„Tragödie der Kultur“ revisited: Carl Dahlhaus` Konzeption des

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Christoph Hubig
„Tragödie der Kultur“ revisited: Carl Dahlhaus’ Konzeption des Kunstwerks als
Alternative zur Simmel-Cassirer-Kontroverse
Carl Dahlhaus galt vielen als der Philosoph unter den Musikwissenschaftlern. Manche haben
das – nebenbei bemerkt – mit durchaus kritischem Unterton angeführt. Dabei ist sein
Philosophieren durchaus unaufdringlich, oft tentativ formuliert – er wusste sehr wohl, worauf
er sich einließ, wenn er philosophische Begriffe, Kategorien oder Topoi anführte – und immer
um Konkretion bemüht. Er rekurrierte nur soweit auf philosophische Vorschläge der
Modellierung von Problemen und Optionen zu ihrer Lösung, als diese zielführend in die
Diskussion einschlägiger Fragen der Musikgeschichte, der Musiktheorie und ihrer
Methodologie eingebracht werden konnten. Ein subtileres Interesse an philosophischen
Fragen ist nur dort dokumentiert, wo er falschen Rezeptionslinien auf der Spur war und sich
genötigt fühlte, Missverständnisse aufzudecken. So hat er wiederholt die Inanspruchnahme
des Konzepts des Schönen aus Kants Kritik der Urteilskraft für die Begründung einer
absoluten Musik kritisiert.1 Überhaupt wiederholen sich seine philosophischen Rekurse
regelmäßig. Insofern scheint es mit Blick auf sein Gesamtwerk durchaus einfach, den
Horizont seiner philosophischen Bezugnahmen abzustecken: Neben Aristoteles, Kant, Hegel
und Adorno sind es Gustav Droysen, Max Weber, Ernst Cassirer und Roman Ingarden, die
immer wieder Erwähnung finden. Das scheint in der Tat ein explosives Gemisch zu sein und
es wäre einigermaßen altklug, Dahlhaus zu unterstellen, er habe diese nicht bemerkt.
Bei genauerer Durchsicht wird vielmehr zweierlei deutlich: Auf der Basis einer profunden
Kenntnis der Problemgeschichte des Philosophierens vermochte er die einschlägigen
Argumentationslinien der genannten Autoren sehr wohl einzuordnen, ihre Akzentuierungen
zu relativieren und die unabdinglichen Einseitigkeiten dadurch zu kompensieren, dass er sie
problemadäquat und originell in neue Zusammenhänge einfügte. Es handelt sich also
keineswegs um einen legitimatorischen Eklektizismus, welcher nimmt, was er braucht, um
das eigene Anliegen zu stützen. Im Gegensatz zu einer solchen Haltung enden Dahlhaus’
Überlegungen wiederholt im Aufweis der Notwendigkeit einer „dialektischen“ Vermittlung.
Dabei kommt, wie ich zeigen möchte, nicht der heruntergekommene Sprachgebrauch zum
Zuge, dass „Dieses“ mit „Jenem“ möglicherweise wechselwirkend zusammenhinge, sich
relativiere, nicht einseitig gesehen werden dürfe. Vielmehr ist zu zeigen, dass Dahlhaus an
den einschlägigen Stellen in einem sehr strengen Sinne dialektisch verfährt, also nicht in
einem naiv aktivistischen Sinne „vermittelt“ bzw. eine solche Vermittlung „herstellt“ (dazu
benötigt man keine Dialektik), sondern reflektierend eine dialektische Vermittlung freilegt
und damit sowohl ästhetischer Theorie als auch ästhetischer Praxis neue Suchräume eröffnet.
Auf die Idee, diese Spezifik Dahlhaus’schen Denkens auf der Kontrastfolie der
prominentesten nachidealistischen Diskussion um den Status der Werke zu erhellen, der
Kontroverse, die unter dem Titel „Die Tragödie der Kultur“ zwischen Georg Simmel und
Ernst Cassirer sich entfaltete, bin ich durch folgendes Dahlhaus-Diktum gekommen:
„Die Interpretation des Kunstwerks als ‚objektiver Geist’ bezeichnet ein Problem, das nicht dadurch
2
verschwindet, dass man die idealistische Lösung verschmäht“.
1
2
U.a. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, in: CDGS, Bd. 1, S. 610 f.
Dahlhaus, Das musikalische Kunstwerk als Gegenstand der Soziologie, in: CDGS, Bd. 1, S. 360.
1
Für sich gesehen erscheint diese Formulierung wenig sinnvoll: Was heißt denn „idealistische
Lösung“? Gemeint sein kann ja nicht einerseits die Fichtesche Lösung, die Jean Paul, der als
einer der ersten Hegels Phänomenologie des Geistes verstanden hat, unüberbietbar karikiert
hat in der Formulierung Schoppes aus dem Titan „[…] sie sind ganz jener betrunkene Kerl,
der sein Wasser in einen Springbrunnen hineinließ und die ganze Nacht davor stehen blieb,
weil er kein Aufhören hörte und mithin alles, was er fort vernahm, auf seine Rechnung
3
schrieb“. Andererseits kann auch nicht die Hegelsche Fassung gemeint sein, denn die
Bildung eines Werkes gehört dort zum subjektiven Geist, der seine Möglichkeit, sein An-sich,
im Werk zu verwirklichen sucht und sich als „gehemmter Begierde“ seiner selbst bewusst
4
wird, während der objektive Geist des Rechts und der Sittlichkeit, Bildung, Moralität und
Religion die Verbindlichkeit und Gültigkeit jener Freiheitsäußerung regelt und damit
garantiert, also die in der subjektiven Freiheit angelegte Notwendigkeit im Unterschied zur
subjektiven Willkür verwirklicht. In keinem Falle wäre also in idealistischer Perspektive ein
Kunstwerk per se als „objektiver Geist“ zu interpretieren, allenfalls, wenn man ihm in
normativer Absicht klassischen Status einräumte. Das ist aber hier nicht gemeint.
