Sexualstörungen - MediClin Bliestal Kliniken

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204
22
1
Sexualstörungen
2
S. Fliegel
3
4
5
6
7
8
9
10
22.1
Hinführung zum Thema,
11
Problembeschreibung
12
13
14
Die klassischen Bezeichnungen „sexueller Funkti15
onsstörungen“, wie Impotenz, Frigidität, vorzeiti16
ge Ejakulation, Orgasmusstörung, Dyspareunie
17
usw. sind für die verhaltenstherapeutisch-orien18
tierte Psychotherapie sexueller Probleme weitge19
hend unbrauchbar. Diese Diagnosen sagen nichts
20
aus über Ursachen, aufrechterhaltende Bedingun21
gen und therapeutische Ansatzmöglichkeiten. Sie
22
vermitteln den Anschein, dass sich befriedigende
23
Sexualität durch Herstellung der Funktionen (wie24
der-) erlangen lässt. Sexuelle Störungen als Bezie25
hungsstörungen, als Partnerschaftsprobleme blei26
ben unberücksichtigt. Die „Funktionsstörungen“
27
suggerieren einseitig, dass es einen gestörten Part28
ner gibt, nämlich den mit der gestörten Funktion.
29
Des Weiteren stellt eine Funktion bzw. eine sexu30
elle Funktionsstörung nur einen kleinen Teil der
31
Erlebnissphäre von Sexualität dar. Eine „intakte“
32
sexuelle Funktion sagt wenig oder nichts über die
33
Intensität und Tiefe des Erlebens, über Lust und
34
Befriedigung aus.
35
36
ICD-10-Klassifikation. In der ICD-10 wird nach
37
sexuellen Funktionsstörungen, die nicht durch
38
eine organische Störung oder Erkrankung verur39
sacht sind (F52.0 bis F52.8), nach Störungen der
40
Geschlechtsidentität (F64.0, F64.2 bis F64.9) und
41
nach Störungen der Sexualpräferenz (F65.0 bis
42
F65.9) unterschieden.
43
Zu den sexuellen Funktionsstörungen (F52.0–
44
F52.8) gehören z.B.
45
ein Mangel an oder der Verlust von sexuellem
46
Verlangen,
47
sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Be48
friedigung,
49
Versagen genitaler Reaktionen,
50
Orgasmusstörungen,
51
Ejaculatio praecox,
52
nichtorganischer Vaginismus,
Schmerzen bei der Sexualität (nichtorganische
Dyspareunie),
gesteigertes sexuelles Verlangen,
sonstige nichtorganische Funktionsstörungen.
Menschen haben die Disposition, körperlich und
psychisch eine befriedigende Sexualität zu erleben. Individuelle Lernprozesse sind notwendig,
um die natürliche Disposition auszuformen und zu
gestalten. Der Weg zu einer befriedigenden sexuellen Entwicklung ist allerdings mit zahlreichen
gesellschaftlichen und individuellen Stolpersteinen gepflastert. Und wo Lernmöglichkeiten fehlen,
wo Ängste gefördert werden, wird auch eine leidenschaftliche, lustvolle und befriedigende Sexualität behindert.
Zur besseren interdisziplinären Verständigung,
aber auch auf dem Weg der Behandlung sexueller
Störungen im Gesundheitssystem sind Kenntnisse
über die Klassifikation und Definition sexueller
Störungen notwendig.
Konzept von Masters und Johnson. 1970 erschien die berühmt gewordene Arbeit von William
Masters und Virginia Johnson. Sie war bahnbrechend und wegweisend für verhaltenstherapeutische und verhaltensmedizinische Ansätze und Settings bei der Behandlung sexueller Störungen,
insbesondere bei der Arbeit mit Paaren. Noch heute
ist das Konzept von Masters und Johnson (deutsch:
Impotenz und Anorgasmie, 1973) Grundlage der
Paartherapie bei Problemen bei der Sexualität. Es
hatte aber auch viele richtungweisende Auswirkungen auf die Einzelbehandlung.
Kategorien zur Beschreibung sexueller Störungen. Hilfreich bei der Beschreibung sexueller Störungen sind von Arentewicz und Schmidt (1993)
vorgeschlagene Kategorien. Danach lassen sich sexuelle Störungen inhaltlich klassifizieren anhand
des Zeitpunktes und der Situation der sexuellen
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
22.2 Verhaltens- und Problemanalyse
Interaktionen: So wird unterschieden nach Stö1
rungen
2
während der sexuellen Annäherung (z.B. Lust3
losigkeit),
4
während der Stimulierung (Erregungsrück5
gang, vorzeitige Ejakulation),
6
beim Zusammenführen der Genitalien (Schei7
denkrampf, Schmerzen, vorzeitiger Samener8
guss, Erregungsrückgang),
9
während des Orgasmus (lustloser Orgasmus,
10
Schmerzen beim Orgasmus, verzögerter Orgas11
mus, ausbleibender Orgasmus),
12
in der nachkoitalen Situation (depressive Ver13
stimmung, Schlaflosigkeit, Schmerzen usw.).
14
15
Eine weitere formale Differenzierung der Pro16
blembeschreibung ergibt sich durch die Diagnos17
tik, ob die sexuelle Störung von Anfang an bestand
18
oder im Verlauf des Sexuallebens eintrat (primär
19
oder sekundär), ob sie situationsabhängig oder
20
partnerabhängig ist, seit wann sie andauert, ob sie
21
bereits chronifiziert ist usw.
22
23
24
22.2 Verhaltens- und
25
Problemanalyse
26
27
Generell lässt sich der verhaltenstherapeutische
28
Prozess bei der Beratung und bei der Behandlung
29
sexueller Störungen anhand folgender klassischer
30
Ebenen bei der Problemlösung gliedern (Schulte
31
1996):
32
Methodik zur Gewinnung von Informationen
33
und Problembeschreibung,
34
Verarbeitung der Informationen: Verhaltens35
und Problemanalyse,
36
Klärung der Veränderungsziele,
37
konkrete Planung therapeutischer und beraten38
der Interventionen,
39
Durchführung der Interventionen.
