204 22 1 Sexualstörungen 2 S. Fliegel 3 4 5 6 7 8 9 10 22.1 Hinführung zum Thema, 11 Problembeschreibung 12 13 14 Die klassischen Bezeichnungen „sexueller Funkti15 onsstörungen“, wie Impotenz, Frigidität, vorzeiti16 ge Ejakulation, Orgasmusstörung, Dyspareunie 17 usw. sind für die verhaltenstherapeutisch-orien18 tierte Psychotherapie sexueller Probleme weitge19 hend unbrauchbar. Diese Diagnosen sagen nichts 20 aus über Ursachen, aufrechterhaltende Bedingun21 gen und therapeutische Ansatzmöglichkeiten. Sie 22 vermitteln den Anschein, dass sich befriedigende 23 Sexualität durch Herstellung der Funktionen (wie24 der-) erlangen lässt. Sexuelle Störungen als Bezie25 hungsstörungen, als Partnerschaftsprobleme blei26 ben unberücksichtigt. Die „Funktionsstörungen“ 27 suggerieren einseitig, dass es einen gestörten Part28 ner gibt, nämlich den mit der gestörten Funktion. 29 Des Weiteren stellt eine Funktion bzw. eine sexu30 elle Funktionsstörung nur einen kleinen Teil der 31 Erlebnissphäre von Sexualität dar. Eine „intakte“ 32 sexuelle Funktion sagt wenig oder nichts über die 33 Intensität und Tiefe des Erlebens, über Lust und 34 Befriedigung aus. 35 36 ICD-10-Klassifikation. In der ICD-10 wird nach 37 sexuellen Funktionsstörungen, die nicht durch 38 eine organische Störung oder Erkrankung verur39 sacht sind (F52.0 bis F52.8), nach Störungen der 40 Geschlechtsidentität (F64.0, F64.2 bis F64.9) und 41 nach Störungen der Sexualpräferenz (F65.0 bis 42 F65.9) unterschieden. 43 Zu den sexuellen Funktionsstörungen (F52.0– 44 F52.8) gehören z.B. 45 ein Mangel an oder der Verlust von sexuellem 46 Verlangen, 47 sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Be48 friedigung, 49 Versagen genitaler Reaktionen, 50 Orgasmusstörungen, 51 Ejaculatio praecox, 52 nichtorganischer Vaginismus, Schmerzen bei der Sexualität (nichtorganische Dyspareunie), gesteigertes sexuelles Verlangen, sonstige nichtorganische Funktionsstörungen. Menschen haben die Disposition, körperlich und psychisch eine befriedigende Sexualität zu erleben. Individuelle Lernprozesse sind notwendig, um die natürliche Disposition auszuformen und zu gestalten. Der Weg zu einer befriedigenden sexuellen Entwicklung ist allerdings mit zahlreichen gesellschaftlichen und individuellen Stolpersteinen gepflastert. Und wo Lernmöglichkeiten fehlen, wo Ängste gefördert werden, wird auch eine leidenschaftliche, lustvolle und befriedigende Sexualität behindert. Zur besseren interdisziplinären Verständigung, aber auch auf dem Weg der Behandlung sexueller Störungen im Gesundheitssystem sind Kenntnisse über die Klassifikation und Definition sexueller Störungen notwendig. Konzept von Masters und Johnson. 1970 erschien die berühmt gewordene Arbeit von William Masters und Virginia Johnson. Sie war bahnbrechend und wegweisend für verhaltenstherapeutische und verhaltensmedizinische Ansätze und Settings bei der Behandlung sexueller Störungen, insbesondere bei der Arbeit mit Paaren. Noch heute ist das Konzept von Masters und Johnson (deutsch: Impotenz und Anorgasmie, 1973) Grundlage der Paartherapie bei Problemen bei der Sexualität. Es hatte aber auch viele richtungweisende Auswirkungen auf die Einzelbehandlung. Kategorien zur Beschreibung sexueller Störungen. Hilfreich bei der Beschreibung sexueller Störungen sind von Arentewicz und Schmidt (1993) vorgeschlagene Kategorien. Danach lassen sich sexuelle Störungen inhaltlich klassifizieren anhand des Zeitpunktes und der Situation der sexuellen Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 22.2 Verhaltens- und Problemanalyse Interaktionen: So wird unterschieden nach Stö1 rungen 2 während der sexuellen Annäherung (z.B. Lust3 losigkeit), 4 während der Stimulierung (Erregungsrück5 gang, vorzeitige Ejakulation), 6 beim Zusammenführen der Genitalien (Schei7 denkrampf, Schmerzen, vorzeitiger Samener8 guss, Erregungsrückgang), 9 während des Orgasmus (lustloser Orgasmus, 10 Schmerzen beim Orgasmus, verzögerter Orgas11 mus, ausbleibender Orgasmus), 12 in der nachkoitalen Situation (depressive Ver13 stimmung, Schlaflosigkeit, Schmerzen usw.). 14 15 Eine weitere formale Differenzierung der Pro16 blembeschreibung ergibt sich durch die Diagnos17 tik, ob die sexuelle Störung von Anfang an bestand 18 oder im Verlauf des Sexuallebens eintrat (primär 19 oder sekundär), ob sie situationsabhängig oder 20 partnerabhängig ist, seit wann sie andauert, ob sie 21 bereits chronifiziert ist usw. 22 23 24 22.2 Verhaltens- und 25 Problemanalyse 26 27 Generell lässt sich der verhaltenstherapeutische 28 Prozess bei der Beratung und bei der Behandlung 29 sexueller Störungen anhand folgender klassischer 30 Ebenen bei der Problemlösung gliedern (Schulte 31 1996): 32 Methodik zur Gewinnung von Informationen 33 und Problembeschreibung, 34 Verarbeitung der Informationen: Verhaltens35 und Problemanalyse, 36 Klärung der Veränderungsziele, 37 konkrete Planung therapeutischer und beraten38 der Interventionen, 39 Durchführung der Interventionen. 