zwiefachen kontrapunktierenden Gegenmelodie umspielt wird.“71 Notenbeispl. 30 Diese mittleren Teile verleihen dem Scherzo die starke „exotische“ Note und kompensiert durch die Buntheit der rhythmischen Einfälle bzw. die bewunderungswürdige Erfindungsgabe, mit der die vielfältigen Klangkombinationen hervorgezaubert werden, die Sparsamkeit an Themen und Tonalität. 4. Satz: Vivace ma non troppo Der letzte Satz beschließt das Quartett mit einem heiteren Rondo in der Gestalt a-b-a-c-a-ba). Der Charakter leitet sich aus den fast den ganzen Satz durchlaufenden scherzenden und umhertollenden Rhythmus des Hauptthemas ab. Das Thema wird gleich zu Beginn im ersten Takt von der zweiten Violine und der Bratsche wiedergegeben. Die Pizzicati des Violoncellos betonen das heitere Thema. Ein wenig umständlich und langatmig im Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 113. 71 60 Rhythmus beginnt dann die erste Violine, aber umso verführender, den eigentlichen Einsatz des Themas vorzubereiten. Notenbeispl. 31 Die zwei einleitenden Einsätze des sechzehn Takte umspannenden Themas werden zum jeweils am Anfang mit rhythmisch harten Schlägen in a.moll und dann bei ihrer Wiederkehr in C-dur beschlossen. Ohne modulierenden Übergang setzt daraufhin die Tonart As-dur ein. Die Melodie des zweiten Themas wird in dieser neuen Tonart von den Violinen über dem andauernd hüpfenden Rhythmus des Hauptthemas vorgebracht. Die gelegentliche Verdoppelung durch Sexten und Terzen legt die Erinnerung an eine Volksweise nahe. Notenbeispl. 32 Der neuerlichen Exposition des Hauptthemas folgt der Wechsel in die Tonart Des-dur, wobei er sich in Stimmung und Zeitmaß unvermittelt beruhigt. Im Pianissimo entwickelt sich in Halbtonschritten eine kurze choralartige Imitation. Sie ähnelt der Melodie einer zart und bedacht gespielten Orgel. Die zwei ruhigen Zitate des Themas „führen einen weiteren Teil des Satzes herauf, der bereits wie frommer Kirchengesang klingt“. 72 Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 115. 72 61 Es kommt sofort die Assoziation mit Dvořáks Sommeraufenthalt in Spillville in den Sinn, wo er täglich den Morgengottesdienst besucht hatte. Diese Passage ist jedoch ein sehr kurzes Intermezzo in der sonst hauptsächlich ausgelassenen Stimmung des Satzes. „Sobald das Violoncello nach den Violinen das fromme Thema aufnimmt, um es zu wiederholen, schließen sich die Violinen mit einer leichten Figuration an, unter der wieder der Rhythmus des Hauptthemas hervorblitzt, als würde in einem ernstblickenden Auge das Aufleuchten eines schalkhaften Lächelns sichtbar.“ 73 Dieser neue Rhythmus ist dann der bestimmende und bereitet in einer kurzen dynamischen Steigerung für das eigentliche Thema vor. Ein wenig überraschend ist die Verschiebung der Grundtonart F-dur nach Des- dur. Der Einsatz des zweiten Themas klingt zunächst wieder wehmütig, wird jedoch rasch wieder heiter. Am Ende des Satzes ist nur noch das Hauptthema dominierend und beschließt heiter und jauchzend das Werk. Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 115. 73 62 4. Conclusio Dvořáks „Amerikanisches Quartett“ nimmt eine Sonderstellung in seinem Schaffen ein. Zum einen gesellschaftspolitisch und zum anderen musikalisch. Gesellschaftspolitisch deshalb, da Dvořáks mit diesem Werk seine Thesen über die ursprünglichen „Indianer- und Negermotive“, welche zur Inspiration für die Entstehung einer neuen, eigenständigen amerikanischen Musik werden könnten, in der musikalischen Praxis unter Beweis stellte. Seine Thesen über die amerikanische Folklore und sein Engagement für die Farbigen war nicht nur gesellschaftspolitisch vorbildhaft, sondern war auch Pionierarbeit für die amerikanische Musikgeschichte. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch Jeanette Thruber, der Direktorin des Musikkonservatoriums in New York, die um Dvořáks Genie wusste und ganz bewusst an ihr Konservatorium geholt hatte. Sie gab ihm seine gewünschten Freiheiten und förderte seine Neugier bzw. Experimentierfreudigkeit. Nicht ohne Stolz schrieb Thurber viele Jahre später über ihre Zusammenarbeit mit Dvořák: „Wenn ich auf meine fünfunddreißigjährige Tätigkeit als Präsidentin des amerikanischen Nationalen Musikkonservatoriums zurückblicke, dann gibt es nichts, worauf ich so stolz wäre wie darauf, daß es mir gelungen ist, Dr. Dvořák nach Amerika zu bringen und daher das Privileg zu haben, einem der sinfonischen Meisterwerke der Welt den zu öffnen, ebenso wie einigen Kammermusikwerken, von denen man sagen kann, daß sie sogar besser sind als die Kammermusik, die er in Europa schrieb.“ 74 Und Dvořák enttäuschte sie nicht denn er hatte genau das vor, was im Sinne Thurbers war und im Sinne der amerikanischen Musikgeschichte. Dvořák stellte klar: „Ich bin nicht nach Amerika gekommen, um hier Beethoven oder Wagner zu propagieren. Das ist nicht meine Aufgabe, und ich werde auch keine Zeit damit verlieren. Ich bin gekommen, um festzustellen, was in den jungen Amerikanern steckt und ihnen zu helfen, dies auszudrücken.“ 75 Mit seinen zwei Kammermusikwerken und seiner berühmten Sinfonie Aus der Neuen Welt setzte Dvořák seine Thesen und sein Interesse eindrucksvoll um und beeinflusste nicht nur die amerikanische Musikgeschichte nachhaltig, sondern auch die europäische. So hatte das Amerikanische Quartett Einfluss auf Arnold Schönbergs Streichquartett in D aus dem Jahre 1897. Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 188 ff. 75 Ivanov, Miroslav: Dvořák in Amerika. Auf den Spuren eines großen Musikers. Quintessenz Verlag, Berlin, 1998, S. 227 ff. 74 63 Musikalisch versucht Dvořák in seinen Werken jene Charakteristika zu porträitieren, die deutlich amerikanisch seien. Dazu zählt er als Eigenheiten die Pentatonik, den erniedrigten Leitton, Molltonleitern ohne vierte und siebte Stufe, sowie im Rhythmischen die starke Synkopierung und die rhythmische Besonderheit der sogenannten scotch snap, musikalische Eigenarten, die alle mit dem Einfluss traditioneller amerikanischer Volkslieder zusammenhingen. Dvořáks Thesen löste Diskussionen aus, inwieweit die genannten Eigenarten überhaupt als Musik der Farbigen und Indianer Amerikas und damit für einen Teil der amerikanischen Folklore gelten konnten. Dvořáks Kritiker behaupten, dass er diese Folklore viel zu wenig kannte, um daraus eine wirklich eindeutig amerikanisch gefärbte Musik zu machen. Jedoch verstand die damalige Zuhörerschaft und die Presse die Neunte Sinfonie kollektiv sehr wohl als einen Beitrag zur Schaffung neuer amerikanischer Kunstmusik. Die Presse jubelte: „Eine Symphonie, die von amerikanischen Neger- und Indianermelodien angeregt wurde, eine Symphonie, die beweist, daß es amerikanische Kunstmusik gibt.“ 76 , oder: „Die Sinfonie ,Aus der Neuen Welt´, eine Studie nationaler Musik. Eine Lehre für die amerikanischen Komponisten. Der Komponist hat eine Sinfonie geschaffen, deren Themen durchdrungen sind vom Geiste der Neger- und Indianermelodien.“ 77 Wie sehr die Meinungen auseinandergehen zeigen die unterschiedlichen Auffassungen verschiedener Biographen. Schick beispielsweise äußert sich kritisch, dass Dvořák genauere und authentische Kenntnis der Indianermusik hatte und untermauert seine These mit Dvořáks Aussage: „Now, I found, that the music of the Negros and of the Indians was practically identical.” 78 Er beruft sich dabei auch auf Clapham, der die „stilistische Beziehung zur indianischen Musik für beinahe vernachlässigbar“ hält. 79 Dagegen zeigt Antonin Sychra mit einer Indianermelodie auf, die seiner Meinung nach, in ihrem melodischen Umriss dem A-Dur Thema im ersten Satz des F-Dur-Quartetts sehr ähnle. Zit. in: Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 272. Zit. in: Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 272. 78 Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 264. 79 Clapham, John: Dvořák and the American Indian. In: Musical Times 107 (1966), S. 863-867. 76 77 64 Schick spricht daher lediglich vom „Geist“ der Volksmusik und „daß etwa der gerne als ,indianischer Trommelrhythmus´ apostrophierte ostinate Rhythmus im zweiten Satz des Es-Dur-Quintetts für einen indianischen Rhythmus zu komplex ist“. 