40
41
In der Verhaltens- bzw. Problemanalyse werden
42
die Bedingungen erarbeitet und zunächst hypo43
thetisch festgelegt, die für das aktuelle Bestehen,
44
d.h. die Aufrechterhaltung der sexuellen Proble45
matik, verantwortlich sind. Es kann im Regelfall
46
davon ausgegangen werden, dass das Zusammen47
wirken mehrerer Faktoren beratungs- oder be48
handlungsbedürftige sexuelle Störungen entste49
hen lässt und schließlich zur Aufrechterhaltung
50
der Störung beiträgt. Die Ursachen und aufrechter51
haltenden Bedingungen sexueller Störungen las52
205
sen sich wie folgt zusammenfassen (Arentewicz u.
Schmidt 1993; Fliegel 2004 a, 2004 b).
Vorab: Praktisch jede Krankheit und Befindlichkeitsstörung, die eine Beeinträchtigung des
Wohlbefindens oder Schmerzen verursacht, kann
sich negativ auf das sexuelle Erleben auswirken.
Von besonderer Bedeutung sind allerdings Erkrankungen, die die sexuellen Funktionen oder das
Lusterleben massiv und dauerhaft beeinträchtigen, insbesondere
chronische Erkrankungen,
Missbildungen der Genitalien,
neurologische Erkrankungen,
Hormonstörungen,
Durchblutungsstörungen,
Nebenwirkungen von Medikamenten und
andere psychische Erkrankungen (Arentewicz
u. Schmidt 1993; Sigusch 2001).
Diese bedürfen bei entsprechenden Hinweisen einer differenzialdiagnostischen Abklärung.
Erwartungsängste. Erwartungsängste vor einem
wiederholten Versagen, vor Schmerzen, vor frustrierenden Erlebnissen und Erfahrungen sowie deren Konsequenzen schaukeln sich in einem Teufelskreis im Sinne eines sich selbst verstärkenden
Mechanismus auf. Einmal oder mehrmals erlebte
negative Erfahrungen und Konsequenzen fördern
die Erwartungsängste, Wiederholungen dieser Erfahrungen verstärken sie. Eine funktionale Verhaltensanalyse kann helfen, das Zusammenspiel von
klassischer und operanter Konditionierung aufzudecken.
Informations- und Erfahrungsdefizite. Diese verstärken falsche Vorstellungen über physiologische
Abläufe, über zufriedenstellendes und lustvolles
sexuelles Erleben oder verschiedene Sexualpraktiken. Wissensdefizite über Infektionsmöglichkeiten, über anatomische Bedingungen, über männliche und weibliche Sexualität u.a.m. können
sexuelle Störungen verstärken. Eine kognitive Analyse hilft diese Defizite herauszufinden.
Problemorientierte Normen, Werte und Mythen.
Diese entstehen durch in der Erziehung gelernte
Verbote und Tabus, durch falsche Vorstellungen
über „normale Sexualität“, über Größen, Häufigkeiten und Reaktionsexzesse, durch Erwartungen wie
Mann oder wie Frau zu funktionieren hat, oder was
vom Partner oder der Partnerin zu erwarten ist.
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
206
22 Sexualstörungen
Vielfältiges wird in der sexuellen Lerngeschichte in
1
die Köpfe der Menschen „eingepflanzt“, prägt und
2
behindert befriedigende oder fördert gestörte Se3
xualität. Die Gesellschaft bietet darüber hinaus in
4
ihren Medien vielfältige Vergleiche an, deren Er5
wartungen trotz Anstrengungen nicht entsprochen
6
werden kann. Wie es „die Nachbarn treiben“, Penis7
se, die die ganze Nacht nicht schlapp machen, Feu8
ersbrünste, die die Körper ausdörren, Höhepunkte,
9
die sich bis zur Extase jagen und dann noch multi10
pel sind, prägen ein Phantasiemodell vom Sex, dass
11
gerade bei Menschen mit gestörter Sexualität zu ei12
genen Ziel- und Wertvorstellungen gemacht wird.
13
Zilbergeld, einer der bekanntesten amerikanischen
14
Sexualwissenschaftler (1994) sieht hierdurch sexu15
elle Störungen vorprogrammiert.
16
17
Persönliche Ängste und Konflikte. In der sexuel18
len Störung können sich persönliche Ängste und
19
Konflikte ausdrücken. Die sexuelle Problematik
20
kann das psychische Gleichgewicht des betroffe21
nen Mannes oder der betroffenen Frau stabilisie22
ren. Tief sitzende Ängste vor dem eigenen Versa23
gen, vor dem eigenen Gewissen, vor dem anderen
24
Geschlecht, Schuldgefühle, frühkindlicher sexuel25
ler Missbrauch, Vergewaltigung und andere Quel26
len aversiver Erfahrungen, religiöse Motive oder
27
eine verdrängte Auseinandersetzung mit gleichge28
schlechtlichen Bedürfnissen lassen Menschen se29
xuelle Erregung, Orgasmuserleben und sexuelle In30
teraktionen als Gefahr und Bedrohung erleben. Die
31
sexuelle Störung wird als „geringeres Problem“ be32
wusst oder unbewusst hingenommen. Eine Analy33
se der Motive der sexuellen Störung hilft, diese Zu34
sammenhänge zu verdeutlichen.
35
36
Partnerkonflikte. Partnerkonflikte äußern sich
37
häufig in der sexuellen Störung und manifestieren
38
sie. Die sexuelle Störung nimmt eine stabilisieren39
de Funktion innerhalb der Partnerschaft ein und
40
überdeckt partnerschaftliche Konflikte hinter der
41
Fassade der sexuellen Problematik. Eine systemi42
sche Analyse kann helfen, diese oft notwendige Be43
deutung der sexuellen Störung für eine partner44
schaftliche Homöostase zu erkennen.