40 41 In der Verhaltens- bzw. Problemanalyse werden 42 die Bedingungen erarbeitet und zunächst hypo43 thetisch festgelegt, die für das aktuelle Bestehen, 44 d.h. die Aufrechterhaltung der sexuellen Proble45 matik, verantwortlich sind. Es kann im Regelfall 46 davon ausgegangen werden, dass das Zusammen47 wirken mehrerer Faktoren beratungs- oder be48 handlungsbedürftige sexuelle Störungen entste49 hen lässt und schließlich zur Aufrechterhaltung 50 der Störung beiträgt. Die Ursachen und aufrechter51 haltenden Bedingungen sexueller Störungen las52 205 sen sich wie folgt zusammenfassen (Arentewicz u. Schmidt 1993; Fliegel 2004 a, 2004 b). Vorab: Praktisch jede Krankheit und Befindlichkeitsstörung, die eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens oder Schmerzen verursacht, kann sich negativ auf das sexuelle Erleben auswirken. Von besonderer Bedeutung sind allerdings Erkrankungen, die die sexuellen Funktionen oder das Lusterleben massiv und dauerhaft beeinträchtigen, insbesondere chronische Erkrankungen, Missbildungen der Genitalien, neurologische Erkrankungen, Hormonstörungen, Durchblutungsstörungen, Nebenwirkungen von Medikamenten und andere psychische Erkrankungen (Arentewicz u. Schmidt 1993; Sigusch 2001). Diese bedürfen bei entsprechenden Hinweisen einer differenzialdiagnostischen Abklärung. Erwartungsängste. Erwartungsängste vor einem wiederholten Versagen, vor Schmerzen, vor frustrierenden Erlebnissen und Erfahrungen sowie deren Konsequenzen schaukeln sich in einem Teufelskreis im Sinne eines sich selbst verstärkenden Mechanismus auf. Einmal oder mehrmals erlebte negative Erfahrungen und Konsequenzen fördern die Erwartungsängste, Wiederholungen dieser Erfahrungen verstärken sie. Eine funktionale Verhaltensanalyse kann helfen, das Zusammenspiel von klassischer und operanter Konditionierung aufzudecken. Informations- und Erfahrungsdefizite. Diese verstärken falsche Vorstellungen über physiologische Abläufe, über zufriedenstellendes und lustvolles sexuelles Erleben oder verschiedene Sexualpraktiken. Wissensdefizite über Infektionsmöglichkeiten, über anatomische Bedingungen, über männliche und weibliche Sexualität u.a.m. können sexuelle Störungen verstärken. Eine kognitive Analyse hilft diese Defizite herauszufinden. Problemorientierte Normen, Werte und Mythen. Diese entstehen durch in der Erziehung gelernte Verbote und Tabus, durch falsche Vorstellungen über „normale Sexualität“, über Größen, Häufigkeiten und Reaktionsexzesse, durch Erwartungen wie Mann oder wie Frau zu funktionieren hat, oder was vom Partner oder der Partnerin zu erwarten ist. Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 206 22 Sexualstörungen Vielfältiges wird in der sexuellen Lerngeschichte in 1 die Köpfe der Menschen „eingepflanzt“, prägt und 2 behindert befriedigende oder fördert gestörte Se3 xualität. Die Gesellschaft bietet darüber hinaus in 4 ihren Medien vielfältige Vergleiche an, deren Er5 wartungen trotz Anstrengungen nicht entsprochen 6 werden kann. Wie es „die Nachbarn treiben“, Penis7 se, die die ganze Nacht nicht schlapp machen, Feu8 ersbrünste, die die Körper ausdörren, Höhepunkte, 9 die sich bis zur Extase jagen und dann noch multi10 pel sind, prägen ein Phantasiemodell vom Sex, dass 11 gerade bei Menschen mit gestörter Sexualität zu ei12 genen Ziel- und Wertvorstellungen gemacht wird. 13 Zilbergeld, einer der bekanntesten amerikanischen 14 Sexualwissenschaftler (1994) sieht hierdurch sexu15 elle Störungen vorprogrammiert. 16 17 Persönliche Ängste und Konflikte. In der sexuel18 len Störung können sich persönliche Ängste und 19 Konflikte ausdrücken. Die sexuelle Problematik 20 kann das psychische Gleichgewicht des betroffe21 nen Mannes oder der betroffenen Frau stabilisie22 ren. Tief sitzende Ängste vor dem eigenen Versa23 gen, vor dem eigenen Gewissen, vor dem anderen 24 Geschlecht, Schuldgefühle, frühkindlicher sexuel25 ler Missbrauch, Vergewaltigung und andere Quel26 len aversiver Erfahrungen, religiöse Motive oder 27 eine verdrängte Auseinandersetzung mit gleichge28 schlechtlichen Bedürfnissen lassen Menschen se29 xuelle Erregung, Orgasmuserleben und sexuelle In30 teraktionen als Gefahr und Bedrohung erleben. Die 31 sexuelle Störung wird als „geringeres Problem“ be32 wusst oder unbewusst hingenommen. Eine Analy33 se der Motive der sexuellen Störung hilft, diese Zu34 sammenhänge zu verdeutlichen. 35 36 Partnerkonflikte. Partnerkonflikte äußern sich 37 häufig in der sexuellen Störung und manifestieren 38 sie. Die sexuelle Störung nimmt eine stabilisieren39 de Funktion innerhalb der Partnerschaft ein und 40 überdeckt partnerschaftliche Konflikte hinter der 41 Fassade der sexuellen Problematik. Eine systemi42 sche Analyse kann helfen, diese oft notwendige Be43 deutung der sexuellen Störung für eine partner44 schaftliche Homöostase zu erkennen. 45 46 Analyse aus der systemischen Perspektive. Es gibt 47 noch eine etwas andere Betrachtungsweise des Auf48 tretens und der Analyse sexueller Störungen, die 49 eher aus der systemischen Perspektive hervorgeht. 