Sinn erhält jenes Zitat nur, wenn man es auf dem Hintergrund liest, den Dahlhaus wohl im
Auge hatte, und den ich hier ausbreiten will: der postidealistischen Problematik, dass Werke
unter dem Anspruch stehen, objektiver Ausdruck eines subjektiven Lebens zu sein, das auf
diese Weise sich auf den Weg „von sich selbst zu sich selbst“ begebe5 als Weg der
Kultivierung, wie ihn Georg Simmel charakterisiert.6 Dabei jedoch müsse die „subjektivseelische Energie eine objektive, von dem schöpferischen Lebensprozeß fürderhin
unabhängige Gestalt gewinnen“7 und zur Hervorbringung dieser Gestalt sich den
Sachgesetzlichkeiten der Mittel unterwerfen. In diesem Kontext spricht Ernst Cassirer
ebenfalls davon, dass subjektiver Geist und objektiver Geist „auseinander“ fielen und
attestiert Simmel, dass er dies scharfsinnig analysiert habe.8 Jenes Thema der sogenannten
„Tragödie der Kultur“ schien Dahlhaus im Auge zu haben, als er das unzureichende einer
idealistischen Lösung (als Negieren jener Tragödie) erwähnt. Verweilen wir noch einen
Moment bei dieser Kontroverse selbst, bevor wir uns dem Dahlhaus’schen Lösungsansatz
zuwenden.
1. Georg Simmel: Objektivierung des Geistes
Dahlhaus hatte in seiner Rezension zu Kurt Blaukopfs „Musik im Wandel der Gesellschaft“
hervorgehoben, dass dieser – neben anderem – auch und gerade Georg Simmel berücksichtigt
habe.9 Mit Blick auf die neuzeitliche geschlossene Konzeption des Kunstwerks hatte
Blaukopf bereits in seiner „Musiksoziologie“ bemerkt, dass die „rahmenlose“ Kunst im
3
Jean Paul, Titan, in: Werke, hrsg. von Norbert Miller, München: Carl Hanser, 1961, Bd. 3, S. 767.
4
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg:
Meiner, 1957, S. 147.
5
Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Georg Simmel Gesamtausgabe (= GSG), Bd. 14,
hrsg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, , Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996, S. 385, 388, 405.
6
Georg Simmel, Vom Wesen der Kultur, in: GSG, hrsg. von Alessandro Cavalli u.a., Frankfurt/M.: Suhrkamp,
1993, Bd. 8, S. 365.
7
GSG, Bd. 14, S. 405.
8
Ernst Cassirer, Die Tragödie der Kultur, in: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt: Wiss.
Buchgesellschaft, 61994, S. 105 ff.
9
2
CDGS, Bd. 9, S. 401.
Kapitalismus keinen Platz habe: „Die Gesellschaft der Neuzeit verlangt jene Distanzierung
von Kunstkonsumenten und Kunstproduzenten, die dann dinglich in der Distanz zwischen
Bild und Beschauer, Konzert und Publikum zur Ausdruck kommt“. Und Blaukopf zitiert dann
aus Simmels „Philosophie der Kunst“ von 1922: „Was der Rahmen dem Kunstwerk leistet,
ist, daß er diese Doppelfunktion seiner Grenze symbolisiert und verstärkt. Er schließt alle
Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die
Distanz zu stellen“.10 Seinen Grund hat dies im allgemeinen Prinzip der Kultur, dem das
Kunstwerk als apotheotische Lösung erscheinen muss: „Mit der Vergegenständlichung des
Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Aufhäufen der Bewußtseinsarbeit
gestattet“.11 Es entstehen dabei „Gebilde des in der geschichtlichen Gattungsarbeit
objektivierten Geistes“.12 Genau dies machte aber für Simmel das Problem aus. Dessen
Formulierung vom objektivierten Geist nimmt Dahlhaus an vielen Stellen auf, und wir
werden sehen, dass er den Unterschied eines objektivierten Geistes von einem objektiven
Geist, den Simmel nicht ausarbeitet, zum eigenen Ansatzpunkt nimmt. (Die Verflachung
dieses Unterschieds bei Simmel verdankt sich seiner Hegel-Rezeption, die über die
Völkerpsychologie lief und für differenzierte Darstellungen keinen Raum ließ.) Nach Simmel
nun gewinnen jene objektiven Gebilde eine problematische „Autonomie“, da sie einzig der
„immanenten Logik“13 eines objektiven sogenannten „Sachzwangs“ gehorchen. Das gelte
sowohl für die Kunst wie für die Wissenschaft oder für die Wirtschaft, da die Auswahl der
jeweiligen Mittel zu einer zweckdienlichen Herstellung und einer einträglichen Verwertung
den Bedingungen der Systeme unterlägen. Die objektive Kultur gewänne die Oberhand über
die subjektive, und zwar zwangläufig, insofern als Tragödie, da die unter dem Ideal der
Kultivierung nötige „Re-Subjektivierung“14 der Gebilde misslinge – ihre Autoren erkennen
sich nicht mehr in den Werken – und eine „Entfremdung der Subjekte von sich selbst“
stattfände. Mit der Zerstörung der Subjektivität vollziehe sich ein Schicksal, das im Subjekt
selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, „mit der das
Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat“.15 Das sei der „Selbstwiderspruch der Kultur“,
allerdings unter einer Bedingung, die Hegel bereits verworfen hatte: Dieser hatte nämlich
betont, dass, wer in seinen Werken sich erkennen wolle, sich bereits selbst „verloren“ habe.16
(Und Hegel verwirft entsprechend das christliche Diktum, dass man „sie an ihren Früchten
erkennen“ könne.) Denn das Tun selbst erkennt man nicht an den Werken, weil diese ein
„Auch von Eigenschaften“ aufweisen, das für Hegel explizit die Definition von „Medium“ ist,
welches in seinen Eigenschaften sich in den Werken fortschreibt.17 Soweit war Simmel
freilich nicht gekommen. Entsprechend erscheinen ihm die Formen der Kulturgebilde als
„starre Gehäuse“18, eine Formulierung, die bei Max Weber in dessen Charakterisierung des
10
11
12
13
14
15
16
Kurt Blaukopf, Musiksoziologie, Niederteufen (CH): Arthur Niggli, 21972, S. 91.