45
46
Analyse aus der systemischen Perspektive. Es gibt
47
noch eine etwas andere Betrachtungsweise des Auf48
tretens und der Analyse sexueller Störungen, die
49
eher aus der systemischen Perspektive hervorgeht.
50
Sexuelle Probleme des Mannes oder der Frau kön51
52
nen als Reaktion des Körpers auf die inneren und
äußeren Lebens- und Situationsbedingungen
„analysiert“ werden. Diagnostisch wäre es notwendig, mit dem Patienten oder der Patientin die Sprache des Körpers zu übersetzen (Warum sieht er sich
veranlasst, so zu reagieren?), um zu einer veränderten Sichtweise, einer neuen Beschreibung, einer
neuen Ursachendefinition der sexuellen Problematik zu kommen. Hier gilt es, die Beziehung zwischen
Körper, Geist und Psyche oder die Bedeutung des
durch den Körper verweigerten sexuellen Lustempfindens zu analysieren. Welche Botschaft vermittelt
der Körper durch seine Weigerung? Keen (1985)
schreibt sinngemäß: Könnte ein Mann auf alle Stimmen aus seinem Inneren hören und die Vielfalt seiner Gefühle anerkennen, dann müsste sein Penis
nicht die Rolle des Sprachlosen spielen. Welche Botschaft drückt der Körper der Frau durch seine Weigerung aus, „wenn die Säfte nicht fließen oder keine
Leidenschaft aufkommt“? Keen schlussfolgert, dass
es keinen impotenten Mann und keine frigide Frau
gibt, dass diese durch situative innere oder äußere
Bedingungen nicht in der Lage sind, sexuelle Erregung zu spüren, leidenschaftliche Gefühle zu erleben oder einen Orgasmus zu haben (Fliegel 2004 b).
Lösungsorientiertes therapeutisches Vorgehen.
Neben der eher häufigeren problemanalytisch orientierten verhaltenstherapeutischen Arbeit bietet
sich zunehmend ein lösungsorientiertes therapeutisches Vorgehen an. Dem Patienten und der Patientin
werden nach der Problembeschreibung und einer
Kurz-Problemanalyse sowie nach der therapeutischen Zielfestlegung evaluierte therapeutische Interventionen zur Problemveränderung vorgeschlagen. Auf dem Weg zur Problemlösung ist dann eine
besondere Sensibilität für Störungen, Unlust-Reaktionen, Ängste, Widerstände und Rückschläge notwendig. Solche Erfahrungen des Patienten werden
im Rahmen des diagnostisch-therapeutischen Vorgehens interpretiert, was zu einer Erweiterung der
Problemanalyse durch Erkennen weiterer aufrechterhaltender Bedingungen führt.
In diesen Spannungen liegt die Chance, weitere
aufrechterhaltende Bedingungen der sexuellen
Problematik zu erfahren und in der Zielanalyse sowie der Therapieplanung Modifikationen vorzunehmen, den therapeutischen Verlauf zu erweitern oder zu korrigieren. Solche Schleifen von den
Interventionen zur Problemanalyse, zur Zielanalyse und zur Therapieplanung können im therapeu-
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
22.2 Verhaltens- und Problemanalyse
tischen Verlauf mehrfach auftreten und haben
1
eine besondere Relevanz für psycho- oder paardy2
namische Bedingungen der sexuellen Störung.
3
4
Fallbeispiel
5
6
Fallbeispiel, Teil 1
7
Der 35-jährige Patient klagte über eine seit 2 Jahren be8
stehende und ohne die Einnahme von Viagra durch9
gängig auftretende Erektionsstörung. Wollen er und
10
seine Partnerin zusammen schlafen, meist gehe auf
11
Grund seines Frusts über die „Impotenz“ die Initiative
12
fast immer von seiner Partnerin aus, werde sein Glied
13
auch nicht ansatzweise steif. Bereits zu Beginn sexuel14
ler Handlungen (Küssen, Streicheln) mache er sich Sor15
gen und beobachte sich und seinen Penis genau, wie
16
und ob er reagiere. Häufig fühle er sich dann zu müde,
17
um Sex zu machen, aber eigentlich „verderbe ihm sein
18
Penis die Lust“. Sich selbst befriedigen würde er nur
19
sehr selten, und auch dann erlebe er keine richtige
20
Erektion, so wie er sie von früher kenne.
21
Der Patient geht fest davon aus, dass es sich um eine
22
organische Störung handele. Zwar habe er in den letz23
ten 2 Jahren alle erdenklichen organmedizinischen Un24
tersuchungen durchführen lassen (er brachte zum
25
Erstgespräch einen Ordner mit Befunden mit), man
26
habe nichts gefunden, aber Zweifel blieben noch, ob
27
wirklich alles richtig abgeklärt worden sei. Die letzten
28
Ärzte haben ihm gesagt, das sei wohl ein Problem in
29
seinem Kopf, und so wolle er auch die seelische Seite,
30
wenngleich mit Skepsis nicht unberücksichtigt lassen.
31
Seine Partnerin habe mit seinen Erektionsstörungen
32
nicht so große Probleme, da, wenn sie Koitus wünscht,
33
es ja Viagra gebe, ansonsten mag sie es auch sehr ger34
ne, wenn sie sich küssen, massieren und ohne steifen
35
Penis sexuell erregen. Sie bedauere, dass er immer nur
36
auf GV aus sei, sie würde sich von ihm auch gerne an
37
ihrer Scheide streicheln und küssen lassen.