80 Paul Griffith schließt amerikanische Folklore-Einflüsse beinahe gänzlich aus und verweist darauf, dass Dvořák viel Zeit in Spillville, einer tschechischen Einsiedlerortschaft verbracht hat und dort wieder vermehrt zu seinen tschechischen Wurzeln gefunden hat. Die Diskussion wird dadurch erschwert, dass Dvořák selbst zu den amerikanischen Einflüssen jene der schottischen und irischen Einwanderer zählte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Dvořáks Rezeption der amerikanischen Folklore eine mit Sicherheit persönlich gefärbte ist, denn offensichtlich erkannte er in den Negro Spirituals und in den Indianergesängen ihm bekannte Besonderheiten aus der slawischen bzw. schottischen Volksmusik und der alten Kirchenmusik wieder. Man muss davon ausgehen, dass er wohl unbewusst selektierte und fast ausschließlich diejenigen Stilelemente in seine Musik Eingang fanden, die ihm schon von früher her vertraut waren. Natürlich hat das F-Dur-Quartett weniger folkloristische Einflüsse als die zuvor komponierten e-Moll-Sinfonie oder das danach entstandenen Es-Dur-Quintett, stattdessen spielt die Pentatonik eine zentrale Rolle. Es fehlen auffallende Bezüge zu Swing low, sweet chariot wie in der Sinfonie oder Indianermelodien im Quintett doch der folkloristische Einfluss kann nicht in Abrede gestellt werden. Zudem betont die gesteigerte Pentatonik sowie andere Stilmerkmale das besondere Verhältnis dieses Werkes zur Natur. Neben der Verbindung zur Natur kann auch ein Bezug zu Smetanas e-Moll-Quartett Aus meinem Leben hergestellt werden, das sich jedoch im Tonfall und im Themencharakter wesentlich von Dvořáks Werksanfang unterscheidet und mehr an Beethovens LeonorenOuvertüren Nr. 2 und 3., deren C-Dur-Hauptthema dem Dvořák-Thema melodisch und rhythmisch verblüffend ähnlich ist, erinnert. 80 Vgl. Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 265. 65 Aber zurück zur Natur. Im Scherzo ist ein Vogelruf nachgeahmt. In T. 33 wird er sogar zum Bass des Tonsatzes verfremdet, über dem Abspaltungsmotive aus dem rufartigen Hauptthema erklingen. Diese ostinat wiederholten Dreitonmotive bilden nun ihrerseits eine Art Vogelkonzert. Das Hauptthema exponiert keine pastorale Idylle wie der Beginn. Auch das Finale zeigt Einflüsse der Sommertage in Spillville. Das Amerikanische Quartett kann durchaus als pastorale Komposition bezeichnet werden, denn Dvořák setzt diese Linie nur konsequent fort, jedoch in einer Gattung, in der es keine Pastoraltradition gibt. Der pastorale Tonfall des F-Dur-Quartetts resultiert in musikalisch-technischer Hinsicht aus einer intendierten „Simplizität“, verglichen zu dem üblichen Standard von Dvořáks Werken. In der zweiten Hälfte der Durchführung beginnt eine Imitationspassage mit einem ebenfalls pentatonischen f-Moll-Motiv. Es wird zwar wie ein neues Thema eingeführt, doch hat es den Geschmack des Bekannten. Über die Herkunft des obigen Motivs gehen wieder einmal die Ansichten auseinander. Clapham und Kurth halten es für eine Ableitung aus dem Hauptthema, wohingegen Šourek es für aus dem ersten Seitenthema (a-Moll) gewonnen hält, und Kull hält es sogar für aus dem „Gesangsthema“ entnommen, also wohl dem zweiten Seitenthema (A-Dur), entwickelt.81 Da pentatonischen Tonfolgen in einer von Pentatonik geprägten Umgebung zu wenig charakteristisch sind, um eine solche spezifische thematische Beziehung alleine und über größere Distanzen zu begründen, ist dieser tonartliche Bezug des Imitationsmotivs zum ersten Seitenthema notwendig. Das Imitationsmotiv in T. 96 hebt an, als würde es ein echtes Fugato mit Quintbeantwortung und Kontrapunkten eröffnen, doch in jeder der vier Stimmen setzt das Motiv auf ein f ein, die Fortführung ist alles andere als eine Gegenstimme und harmonisch tritt die Musik auf der Stelle, da sie sich nicht von der Tonika lösen kann.82 81 Kurth, Ulrich: Aus der Neuen Welt. Untersuchungen zur Rezeption afroamerikanischer Musik in europäischer Kunstmusik des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts. Göppingen, 1982, S. 144. Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 110. Kull, Hans: Dvořáks Kammermusik. Bern, 1948, S. 186. 82 Vgl. Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 276 f. 66 Im Vergleich zum C-Dur-Quartett wurden hier die harmonischen und modulatorischen Mittel sparsamer eingesetzt, jedoch hat Dvořák nicht zwanghaft an der Simplizität festgehalten, die ihm teils vorgeworfen wurde. In den ersten zehn Takten des Werkes kommt Dvořák sogar im Grunde nur mit den Tönen f, a, c, und d aus. Ökonomie herrscht in der Rhythmik. Am Anfang etabliert sich in den Mittelstimmen ein punktiert-synkopischer Rhythmus und grundiert den Satz über weite Strecken als Ostinato. Er prägt das Einleitungsthema und das Hauptthema und bildet den Untersatz für das kantable As-Dur-Thema von T. 69. Über eine Ableitungskette gehen alle drei Themen diastematisch auf das Hauptthema des ersten Satzes zurück. Ebenso „ökonomisch“ behandelt Dvořák das Material, indem er fast jeden Gedanken mindestens einmal wiederholt. Die Textur des Satzes ist schlicht, aber schmälert keinesfalls die Qualität. Die Violine ist in den ersten 150 Takten fast pausenlos die führende Stimme. Einige Kritiker sprechen dem Quartett in F-Dur seine Qualität ab, doch man würde dieser Musik nicht gerecht. Der Reiz liegt nun einmal in ihrer Frische, Entspanntheit und Natürlichkeit, zu der auch ein Moment von Rohheit gehört wie beispielsweise der Übergang zum Gesangsthema in T. 69 einfach von C-Dur nach As-Dur springt. In einer musikhistorischen Situation, in der wie nie zuvor mit ungeheuren „Mengen von Noten“ komponiert wurde und eine Inflation der Chromatik grassierte, sich auf ein denkbar knappes Material und lapidare Kürze zu beschränken und zu zeigen, was sich etwa mit vier Tönen noch alles mach lässt, dies verrät immerhin einige Originalität. Und die Art und Weise, wie Dvořák hier den Einzelton und die diatonische Wendung eine ganz aufwertet, um dann sparsam eingestreuten „neuen“ Tönen und chromatischen Wendungen eine ganz neue Leuchtkraft zu geben, entschädigt durchaus für den Verzicht auf höchste Geistigkeit. Die äußere Simplizität hat Methode, die Enthaltsamkeit in der Anwendung der Mittel besitzt in ihrer Art einen Zug Artifiziellen, so dass letzten Endes der Gattungsanspruch doch eingelöst wird. Gewiss gehört Dvořáks F- Dur-Quartett zu den originellsten Erscheinungen in der Kammermusik des 19. Jahrhunderts, und in mancher Hinsicht – etwa in seiner lapidaren Kürze und in der Reduktion der spieltechnischen Anforderungen – nimmt es Tendenzen der nachromantischen Ästhetik der 1920er-Jahre vorweg, doch ebenso unbezweifelbar erreicht es dann doch nicht ganz das Niveau der bedeutendsten Kammermusikwerke des Komponisten. Auch wenn Dvořák wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit noch 67 wirkungsvoll „diatonisch“ komponieren konnte, sind seine „chromatischen“ Werke nicht weniger „er selbst“. Wird das Amerikanische Quartett als ein Beispiel für Dvořáks stilistische Vielseitigkeit, als pastorales und mehr oder weniger exotisches Werk einer entspannteren, divertimentohaften Stilhaltung rezipiert und nicht als der „eigentliche“ Dvořák, so ist freilich gegen die Popularität dieses Quartetts von Seiten dessen, dem an einem ausgewogenen Dvořák-Bild gelegen ist, durchaus nichts einzuwenden. 68 5. Anhang Abbildungsverzeichnis: Abbildung 1: Antonín Liehmann ......................................................................................... 77 Abbildung 2: Die Organistenschule in Prag ........................................................................ 77 Abbildung 3: Öffentliche Bekanntgabe der Premiere des "Hymnus" ................................. 99 Abbildung 4: Anna (sitzend) und Josefina Čermáková ....................................................... 99 Abbildung 5: Antonín Dvořák in 1870 ................................................................................ 99 Abbildung 6: Fritz Simrock ............................................................................................. 1110 Abbildung 7: Johannes Brahms ....................................................................................... 1110 Abbildung 8: Dvořák (Zweiter von links) mit Familie und Freunden vor dem Anwesen in Vysoká ............................................................................................................................. 