Georg Simmel, GSG, Bd. 14, S. 392.
Bd. 14, S. 417.
Ebd., S. 403.
Ebd., S. 408.
Ebd., S. 411, 414.
Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 289.
17
Ebd., S. 91. Das Thema „Medialität“ und „Spur“ fährt, wie wir im Abschn. 3.2 sehen werden, bei Carl
Dahlhaus eine gegenüber der geläufigen Diskussion charakteristische (Um-)Wendung.
18
GSG, Bd. 16., hrgs. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1999, S. 183.
3
Kapitalismus als „stahlhartem Gehäuse“ wiederkehrt19 und ebenfalls von Ernst Cassirer
aufgenommen wird als „harte Schale“, zu der die Kunstprodukte würden, eine Schale, die
„sich immer dichter um sie herumlegt und sich immer weniger sprengen lässt“.20
Die Lösung, die Simmel anbietet und die Cassirers Kritik finden wird, ist diese: Das Subjekt
könne seine unverstellte Authentizität, die es in den Werken verloren habe, nur in einem
„Angriff auf das Prinzip der Form“ wieder erlangen, als „Immunreaktion auf die Pathologie
der [objektiven] Kultur“.21 Simmel differenziert dabei explizit nicht zwischen Formen und
Werken; sofern letztere eine „Geschlossenheit in sich selbst und einen Anspruch auf Dauer, ja
auf Zeitlosigkeit tragen, so sind sie Formen, in die dieses Leben sich kleidet, als die
notwendige Art, ohne die es nicht in die Erscheinung treten, ohne die es nicht geistiges Leben
sein kann“.22 Das „ruhelos weiterströmende Leben“ vermag sich nur in jenem Angriff auf die
Form zu äußern, und die Apotheose dieses Angriffs – man hört Ernst Jünger – sei der Krieg.
Dort versinke der „ganze Apparat der Kultur“23 und der Mensch trete wieder in ein lebendiges
Verhältnis zu den Mitteln, die er nutzt, Mitteln, die nun in einer ursprünglichen,
existenziellen, quasi archaischen Situation wieder „authentisch“ einsetzbar würden.
Bezogen auf die Kunst klingt hier die naive Variante einer Destruktion der Werke an, wie sie
unüberbietbar in der ersten Phase des Teufelsgespräches von Thomas Manns Doktor Faustus
Erwähnung findet: Wo die Kunst, bloß noch „eine Wallfahrt auf Erbsen, die Lahm- und
Schüchternheit, die keuschen Skrupel und Zweifel zum Teufel gehen“ lassen muss und „nicht
mehr das Klassische“, sondern „das Archaische, das Urfrühe, das längst nicht mehr Erprobte“
erfahren lasse, die urtümliche Begeisterung, die sich nicht mehr mit einer Dialektik von
Freiheit und Konstruktion herumschlagen müsse.24 Denn in dieser Phase des Gespräches tritt
der Teufel nicht, wie später, als Adorno auf, sondern als Zuhälter, der performativ klar macht,
dass sein Appell an das Ursprüngliche, Strömende, Triebhafte und Archaische nichts weiter
ist als ein Element der Kulturindustrie, die er managt.
2. Ernst Cassirer: Die „potentielle Energie“ des Werkes
Gegen jenen naiven Ansatz einer Kritik am Werkbegriff und seine ebenso naive Alternative
richtet sich die Kritik Ernst Cassirers, den Dahlhaus – nebenbei bemerkt – allerdings nur dort
explizit geltend macht, wo er gegen falsche und unhistorische Ontologisierungen dessen
Konzept der Funktionsbegriffe gegen die Substanzbegriffe ausspielt. Allerdings finden sich in
der hiesigen Argumentation Cassirers gegen Simmel derart offenkundig
Argumentationslinien, die Dahlhaus später weiterführt und modifiziert, dass mit guten
Gründen unterstellt werden kann, dass hier eine wesentliche Wurzel der Dahlhaus’schen
Konzeption des Kunstwerks liegt. Cassirer monierte an Simmel, dass dessen Sichtweise
einseitig auf das schaffende Individuum fokussiert sei. Ausschließlich vom Standpunkt des
Individuums entstehe die Enttäuschung, die der „Künstler, der Forscher, der Religionsstifter“
verspürt, nämlich dass „das fertige Werk […], so bald es einmal vor ihnen steht […], hinter
19
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie I, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1988, S. 205 f.
20
21
22
23
24
4
Cassirer, Tragödie der Kultur, S. 105.
GSG, Bd. 16, S. 185 [Erg. C.H.].
Ebd., S. 183 f.
Ebd., S. 40.
Thomas Mann, Doktor Faustus, Frankfurt/M.: Fischer, 1967, S. 239.
der ursprünglichen Intuition, aus der es stammt“, zurücksteht und die „begrenzte Wirklichkeit,
in der es dasteht […] der Fülle der Möglichkeiten, die diese Intuition ideell in sich barg“,
widerspreche. Aus der Perspektive des „Aufnehmenden“, des Rezipienten dagegen befinde
sich anstelle jenes „Ungenügens“, das der Künstler seinem Werk gegenüber empfinde, der
„Eindruck einer unerschöpflichen Fülle“. Dies initiiere einen lebendigen Prozess, in dem
Produktion und Rezeption, schaffendes Ich und aufnehmendes Du in einer dynamischen
Wechselwirkung aufeinander bezogen seien.25 Das aufnehmende Du sei nämlich gerade nicht
in ein Geschehen „bloßer Rezeption“ eingebunden, sondern zeichne sich auch und gerade
durch „Spontanität“ aus, durch aktives Gestalten. Dadurch entfalte sich eine „historische
Dialektik“ der Kulturentwicklung, die „durchaus keinen Widerspruch in sich“ berge, sondern
als „ständiger Wechsel von Bindung und Lösung“ verlaufe. Kultur sei, so gesehen, eine
beständige Transformation. Die geschichtlich verfestigten Formen würden so immer neu
aktualisiert; sie seien keine „trägen Massen“, die der kulturelle Produktionsvorgang
hinterlasse, sondern seien eine „Zusammenballung gewaltiger potentieller Energien“, die „nur
auf den Augenblick harren, in welchem sie wieder hervortreten und sich in neuen Wirkungen
bekunden sollen“.26 Damit nahm Cassirer den zentralen Topos der Rezeptionsästhetik
vorweg, die – in den Werken von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser – die
„Repotentialisierung“ als Merkmal des Rezeptionsaktes herausstellte.27 Die Iteration
unterschiedlicher Rezeptionsakte sollte diesen Effekt zeitigen, als Erschließung bzw.