38
Bis vor 2 Jahren sei alles ok gewesen. Er habe häufig Sex
39
gehabt, wenn er eine Partnerin hatte, so 3- bis 4-Mal in
40
der Woche, immer mit richtiger Erektion und Orgas41
mus. Dann kam die Problemnacht. Mit seiner heutigen
42
Partnerin sei er, damit sie sich näher kennen lernen
43
können, auf einen Wochenend-Tripp gefahren. Sie
44
hätten ein gemeinsames Hotelzimmer gehabt, es sich
45
am ersten Abend richtig gemütlich gemacht, so mit
46
Kerzen und Rotwein. Sie hätten viel geschmust und
47
tollen Sex ohne Koitus gehabt. Damit wollten sie noch
48
ein bisschen warten. Kein Erektionsproblem. Am
49
50
51
52
207
nächsten Morgen wachte er dadurch auf, dass seine
Freundin ihn an seinem Penis streichelte. Er war sofort
hellwach und stellte mit Betroffenheit fest, dass er keine Erektion bekam. Von diesem Morgen an klappte es
nicht mehr, und da dieses Problem so plötzlich kam,
musste es in seinen Augen ein körperliches Problem
sein.
Mit dem Patienten wurden zunächst 2 Sitzungen mit
Sexualanamnese und Exploration durchgeführt. Zusätzlich füllte er 2 Fragebögen aus: Tübinger Skala für
Sexualtherapie und den Fragebogen zur sexuellen Zufriedenheit. Dann folgte ein Paargespräch, um die
Kommunikation und den gemeinsamen Umgang des
Paares mit dem sexuellen Problem kennen zu lernen.
In einem Einzelgespräch mit der Partnerin wurden ihre
persönlichen sexuellen Erfahrungen und Wünsche erfragt. Es folgten Paargespräche zur Herausarbeitung
der Problemanalyse, von Zielvorstellungen in der gemeinsamen Sexualität und die Besprechung des Therapieplans.
Das sexuelle Problem, nach ICD 10 ein sexuelles Problem des Mannes, wurde definiert als Annäherungsproblem. Somit konnte es im Kontext der Partnerschaft
gesehen werden, denn – so wurde es dem Paar vermittelt – treten die Schwierigkeiten auf, wenn sie beide zusammen sein und miteinander schlafen wollten. Und
beim ersten Auftreten waren sie auch beide zusammen. Gemeinsam hätten sie auch eine gute Chance,
die sexuellen Schwierigkeiten zu bewältigen.
In der Problemanalyse wurden herausgearbeitet,
dass das sexuelle Problem von folgenden Bedingungen
aktuell aufrechterhalten wird: Ein Selbstverstärkungsmechanismus stärkt das Wechselspiel zwischen frustrierenden Versuchen, das „Versagen“ führt zu vermehrter Selbstbeobachtung, was wiederum die
emotional sehr empfindliche Erektion ausbleiben lässt.
Auf der kognitiven Ebene verunmöglicht sich der Patient selbst die Erektion dadurch, dass er eine organische Verursachung annimmt, der er hilflos ausgeliefert
ist. Außerdem bedingen Leistungsansprüche (er ist
auch Leistungssportler) die Annahme, er müsse immer
mit einer voll ausgeprägten Erektion reagieren. Ausnahmen seien nicht zulässig, und auch ein älter werdender Körper dürfe da keine Beeinträchtigung bringen.
Auf der motivationalen und auf der Beziehungsebene
wurden keine aufrechterhaltenden Bedingungen ausfindig gemacht, die dem Problem einen Sinn geben
würden.
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
208
22.3
1
22 Sexualstörungen
Diagnostik
chen Beschreibung ihres Auftretens sowie von ihren
aufrechterhaltenden Bedingungen. Gerade bei sexuellen Problemen macht es jedoch Sinn, die Entstehungsgeschichte als Entlastung und Verringerung
von Schuldgefühlen zu verstehen.
2
Zu den diagnostischen Verfahren in der Sexualthe3
rapie gehören im Regelfall die Exploration, Selbst4
beobachtung, Tagebuchführung, Übungen im The5
rapieraum und der Einsatz von Fragebögen (Fliegel
6
Explorationsleitfäden. Bei der Durchführung der
2004a, c).
7
Exploration können Explorationsleitfäden helfen,
8
das Explorationsgespräch vorzubereiten und zu
Sexualanamnese. Im Regelfall ist es nicht notwen9
strukturieren (Tab. 22.1; vgl. auch Arentewicz u.
dig eine ausführliche Sexualanamnese über die ge10
Schmidt 1993; Hoyndorf et al. 1995). Ökonomigenwärtige Sexualität und die Sexualgeschichte zu
11
scher und verhaltenstherapeutischer ist allerdings
erheben. Wichtig ist ein Verständnis von den aktu12
das von Hypothesen geleitete Fragen.
ellen sexuellen Problemen in Form einer ausführli13
14
Tabelle 22.1 Leitfaden zur Sexualanamnese/Exploration
15
gegenwärtige Sexualität und sexuelle Störung
16
Art der Störung
17
Kurzbeschreibung z.B. der letzten beispielhaften Situation: Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche
18
Reaktion im Zusammenhang mit der Störung; Abhängigkeit von Partner, sexuelle Praktik, Situation; Einzelfunktion
19
(z.B. Erektion, Ejakulation, Lubrikation, Lust, Schmerz/Verkrampfung, Orgasmus); Zusammenhang mit Selbstbe20
friedigung; Eigenbewertung der Störung, vermutete Bewertung der Störung durch Partner/Partnerin, Dauer, Verlauf, Schwankungen und so weiter.