50 Sexuelle Probleme des Mannes oder der Frau kön51 52 nen als Reaktion des Körpers auf die inneren und äußeren Lebens- und Situationsbedingungen „analysiert“ werden. Diagnostisch wäre es notwendig, mit dem Patienten oder der Patientin die Sprache des Körpers zu übersetzen (Warum sieht er sich veranlasst, so zu reagieren?), um zu einer veränderten Sichtweise, einer neuen Beschreibung, einer neuen Ursachendefinition der sexuellen Problematik zu kommen. Hier gilt es, die Beziehung zwischen Körper, Geist und Psyche oder die Bedeutung des durch den Körper verweigerten sexuellen Lustempfindens zu analysieren. Welche Botschaft vermittelt der Körper durch seine Weigerung? Keen (1985) schreibt sinngemäß: Könnte ein Mann auf alle Stimmen aus seinem Inneren hören und die Vielfalt seiner Gefühle anerkennen, dann müsste sein Penis nicht die Rolle des Sprachlosen spielen. Welche Botschaft drückt der Körper der Frau durch seine Weigerung aus, „wenn die Säfte nicht fließen oder keine Leidenschaft aufkommt“? Keen schlussfolgert, dass es keinen impotenten Mann und keine frigide Frau gibt, dass diese durch situative innere oder äußere Bedingungen nicht in der Lage sind, sexuelle Erregung zu spüren, leidenschaftliche Gefühle zu erleben oder einen Orgasmus zu haben (Fliegel 2004 b). Lösungsorientiertes therapeutisches Vorgehen. Neben der eher häufigeren problemanalytisch orientierten verhaltenstherapeutischen Arbeit bietet sich zunehmend ein lösungsorientiertes therapeutisches Vorgehen an. Dem Patienten und der Patientin werden nach der Problembeschreibung und einer Kurz-Problemanalyse sowie nach der therapeutischen Zielfestlegung evaluierte therapeutische Interventionen zur Problemveränderung vorgeschlagen. Auf dem Weg zur Problemlösung ist dann eine besondere Sensibilität für Störungen, Unlust-Reaktionen, Ängste, Widerstände und Rückschläge notwendig. Solche Erfahrungen des Patienten werden im Rahmen des diagnostisch-therapeutischen Vorgehens interpretiert, was zu einer Erweiterung der Problemanalyse durch Erkennen weiterer aufrechterhaltender Bedingungen führt. In diesen Spannungen liegt die Chance, weitere aufrechterhaltende Bedingungen der sexuellen Problematik zu erfahren und in der Zielanalyse sowie der Therapieplanung Modifikationen vorzunehmen, den therapeutischen Verlauf zu erweitern oder zu korrigieren. Solche Schleifen von den Interventionen zur Problemanalyse, zur Zielanalyse und zur Therapieplanung können im therapeu- Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 22.2 Verhaltens- und Problemanalyse tischen Verlauf mehrfach auftreten und haben 1 eine besondere Relevanz für psycho- oder paardy2 namische Bedingungen der sexuellen Störung. 3 4 Fallbeispiel 5 6 Fallbeispiel, Teil 1 7 Der 35-jährige Patient klagte über eine seit 2 Jahren be8 stehende und ohne die Einnahme von Viagra durch9 gängig auftretende Erektionsstörung. Wollen er und 10 seine Partnerin zusammen schlafen, meist gehe auf 11 Grund seines Frusts über die „Impotenz“ die Initiative 12 fast immer von seiner Partnerin aus, werde sein Glied 13 auch nicht ansatzweise steif. Bereits zu Beginn sexuel14 ler Handlungen (Küssen, Streicheln) mache er sich Sor15 gen und beobachte sich und seinen Penis genau, wie 16 und ob er reagiere. Häufig fühle er sich dann zu müde, 17 um Sex zu machen, aber eigentlich „verderbe ihm sein 18 Penis die Lust“. Sich selbst befriedigen würde er nur 19 sehr selten, und auch dann erlebe er keine richtige 20 Erektion, so wie er sie von früher kenne. 21 Der Patient geht fest davon aus, dass es sich um eine 22 organische Störung handele. Zwar habe er in den letz23 ten 2 Jahren alle erdenklichen organmedizinischen Un24 tersuchungen durchführen lassen (er brachte zum 25 Erstgespräch einen Ordner mit Befunden mit), man 26 habe nichts gefunden, aber Zweifel blieben noch, ob 27 wirklich alles richtig abgeklärt worden sei. Die letzten 28 Ärzte haben ihm gesagt, das sei wohl ein Problem in 29 seinem Kopf, und so wolle er auch die seelische Seite, 30 wenngleich mit Skepsis nicht unberücksichtigt lassen. 31 Seine Partnerin habe mit seinen Erektionsstörungen 32 nicht so große Probleme, da, wenn sie Koitus wünscht, 33 es ja Viagra gebe, ansonsten mag sie es auch sehr ger34 ne, wenn sie sich küssen, massieren und ohne steifen 35 Penis sexuell erregen. Sie bedauere, dass er immer nur 36 auf GV aus sei, sie würde sich von ihm auch gerne an 37 ihrer Scheide streicheln und küssen lassen. 38 Bis vor 2 Jahren sei alles ok gewesen. Er habe häufig Sex 39 gehabt, wenn er eine Partnerin hatte, so 3- bis 4-Mal in 40 der Woche, immer mit richtiger Erektion und Orgas41 mus. Dann kam die Problemnacht. Mit seiner heutigen 42 Partnerin sei er, damit sie sich näher kennen lernen 43 können, auf einen Wochenend-Tripp gefahren. Sie 44 hätten ein gemeinsames Hotelzimmer gehabt, es sich 45 am ersten Abend richtig gemütlich gemacht, so mit 46 Kerzen und Rotwein. Sie hätten viel geschmust und 47 tollen Sex ohne Koitus gehabt. Damit wollten sie noch 48 ein bisschen warten. Kein Erektionsproblem. Am 49 50 51 52 207 nächsten Morgen wachte er dadurch auf, dass seine Freundin ihn an seinem Penis streichelte. Er war sofort hellwach und stellte mit Betroffenheit fest, dass er keine Erektion bekam. Von diesem Morgen an klappte es nicht mehr, und da dieses Problem so plötzlich kam, musste es in seinen Augen ein körperliches Problem sein. Mit dem Patienten wurden zunächst 2 Sitzungen mit