Wiedererschließung von Möglichkeiten, wie sie Schleiermacher und Dilthey als Ziel des
Verstehens erachteten,28 für das das Verstehen des Autors ein Mittel, nicht der Zweck ist –
wie Schleiermacher, entgegen der Auffassung unserer Deutschlehrer, betonte.29
Die Kulturentwicklung erscheint dabei als Pendelbewegung zwischen objektivierender
Verfestigung und subjektivierender Dynamisierung; der Gegensatz von „Formkonstanz“ und
„Modifizierbarkeit der Form“ ist eben nicht ein unauflösbarer Gegensatz von zwei
Wirklichkeiten, sondern ein Gegensatz von einer Wirklichkeit und einer Möglichkeit (als
Modifizierbarkeit), die dieser Wirklichkeit bedarf, einer Wirklichkeit, die die Möglichkeit als
Möglichkeit negiert („dialektischer Widerspruch“). Es handelt sich, so Cassirer fast wieder
hegelianisch, um zwei „Momente“,30 deren Spannung dafür maßgeblich sei, dass die
Kulturentwicklung nicht zwangsläufig zur Tragödie eskaliert, sondern den Charakter eines
Dramas mit immer währenden Krisen und ihrer punktuellen Auflösung aufweise. Zum Kern
dieser Dialektik ist allerdings Cassirer nicht vorgedrungen, wenngleich er mit seiner
Formulierung von zwei „Momenten“ diesem schon sehr nahe ist. Er arbeitet nämlich jenes
Modalverhältnis, welches für jede strenge Dialektik charakteristisch ist, nicht weiter aus.
.
25
26
Cassirer, Tragödie der Kultur, S. 110 ff.
Ebd., S. 112 f.
27
Vgl. hierzu: Christoph Hubig, Rezeption und Interpretation als Handlungen. Zum Verhältnis von
Rezeptionsästhetik und Hermeneutik, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft,
hrsg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher, Laaber: Laaber Verlag, 1991, S. 37-56.
28
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1977, S. 340; Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (
GS VIII) , hrsg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart: Teubner, 1958, S. 215.
29
30
Schleiermacher, Hermeneutik, S. 328, 235.
Cassirer, Tragödie der Kultur, S. 122.
5
3. Carl Dahlhaus
Hören wir dazu nun Carl Dahlhaus, zunächst in der für ihn typischen vorsichtigen Art:
„Die Diskussion über den Werkbegriff, oder genauer: über das Verhältnis zwischen dem Werk als
objektivierter Arbeit und den Kategorien „Kommunikation“ und „Interaktion“, die zu Schlagworten zur
Polemik gegen den Werkbegriff geworden sind, ist jedoch seltsam vertrackt […]. Kommunikation braucht
offenbar, um substantiell zu sein, ein Objekt, das die Interaktion zwischen den Subjekten, die
Kommunikation suchen, vermittelt; und durch gemeinsame Konzentration auf eine Sache, und zwar eine
Sache, die die Anstrengung lohnt, ist eine Intersubjektivität, die dann auch dem Subjekt als Person und nicht
als bloßem Funktionsträger gerecht wird, eher erreichbar als durch die Bemühung, sie in objektloser
Unmittelbarkeit herzustellen. Sie aber erfüllt den Sinn, als vermittelnde Instanz zu dienen, umso genauer, je
weniger sie sich darauf einläßt, um des Zwecks Willen ihre internen Ansprüche zu lockern oder gar zu
suspendieren: pädagogische Anpassung richtet immer auch pädagogisch, nicht allein sachlich, Schaden
31
an“.
Das Werk zur einzigen Instanz einer adäquaten Rezeption zu erklären, berge die Gefahr, dass
der Text als toter Buchstabe des Werkes zum Anlass subjektiver Projektionen würde, die sich
als objektivierter Geist des Werkes missverständen. Diese Gefahr sei nicht gering angesichts
der Tatsache, dass „ästhetische Wahrnehmung, so unbefangen sie sich dünkt, in einer kaum
kontrollierbaren Form immer schon vorstrukturiert“32 ist. Das Dialogmodell einer
Schleiermacherschen Hermeneutik lässt immerhin
„die Chance offen, dass die Momente, die der Rezipierende von sich aus mitbringt, mit jenen, die ihm aus
dem Werk entgegentreten, in eine Wechselwirkung gebracht werden“. […] „Geht man […] davon aus, daß
ein nicht-entfremdeter Werkbegriff, der die Möglichkeit einer Rezeption nach dem Dialogmodell offen läßt,
und ein konkreter Kommunikationsbegriff, der die Fallstricke der Abstraktion vermeidet und die
Notwendigkeit einer Vermittlung von Interaktion durch eine gemeinsame Sache prinzipiell gelten läßt, sich
nicht ausschließen, sondern ergänzen“,
so soll damit das „Verhältnis zwischen der restituierten Werk- und der dennoch nicht
preisgegebenen Kommunikationsidee“ umschrieben sein.33
Was ist aber nun jene „gemeinsame Sache“, die eine Interaktion „vermittelt“ als
„Wechselwirkung“ zwischen Momenten des Rezipierenden und Momenten des Werkes? Das
Werk selber kann es ja nicht sein, denn es ist ja Moment dieser Wechselwirkung. Im Vorgriff
sei Dahlhaus’ Lösung angekündigt: Es ist das, was er schlicht als „Objekt“ bezeichnet,
genauer: „objektivierte Arbeit“, während er für den Werkbegriff den Begriff des
„intentionalen Gegenstandes“ vorhält. Auf diese Weise will er der Alternative vorbeugen,
dass Kunst entweder nur noch als bloße Praxis begriffen bzw. in Praxis aufgelöst wird, oder
ein emphatischer Werkbegriff unter einem überkommenen Konzept der Poiesis als obsoleter
Träger des Scheins von Vollkommenheit und Abgeschlossenheit erachtet wird.