21
22
gegenwärtiges Sexualverhalten
231. Koitus mit dem Partner (Häufigkeit, Techniken, Konflikte, Initiative, Phantasien)
242. Körperkontakt und Zärtlichkeit (Bedürfnis, Häufigkeit, Rahmen, Initiative)
253. Kommunikation im sexuellen Bereich (Bedürfnisse äußern, Neinsagen können, stimulierendes Vokabular)
264. Idealvorstellungen, Präferenzen
5. Abneigungen (Praktiken, Gerüche, Sauberkeit, Sekrete), Vermeidungsverhalten
276. Kinderwunsch
287. Antikonzeption
298. Masturbation (Häufigkeit, Techniken, Konflikte, Phantasien)
309. homosexuelle Kontakte bzw. Wünsche
10. deviante Verhaltensweisen und Phantasien
31
32
soziosexuelle Entwicklung
33
Elternhaus
34
11. Beruf des Vaters, der Mutter, sozioökonomische Situation
35
12. Anzahl der Geschwister, Stellung in der Geschwisterreihe
13. Ehe der Eltern, Partner- und Sexualverhalten der Eltern
36
14. Verhältnis zum Vater und zur Mutter, früher und jetzt
37
15. Kommunikationsmöglichkeiten über sexuelle und persönliche Probleme in der Familie
38
16. religiöse Bindung
39
17. schulische und berufliche Entwicklung
40
sexuelle Lerngeschichte
41
18. Kindheit
42
19. Pubertät und Adoleszenz
43
20. Partnerverhalten bis zur gegenwärtigen Beziehung
44
gegenwärtige Beziehung
45
Allgemeines
46
21. Familienstand, Ehewunsch, Zusammenleben
47
22. Dauer der Beziehung
48
23. Kinder, Kinderwunsch, Abtreibungen
49
24. ökonomische Situation, Beruf, Berufstätigkeit
50
25. körperliche Krankheiten, psychische Auffälligkeiten der Partner (einschließlich Alkohol und Drogen)
51
52
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22.3 Diagnostik
Tabelle 22.1 Leitfaden zur Sexualanamnese/Exploration (Forts.)
209
1
Entwicklung der Beziehung
226. Kennenlernen
327. Entwicklung der sexuellen Beziehung (Probleme, Ängste, Initiative, Antikonzeption)
428. erstes Auftreten und Entwicklung der sexuellen Störung
529. Selbstverstärkungsmechanismen (Vermeidung, Versagensangst)
630. Masturbation (Auftreten in der Partnerschaft, Verarbeitung in der Partnerschaft)
731. sexuelle Außenbeziehungen (sexuelle Funktion, Heimlichkeit, Häufigkeit und Dauer, Art der Außenbeziehung,
Verarbeitung und Bedeutung in der festen Beziehung)
8
gegenwärtige
Beziehungsstruktur
9
32. Rollenverteilung, Dominanzstrukturen
10
33. positive und negative Partnerkritik im sexuellen und nicht-sexuellen Bereich
11
34. Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation (Wohn- und Arbeitssituation, Umgang miteinander, Rollenver12 teilung, Außenkontakte, gemeinsame Interessen)
13
35. Kommunikation der Partner (Formen der Auseinandersetzung, Streits, Aussprechen von Wünschen und
14 Bedürfnissen, Äußern von Zuneigung)
36. Kinder (Erziehung, Beziehung zu den Kindern)
15
37. Bedeutung der sexuellen Störung für die Beziehung
16
38. Partner- und Sexualideologie (Liebe, Treue, Eifersucht, Autonomie der Partner)
17
Therapiemotivation
18
39. Initiative zur Therapie (einer, beide Partner)
19
40. aktueller Beweggrund für die Therapie
20
41. Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen im Zusammenhang mit der Therapie (hinsichtlich Sexualität und
21 Beziehung)
22
42. bisherige Therapieversuche
23
24
25
In der Fort- und Weiterbildung im Bereich „SeFähigkeiten des Therapeuten/Arztes. Bereits Mas26
xualberatung und -therapie“ nimmt das Thema
ters und Johnson (1973) formulierten Grundbe27
„Sexualität und Sprache“ einen besonders großen
dingungen, die für die Exploration von verhaltens28
Stellenwert ein.
therapeutischer Seite erfüllt werden müssen:
29
Vertrautheit mit dem Thema „Sexualität“, die Fä30
Fragebögen. Diese stellen als Selbstbericht der Pahigkeit sachlich, aber auch auf ungewöhnliche Pa31
tientinnen und Patienten gute Ergänzungen zu den
tientenäußerungen in Bezug auf sexuelle Prakti32
Explorationsgesprächen dar. Zahlreiche Informaken reagieren zu können, Sachkenntnisse, eine von
33
tionen über das Sexualverhalten, Qualität und
Vorurteilen freie Atmosphäre, ausreichend Zeit für
34
Quantität der partnerschaftlichen Sexualität und
Gespräche, ein angstfreies, offenes und unbefan35
Kommunikation lassen sich bereits auf diesem
genes Sprechenkönnen über Sexualität.
36
Wege erheben, aber erst dann, wenn das erste per37
sönliche Gespräch mit dem Patienten oder der PatiAngemessene Ausdrucksweise finden. Sexualität
38
entin geführt wurde (Zimmer 1994; Fliegel 2004 a,
hat eine Sprache, aber sie macht auch sprachlos.
39
c).
Auch gestandenen Psychotherapeutinnen und Psy40
chotherapeuten fällt es oft schwer, über Sexualität
41
Tagebuchaufzeichnungen. Die ersten Tagebuchzu sprechen. Gerade bei sexuellen Problemen ist
42
aufzeichnungen können Ergebnisse von Selbstbeodie Modellfunktion der Fachperson in Bezug auf die
43
bachtungen in Bezug auf sexuelle Situationen in
„sexuelle“ Sprache von besonderer Bedeutung. Be44
der Partnerschaft, in Bezug auf Selbstbefriedigung
hutsam können Therapeutinnen und Therapeuten
45
und das sexuelle Erleben sein. Frühzeitig können
das Gespräch über Sexualität mit einer für die
46
Patienten und Patientinnen eine für das verhaltensmeisten Menschen vertrauten Umgangssprache
47
therapeutische Setting brauchbare Selbstbeobach(Glied, Penis, Scheide, Vagina, Koitus, Geschlechts48
tung lernen, in der sie sexuelle Situationen, Gedanverkehr) führen und Patientinnen und Patienten
49
ken, Sexualverhalten, körperliche Empfindungen,
Mut machen, ihre Sexualität ebenfalls zu benen50
Emotionen, Phantasien und partnerschaftliche Renen.