Sexualanamnese und Exploration durchgeführt. Zusätzlich füllte er 2 Fragebögen aus: Tübinger Skala für Sexualtherapie und den Fragebogen zur sexuellen Zufriedenheit. Dann folgte ein Paargespräch, um die Kommunikation und den gemeinsamen Umgang des Paares mit dem sexuellen Problem kennen zu lernen. In einem Einzelgespräch mit der Partnerin wurden ihre persönlichen sexuellen Erfahrungen und Wünsche erfragt. Es folgten Paargespräche zur Herausarbeitung der Problemanalyse, von Zielvorstellungen in der gemeinsamen Sexualität und die Besprechung des Therapieplans. Das sexuelle Problem, nach ICD 10 ein sexuelles Problem des Mannes, wurde definiert als Annäherungsproblem. Somit konnte es im Kontext der Partnerschaft gesehen werden, denn – so wurde es dem Paar vermittelt – treten die Schwierigkeiten auf, wenn sie beide zusammen sein und miteinander schlafen wollten. Und beim ersten Auftreten waren sie auch beide zusammen. Gemeinsam hätten sie auch eine gute Chance, die sexuellen Schwierigkeiten zu bewältigen. In der Problemanalyse wurden herausgearbeitet, dass das sexuelle Problem von folgenden Bedingungen aktuell aufrechterhalten wird: Ein Selbstverstärkungsmechanismus stärkt das Wechselspiel zwischen frustrierenden Versuchen, das „Versagen“ führt zu vermehrter Selbstbeobachtung, was wiederum die emotional sehr empfindliche Erektion ausbleiben lässt. Auf der kognitiven Ebene verunmöglicht sich der Patient selbst die Erektion dadurch, dass er eine organische Verursachung annimmt, der er hilflos ausgeliefert ist. Außerdem bedingen Leistungsansprüche (er ist auch Leistungssportler) die Annahme, er müsse immer mit einer voll ausgeprägten Erektion reagieren. Ausnahmen seien nicht zulässig, und auch ein älter werdender Körper dürfe da keine Beeinträchtigung bringen. Auf der motivationalen und auf der Beziehungsebene wurden keine aufrechterhaltenden Bedingungen ausfindig gemacht, die dem Problem einen Sinn geben würden. Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 208 22.3 1 22 Sexualstörungen Diagnostik chen Beschreibung ihres Auftretens sowie von ihren aufrechterhaltenden Bedingungen. Gerade bei sexuellen Problemen macht es jedoch Sinn, die Entstehungsgeschichte als Entlastung und Verringerung von Schuldgefühlen zu verstehen. 2 Zu den diagnostischen Verfahren in der Sexualthe3 rapie gehören im Regelfall die Exploration, Selbst4 beobachtung, Tagebuchführung, Übungen im The5 rapieraum und der Einsatz von Fragebögen (Fliegel 6 Explorationsleitfäden. Bei der Durchführung der 2004a, c). 7 Exploration können Explorationsleitfäden helfen, 8 das Explorationsgespräch vorzubereiten und zu Sexualanamnese. Im Regelfall ist es nicht notwen9 strukturieren (Tab. 22.1; vgl. auch Arentewicz u. dig eine ausführliche Sexualanamnese über die ge10 Schmidt 1993; Hoyndorf et al. 1995). Ökonomigenwärtige Sexualität und die Sexualgeschichte zu 11 scher und verhaltenstherapeutischer ist allerdings erheben. Wichtig ist ein Verständnis von den aktu12 das von Hypothesen geleitete Fragen. ellen sexuellen Problemen in Form einer ausführli13 14 Tabelle 22.1 Leitfaden zur Sexualanamnese/Exploration 15 gegenwärtige Sexualität und sexuelle Störung 16 Art der Störung 17 Kurzbeschreibung z.B. der letzten beispielhaften Situation: Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche 18 Reaktion im Zusammenhang mit der Störung; Abhängigkeit von Partner, sexuelle Praktik, Situation; Einzelfunktion 19 (z.B. Erektion, Ejakulation, Lubrikation, Lust, Schmerz/Verkrampfung, Orgasmus); Zusammenhang mit Selbstbe20 friedigung; Eigenbewertung der Störung, vermutete Bewertung der Störung durch Partner/Partnerin, Dauer, Verlauf, Schwankungen und so weiter. 21 22 gegenwärtiges Sexualverhalten 231. Koitus mit dem Partner (Häufigkeit, Techniken, Konflikte, Initiative, Phantasien) 242. Körperkontakt und Zärtlichkeit (Bedürfnis, Häufigkeit, Rahmen, Initiative) 253. Kommunikation im sexuellen Bereich (Bedürfnisse äußern, Neinsagen können, stimulierendes Vokabular) 264. Idealvorstellungen, Präferenzen 5. Abneigungen (Praktiken, Gerüche, Sauberkeit, Sekrete), Vermeidungsverhalten 276. Kinderwunsch 287. Antikonzeption 298. Masturbation (Häufigkeit, Techniken, Konflikte, Phantasien) 309. homosexuelle Kontakte bzw. Wünsche 10. deviante Verhaltensweisen und Phantasien 31 32 soziosexuelle Entwicklung 33 Elternhaus 34 11. Beruf des Vaters, der Mutter, sozioökonomische Situation 35 12. Anzahl der Geschwister, Stellung in der Geschwisterreihe 13. Ehe der Eltern, Partner- und Sexualverhalten der Eltern 36 14. Verhältnis zum Vater und zur Mutter, früher und jetzt 37 15. Kommunikationsmöglichkeiten über sexuelle und persönliche Probleme in der Familie 38 16. religiöse Bindung 39 17. schulische und berufliche Entwicklung 40 sexuelle Lerngeschichte 41 18. Kindheit 42 19. Pubertät und Adoleszenz 43 20. Partnerverhalten bis zur gegenwärtigen Beziehung 44 gegenwärtige Beziehung 45 Allgemeines 46 21. Familienstand, Ehewunsch, Zusammenleben 47 22. Dauer der Beziehung 48 23. Kinder, Kinderwunsch, Abtreibungen 49 24. ökonomische Situation, Beruf, Berufstätigkeit 50 25. körperliche Krankheiten, psychische Auffälligkeiten der Partner (einschließlich Alkohol und Drogen) 51 52 Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 22.3 Diagnostik Tabelle 22.1 Leitfaden zur Sexualanamnese/Exploration (Forts.) 