3.1
Werk als intentionaler Gegenstand
Mit seiner Formulierung vom „nicht-entfremdeten Werkbegriff“ markiert Dahlhaus das
Gegenkonzept zum Werkbegriff Simmels, und mit der Rede von einer durch die gemeinsame
Sache vermittelten Interaktion knüpft er an Cassirer an. Wie ist aber dann der Status des
Werkes zu begreifen? Wiederholt greift Dahlhaus auf die Benjaminsche Formulierung von
der „höchsten Wirklichkeit der Kunst“ im „isolierten, geschlossenen Werk“ zurück.34
31
Dahlhaus, Abkehr vom Materialdenken, in: CDGS, Bd. 8, S. 492 f.
32
Ebd., S. 494.
33
.Ebd.
34
Dahlhaus, Musik als Text und Werk, in: CDGS, Bd. 1, S. 457; ders., Ästhetik und Musikästhetik, in:CDGS, Bd.
1, S. 599; vgl. auch ders., Der Versuch einen faulen Frieden zu stören, in: CDGS, Bd. 1, S. 210.
6
Angesichts der Zeitstruktur der Musik, die Zeit sowohl „pointiert“ als auch als „tönende
Architektur“ aufhebt, ist ein Werk weder einseitig eine sich geschichtlich verändernde
„Substanz“, deren Gehalt in der Interpretations- und Rezeptionsgeschichte hervorgetrieben
oder destruiert wird, noch ein für alle Mal feststehender „idealer Gegenstand“.35 Seine
sogenannte Abgeschlossenheit ist vielmehr diejenige eines „intentionalen Gegenstandes“,36
der sich weder im Text, noch im akustischen Substrat der Interpretation noch in der
subjektiven Reaktion des einzelnen Hörers erschöpfe.37 Mit der Aufnahme der
phänomenologischen Kategorie des intentionalen Gegenstandes eröffnet sich Dahlhaus einen
neuen Raum, innerhalb dessen er Cassirers Andeutungen konkretisieren und zugleich die
Diskussion über ihre rein phänomenologische Version hinaus weiterführen kann. Mit
„intentionalem Gegenstand“ ist eben gemeint, dass nicht zwei Sachen, nämlich der
Gegenstand eines intentionalen Bezugs und dieser intentionale Bezug selbst voneinander zu
scheiden wären (was Edmund Husserl an Franz von Brentano kritisiert hatte), sondern es ist
die einheitliche Präsenz eines Erlebnisses gemeint, welches den Charakter einer Intention hat.
Diese ist geprägt durch Erwartung (Protention) und Erinnerung (Retention), welche den
Horizont ausmachen, in dem das Erlebnis seine Spezifik erhält. Dieser Horizont ist nicht der
eines allein gelassenen Subjekts, sondern seinerseits eingebettet, wie der späte Husserl
herausgearbeitet hat, in den „Horizont von Horizonten“, die Lebenswelt“.38 Für Carl Dahlhaus
ist diese freilich zu recht eine historische. Doch zunächst zurück zum intentionalen
Gegenstand:
Mit Dahlhaus’ Worten wird die Zeit in der Musik „pointiert“ durch ihren teleologischen Zug,
die Suche und die Erwartung nach einer Fortsetzung – „Protention“; „aufgehoben“ wird die
Zeit dadurch, „daß nicht jeder Augenblick den gerade vergangenen auslöscht, sondern der
Hörer sich zunächst die Abschnitte und zuletzt das gesamte Werk als ein ‚Ganzes’ zu
vergegenwärtigen vermag“ – Husserls „Retention“. Die Benjaminsche „Abgeschlossenheit“
ist also eine intentionale. Sie konkurriert daher keineswegs mit der Herderschen
Charakterisierung der Musik als energeia, explizit nicht derjenigen als „ergon“.39 „Die
Identität [des Kunstwerks], die nicht als Unveränderlichkeit mißverstanden werden darf, ist
als ‚Intention’ bestimmbar“.40 Doch welche Intention und wessen Intention?
An dieser Stelle hat Dahlhaus einen Raum der Reflexion erschlossen, der weit über das
Husserlsche Konzept des intentionalen Gegenstandes hinausweist und die historische
Dimension mit einzubeziehen vermag. Zwar zitiert er wiederholt Roman Ingarden, über den
er Husserl rezipiert hat, mit dessen Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und dem
ästhetischen intentionalen Gegenstand. Die Ausführung dieser Unterscheidung bei Ingarden
ist aber höchst unbefriedigend und inkonsistent. So verweist Ingarden einerseits darauf, dass
das Kunstwerk als schematisches Gebilde viele Unbestimmtheitsstellen enthält, deren
Aktualisierung und Bestimmung den Übergang vom Kunstwerk zum ästhetischen Gegenstand
vollziehe.41 Daher dürfe die sogenannte Wertantwort der Rezeption die dem ästhetischen
35
36
37
Dahlhaus, Ästhetik und Musikästhetik, in: CDGS, Bd. 1, S. 601.
Ebd.
Ebd. S. 602.
38
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie,
hrsg. von Walter Biemel (Husserliana, Bd. VI), Haag: Marinus Nijhoff, 1954, S. 163. f.
39
40
41
Dahlhaus, Musik als Text und Werk, in: CDGS, Bd. 1, S. 455.
Dahlhaus, Das musikalische Kunstwerk als Gegenstand der Soziologie, in: CDGS, Bd. 1, S. 364 [Erg. C.H.].
Roman Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Welt, Tübingen: Max Niemeyer, 1969, S. 20.