51
52
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
210
22 Sexualstörungen
aktionen beobachten. Dazu werden ihnen auch
1
Übungen aufgegeben, die sie zu Hause durchführen
2
sollen.
3
4
Imaginationen und Phantasien. Auch die diag5
nostische Arbeit mit Imaginationen und Phantasi6
en bietet relevante Informationen zur Erstellung
7
von Problemanalyse, Zielanalyse und Therapie8
plan. Der Patient kann eine vorher vereinbarte
9
sexuelle Situation in seiner Phantasie herstellen,
10
erleben und gegenwartsbezogen über seine Ge11
danken, körperlichen Reaktionen, über die Situa12
tion und über das Verhalten von sich selbst bzw.
13
des Partners oder der Partnerin vor/ mit dem The14
rapeuten sprechen. Der Vorteil der imaginativen
15
Arbeit liegt vor allen darin, dass Patientin und Pa16
tient Kognitionen, Emotionen und körperliche
17
Empfindungen direkt erleben und beschreiben
18
können.
19
20
Übungen im Therapieraum. Auch partnerschaft21
liche Übungen im Therapieraum haben einen dia22
gnostischen Stellenwert. Übungen zum Berühren
23
der Hände, Vertrauensübungen, Körperkontaktü24
bungen, Nähe-Distanz-Übungen usw. können je
25
nach Art der sexuellen oder partnerschaftlichen
26
Problematik, Gedanken oder Gefühle auslösen und
27
sie so direkt erfahrbar machen. Selbstverständlich
28
kommen dabei nur unverfängliche und nicht-se29
xuelle Übungen in Betracht.
30
31
Organmedizinische Untersuchungen. Diese sind
32
im Kontext körperlicher Beschwerden, Schmerzen
33
oder Missempfindungen notwendig. Vor allem
34
dann, wenn die sexuelle Reaktion oder das sexuel35
le Erleben bei keiner sexuellen Erfahrung (auch
36
nicht bei der Selbstbefriedigung) auftreten.
37
38
39
22.4
Interventionen
40
41
Verhaltenstherapeutische Interventionen bei se42
xuellen Störungen leiten sich aus den aufrechter43
haltenden Bedingungen aus der Problemanalyse,
44
den Vorstellungen und Möglichkeiten aus der Ziel45
analyse sowie aus der Therapieplanung ab. Sexual46
therapeutische Behandlung und Beratung kann im
47
einzeltherapeutischen Setting, in der Paartherapie
48
oder (eher selten) in der Gruppen-Psychotherapie
49
stattfinden.
50
51
52
22.4.1 Einzeltherapeutisches
Vorgehen
Therapieziele. Das einzeltherapeutische Vorgehen bei der Behandlung sexueller Probleme hat
häufig folgende therapeutische Ansatzpunkte und
Zielsetzungen:
Bewältigung negativer Emotionen, wie z.B.
Angst, aversive Gefühle, Befürchtungen, Schuldgefühle.
Förderung sexueller Lust.
Erweiterung des Verhaltensrepertoires durch
z.B. Äußern von Wünschen und Bedürfnissen,
Erlernen von Zärtlichkeitsverhalten, körperliche und sexuelle Selbsterfahrung.
Stärkung der persönlichen Ressourcen.
Wissenserweiterung, Veränderung von Kognitionen und Einstellungen, wie z.B. Behebung
von Informationslücken über sexuelle Abläufe
beim Mann und bei der Frau, Wissen um sexuelle Reaktionen, Erfahrung der männlichen und
weiblichen Sexualität, Entzauberung und Veränderung von Mythen, Arbeit an Normen, Veränderung der Aufmerksamkeitslenkung in der
sexuellen Situation.
Entwicklung positiven Erlebens, z.B. durch körperliche Selbstakzeptanz, Körperwahrnehmung,
Zulassen von Lust und Luststeigerung, genussvolle Erfahrungen durch das Zulassen und Erleben sexueller Phantasien mit Entspannung.
Förderung und Stärkung der sozialen Kompetenz, z.B. des Sozialverhaltens in der Partnerschaft und in der partnerschaftlichen Sexualität,
Förderung konstruktiver und offener Kommunikation, Förderung der Fähigkeit Wünsche zu äußern und auch Nein sagen zu können.
Techniken. Zahlreiche verhaltenstherapeutische
Verfahren und Methoden können in der Einzeltherapie beim Erreichen der beschriebenen Zielsetzung hilfreich sein. Dazu gehören u. a.
Verfahren zum Angstabbau, wie graduierte
konfrontative Verfahren in der Vorstellung.
Körperorientierte Verfahren zur körperlichen
Selbsterfahrung, z.B. Spiegelübungen, Ertasten
und Erkunden des Körpers, Wahrnehmen und
Erleben des eigenen Körpers und der Körperreaktionen, einzelner Körperteile, vor allem auch
der eigenen Genitalien.
Kognitive Verfahren zur Bearbeitung von Informationsdefiziten und Mythen, Veränderung
von Leistungsangst und Versagensängsten, Ver-
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
22.4 Interventionen
änderung der Aufmerksamkeitslenkung, Ver1
änderung negativer automatischer Gedanken,
2
Erlauben, Entlasten und Entdramatisieren.
3
Phantasiearbeit zur Veränderung aversiver Ge4
fühle und zur Förderung positiven Erlebens. Sie
5
hilft, sexuelle Wünsche in konkreten Erlebnis6
sen unter Prüfung der emotionalen Befindlich7
keit in der Vorstellung zu erproben und zu mo8
difizieren.