1413 Abbildung 9: Familie Dvořák vor dem Haus Nr. 237 ..................................................... 1817 Abbildung 10: Ruzena Maturova in Rusalka .................................................................. 2927 Abbildung 11: Ruzena Maturova in Armida ................................................................... 2927 Abbildung 12: Kneisel-Quartett ...................................................................................... 3332 Quellen: Avins, Styra (Hrsg.): Johannes Brahms. Life and Letters. Oxfords University Press, 1997. Beveridge, David: Sophisticated Primitivism.: The Significance of Pentatonicism in Dvořáks American Quartet. In: Currrent Musicology 24. 1977, S. 25-36. Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1954. Burghauser, Jarmil: Antonín Dvořák: Die Streichquartette. Textbeilage zur SchallplattenGesamtaufnahme mit dem Prager Streichquartett (Deutsche Grammophon Nr. 2740177). 1977. Clapham, John: Dvořák. London, 1979. Clapham, John: Dvořák and the American Indian. In: Musical Times 107 (1966). Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991. Griffiths, Paul: The String Quartet. London, 1983. Honolka, Kurt: Dvořák. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1974. 69 Kull, Hans: Dvořáks Kammermusik. Bern, 1948. Kuna, Milan [Hrsg.]: Antonín Dvořák: Korrespondenz und Dokumente. Kritische Ausgabe in 8 Bänden. Band III. Prag, 1989. Kurth, Ulrich: Aus der Neuen Welt. 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Notenbeispiel 5: Döge, Klaus: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente. Mainz, 1991, S. 270. Notenbeispiel 6: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 265. Notenbeispiel 7: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 269. 70 Notenbeispiel 8: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 270. Notenbeispiel 9: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 271. Notenbeispiel 10: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 271. Notenbeispiel 11: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 274. Notenbeispiel 12: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 275. Notenbeispiel 13: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 276. Notenbeispiel 14: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 109 f. Notenbeispiel 15: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 276. Notenbeispiel 16: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 278. Notenbeispiel 17: Schick, Hartmut: Studien zu Dvořáks Streichquartetten. Laaber, 1990, S. 280. Notenbeispiel 18: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 109. Notenbeispiel 19: Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 164. Notenbeispiel 20: Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 164. Notenbeispiel 21: Wiese, Walter: Tschechische Kammermusik: Smetana, Dvoérâak, Janâaécek. Winterthur, 2004, S. 164. 71 Notenbeispiel 22: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 110. Notenbeispiel 23: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 110. Notenbeispiel 24: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 111. Notenbeispiel 25: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 111. Notenbeispiel 26: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 112. Notenbeispiel 27: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 112. Notenbeispiel 28: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 113. Notenbeispiel 29: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 113. Notenbeispiel 30: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 113 f. Notenbeispiel 31: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 114. Notenbeispiel 32: Šourek, Otakar: Antonín Dvořák. Werkanalysen II: Kammermusik (deutsch von P. Eisner). Prag, 1955, S. 115. 72 Erklärung Hiermit bestätige ich, dass mir der Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG bekannt ist und ich diese Richtlinien eingehalten habe. Graz, den ………………………………………. ……………………………………………………. Unterschrift der Verfasserin / des Verfassers 73