7
Gegenstand anhaftenden Werte nicht dem Kunstwerk selbst zuschreiben. Andererseits fordert
er, dass eine „getreue“ Konkretisation die dem Kunstwerk zukommenden eindeutigen und
aktuellen Bestimmtheiten enthalten müsse.42 Im anderen Fall hafte dem ästhetischen
Gegenstand ein „Unwert“ an.43 Dahlhaus argumentiert hier differenzierter: Zum einen
müssten Eigenschaften des Werkes im historischen Kontext identifiziert werden – hierauf
werden wir später noch näher eingehen. Es spiele hier eine Rolle, wie sich die Form zur
Struktur verhalte, wobei die „flüchtigste historische Reflexion“ genüge, um zu erkennen, dass
hier für die alte wie für die neue Musik, im Unterschied zum Formkonzept der großen
klassischen Werke, andere Verhältnisse bestanden.44 Entscheidende historische Unterschiede
sind hier gegeben, die sich auf den Status der Intention des Komponisten, des Interpreten und
des Hörers beziehen. Diese Unterschiede begreift Dahlhaus mit Max Weber als Idealtypen,
als ideale Handlungsschemata, deren Sinn in unterschiedlichen Wertideen fundiert ist. So
verweist er darauf, dass auch für neue Musik mit ihren offenen Formen gelte, dass sie sich in
die europäische Musikgeschichte fortschreitender Objektivierung eingliedere. „Gerade
Stücke, deren Teile austauschbar sind und sich einerseits schroff, durch jähe Generalpausen
oder Kontraste, voneinander abheben und andererseits entwicklungslos in sich selbst zu
kreisen scheinen, werden in besonderem Maße gegenständlich wahrgenommen“.45 Und
weiter:
„Von der Wahl zwischen dem Gesichtspunkt des Komponisten und dem des Hörers aber ist es abhängig, ob
die Kategorie des Kunstwerks noch eine Funktion erfüllt oder zur Bedeutungslosigkeit schrumpft. […] Der
Zerfall der geschlossenen Formen in offene, die Betonung des Musik-Machens […]: alle die Momente, die
zur Aushöhlung des Werkbegriffes führen, sind nur unter dem Gesichtspunkt des Komponisten verständlich.
Für den Hörer ist gerade umgekehrt der Entstehungsvorgang, die Genesis eines Werkes, im Resultat
aufgehoben; er begreift Musik als Gebilde, das zu überdauern vermag; und eine offene, variable Form
erscheint ihm als geschlossene und feste, weil er unfähig ist, die Version, die er gerade hört, auf mögliche
andere zu beziehen, die der Interpret hätte wählen können, aber nicht gewählt hat. Dem Werk als Werk die
46
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die der Komponist ihm vorenthält, ist Sache des Hörers“.
Erst durch eine Objektivierung, die über eine Realisierung als bloßer Vorgang und Vollzug
hinausgehe, erhalte Musik Werkcharakter. Diese Objektivierung dürfe nicht umstandslos als
Verdinglichung oder Entfremdung begriffen und verdächtigt werden. Bedeutende
Interpretationen würden, indem sie ein Werk gleichsam nachkomponieren und ihm gerade
dadurch als Werk gerecht werden, seine Erstarrung zu einem Text aufheben.47 Das
Nachkomponieren in der Interpretation verhalte sich aber zur Intention des Komponisten, und
analog verhalt sich die Intention des Hörers zu derjenigen der Interpretation. Im ästhetischen
intentionalen Gegenstand sind also drei Intentionen einschließlich ihrer
Retentionen/Erinnerungen und Protentionen/Erwartungen miteinander vermittelt. Diese
Vermittlung könnte nun – folgen wir einmal Roman Ingarden – adäquat oder nichtadäquat
sein. Was heißt aber adäquat?
Abwegig wäre es, die bereits erwähnte alte hermeneutische Idee, dass der Nachvollzug der
Autorenintention nur ein Mittel, nicht ein Ziel der Interpretation ist, als Freibrief für eine
42
43
44
Ebd., S. 24.
Ebd.
Dahlhaus, Über offene und latente Traditionen in der neuesten Musik, in: CDGS, Bd. 8, S. 120 f.
45
Dahlhaus, Plädoyer für eine romantische Kategorie. Der Begriff des Kunstwerks in der neuesten Musik, in:
CDGS, Bd. 8, S. 219.
46
47
8
Ebd., S. 224.
Dahlhaus, Über den Zerfall des musikalischen Werkbegriffs, in: CDGS, Bd. 8, S. 236.
Interpretation zu verstehen, die die Rezeption der Willkürherrschaft des Rezipienten
unterstellt. Vielmehr soll sie die „Totalität des Möglichen“ (Schleiermacher) wieder
erschließen, die „in der Wirklichkeit verlorenen Möglichkeiten wieder zugänglich macht“
(Dilthey, s.o.), die „Repotentialisierung“ (Jauß, Iser) realisiert. Für eine freigesetzte Rezeption
dagegen, genauso wie für eine völlig freigestellte Improvisation, gelte vielmehr, so Dahlhaus,
dass, je schwächer der Zusammenhang zu einer Werkstruktur oder einer Werkform
ausgeprägt ist, umso geringer die Chance sei, Neues zu erfahren; „denn Neuheit ist weniger
eine Qualität des Momentanen als des Kontextes, in dem es steht“.48 Damit wäre die erstrebte
Wiedererschließung von neuen Möglichkeiten als Ziel des Verstehens eben gerade vertan.
Was ist aber dieser Kontext, der Berücksichtigung finden muss?