9
Soziale Kompetenztherapie zur Stärkung von
10
Lernprozessen zum Aufbau und zur Gestaltung
11
sozialer Beziehungen, zum Ansprechen von
12
Konflikten, zur Stärkung der sozialen Sicherheit
13
in sexuellen Interaktionen, zum Nein sagen und
14
zum Ziehen von Grenzen.
15
Genusstraining zum Aufbau und zur Förderung
16
genussvoller Aktivitäten und genussvollen Ver17
haltens sowie der Fähigkeit genießen zu kön18
nen.
19
Emotionales Training zur Stärkung von Lust,
20
Freude, Erregung und anderer positiver emoti21
onaler Reaktionen in sexuellen Situationen,
22
Verknüpfung der Emotionen mit sexuellen Sti23
muli.
24
Themenbezogene Medien, z.B. Bücher, Bro25
schüren, Filme.
26
27
Nach neuen Forschungserkenntnissen (Grawe
28
2004) gelingen Lernprozesse besonders erfolg29
reich unter emotional angenehmen Bedingungen.
30
Dabei sind alle Verfahren hilfreich, die im Kontext
31
von Sexualität und sexuellem Erleben positive Ge32
fühlslagen fördern bzw. von Wohlgefühlen beglei33
tet sind. Weiterführende Literatur zu den Verfah34
ren: Zilbergeld 1994; Barbach 1977; Hoyndorf et
35
al. 1995; Gromus 2002; Kockott u. Fahrner 2000;
36
Ecker 2000, 2005).
37
38
39
22.4.2
Paartherapie
40
41
Bereits Masters und Johnson arbeiteten sexualthe42
rapeutisch in Paarbehandlungen. Ihre klassische
43
Konzeption wurde vielfach modifiziert und in
44
Deutschland an der Abteilung für Sexualforschung
45
der Universität Hamburg als verhaltenstherapeu46
tisch orientierte Paartherapie, die mit systemi47
schen und psychodynamischen Therapiebaustei48
nen verknüpft ist, evaluiert (Arentewicz u.
49
Schmidt 1993; Hauch 2004; Hoyndorf et al. 1995).
50
Schwerpunkt dieses paartherapeutischen Vorge51
hens liegt in dem Konzept des Sensate Focus. Die
52
211
Paare führen stufenweise aufgebaute Partnerübungen zu Hause durch, die in den Therapiesitzungen besprochen, vor- und nachbereitet werden.
Dabei lernen die Paare, schrittweise Ängste in der
sexuellen Interaktion abzubauen und neue positive sexuelle und partnerschaftliche Erfahrungen zu
machen. Dieses erlebnisorientierte Vorgehen hilft,
das Verhaltensrepertoire zu erweitern sowie Probleme fördernde Kognitionen zu erkennen und zu
korrigieren. Körperliche Erkundungen, sinnliche
Erfahrungen im Wechselspiel zwischen Erregung
und Entspannung können schließlich Körperkontakt und partnerschaftliches sexuelles Erleben
ohne Angst ermöglichen. Die meist einseitige Ausrichtung auf Koitus und Orgasmus kann aufgegeben und die Wahrnehmung und das Zulassen eigener Gefühle und Körperreaktionen als neue
positive Erfahrungen erlebt werden.
Spezielle Übungen und Verfahren. Je nach Art
der sexuellen Probleme und Ausprägung beim
Mann und bei der Frau gibt es eine Reihe zusätzlicher und spezieller Übungen und Verfahren, die
auf die Bewältigung der jeweiligen Problematik
bzw. Funktionsstörungen ausgerichtet sind. Dabei
kann es sich z.B. um eine spezielle Massage der
Scheidenmuskulatur beim Vaginismus der Frau
handeln oder um die Benutzung so genannter Vagina-Stifte bei der gleichen Problematik. Vorgeschlagen werden können Masturbationsübungen
bei Orgasmusproblemen, ein Schwellentraining
zur Überwindung der vorzeitigen Ejakulation
(Stop-Start- bzw. Drucktechnik) sowie Übungen
zur Körperwahrnehmung bei verzögerndem oder
ausbleibendem Orgasmus (Barbach 1996; Zilbergeld 1994; Ecker 2000, 2005; Kockott u. Fahrner
2000; Gromus 2002).
Fallbeispiel
Fallbeispiel, Teil 2
In zwei Einzelsitzungen wurden mit dem Patienten
die kognitiven Bedingungen herausgearbeitet. Dazu
wurden Übungen eingesetzt wie „Mein Penis schreibt
mir einen Brief“ und zur Schemaaktivierung „Innere
Botschaften zu sich als zufriedenem Sexualpartner“.
So lernte der Patient durch Beratung, Übungen und eigenem Hinterfragen, biographisch gewachsene und
verinnerlichte Haltungen und Einstellungen zu erkennen und zu bearbeiten. Wichtigste Erkenntnisse für
ihn: Sexuelle Erregung lässt sich nicht erzwingen, der
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
212
22 Sexualstörungen
Körper reagiert sensibel auf inneren Druck und äußere
1
Situationen, sexuelle Erregung darf auch ohne Erektio2
nen normal sein, zunehmendes Alter wirkt sich auch
3
auf den körperlichen (nicht auf den psychischen) As4
pekt von Sexualität aus im Sinne von: nicht immer und
5
nicht immer volle Potenz.
6
Mit dieser Wissenserweiterung und den neu gewonne7
nen Kognitionen und Einstellungen begann ein paar8
therapeutisches Vorgehen. Dabei konnte der Patient
9
diese Einstellungen prüfen und verinnerlichen. In dem
10
abgestuften erfahrungsorientierten und übenden Vor11
gehen lernten die Partner schrittweise Ängste in der se12
xuellen Interaktion abzubauen und neue sexuelle Er13
fahrungen zu machen. Durch einen therapeutischen
14
Kontrakt konnten sich die Partner immer auf den aktu15
ellen Schritt konzentrieren, die nächsten Schritte wa16
ren jeweils untersagt.