209 1 Entwicklung der Beziehung 226. Kennenlernen 327. Entwicklung der sexuellen Beziehung (Probleme, Ängste, Initiative, Antikonzeption) 428. erstes Auftreten und Entwicklung der sexuellen Störung 529. Selbstverstärkungsmechanismen (Vermeidung, Versagensangst) 630. Masturbation (Auftreten in der Partnerschaft, Verarbeitung in der Partnerschaft) 731. sexuelle Außenbeziehungen (sexuelle Funktion, Heimlichkeit, Häufigkeit und Dauer, Art der Außenbeziehung, Verarbeitung und Bedeutung in der festen Beziehung) 8 gegenwärtige Beziehungsstruktur 9 32. Rollenverteilung, Dominanzstrukturen 10 33. positive und negative Partnerkritik im sexuellen und nicht-sexuellen Bereich 11 34. Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation (Wohn- und Arbeitssituation, Umgang miteinander, Rollenver12 teilung, Außenkontakte, gemeinsame Interessen) 13 35. Kommunikation der Partner (Formen der Auseinandersetzung, Streits, Aussprechen von Wünschen und 14 Bedürfnissen, Äußern von Zuneigung) 36. Kinder (Erziehung, Beziehung zu den Kindern) 15 37. Bedeutung der sexuellen Störung für die Beziehung 16 38. Partner- und Sexualideologie (Liebe, Treue, Eifersucht, Autonomie der Partner) 17 Therapiemotivation 18 39. Initiative zur Therapie (einer, beide Partner) 19 40. aktueller Beweggrund für die Therapie 20 41. Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen im Zusammenhang mit der Therapie (hinsichtlich Sexualität und 21 Beziehung) 22 42. bisherige Therapieversuche 23 24 25 In der Fort- und Weiterbildung im Bereich „SeFähigkeiten des Therapeuten/Arztes. Bereits Mas26 xualberatung und -therapie“ nimmt das Thema ters und Johnson (1973) formulierten Grundbe27 „Sexualität und Sprache“ einen besonders großen dingungen, die für die Exploration von verhaltens28 Stellenwert ein. therapeutischer Seite erfüllt werden müssen: 29 Vertrautheit mit dem Thema „Sexualität“, die Fä30 Fragebögen. Diese stellen als Selbstbericht der Pahigkeit sachlich, aber auch auf ungewöhnliche Pa31 tientinnen und Patienten gute Ergänzungen zu den tientenäußerungen in Bezug auf sexuelle Prakti32 Explorationsgesprächen dar. Zahlreiche Informaken reagieren zu können, Sachkenntnisse, eine von 33 tionen über das Sexualverhalten, Qualität und Vorurteilen freie Atmosphäre, ausreichend Zeit für 34 Quantität der partnerschaftlichen Sexualität und Gespräche, ein angstfreies, offenes und unbefan35 Kommunikation lassen sich bereits auf diesem genes Sprechenkönnen über Sexualität. 36 Wege erheben, aber erst dann, wenn das erste per37 sönliche Gespräch mit dem Patienten oder der PatiAngemessene Ausdrucksweise finden. Sexualität 38 entin geführt wurde (Zimmer 1994; Fliegel 2004 a, hat eine Sprache, aber sie macht auch sprachlos. 39 c). Auch gestandenen Psychotherapeutinnen und Psy40 chotherapeuten fällt es oft schwer, über Sexualität 41 Tagebuchaufzeichnungen. Die ersten Tagebuchzu sprechen. Gerade bei sexuellen Problemen ist 42 aufzeichnungen können Ergebnisse von Selbstbeodie Modellfunktion der Fachperson in Bezug auf die 43 bachtungen in Bezug auf sexuelle Situationen in „sexuelle“ Sprache von besonderer Bedeutung. Be44 der Partnerschaft, in Bezug auf Selbstbefriedigung hutsam können Therapeutinnen und Therapeuten 45 und das sexuelle Erleben sein. Frühzeitig können das Gespräch über Sexualität mit einer für die 46 Patienten und Patientinnen eine für das verhaltensmeisten Menschen vertrauten Umgangssprache 47 therapeutische Setting brauchbare Selbstbeobach(Glied, Penis, Scheide, Vagina, Koitus, Geschlechts48 tung lernen, in der sie sexuelle Situationen, Gedanverkehr) führen und Patientinnen und Patienten 49 ken, Sexualverhalten, körperliche Empfindungen, Mut machen, ihre Sexualität ebenfalls zu benen50 Emotionen, Phantasien und partnerschaftliche Renen. 51 52 Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 210 22 Sexualstörungen aktionen beobachten. Dazu werden ihnen auch 1 Übungen aufgegeben, die sie zu Hause durchführen 2 sollen. 3 4 Imaginationen und Phantasien. Auch die diag5 nostische Arbeit mit Imaginationen und Phantasi6 en bietet relevante Informationen zur Erstellung 7 von Problemanalyse, Zielanalyse und Therapie8 plan. Der Patient kann eine vorher vereinbarte 9 sexuelle Situation in seiner Phantasie herstellen, 10 erleben und gegenwartsbezogen über seine Ge11 danken, körperlichen Reaktionen, über die Situa12 tion und über das Verhalten von sich selbst bzw. 13 des Partners oder der Partnerin vor/ mit dem The14 rapeuten sprechen. Der Vorteil der imaginativen 15 Arbeit liegt vor allen darin, dass Patientin und Pa16 tient Kognitionen, Emotionen und körperliche 17 Empfindungen direkt erleben und beschreiben 18 können. 19 20 Übungen im Therapieraum. Auch partnerschaft21 liche Übungen im Therapieraum haben einen dia22 gnostischen Stellenwert. Übungen zum Berühren 23 der Hände, Vertrauensübungen, Körperkontaktü24 bungen, Nähe-Distanz-Übungen usw. können je 25 nach Art der sexuellen oder partnerschaftlichen 26 Problematik, Gedanken oder Gefühle auslösen und 27 sie so direkt erfahrbar machen. Selbstverständlich 28 kommen dabei nur unverfängliche und nicht-se29 xuelle Übungen in Betracht. 