3.2
Carl Dahlhaus’ Dialektik
Der platte Verweis auf den historischen Kontext genügt hier nicht, weil dessen Validität ja
gerade in Frage steht. Die Dahlhaus’sche nun wahrhaft dialektische Sicht dieses Kontextes
wird meines Erachtens am besten ersichtlich in seiner Auseinandersetzung mit Adornos
Konzept des musikalischen Materials. Dessen Satz, dass das Material „sedimentierter Geist
sei“, legt den Akzent auf die musikalischen Mittel statt auf das Resultat, die Werke. Als
Träger des „objektivierten“ Geistes erscheinen weniger „die musikalischen Gebilde, als der
Stoff, aus dem sie geformt sind, und die Technik, mit der sie realisiert wurden“, so Dahlhaus’
Einschätzung des Adornoschen Konzepts.49 Die spezifischen Züge des Materials sind nach
Adorno „Male des geschichtlichen Prozesses. Sie führen die historische Notwendigkeit umso
vollkommener mit sich, je weniger sie mehr unmittelbar als historische Charaktere lesbar sind
[…]. Als ihrer selbst vergessene vormalige Subjektivität hat solcher objektiver Geist des
Materials seine eigenen Bewegungsgesetze“.50 Das hätte auch Simmel schreiben können.
Nebenbei bemerkt: Auf solche Bewegungsgesetze hebt auch ein ganz anderer ab, der das
Aufgabenlösen in der Komposition mit mathematischen Problemen und ihrer Lösung
vergleicht, mit Ableitungen und Projektionen unter bestimmten Regeln,und entsprechenden
Fehlern in musikalischen Abfolgen sinnhafter Elemente, wie das auch für mathematische
Argumente gelte. Entsprechend könnte man auch Fehler in den Themen selbst suchen, so
Ludwig Wittgenstein, der solche Argumente gegen Mahlers Symphonien vorbringt.51 Das
zeigt, so belustigend dieser Hinweis sein mag, dass man über entsprechende
Bewegungsgesetze durchaus streiten kann. Ein Klassizismus oder ein Neoklassizismus lässt
sich eben nicht so einfach wie im Teufelsgespräch des Doktor Faustus mit der Bemerkung
abqualifizieren, dass er das Langweilige wieder interessant mache, weil das Interessante
langweilig geworden sei.
An dieser Stelle bietet Dahlhaus ein Gegen-Konzept, welches wie alle großen Konzepte in
seiner Selbstverständlichkeit überraschen mag, dessen Nicht-Selbstverständlichkeit jedoch
gerade im Blick auf die aktuellen Diskussionen zur Medialität der Kunst offenkundig ist: Er
verweist lapidar darauf, dass „der Stand des Materials, Adornos ästhetischkompositionstechnische Berufungsinstanz, nichts anderes [ist] als der Inbegriff der Spuren
früherer Werke in den Zusammenhängen, in denen sich das musikalische Denken eines
48
49
Ebd., S. 235.
Dahlhaus, Adornos Begriff des musikalischen Materials, in: CDGS, Bd. 8, S. 278.
50
Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Gretel Adorno
und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1975, S. 38 f.
51
Ludwig, Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen (Werksausgabe, Bd. 8), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, S.
544 f.
9
Komponisten bewegt“. Das ist der gesuchte „historische Kontext“. Und weiter: „Die
52
Erfahrung mit Werken bestimmt dann den Charakter des Materials, nicht umgekehrt“. Dies
gelte sowohl für den Komponisten als auch für den Interpreten und den Rezipienten. Diese
Einsicht ist einer dialektischen Reflexion im strengen Sinne verpflichtet, und sie ist konträr zu
den geläufigen medientheoretischen Ansätzen.
Dialektisch ist sie insofern, als das Anliegen dialektischer Theorie darin liegt, aufzuweisen,
wie eine reale Möglichkeit durch ihre notwendigerweise einseitige Verwirklichung negiert
wird und damit auch andere Verwirklichungsoptionen negiert, und inwieweit eine Reflexion
diesen dialektischen Widerspruch (der mit einem logischen nichts zu tun hat) aufhebt, indem
sie ihn als Widerspruch aufweist, und die wiedererschlossene Möglichkeit zu einem neuen
Thema eines theoretischen und praktischen Umgangs macht. In Dahlhaus’ Formulierung: dass
in der Rede von einer „Tendenz“ des musikalischen Materials als Inbegriff der
kompositionstechnischen Mittel manifestierte Vergessen ihrer ursprünglichen objektivierten
Intentionen und der dadurch eingetretenen Entfremdung sei durch historische Reflexion
aufzuheben, mithin das Insgeheime des „insgeheim gesellschaftlichen“ Geistes des
Materials.53 Entsprechend verwahrt sich Dahlhaus gegenüber der Unterscheidung zwischen
„dialektischen“ und gleichsam „toten Widersprüchen“ in der Entwicklung der
kompositorischen Technik54 nach Maßgabe der Wirkung, die bestimmte Werke zeitigen. Er
verwahrt sich gegenüber klassifizierenden Begriffen, wie sie auch Adorno in
kunstrichterlicher Absicht einsetzt. Vielmehr fordert er den Einsatz „dialektischer
Kategorien“,55 die geschichtliche Entwicklungen differenzierter rekonstruieren: indem sie
Eigenschaften des musikalischen Materials und der Kompositionstechniken mit Blick auf die
Spuren früherer Werke in ihnen untersuchen, also diese Eigenschaften als Resultate von
Verwirklichungen und nicht als disponible Möglichkeiten weiteren Vorgehens erachten.
Gerade daraus aber entspringt eine neue Möglichkeit des Verfügenkönnens, die daraus
resultiert, dass man sich über das Material zu anderen Werken in einen Bezug setzt und im
eigenen Werk mithin mit anderen Werken umgeht.56 Dies gilt nun nicht bloß für den
Komponisten, sondern auch für die Interpreten und Rezipienten. Das „Wiedererschließen von
Möglichkeiten“ (Dilthey) als Ziel des Verstehens ist nichts anderes als ein sich in Bezug
setzen zu anderen Werken. Das hat letztlich zur Konsequenz, dass nicht die Verschiedenheit
des Standes eines musikalischen Materials, sondern der Materialbegriff selbst in seiner
Verschiedenheit ersichtlich wird,57 und zwar in seiner historisch unterschiedlichen Relation zu
anderen Instanzen wie Technik, Sprache und Struktur, die jeweils als Differenz oder
Indifferenz erscheint. „Material“ sei daher nicht terminologisch zu untersuchen, seine
Definition müsse sich in Geschichtsschreibung auflösen. Je nach den Spuren, die die Werke
hinterlassen, verändern sich die Kategorien der Technik, der Sprache, der Struktur, der Form,
des Stils etc.