17
Die Übungen begannen mit wechselseitigen körperli18
chen Erkundungen und wurden fortgeführt mit Strei19
cheln, zunächst ohne dann mit Einbezug der Genitali20
en, Streicheln, übergehen zu erregenden Erfahrungen
21
und schließlich mit neuen Koituserfahrungen. Einmal
22
„durchbrachen“ beide auf Grund starker Erregung und
23
Gier aufeinander den Kontrakt, schliefen miteinander
24
und machten eine „wunderbare“ Erfahrung. Der Pa25
tient hatte eine starke Erektion und konnte den Zu26
sammenhang zu seinen neu gewonnenen Einstellun27
gen und zufriedenen Erfahrungen machen. Durch
28
dieses therapeutische Vorgehen konnten die Partner
29
einseitige Fokussierungen auf Erektion, Erregung und
30
Koitus aufgeben, fanden Freude an vielfältigeren sexu31
ellen Praktiken, die beiden sexuelle Befriedigung er32
möglichten.
33
Die zu Hause durchgeführten Übungen wurden in den
34
Therapiesitzungen ausgewertet, Probleme bearbeitet
35
(z.B. Widerstände, Unmut, immer wieder störende
36
Selbstbeobachtung, zu großes Drängen, „Übertretun37
gen“) und neue Übungen vorbereitet.
38
Die gesamte Kompakt-Therapie mit stabilem Erfolg
39
über postevaluierte 10 Monate dauerte 18 Sitzungen,
40
in vierwöchigem Abstand wurden dann noch 3 Kon41
takte vereinbart, ein letzter Termin nach 10 Monaten.
42
43
44
22.5
Was noch wichtig ist
45
46
Therapeutische Beziehung. Der Gestaltung der
47
therapeutischen Beziehung sollte in der Behand48
lung sexueller Störungen ein hoher Stellenwert
49
zugemessen werden. Sie erfüllt unterschiedliche
50
Zwecke in der Anfangsphase, der Veränderungs51
phase und der Abschlussphase der Behandlung.
52
In der Anfangsphase dienen Therapeutinnen
und Therapeuten als Modell, sprechen angstfrei
über Sexualität, nehmen den Patienten mit seinen Problemen zugewandt an, erlauben und
entlasten, sind offen für jegliche Art sexueller
Probleme.
In der Veränderungsphase sollte die Fähigkeit
überwiegen, Patientinnen oder Paare kompetent zu Übungen anzuleiten sowie Probleme
und Störungen sensibel aufzugreifen.
In der Abschlussphase steht die rechtzeitige
Vorbereitung der Ablösung und Überleitung zur
Selbsthilfe im Vordergrund.
Wenn ein Patient oder eine Patientin nicht in einer
Partnerschaft lebt, stehen für sexuelle Aktivitäten
weder – wie früher vor allem in USA – so genannte
Ersatzpartner (Surrogatpartner) zur Verfügung
noch aus ethischen Gründen der Psychotherapeut
oder die Psychotherapeutin. Gerade bei dem Thema „Sexualität“ kann es zu einer Erotisierung der
therapeutischen Situation kommen, für die daraus
resultierende Konsequenzen allein der Therapeut
die Verantwortung trägt. Gefühle von starker Sympathie, Verliebtheit bis hin zu sexuellen Wünschen
an den Therapeuten sowie Therapeutin können natürlich seitens der Patientin oder des Patienten auftreten. Therapeutisch selbsterfahrene Fachleute
sind auf solche Herausforderungen an die therapeutische Beziehung eingestellt, können ihre eventuellen eigenen Verflechtungen erkennen und sich
dann für den besten Weg entscheiden. Ohne eigene
Verstrickung ist es sicherlich für die Patientin und
den Patienten hilfreich, wenn Therapeut und Therapeutin diese Übertragungsgefühle in die therapeutische Arbeit einbeziehen und ein förderliches
Maß zwischen genügend emotionaler Wärme und
notwendiger Grenzziehung finden können.
In der Therapie kann auch weiterführend an
Kompetenzen zum Aufbau und zur Gestaltung
von Beziehungen, am Abbau auf die Fixierung der
Partnersuche und am Ertragen von Alleinsein und
Einsamkeit gearbeitet werden (Hoyndorf et al.
1995).
Spezifische Fort- und Weiterbildungen. Diese ermöglichen es, auf die Herausforderung bei der Behandlung sexueller Probleme angstfrei und kompetent reagieren zu können. Sensibilität und fachliche
Kompetenz sind notwendig, um Männer, Frauen
und Paare bei der Bewältigung ihrer sexuellen Störungen unterstützen zu können. Neben der Fähig-
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
22.5 Was noch wichtig ist
keit, sexuelle Problematiken zu erkennen und in ih1
ren Zusammenhängen zu analysieren sowie neben
2
der Kompetenz zur Anwendung spezifischer se3
xualtherapeutischer und paartherapeutischer Ver4
fahren helfen Selbsterfahrung und Selbstreflexion
5
in der Fort- und Weiterbildung Fachleuten, eigene
6
Ängste und Erfahrungen zu reflektieren und deren
7
Einfluss auf die therapeutischen Interventionen so8
wie auf die helfende Beziehung zu erkennen. The9
rapeutische Selbsterfahrung und fortlaufende Su10
pervision helfen auch beim Erkennen, wie sich
11
bestimmte Einstellungen, Vorlieben und Abnei12
gungen, heimliche und offene Wünsche auf Seiten
13
des Therapeuten und der Therapeutin auf die Be14
handlung sexueller Störungen auswirken (Strauß
15
2004).
16
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Literatur
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5. Teil
Bewältigung besonderer
Belastungen
23 Die posttraumatische
Belastungsstörung in der
ärztlichen Praxis
24 Chirurgie, Intensiv- und
Transplantationsmedizin
25 Tumoren und andere lebensbedrohliche Erkrankungen
26 Psychotherapie bei älteren
Menschen
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