30 31 Organmedizinische Untersuchungen. Diese sind 32 im Kontext körperlicher Beschwerden, Schmerzen 33 oder Missempfindungen notwendig. Vor allem 34 dann, wenn die sexuelle Reaktion oder das sexuel35 le Erleben bei keiner sexuellen Erfahrung (auch 36 nicht bei der Selbstbefriedigung) auftreten. 37 38 39 22.4 Interventionen 40 41 Verhaltenstherapeutische Interventionen bei se42 xuellen Störungen leiten sich aus den aufrechter43 haltenden Bedingungen aus der Problemanalyse, 44 den Vorstellungen und Möglichkeiten aus der Ziel45 analyse sowie aus der Therapieplanung ab. Sexual46 therapeutische Behandlung und Beratung kann im 47 einzeltherapeutischen Setting, in der Paartherapie 48 oder (eher selten) in der Gruppen-Psychotherapie 49 stattfinden. 50 51 52 22.4.1 Einzeltherapeutisches Vorgehen Therapieziele. Das einzeltherapeutische Vorgehen bei der Behandlung sexueller Probleme hat häufig folgende therapeutische Ansatzpunkte und Zielsetzungen: Bewältigung negativer Emotionen, wie z.B. Angst, aversive Gefühle, Befürchtungen, Schuldgefühle. Förderung sexueller Lust. Erweiterung des Verhaltensrepertoires durch z.B. Äußern von Wünschen und Bedürfnissen, Erlernen von Zärtlichkeitsverhalten, körperliche und sexuelle Selbsterfahrung. Stärkung der persönlichen Ressourcen. Wissenserweiterung, Veränderung von Kognitionen und Einstellungen, wie z.B. Behebung von Informationslücken über sexuelle Abläufe beim Mann und bei der Frau, Wissen um sexuelle Reaktionen, Erfahrung der männlichen und weiblichen Sexualität, Entzauberung und Veränderung von Mythen, Arbeit an Normen, Veränderung der Aufmerksamkeitslenkung in der sexuellen Situation. Entwicklung positiven Erlebens, z.B. durch körperliche Selbstakzeptanz, Körperwahrnehmung, Zulassen von Lust und Luststeigerung, genussvolle Erfahrungen durch das Zulassen und Erleben sexueller Phantasien mit Entspannung. Förderung und Stärkung der sozialen Kompetenz, z.B. des Sozialverhaltens in der Partnerschaft und in der partnerschaftlichen Sexualität, Förderung konstruktiver und offener Kommunikation, Förderung der Fähigkeit Wünsche zu äußern und auch Nein sagen zu können. Techniken. Zahlreiche verhaltenstherapeutische Verfahren und Methoden können in der Einzeltherapie beim Erreichen der beschriebenen Zielsetzung hilfreich sein. Dazu gehören u. a. Verfahren zum Angstabbau, wie graduierte konfrontative Verfahren in der Vorstellung. Körperorientierte Verfahren zur körperlichen Selbsterfahrung, z.B. Spiegelübungen, Ertasten und Erkunden des Körpers, Wahrnehmen und Erleben des eigenen Körpers und der Körperreaktionen, einzelner Körperteile, vor allem auch der eigenen Genitalien. Kognitive Verfahren zur Bearbeitung von Informationsdefiziten und Mythen, Veränderung von Leistungsangst und Versagensängsten, Ver- Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 22.4 Interventionen änderung der Aufmerksamkeitslenkung, Ver1 änderung negativer automatischer Gedanken, 2 Erlauben, Entlasten und Entdramatisieren. 3 Phantasiearbeit zur Veränderung aversiver Ge4 fühle und zur Förderung positiven Erlebens. Sie 5 hilft, sexuelle Wünsche in konkreten Erlebnis6 sen unter Prüfung der emotionalen Befindlich7 keit in der Vorstellung zu erproben und zu mo8 difizieren. 9 Soziale Kompetenztherapie zur Stärkung von 10 Lernprozessen zum Aufbau und zur Gestaltung 11 sozialer Beziehungen, zum Ansprechen von 12 Konflikten, zur Stärkung der sozialen Sicherheit 13 in sexuellen Interaktionen, zum Nein sagen und 14 zum Ziehen von Grenzen. 15 Genusstraining zum Aufbau und zur Förderung 16 genussvoller Aktivitäten und genussvollen Ver17 haltens sowie der Fähigkeit genießen zu kön18 nen. 19 Emotionales Training zur Stärkung von Lust, 20 Freude, Erregung und anderer positiver emoti21 onaler Reaktionen in sexuellen Situationen, 22 Verknüpfung der Emotionen mit sexuellen Sti23 muli. 24 Themenbezogene Medien, z.B. Bücher, Bro25 schüren, Filme. 26 27 Nach neuen Forschungserkenntnissen (Grawe 28 2004) gelingen Lernprozesse besonders erfolg29 reich unter emotional angenehmen Bedingungen. 30 Dabei sind alle Verfahren hilfreich, die im Kontext 31 von Sexualität und sexuellem Erleben positive Ge32 fühlslagen fördern bzw. von Wohlgefühlen beglei33 tet sind. Weiterführende Literatur zu den Verfah34 ren: Zilbergeld 1994; Barbach 1977; Hoyndorf et 35 al. 1995; Gromus 2002; Kockott u. Fahrner 2000; 36 Ecker 2000, 2005). 37 38 39 22.4.2 Paartherapie 40 41 Bereits Masters und Johnson arbeiteten sexualthe42 rapeutisch in Paarbehandlungen. Ihre klassische 43 Konzeption wurde vielfach modifiziert und in 44 Deutschland an der Abteilung für Sexualforschung 45 der Universität Hamburg als verhaltenstherapeu46 tisch orientierte Paartherapie, die mit systemi47 schen und psychodynamischen Therapiebaustei48 nen verknüpft ist, evaluiert (Arentewicz u. 49 Schmidt 1993; Hauch 2004; Hoyndorf et al. 1995). 