Diese Einsicht setzt einen Kontrapunkt zum Mainstream der medientheoretischen Ansätze in
der Ästhetik. Denn diese gehen davon aus, dass technische Medien analog zu den natürlichen
Medien strukturierte Möglichkeitsräume darstellen, innerhalb derer konkrete Artefakte
52
53
54
55
56
57
10
Dahlhaus, Adornos Begriff des musikalischen Materials, in: CDGS, Bd. 8, S. 279 [Herv. C.H.].
Ebd., S. 281.
Ebd.
Ebd.
Vgl. den Beitrag von Wolfgang Rihm in diesem Band.
Dahlhaus, Adornos Begriff des musikalischen Materials, in: CDGS, Bd. 8, S. 283.
realisiert werden. In den durch diese Artefakte realisierten Zwecken hinterlassen die Medien
ihre Spuren, über die wir die Eigenschaften der Medien genauer kennenlernen, sei es im Zuge
unvollständiger Realisierung unserer Zwecke, sei es im Zuge von überraschenden positiven
Eigenschaften, mit denen wir konfrontiert werden. Analog zur Verfasstheit des natürlichen
Mediums Luft, das in einer konkreten akustischen Kommunikation seine Spuren hinterlässt,
führt die mediale Verfasstheit unserer technischen Medien zu Spuren in unseren realisierten
Zwecken, die diese Zwecke mitprägen. Wir haben hier also ein klares Gefälle von der
Möglichkeit, die die Medien bereitstellen, zu den Werken, die diese Möglichkeiten
verwirklichen.58 Die Übertragung dieser Einsicht für den Bereich technischer
Welterschließung auf den Bereich künstlerischen Schaffens ist jedoch unzulässig. Denn die
Wirkung eines Kunstwerks ist nicht von seiner Deutung zu trennen (was, nebenbei bemerkt,
für etliche virulente technische Wirkungen ebenfalls gilt). Die Deutung wiederum ist nicht die
des Werkes selbst, sondern eben die des intentionalen ästhetischen Gegenstandes, der mit
dieser Deutung zusammenfällt im Horizont von Erinnerung und Erwartung, von Retention
und Protention, die von den Erfahrungen und vom Umgang mit bisherigen Werken lebt und
von diesem Umgang geprägt ist. Während in der technischen Welterschließung die Medien
ihre Spuren in den Werken hinterlassen, hinterlassen in der ästhetischen Erfahrung die Werke
ihre Spuren in den Medien. Dieser alten hermeneutischen Einsicht hat Dahlhaus zu neuer
Geltung verholfen.
Aus genau diesem Grund wehrt sich Dahlhaus gegen einen arbeitsteiligen „faulen Frieden“
zwischen einer Werkästhetik mit ihrem Verfahren immanenter Analyse, einer
sozialgeschichtlich fundierten soziologischen Deutung von Werken sowie einer empirisch
gefassten Rezeptionsforschung auf psychologischer Basis. Objektivierter Geist dürfe nicht als
Inbegriff von „über den Menschen thronender Kunstgebilde“ erachtet werden. Umgekehrt
dürfe eine sozialgeschichtlich fundierte Pragmatik nicht einseitig die Situation, in der Werke
wahrgenommen werden, bei der Auslegung in den Vordergrund rücken, wobei Werke bloß
noch als Dokumente zum Gegenstand bloßer Sachurteile gemacht werden. Schließlich dürfe
sich eine Rezeptionsforschung erst recht nicht einzig als Aufweis oder Auflistung der
psychischen Erlebnisse sowie der Wahrnehmungsstereotype der Hörer begreifen.59
Unterschiedliche Formen vorgeschlagener „Arbeitsteiligkeit“, auf denen ein „fauler Friede“
zwischen diesen Zugangswegen zu etablieren wäre, scheitern, so etwa die Zuordnung der
Trivialmusik oder als Trivialmusik eingesetzter klassischer Werke zu den soziologischen
Verfahren, oder der Kunstmusik zu ästhetischer Interpretation und ästhetischer
Kontemplation. Denn die soziologischen Verfahren müssten die gesamte Musikkultur im
Auge behalten, und die Etikettierung von Trivialmusik setzt ästhetische Analyse und
ästhetisches Urteil voraus. Brüchig wird der faule Friede auch mit Blick auf die großen
Editionsunternehmungen, wenn es darum geht, Werksummen als Gesamtwerke zu
strukturieren und darzustellen. Die Vorstellung eines Gesamtwerks als Lebenswerk ist
nämlich ihrerseits eine in historischen Grenzen. Das führt uns zum Abschluss nochmals zu
Hegel und zu Dahlhaus’ Dialektik zurück: Wir finden sowohl beim Komponieren mit seinen
Techniken, als auch beim Interpretieren oder Nachkomponieren, als auch in der Pragmatik
mit ihren sozialhistorischen Zusammenhängen sowie in den Wahrnehmungsstereotypen aller
Orten Schranken und Barrieren. Sie als Grenzen herauszuarbeiten, ist bereits Ergebnis
58
Vgl. Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen, Bielefeld: Transcript, 2006, Bd. 1, S. 148-155.
59
Dahlhaus, Der Versuch, einen faulen Frieden zu stören. Der Zufall des musikalischen Werkbegriffes. Die
Wissenschaft von der Musik im Spannungsfeld von Ästhetik und Sozialgeschichte, in: CDGS, Bd. I, S. 209-232.
11
historischer Reflexion, denn jede Grenze verweist auf ein Jenseitiges, auf ein AndersMögliches, um dessen Willen wir uns überhaupt mit Kunst beschäftigen.60
60
Vgl. hierzu Grenzen und Grenzüberschreitungen (XIX. Deutscher Kongress für Philosophie), hrsg. von
Wolfram Hogrebe, Berlin: Akademie-Verlag, 2004, Kap. 17.
12
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