50 Schwerpunkt dieses paartherapeutischen Vorge51 hens liegt in dem Konzept des Sensate Focus. Die 52 211 Paare führen stufenweise aufgebaute Partnerübungen zu Hause durch, die in den Therapiesitzungen besprochen, vor- und nachbereitet werden. Dabei lernen die Paare, schrittweise Ängste in der sexuellen Interaktion abzubauen und neue positive sexuelle und partnerschaftliche Erfahrungen zu machen. Dieses erlebnisorientierte Vorgehen hilft, das Verhaltensrepertoire zu erweitern sowie Probleme fördernde Kognitionen zu erkennen und zu korrigieren. Körperliche Erkundungen, sinnliche Erfahrungen im Wechselspiel zwischen Erregung und Entspannung können schließlich Körperkontakt und partnerschaftliches sexuelles Erleben ohne Angst ermöglichen. Die meist einseitige Ausrichtung auf Koitus und Orgasmus kann aufgegeben und die Wahrnehmung und das Zulassen eigener Gefühle und Körperreaktionen als neue positive Erfahrungen erlebt werden. Spezielle Übungen und Verfahren. Je nach Art der sexuellen Probleme und Ausprägung beim Mann und bei der Frau gibt es eine Reihe zusätzlicher und spezieller Übungen und Verfahren, die auf die Bewältigung der jeweiligen Problematik bzw. Funktionsstörungen ausgerichtet sind. Dabei kann es sich z.B. um eine spezielle Massage der Scheidenmuskulatur beim Vaginismus der Frau handeln oder um die Benutzung so genannter Vagina-Stifte bei der gleichen Problematik. Vorgeschlagen werden können Masturbationsübungen bei Orgasmusproblemen, ein Schwellentraining zur Überwindung der vorzeitigen Ejakulation (Stop-Start- bzw. Drucktechnik) sowie Übungen zur Körperwahrnehmung bei verzögerndem oder ausbleibendem Orgasmus (Barbach 1996; Zilbergeld 1994; Ecker 2000, 2005; Kockott u. Fahrner 2000; Gromus 2002). Fallbeispiel Fallbeispiel, Teil 2 In zwei Einzelsitzungen wurden mit dem Patienten die kognitiven Bedingungen herausgearbeitet. Dazu wurden Übungen eingesetzt wie „Mein Penis schreibt mir einen Brief“ und zur Schemaaktivierung „Innere Botschaften zu sich als zufriedenem Sexualpartner“. So lernte der Patient durch Beratung, Übungen und eigenem Hinterfragen, biographisch gewachsene und verinnerlichte Haltungen und Einstellungen zu erkennen und zu bearbeiten. Wichtigste Erkenntnisse für ihn: Sexuelle Erregung lässt sich nicht erzwingen, der Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 212 22 Sexualstörungen Körper reagiert sensibel auf inneren Druck und äußere 1 Situationen, sexuelle Erregung darf auch ohne Erektio2 nen normal sein, zunehmendes Alter wirkt sich auch 3 auf den körperlichen (nicht auf den psychischen) As4 pekt von Sexualität aus im Sinne von: nicht immer und 5 nicht immer volle Potenz. 6 Mit dieser Wissenserweiterung und den neu gewonne7 nen Kognitionen und Einstellungen begann ein paar8 therapeutisches Vorgehen. Dabei konnte der Patient 9 diese Einstellungen prüfen und verinnerlichen. In dem 10 abgestuften erfahrungsorientierten und übenden Vor11 gehen lernten die Partner schrittweise Ängste in der se12 xuellen Interaktion abzubauen und neue sexuelle Er13 fahrungen zu machen. Durch einen therapeutischen 14 Kontrakt konnten sich die Partner immer auf den aktu15 ellen Schritt konzentrieren, die nächsten Schritte wa16 ren jeweils untersagt. 17 Die Übungen begannen mit wechselseitigen körperli18 chen Erkundungen und wurden fortgeführt mit Strei19 cheln, zunächst ohne dann mit Einbezug der Genitali20 en, Streicheln, übergehen zu erregenden Erfahrungen 21 und schließlich mit neuen Koituserfahrungen. Einmal 22 „durchbrachen“ beide auf Grund starker Erregung und 23 Gier aufeinander den Kontrakt, schliefen miteinander 24 und machten eine „wunderbare“ Erfahrung. Der Pa25 tient hatte eine starke Erektion und konnte den Zu26 sammenhang zu seinen neu gewonnenen Einstellun27 gen und zufriedenen Erfahrungen machen. Durch 28 dieses therapeutische Vorgehen konnten die Partner 29 einseitige Fokussierungen auf Erektion, Erregung und 30 Koitus aufgeben, fanden Freude an vielfältigeren sexu31 ellen Praktiken, die beiden sexuelle Befriedigung er32 möglichten. 33 Die zu Hause durchgeführten Übungen wurden in den 34 Therapiesitzungen ausgewertet, Probleme bearbeitet 35 (z.B. Widerstände, Unmut, immer wieder störende 36 Selbstbeobachtung, zu großes Drängen, „Übertretun37 gen“) und neue Übungen vorbereitet. 38 Die gesamte Kompakt-Therapie mit stabilem Erfolg 39 über postevaluierte 10 Monate dauerte 18 Sitzungen, 40 in vierwöchigem Abstand wurden dann noch 3 Kon41 takte vereinbart, ein letzter Termin nach 10 Monaten. 42 43 44 22.5 Was noch wichtig ist 45 46 Therapeutische Beziehung. Der Gestaltung der 47 therapeutischen Beziehung sollte in der Behand48 lung sexueller Störungen ein hoher Stellenwert 49 zugemessen werden. Sie erfüllt unterschiedliche 50 Zwecke in der Anfangsphase, der Veränderungs51 phase und der Abschlussphase der Behandlung. 52 In der Anfangsphase dienen Therapeutinnen und Therapeuten als Modell, sprechen angstfrei über Sexualität, nehmen den Patienten mit seinen Problemen zugewandt an, erlauben und entlasten, sind offen für jegliche Art sexueller Probleme. In der Veränderungsphase sollte die Fähigkeit überwiegen, Patientinnen oder Paare kompetent zu Übungen anzuleiten sowie Probleme und Störungen sensibel aufzugreifen. In der Abschlussphase steht die rechtzeitige Vorbereitung der Ablösung und Überleitung zur Selbsthilfe im Vordergrund. Wenn ein Patient oder eine Patientin nicht in einer Partnerschaft lebt, stehen für sexuelle Aktivitäten weder – wie früher vor allem in USA – so genannte Ersatzpartner (Surrogatpartner) zur Verfügung noch aus ethischen Gründen der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin. Gerade bei dem Thema „Sexualität“ kann es zu einer Erotisierung der therapeutischen Situation kommen, für die daraus resultierende Konsequenzen allein der Therapeut die Verantwortung trägt. Gefühle von starker Sympathie, Verliebtheit bis hin zu sexuellen Wünschen an den Therapeuten sowie Therapeutin können natürlich seitens der Patientin oder des Patienten auftreten. Therapeutisch selbsterfahrene Fachleute sind auf solche Herausforderungen an die therapeutische Beziehung eingestellt, können ihre eventuellen eigenen Verflechtungen erkennen und sich dann für den besten Weg entscheiden. Ohne eigene Verstrickung ist es sicherlich für die Patientin und den Patienten hilfreich, wenn Therapeut und Therapeutin diese Übertragungsgefühle in die therapeutische Arbeit einbeziehen und ein förderliches Maß zwischen genügend emotionaler Wärme und notwendiger Grenzziehung finden können. In der Therapie kann auch weiterführend an Kompetenzen zum Aufbau und zur Gestaltung von Beziehungen, am Abbau auf die Fixierung der Partnersuche und am Ertragen von Alleinsein und Einsamkeit gearbeitet werden (Hoyndorf et al. 1995). Spezifische Fort- und Weiterbildungen. Diese ermöglichen es, auf die Herausforderung bei der Behandlung sexueller Probleme angstfrei und kompetent reagieren zu können. Sensibilität und fachliche Kompetenz sind notwendig, um Männer, Frauen und Paare bei der Bewältigung ihrer sexuellen Störungen unterstützen zu können. Neben der Fähig- Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 22.5 Was noch wichtig ist keit, sexuelle Problematiken zu erkennen und in ih1 ren Zusammenhängen zu analysieren sowie neben 2 der Kompetenz zur Anwendung spezifischer se3 xualtherapeutischer und paartherapeutischer Ver4 fahren helfen Selbsterfahrung und Selbstreflexion 5 in der Fort- und Weiterbildung Fachleuten, eigene 6 Ängste und Erfahrungen zu reflektieren und deren 7 Einfluss auf die therapeutischen Interventionen so8 wie auf die helfende Beziehung zu erkennen. The9 rapeutische Selbsterfahrung und fortlaufende Su10 pervision helfen auch beim Erkennen, wie sich 11 bestimmte Einstellungen, Vorlieben und Abnei12 gungen, heimliche und offene Wünsche auf Seiten 13 des Therapeuten und der Therapeutin auf die Be14 handlung sexueller Störungen auswirken (Strauß 15 2004). 16 17 18 Literatur 19 20 Arentewicz, G., Schmidt, G. (1993): Sexuell gestörte Be21 ziehungen. Konzept und Technik der Paartherapie. 22 3.bearb. Aufl. Thieme, Stuttgart Barbach, L. (1996): For yourself. Die Erfüllung weibli23 cher Sexualität. Ullstein-Taschenbuch Nr. 20182. 24 Ecker, D. (2000): Aphrodites Töchter. Wie Frauen zu er25 füllter Sexualität finden. Kösel, München Ecker, D. (2005): Sexualität und Partnerschaft im Le26 27 benszyklus. Kösel, München. Fliegel, S. (2004a): Diagnostik in der Verhaltensthera28 pie. In: Senf, W. und Broda, M. (Hrsg.): Praxis der 29 Psychotherapie. Thieme, Stuttgart. 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 213 Fliegel, S. (2004b): Verhaltenstherapie bei sexuellen Störungen. In: Strauß, B. (Hrsg.): Psychotherapie der Sexualstörungen. Thieme, Stuttgart. Fliegel, S. (2004c): Sexualität - Sexuelle Störungen Sexualtherapie. Vom Aufhören, Penis und Scheide zwingen zu wollen. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 2. Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen. Gromus, B. (2002): Sexualstörungen der Frau. Hogrefe, Göttingen. Hauch, M. (2004): Paartherapie bei sexuellen Funktionsstörungen und sogenannter sexueller Lustlosigkeit. In: Strauß, B. (Hrsg.) Psychotherapie der Sexualstörungen. Thieme, Stuttgart. Hoyndorf, S., Reinhold, M., Christmann, F. (1995): Behandlung sexueller Störungen. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim. Keen, S. (1985): Die Lust an der Liebe. Beltz, Weinheim und Basel. Kockott, G. und Fahrner, E. (2000): Sexualstörungen des Mannes. Hogrefe, Göttingen. Masters, W., Johnson, V. (1973): Impotenz und Anorgasmie. Govert-Krüger-Stahlwerk, Stuttgart. Schulte, D. (1996): Therapieplanung. Hogrefe, Göttingen. Sigusch, V. (Hrsg.) (2001): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Thieme, Stuttgart. Strauß, B. (2004): Psychotherapie der Sexualstörungen – Versorgungs- und Weiterbildungsbedarf. In: Strauß, B. (Hrsg.) Psychotherapie der Sexualstörungen. Thieme, Stuttgart. Zilbergeld, B. (1996): Die neue Sexualität der Männer. DGVT, Tübingen. Zimmer, D. (1994): Fragebogen zur Sexualität und Partnerschaft. DGVT, Tübingen. Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 5. Teil Bewältigung besonderer Belastungen 23 Die posttraumatische Belastungsstörung in der ärztlichen Praxis 24 Chirurgie, Intensiv- und Transplantationsmedizin 25 Tumoren und andere lebensbedrohliche Erkrankungen 26 Psychotherapie bei älteren Menschen Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG