Gottes auserwähltes Volk

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2 serie
DIE SECHS
WELTRELIGIONEN
ABENTEUER GLAUBEN
FOTO: AKG
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Kunstvoll gearbeitete Schriftrolle mit dem hebräischen Text des Buches Ester, einer biblischen Geschichte über jüdische Klugheit
STERN-SERIE TEIL 2
Gottes auserwähltes Volk
JUDENTUM
Die älteste Religion der Welt, die nur einen Gott verehrt, folgt einem strengen
Regelwerk. In der Tora ist es aufgezeichnet. Sie ist die Heilige Schrift der Juden.
Von den Zehn Geboten bis zur Sabbat-Ruhe, von der Beschneidung bis
zur koscheren Küche ist das spirituelle wie praktische Leben festgeschrieben.
Gott, so sehen es die Juden, hat mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen,
der es von allen anderen Völkern unterscheidet
TEIL 1
TEIL 2
TEIL 3
TEIL 4
TEIL 5
TEIL 6
Religion
ohne Gott
Gottes
auserwähltes Volk
Himmel der
1000 Götter
Die Verheißungen
des Propheten
Balance im Kosmos
Die Lehre der
Liebe
BUDDHISMUS
JUDENTUM
HINDUISMUS
ISLAM
TAOISMUS/
KONFUZIANISMUS
CHRISTENTUM
die serie bei stern.de www.stern.de/Weltreligionen Die Texte der Serie gegen Gebühr
S T E R N
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1
FOTO: AMIT SHABI/LAIF
Eine Ruine ist die
heiligste Stätte der Juden
AM FUSS DES TEMPELBERGES
Gläubige drängen am Laubhüttenfest zum Gebet an
die Klagemauer in Jerusalem. Sie ist der letzte Rest des
Zweiten Tempels, erbaut nach der Babylonischen
Gefangenschaft. Die Römer zerstörten ihn im Jahr
70 n. Chr., danach begann die fast zwei Jahrtausende
währende „Diaspora“, die Zerstreuung des jüdischen
Volkes in alle Welt
2
S T E R N
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„Ihr seht das Unglück, in dem wir sind,
dass Jerusalem wüst liegt und
seine Tore mit Feuer verbrannt sind“
NEHEMIA 2,17
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3
„Kehr um, Israel, zum Herrn, deinem Gott!
Denn du bist zu Fall gekommen durch deine Schuld“
HOSEA 14,2
4
S T E R N
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Die Juden
verlieren ihr Gelobtes Land
S T E R N 4 8 / 2 0 0 4
5
F OTO : A K G
ZERSTÖRUNG DES ZWEITEN TEMPELS
Auf einem Schimmel stürmt der spätere Kaiser Titus
im Jahr 70 n. Chr. den Tempel in Jerusalem, um die
Juden zu strafen, die sich gegen das römische Imperium
erhoben hatten. Das Volk Israel wird aus Palästina
vertrieben. Der Maler Nicolas Poussin illustriert 1638
das Gemetzel mit abgeschlagenen Köpfen
und anderen Gräueln
PALÄSTINA, 1938
Jüdische Siedler tragen die Torarolle in einem
feierlichen Zug in einen neu gegründeten Kibbuz.
Der Ende des 19. Jahrhunderts begründete Zionismus
hat Juden in aller Welt dazu bewogen, in ihr
Heiliges Land zu emigrieren. Später suchen
hier Zehntausende vor der Verfolgung
durch die Nazis Zuflucht
6
S T E R N
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F OTO : RU E D E S A R C H I V E S / TA L L A N D I E R
Mit Gottvertrauen
zurück ins Land der Väter
FOTO: ULLSTEIN
FOTO: AKG
Ein junger Mann, der auf einem Hocker steht, wird 1906 bei einer Bar-Mizwa-Feier in Polen
mit den Segenssprüchen der Gemeinde in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen
Frauen und Kinder aus Ungarn auf der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz.
Unter der Terrorherrschaft der Nazis müssen Juden den Davidstern tragen –
eine Stigmatisierung, gefolgt von Entrechtung, Verschleppung und schließlich der
Vernichtung von sechs Millionen Juden
„Deine Erbauer eilen herbei, aber die
dich zerbrochen und zerstört haben,
werden sich davonmachen“
JESAJA 49, 17
S T E R N
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NEW YORK, 11. SEPTEMBER 2001
Orthodoxe Juden beobachten von einer
Straße in Brooklyn aus die brennenden Türme des
World Trade Centers. Nach den Terroranschlägen
beschuldigen manche Verschwörungstheoretiker
„die Juden“ als Drahtzieher – wie schon so oft in der
Geschichte. Im Mittelalter wurden sie für Pest und
Brunnenvergiftung verantwortlich gemacht
8
S T E R N
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F OTO : D O U G M E N U E Z / S C A L O / H E R E I S N E W YO R K
Eine Katastrophe weckt
das antisemitische Klischee
„Reden bringt Ehre,
aber Reden bringt auch Schande;
und der Mensch kommt durch
seine eigene Zunge zu Fall“
SIRACH 5,15
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„Wer keine Frau hat, lebt ohne Freude,
ohne Glück, ohne Seligkeit“
TALMUD, JEBAMOT 62 B
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S T E R N
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ELDRIDGE-STREET-SYNAGOGE, MANHATTAN
Unter einer Chupa, dem traditionellen
Hochzeitsbaldachin, geben sich zwei junge New Yorker das
Jawort. Das prunkvolle Gebetshaus hatten
osteuropäische Juden 1887 erbaut. Mit zwei Millionen
Juden hat New York die zweitgrößte jüdische
Gemeinde der Welt, hinter Tel Aviv mit 2,6 Millionen
und weit vor Jerusalem mit 575 000
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F OTO : M A R I O TA M A / G E T T Y
Braut und Bräutigam
gelten als König und Königin
„Wir sind Afrikaner,
wir haben uns zu Juden
erklärt und zu einem Teil
des Volkes Israel“
RABBI GERSHOM SIZOMU, UGANDA
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S T E R N
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NOMAHTUMBA-SYNAGOGE, UGANDA
Ein Kind spielt am Eingang des Gebetshauses mit
Schuhen, die andere Gläubige hier abgestreift haben.
Etwa 600 Menschen, die sich Abayudaya – Juden –
nennen, leben im Osten Ugandas, weitab von der übrigen
jüdischen Welt. Auch sie sehen sich als Enkel von
Abraham. Ein einheimischer Elefantenjäger bekehrte
ihre Dörfer 1919 zur Lehre des Alten Testaments
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F OTO : AC T I O N P R E S S
Abrahams schwarze
Enkel in Afrika
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DIE SECHS WELTRELIGIONEN
Von TEJA FIEDLER und HARALD SCHMITT (Fotos)
A
n diesem Nachmittag wird im jüdischen Viertel von rückt“, sagt Heidi Moszkowitz-Czajkowski, deren Mann eine koAntwerpen der Glaube mit dem Nudelholz gelehrt. schere Metzgerei gehört. Orthodoxe Hausfrauen räumen KühlEin Dutzend Mädchen in weißen Blusen walzt eine schränke und Speisekammern leer und kaufen garantiert ungeHand voll Teig zu dünnen Fladen. „Schnell, macht säuerte Lebensmittel eigens für die sieben Tage ein. Strenggläubischnell“, ruft der Lehrer mit der Kochmütze. Ki- ge Juden ersetzen sogar die gewohnte Zahnpasta: Sie könnte Alkochernd eilen die Mädchen, die Ohren rot vor Eifer, hol aus Getreide enthalten.
zum Backofen, wo im Handumdrehen aus dem
weichen Stück Teig knusprige „Mazza“ wird, das WOZU DIESER WUST VON REGELN? Nach jüdischer Auffassung
sind sie nicht bloßes Brauchtum, sondern die bindende Umsettraditionelle jüdische Brot für das Pessachfest.
Der Lehrer ist zufrieden, die Unterrichtsstunde geglückt, der zung göttlicher Gebote ins praktische Leben. So erinnern die PesGlaube gefestigt. Die Zubereitung der Fladen blieb mit 15 Minu- sachrituale an den von Moses angeführten Auszug der Israeliten
ten Dauer klar unter dem vorgeschriebenen Limit. Denn vom An- aus Ägypten, wo diese geknechtet und ausgebeutet worden waren.
rühren des Mehls bis zur fertigen Mazza dürfen nicht mehr als 18 Dieser Aufbruch in ein neues, freies Leben erfolgte auf Gottes AnMinuten verstreichen. Ansonsten wäre ein göttliches Gebot ver- weisung über Nacht. Die Juden fanden gerade noch die Zeit, aus
letzt. 18 Minuten dauert es, so haben Glaubensexperten herausge- Wasser und Mehl, doch ohne Sauerteig, ein bisschen Brot zusamfunden, bis Mehl bei Zugabe von Wasser zu fermentieren beginnt. menzubacken.
Schon Moses, von Gott inspiriert, schrieb seinen Landsleuten
Zum Pessachfest im Frühjahr darf aber in einem jüdischen Haushalt unter keinen Umständen irgendetwas vorhanden sein, ge- vor, wie und warum sie in Zukunft dieses entscheidenden Datums
schweige denn auf den Tisch kommen, das auch nur im Gerings- zu gedenken hätten. Im 2. Buch (13,7–8) heißt es: „Du sollst sieben Tage ungesäuertes Brot essen, dass bei dir weder Sauerteig
ten gären, säuern, fermentieren könnte.
Also wird das Brot zum Fest aus purem Mehl mit klarstem noch gesäuertes Brot gesehen werde an allen deinen Orten. Ihr
Wasser hergestellt, und das in Minutenfrist. Das Mehl wurde sollt euren Söhnen sagen an demselben Tage: Das halten wir um
vorher unter der Aufsicht eines Rabbiners gemahlen, damit ja dessentwillen, was uns der Herr getan hat, als wir aus Ägypten
kein Stäubchen Hefe, kein welkender Halm, kein Tröpfchen Flüs- zogen.“
Da durch Moses Gott gesprochen hat, muss diese Vorschrift bis
sigkeit zur Unzeit seine jungfräuliche Reinheit gefährden kann.
Das Wasser muss ebenfalls das sauberste vom sauberen sein. Vor in die – aus Sicht von Nichtjuden – letzte Spitzfindigkeit befolgt
dem diesjährigen Pessachfest etwa protestierten orthodoxe Ge- werden. Insgesamt gibt es 613 Ge- und Verbote für den Alltag. Sie
meinden in Israel gegen die Absicht der Regierung, auch während beschäftigen sich mit so abgelegenen Themen wie den vier Heuder sieben Festtage Trinkwasser aus dem See Genezareth in die schreckenarten, die im Gegensatz zu allen sonstigen Würmern
Haushalte zu leiten. Die strenggläubigen Juden befürchteten, und Insekten laut Moses koscher sind – wären sie nicht inzwischen
muslimische Anrainer könnten achtlos Brotreste in den See ge- ausgestorben. Zugleich regeln sie selbst intimste Aspekte: von der
worfen haben. Spuren dieser Verunreinigung würden dann trotz Zeit, in der Frauen keinen Geschlechtsverkehr haben dürfen –
zwischengeschalteter Filter die Haushalte Israels erreichen und so während der Menstruation und der Woche danach –, bis zur Beschneidung von neugeborenen Jungen als dem von Gott abgeforein Pessachgebot verletzen.
Auch im Bahnhofsdistrikt von Antwerpen, wo mit 25 000 Ju- derten Zeichen für den Bund zwischen ihm und dem Volk Israel.
Für Juden zeigt
den die größte orthosich Jahwe, der ewige
doxe Gemeinde Euround einzige Gott,
pas lebt, hält man sich
vor allem in seinen
gewissenhaft an die
Offenbarungen. Der
Reinheitsgebote. Um
Weg zu ihm führt
auch die winzigste Ferdaher über deren
mentierungsgefahr zu
Befolgung.
strikte
bannen, wird am Tag
Schon Abraham, der
vor dem Pessachfest
Stammvater Israels,
das Haus auf den Kopf
wird laut Bibel von
gestellt, mit „Kerze
Jahwe
auserwählt,
und Feder“ – so for„weil Abraham auf
dert der Talmud –
meinen Ruf gehört
werden alle Ecken ausund weil er auf meine
geleuchtet und ausgeAnordnungen, Gebowischt. Kein Krümelte, Satzungen und
chen darf übersehen
Weisungen geachtet
werden. „Man sollte
hat“.
also nie eine neue
„Die wahre GotPutzfrau nehmen vor
Ein Lehrer zeigt Mädchen im Chabad-Gemeindezentrum von Antwerpen, wie mit
tesverehrung be- ➔
Pessach, die wird vereinem Nudelholz ein Teig aus Mehl und Wasser zu dünnen Fladen ausgerollt wird.
Die Herstellung von Mazza, Brot zum Pessachfest, ist bis ins Detail geregelt
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„Und die Ohren des ganzen Volkes
waren dem Gesetzbuch zugekehrt“
NEHEMIA, 8,1–8
Die Heilige Schrift
ist Herzstück der Lehre
SHOMREI-HADASS-SYNAGOGE
Die Vorbeter der jüdischen Gemeinde von
Antwerpen entrollen zum Morgengebet die Tora.
Sie tragen dazu an Stirn und Armen die vorgeschriebenen
Gebetskapseln Tefillin und den Gebetsschal Tallit.
In der belgischen Stadt leben 25 000 Juden –
die größte orthodoxe Gemeinde Europas
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16
JÜDISCHE
MYSTIK
DER FALSCHE MESSIAS
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Ein Rabbi
will den
Sultan
stürzen
Rabbi
Sabbatai Zwi
nach einem alten
Stich
V
ielen Juden ist ihre Religion
zu rational. In Reaktion auf die Auslegung der Tora mit ihren strengen
Gesetzen gab es häufig religiöse
Bewegungen, die einen direkteren
Weg zu Gott suchten. Die jüdischen
Mystiker wollten „die Seele öffnen
und die Knoten lösen, die sie gefangen halten“, und so dem orthodoxen Glauben eine spirituellere Komponente geben.
Vor allem in Osteuropa, wo es im
17. Jahrhundert zu entsetzlichen
Pogromen durch die Kosaken
gekommen war, setzte sich als
Reaktion auf diese Verfolgungen
der Chassidismus durch – eine mystische Richtung, die das Heil der
Menschen nicht nur in der buchstabengetreuen Befolgung göttlicher
Regeln erlangen will. Die Chassidim, Hebräisch für „die Frommen“,
versuchen durch ekstatisches Gebet, durch Tanz und Gesang Nähe
zu ihrem Gott zu erreichen.
Gleichzeitig, oft Hand in Hand mit
dieser jüdischen Mystik, blühte damals der Glauben an einen Messias
auf. Dieser Gesandte des Herrn,
den Volksfrömmigkeit oft mit dem
Propheten Elias gleichsetzte, sollte
dem Elend der Juden in der Diaspora ein Ende machen wie über-
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17 S ST TE ER RN N 4 48 8/ /2 20 00 04 4
haupt dem irdischen Jammertal.
Der Erlöser sollte ein gerechtes und
friedliches Reich Gottes mit Jerusalem als Hauptstadt verwirklichen.
Immer wieder behaupteten religiöse
Erwecker, sie seien dieser Ersehnte.
Der berühmteste „Messias“ war der
aus Kleinasien stammende Rabbi
Sabbatai Zwi (1626 – 1676). Auf
dem Höhepunkt seiner Popularität
setzte Sabbatai Zwi sogar den Talmud außer Kraft. Da das messianische Zeitalter angebrochen sei,
gebe es keine Sünde mehr, so seine
kühne Begründung. Die Gesetze des
Talmud seien daher genauso sinnlos
wie Trauer und Fasten. Der selbst
ernannte Messias erklärte, er werde
den osmanischen Sultan – den damaligen Herrscher im Heiligen Land
– absetzen und an dessen Stelle
treten.
1666 wurde dem Sultan das Treiben Sabbatai Zwis zu viel. Er stellte
den Erlöser vor die Wahl, entweder
Muslim oder hingerichtet zu werden.
Sabbatai Zwi entschied sich fürs
Überleben und betete fortan fünfmal täglich zu Allah. Seine treuesten Anhänger störte dieser Verrat
nicht. Über den Tod ihres Messias
hinaus glaubten sie an seine
Wiederkehr.
FOTO: ROGER VIOLLET
Immer wieder bringt
das Judentum fromme
Eiferer hervor, die sich
Gott spirituell nähern
wollen – und zugleich
die weltliche Macht
herausfordern
steht im Halten der Gebote und nicht in müßiger Spekulation
über das Wesen des Höchsten“, so der Religionswissenschaftler
Thomas Schweer. Natürlich ist Gott auch für die älteste monotheistische Religion der Welt der Fels in der Brandung des Lebens.
Unverrückbar, unzerstörbar. Aber ohne Gesicht. Zu groß, als dass
die Menschen, seine Geschöpfe, sich von ihm ein Bild machen
könnten – was überdies in den Zehn Geboten von Gott ausdrücklich verboten wird. Nicht einmal sein Name soll ausgesprochen
oder „ausgeschrieben“ werden.
Jahwe ist der absolute Herr, der die Geschicke der Welt nach
seinem Willen lenkt. Er ist streng und barmherzig zugleich. Wie
ein mathematisches Axiom, das einfach existiert, aber nicht bewiesen werden kann, ruht Gottes Dasein in sich selbst: „Ich bin, der
ich bin.“ Die christliche Dreiteilung dieser obersten Gewalt in einen Vater, einen Sohn – der dann auch noch Mensch wird und am
Kreuz stirbt – sowie einen Heiligen Geist ist für jüdisches Denken
unbegreiflich, Gotteslästerung.
Anders als Christen sprechen Juden auch ungern vom Glauben.
Gott ist gegeben, man muss nicht an ihn glauben. Juden ziehen
anstelle von Glaube den Begriff „Lehre“ oder „Tradition“ vor.
Was dieser unfassbare Gott den Menschen von sich preisgeben wollte, hat er seinen Propheten in den Mund gelegt. Der bedeutendste unter ihnen ist Moses. Diesem historisch nicht belegbaren Sprachrohr seines Wollens hat Jahwe die Zehn Gebote
ausgehändigt, und von Moses stammen angeblich auch die ersten fünf Bücher der Bibel, die das Fundament des jüdischen
Glaubens sind.
Gott hat sich dabei nicht allen Menschen gleichermaßen offenbart. Er schloss einen Bund nur mit einem Volk auf der Erde, den
Nachkommen Abrahams, den Israeliten. Salopp gesprochen tätigte er mit diesem „auserwählten Volk“ ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Israel erkennt ihn als einzigen Gott an und folgt allen seinen Geboten. Dafür gewährt er den Juden das Land, in dem
Gleichberechtigung beim Gebet
Am Jewish Theological Seminary of America in New York
sammeln sich Frauen in traditioneller Männerkleidung zur
Morgenandacht. Erst seit kurzem ist ihnen das erlaubt
DER ISLAM HINGEGEN TOLERIERTE die jüdische Religion meist
als eine Vorstufe des Glaubens an Allah. Mohammed hatte den
strengen Monotheismus des Judentums weitgehend in den Koran
übernommen. Der heutige Hass vieler Muslime auf die Juden ist
kein religiöses, sondern ein politisches Phänomen, ausgelöst erst
durch die zionistische Einwanderung und die Gründung des Staates Israel 1948.
Unter gläubigen Juden gehen die Meinungen weit auseinander, ob die Rückkehr in den gegenwärtigen Staat Israel ein Schritt
Betrunken in Erinnerung an Ester
Zwei junge Männer hängen in einer Bank. Am Purimfest
trinken Juden auf die Rettung ihrer Ahnen durch die kluge
Ester vor rund 2500 Jahren am persischen Hof
hin zum Reich des Messias ist. Der Jerusalemer Rabbiner Eliahu
Avichail etwa bejaht dies: „Das grundlegende Element der Erlösung ist Austritt aus der Diaspora und Leben in Israel, keiner
fremden Macht unterworfen. Die Erlösung wird nicht vollkommen sein, bis das ganze Volk Israel in seinem Land leben wird …
geführt von der Tora.“ Doch viele orthodoxe Juden sehen den
Staat von Theodor Herzl und David Ben Gurion als laizistisches,
gottfernes Gebilde an, in dem nichts auf die Ankunft des Messias verweist.
„Oh Herr unser Gott, du hast das Heilige vom Profanen geschieden, das Licht von der Dunkelheit, Israel von den anderen
Völkern und den Sabbat von den sechs Arbeitstagen“, heißt es in
einem populären jüdischen Gebet. Diese privilegierte Stellung eines Volks gegenüber Gott ist unter den großen Religionen einmalig. Viele Glaubensgemeinschaften wollen ihre Wahrheit so weit
wie möglich, am besten über die gesamte Menschheit verbreiten.
Das Judentum dagegen hat keine missionarischen Züge.
➔
FOTO: FREDERIC BRENNER
„Milch und Honig fließen“, und in der „kommenden Welt“ ewige
Seligkeit – in einem neuen Garten Eden. Die Gottlosen hingegen
werden an einen trostlosen Ort verdammt. Die Konturen dieser
„Hölle“ und ihrer Schrecken bleiben aber, anders als im Christentum, sehr vage.
Vor dem Jüngsten Gericht wird nach jüdischer Lehre der Messias erscheinen und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit
errichten. Auf seine Ankunft warten die Juden noch. Jesus, der
Messias des Christentums, ist für sie ein irregeleiteter Schwärmer
oder religiöser Hochstapler und laut Talmud gar nicht existent.
Immer dann, wenn das auserwählte Volk seinem Herrn untreu wurde, wenn es Götzen anbetete oder Schuld auf sich lud,
wurde es nach der jüdischen Lehre von Jahwe bestraft. Die
schlimmste Strafe war „Galut“, die Verbannung aus dem Land, in
das Moses es auf Gottes Geheiß geführt hatte. So geschehen 600
Jahre vor unserer Zeitrechnung, als die Juden für 50 Jahre ins Exil
nach Babylon deportiert wurden. Und, noch katastrophaler,
nach den Siegen der Römer, als der spätere Kaiser Titus 70 nach
Christus Jerusalem eroberte, den Tempel zerstörte und Kaiser
Hadrian im Jahr 135 den letzten Widerstand brach. Jerusalem
wurde römische Provinzstadt, die Juden zerstreuten sich in alle
Winde.
Das Judentum wurde eine Diaspora-Religion. Die meisten jüdischen Exilgemeinden bildeten sich in christlicher oder muslimischer Umgebung. Das Verhältnis der christlichen Welt zu den Juden war fast immer gespannt. Perioden oft nur widerwilliger Duldung wechselten über die Jahrhunderte mit Zeiten offener Diskriminierung und brutaler Verfolgung.
FOTO: MENAHEM KAHANA/AFP/GETTY
DIE SECHS WELTRELIGIONEN
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2 serie
DIE SECHS WELTRELIGIONEN
Menschen anderer Bekenntnisse sollen sich am jüdischen Leben, das Gottes- und
Menschenliebe als höchste
Werte ansieht, ein Beispiel
nehmen. Dann können sie
auch ins Paradies eingehen,
falls sie ein gutes, ein „gerechtes“ Leben führten. In den engen Bund Israels mit Jahwe
aber will man sie nicht unbedingt einbeziehen. Zwar kann
man zum jüdischen Glauben
konvertieren, doch die Hürden sind hoch, und aktive
Bekehrungsversuche werden
von der Religionsgemeinschaft
nicht unternommen.
zend Männer. Das Morgengebet ist ihre Sache, Frauen haben dabei nichts zu suchen. Sie
sind wegen ihrer biblischen
Rolle als Hausfrau und Mutter
von den vorgeschriebenen drei
täglichen Gebeten entbunden.
Eingehüllt in den traditionellen schwarzweißen Gebetsschal mit vier Fransen, die
schon Moses vorschrieb, verteilt ein Mann Flugblätter. Sie
rechtfertigen das Attentat und
fordern die Antwerpener BeFrauen bringen Licht in die Welt
Gemäß der Tradition zündet Heidi Moszkowitz-Czajkowski zum
hörden auf, einen muslimiBeginn des Sabbats am Freitagabend Kerzen an
schen Protestmarsch zu verbieten. „Wir leben nicht mehr
in den Zeiten Abrahams“, sagt
ein anderer Besucher der Andacht, „Auge um Auge, Zahn
DER GOTTGEWOLLTE Unterum Zahn ist heute keine Löschied zum Rest der Welt war
sung mehr.“ Auch er trägt den
stets die große Stärke und zuGebetsschal. Orthodoxes Jugleich die große Schwäche des
dentum ist politisch kein moJudentums: Das Bewusstsein,
nolithischer Block.
„auserwählt“ und damit anDann stehen die beiden
ders zu sein, schweißte die jüMänner einträchtig betend nedischen Gemeinden zusambeneinander. Über die Stirn
men und sicherte ihr unverspannt sich ein Riemen mit eifälschtes Fortbestehen durch
nem schwarzen, viereckigen
die Jahrhunderte. Umgekehrt
Kästchen aus Leder. Mit eierschwerte die strikte Einhalnem Riemen, der siebenmal
tung der Gebote die AssimilieMittagessen im koscheren Restaurant
um ihren Arm gewickelt ist,
rung an die Andersgläubigen,
Richtige Männer behalten die Hüte auf, wenn sie bei „Hoffy’s“ in
haben sie nahe dem Ellbogen
unter denen sie lebten, grenzte
Antwerpen einkehren. Die Kopfbedeckung zeigt Demut vor Gott
ein zweites Kästchen befestigt.
die Juden in deren Augen aus
Beide enthalten vier Bibelzitaund machte sie verdächtig.
te, auf Pergament geschrieben.
Kam wie in christlicher UmgeIn diesen heißt es, Symbole für
bung noch religiös motivierter
Hass dazu – laut Neuem Testament sind ja die Juden für die Kreu- den Bund mit Gott „sollen ein Zeichen sein auf deinem Arm und
zigung Christi verantwortlich –, war der Boden für Diskriminie- eine Erinnerung zwischen deinen Augen“. In dem Kästchen auf
der Stirn muss jedes der vier Zitate auf ein eigenes Stück Papier gerung und Pogrome bereitet.
Morgengebet am Donnerstag in der Shomrei-Hadass-Synago- schrieben sein. Im Behälter am Arm hingegen stehen alle vier auf
einem Blatt. Niemand weiß, warum.
ge von Antwerpen. Massive Zahlenschlösser, Videokameras und
Ebenso wenig gibt es eine schlüssige Erklärung für die Vorein Wachposten sichern den Eingang. Am Tag zuvor haben die Israelis einen Hamas-Führer in Gaza getötet, jetzt befürchtet man in schrift, unter allen Säugetieren nur das Fleisch von Wiederkäuern
mit gespaltenem Huf zu essen. Also nicht das der Schweine (geAntwerpen Reaktionen der muslimischen Minderheit in der Stadt.
Im „Schtibl“, dem kleineren Gebets- spaltener Huf, doch kein Wiederkäuer), auch nicht das der Kameraum, sammeln sich zwei Dut- le (Wiederkäuer, aber kein ganz durchgespaltener Huf).
FOTO: ULLSTEIN
Ein Stern aus
zwei Dreiecken
Der Davidstern, seit
der Antike ein spirituelles
Symbol, ist seit dem
Mittelalter ein Wahrzeichen
des Judentums. Ein Bezug
zu König David ist nicht
nachzuweisen
19
S T E R N
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NACH MEINUNG STRENGGLÄUBIGER JUDEN bedarf dies keiner
Begründung. Gott müsse seine Gebote nicht erläutern. Hygienische Argumente, etwa Trichinengefahr bei Schweinen, lehnen sie
als Pseudoerklärungen ab. Der Religionswissenschaftler Alfred J.
Kolatch: „Der Zweck der Speisegesetze besteht ausschließlich darin, dem jüdischen Volk seine Heiligkeit und seine Einheit zu bewahren, nicht aber seine Gesundheit.“
Im Kern sind die Essensregeln wie alle anderen Vorschriften der
jüdischen Religion in der Tora niedergelegt. Tora heißt auf
Deutsch „Weisung“ oder „Gesetz“ und hat eine doppelte Be- ➔
2 serie
deutung. Die Tora im engeren
Sinn sind die fünf Bücher Mosis, die den Zeitraum von der
Erschaffung der Welt bis zum
Tod des Moses umfassen (den
er allerdings schwer selbst beschrieben haben kann). Im erweiterten Sinn gehören die
später entstandenen Schriften
der Propheten, die biblischen
Geschichtsbücher wie die über
David und Salomo, und die
Psalmen dazu.
FOTO: TOPHAM PICTUREPOINT / KEYSTONE
DIE SECHS WELTRELIGIONEN
befolgt werden – eine Priesterkaste bilden sie allerdings
nicht. Geistliche Hierarchien
wie im Katholizismus mit
Papst, Kardinälen, Bischöfen,
Priestern und Laien sind im
Judentum unbekannt. Jeder
Gläubige steht Gott unmittelbar gegenüber. Daher stört es
auch niemanden, dass es jetzt
ein Laie ist, der mit einem
Sprechgesang einen Abschnitt
aus der Tora rezitiert, während
der Oberrabbiner schweigende
Randfigur bleibt. Nach Ende
seiner Lesung hält der Vorbeter die Rolle hoch über alle
Häupter und sagt: „Dies ist das
Gesetz, das Moses den Kindern Israels vorlegte.“ Dann
wird sie wieder zusammengewickelt und feierlich verstaut.
Ob denn die gesamte jüdische Bevölkerung von Antwerpen, dem „Jerusalem des Nordens“, strengstens nach den
Gesetzen der Bibel lebe? 50
Prozent, schätzt Jacques Wenger, Direktor im Diamantenviertel. Die anderen schickten
zumindest ihre Kinder auf
eine jüdische Schule. Diejenigen, die eher Religion light
praktizierten, blieben ebenfalls
Söhne Israels.
Werkzeug zum Vollzug des Bundes mit Gott
DARÜBER HINAUS GIBT ES
Dieses holländische Beschneidungsbesteck diente Anfang des
19. Jahrhunderts zum Entfernen der Vorhaut von Neugeborenen
noch eine „mündliche Tora,
die jene Offenbarungen Gottes
an Moses enthält, die vom
Propheten nicht niedergeschrieben wurden. Sie hat man
über Jahrhunderte von Mund
zu Mund weitergegeben und
erst im 2. Jahrhundert n. Chr.
aufgezeichnet. Zusammen mit
gelehrten Auslegungen und
Erklärungen bilden sie später
den Talmud (Talmud = Lehre,
Studium), die jüdische Richtschnur für alle Lebenslagen.
Weil der Talmud aber bereits
im 6. Jahrhundert schriftlich
fixiert war, sind im Lauf der
Wein ist erlaubt – aber koscher muss er sein
Zeit um jedes seiner Kapitel
Moshe Feldman mit einer Magnumflasche „Rothschild“. Ob der
aus der Feder gelehrter RabbiHaut-Médoc den Regeln genügt, wird im Weinberg geprüft
ner neue Kommentare und
dann Kommentare der Kom„WER ALS JUDE GEBOREN
mentare entstanden. Die Seiist, bleibt Jude. Schwarz kann
ten einer heutigen Talmudausgabe gleichen buchstäblich dem Querschnitt durch einen Baum- nicht weiß werden.“ Natürlich, es gebe Grautöne: Ultraorthodostamm: in der Mitte die Urschrift, das Mark, und außen herum xe, Orthodoxe, Konservative, Reformer. Aber die Tora sei der gemeinsame Nenner. Dann zitiert er einen einprägsamen Vergleich:
wie Jahresringe die Kommentare.
„Alle Juden stehen auf derselben Leiter, aber nicht auf derselben
Da in der klassischen Tora mit den fünf Büchern Mosis der
spirituelle Kern des Judentums steckt, ist die Torarolle das Herz- Sprosse.“
Metzgersgattin Heidi Moszkowitz-Czajkowski würde demnach
stück jeder Synagoge. Als Träger von Gottes Wort müssen diese
Rollen makellos sein. Ihr Text wird mit einem Federkiel in tief- auf einer Sprosse knapp über der Mitte stehen. Die quirlige Tochter polnischer Juden wurde 1951 in München geboren, sprach mit
schwarzer Tinte auf Pergament geschrieben, das von koscheren
Tieren stammen muss. Es darf nicht den kleinsten Riss aufwei- ihrer Großmutter Jiddisch, mit den Eltern Polnisch, in der Schule
sen, dem Schreiber bei seiner monatelangen Arbeit kein Fehler breites Bayerisch und lernte mit 23 Jahren auf einem Familienfest
den Antwerpener Schlachtermeister Moszkowitz kennen: „Drei
unterlaufen. Vertut er sich oder gerät ihm eine Zeile krumm, war
Tage nach unserem ersten Treffen hat er mir einen Heiratsantrag
alle Mühe umsonst.
Die Torarolle ist die meiste Zeit hinter einem Vorhang in einem gemacht.“
Die Mutter von drei erwachsenen Söhnen hat Musik studiert
reich verzierten Schrank an der Ostseite jedes Bethauses verborgen. Doch wie immer am Donnerstag – so wie jeden Sabbat und – „bei dem Mädchennamen Czajkowski ja kein Wunder“ – und
Montag – entnimmt auch heute der Vorbeter der Antwerpener Sy- später für Luxemburg und Belgien Schlager zum Grand-Prixnagoge mit Hilfe einiger Gemeindemitglieder die an zwei Stäben Festival komponiert. Ihr Traum wäre es, sagt sie, ein ganzes Muaufgewickelte Pergamentrolle ihrem Futteral. Neben ihm steht der sical auf Jiddisch zu schreiben. Komödien in dieser Sprache des
osteuropäischen Judentums hat sie schon verfasst und in AntOberrabbiner der Stadt in stiller Andacht.
Rabbiner sind Schriftgelehrte mit Diplom, deren Talmudausle- werpen aufgeführt. Im jüdischen Viertel der Stadt ist Jiddisch,
gungen von den Gemeindemitgliedern geschätzt und meist auch das sich historisch aus einem mittelhochdeutschen Dialekt ➔
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DIE SECHS WELTRELIGIONEN
FOTO: AKG
entwickelte, noch immer Umder Bibel steht das Verbot, ein
gangssprache. Die meisten der
Zicklein in der Milch seiner Mutheute in Antwerpen ansässigen
ter zu kochen. Daher dürfen laut
Juden stammen von Immigranten
Tora Gerichte auf Milchbasis nie
ab, die hier im 19. Jahrhundert vor
mit Fleisch zusammenkommen.
antisemitischen Ausschreitungen
Nicht einmal im Magen: Gläubige
im zaristischen Russland Zuflucht
Juden lassen sechs Stunden Versuchten. Die Hälfte der Gemeinde
dauungsspielraum, bevor sie nach
wurde während der deutschen
einem Fleischgericht etwa eine
Okkupation vernichtet oder floh
Quarktasche essen, umgekehrt
ins Ausland. Aber die Antwerpereicht eine Stunde Abstand. Alle
ner Juden konnten sich auch unter
Nahrungsmittel müssen natürlich
der Verfolgung ihre Kultur und
koscher, zu Deutsch „rein, geeigSprache bewahren.
net“ sein.
Eines der Lustspiele von Heidi
Moszkowitz-Czajkowski hat das
DIE LEHRE VON DER REINHEIT ist
Purimfest zum Thema. Lachen
Gottes Wort, in Stein gemeißelt
eine Wissenschaft für sich. Koüber einen religiösen Feiertag, wischer sind alle Tiere mit Schuppen
Eine fromme Illustration aus dem 19. Jahrhundert
derspricht das nicht den strengen
und Flossen, also die meisten Fizeigt, wie Moses direkt aus der Hand Jahwes die Tafeln
mosaischen Gesetzen? Steht das
sche, nicht koscher die übrige
mit den Zehn Geboten empfängt
nicht im Gegensatz zu dem ernsMeeresfauna wie Hummer oder
ten, fast düsteren Eindruck, den
Tintenfisch. Koscher sind die gändie schwarzen Gehröcke und Hüte der orthodoxen jüdischen gigen Geflügelarten von der Taube bis zur Gans, bei den SäugetieMänner und die gedeckten, dunklen Gewänder der Frauen auf der
ren nur paarhufige Wiederkäuer. Selbst Wein benötigt für orthoStraße machen? „Nein, nein“, schüttelt sie energisch den Kopf, „jüdoxe Juden das Reinheitszertifikat.
discher Glaube kann sehr fröhlich sein.“
Auch den Sabbat hält Familie Moszkowitz heilig. Arbeit ist am
Ein Blick in den Talmud bestätigt das. Zum Purimfest im Früh- Sabbat, den Gott nach sechs Schöpfungstagen zum Ruhetag machjahr, das auf das biblische Buch Ester zurückgeht, schreibt der Talte, strikt verboten. In biblischen Zeiten stand auf Verletzung der
mud vor, ein Mann sei verpflichtet, so viel Wein zu trinken, bis er Sabbatruhe die Todesstrafe. Die gewissenhaften Exegeten der Tora
die Aussagen in diesem Buch durcheinander bringe. Leichtlebig- haben im Lauf der Jahrhunderte 39 Kategorien von Tätigkeiten
keit wird hier biblisch gerechtfertigt: Der Legende nach hat die katalogisiert, die an diesem Tag, der mit dem Freitagabend beschöne Ester am persischen Hof eine tödliche Intrige abgewehrt ginnt und am Samstagabend endet, untersagt sind. In den moderund einen erbitterten Feind der Juden während eines Weingelages nen Zeiten verästelte sich dieses Regelwerk ungemein. Orthodoxe
ausgeschaltet.
Juden etwa stellen heute nicht einmal den Elektroherd an, denn
Feuermachen ist verboten, und der elektrische Funke, der beim
„UND DANN DAS HOHELIED SALOMOS“, sagt Heidi Moszkowitz- Schließen eines Stromkreises überspringt, gilt für sie als eine Art
Czajkowski, „das ist ein ganz sinnlicher, fast ekstatischer Hymnus Feuer. Aus dem gleichen Grund gibt es in großen Hotels neben
auf die Freuden der Liebe.“ Sexualität hat für die jüdische Religi- dem normalen Lift einen eigenen Sabbat-Aufzug, der automatisch
on außer bei wenigen ultraorthodoxen Randgruppen nicht das auf jedem Stockwerk hält. So braucht der gläubige Gast keinen
unterschwellig negative Vorzeichen, mit dem das Christentum sie Knopf zu drücken.
seit den Tagen des Apostels Paulus bewertet. Diese Sinnlichkeit
Heidi Moszkowitz-Czajkowski sieht im jüdischen Sonntag jemuss allerdings in einer festen Verbindung, sprich der Ehe, ausge- doch weniger den Tag der Verbote als den Familientag, der durch
lebt werden. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ich will
seine Ruhe und Harmonie auf das verheißene messianische Zeitihm eine Gehilfin machen“, sprach der Herr (1. Moses, 2,18). Der alter verweist. „Wenn ich am Freitagabend die Kerzen anzünde,
Talmud kleidete dieses Leitwort dann mit Gefühlen aus: „Wer kei- begrüße ich den Sabbat wie eine Königin.“ Das Kerzenanzünden
ne Frau hat, lebt ohne Freude, ohne Glück, ohne Seligkeit.“
als Auftakt zum Festtag ist Frauensache. Die Talmuderklärung ist
Mit den vielen Regeln und Tabus ihrer Religion kann Heidi poetisch, doch nicht schmeichelhaft. Da Eva sich im Paradies von
Moszkowitz-Czajkowski leben. „Sie halten die jüdische Identität
der Schlange in Versuchung führen ließ, hat sie durch ihre Sünde
zusammen.“ Manche ignoriert sie einfach. So trägt sie kein Kopf- das Licht in der Welt verdunkelt. Mit dem Anzünden der Kerzen
tuch, obwohl sie als verheiratete Frau ihr Haupt eigentlich bede- holt sie es wieder zurück.
cken sollte. Über die untergeordnete Stellung der Frau, die im
Manchmal befolge sie die Gebote ihrer Religion eher instinkSchöpfungsbericht „Gehilfin“ des Mannes heißt, sieht sie achsel- tiv, ohne genau den biblischen Hintergrund zu kennen, sagt Frau
zuckend hinweg. „Im Morgengebet bedanken sich unsere Männer
Moszkowitz-Czajkowski. Dann bekomme sie von ihrem jüngsten
beim Herrn, dass sie keine Frauen sind. Aber das ist mir wurscht.“ Sohn, der in Jerusalem zurzeit Torastudien betreibt, tadelnd zu
Sie würde auch nicht unbedingt hungern, falls auf Reisen kosche- hören: „Aber Mama, das sind Grundwerte unseres Glaubens.“
res Essen nicht verfügbar wäre. „Die Juden in den Konzentrations- Hebräisch, die Sprache des Talmuds, beherrscht die Mutter nur
halbwegs. Was ihr gelebtes Judentum keineswegs einschränkt:
lagern wurden sicher auch nicht koscher ernährt.“
Doch zu Hause folgt sie den peniblen jüdischen Speisevor- „Wenn es mir dreckig geht, lese ich die Psalmen auf Jiddisch.
schriften. Sie hat eine „milchige“ und eine „fleischige“ Küche. In Und gleich fühle ich mich viel besser.“
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AUFNAHMEREGELN–
THEORIE UND PRAXIS
WIE WIRD MAN JUDE?
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Hohe
Hürden
FOTO:
Andere Religionen
missionieren, freuen
sich über jeden neuen
Gläubigen. Im Judentum ist das etwas
anders
Urkunde
einer Göttin
Mit ihrer Unterschrift wurde
Marilyn Monroe
1956 Jüdin
W
er zum Judentum übertreten will, muss jüdisches
Wissen erwerben, sich einem dreiköpfigen rabbinischen Gericht,
dem Bejt Din, zur Prüfung vorstellen und nach erfolgreichem
Abschluss in der Mikwe, dem rituellen Bad, dreimal untertauchen. Männer müssen sich zudem beschneiden lassen.
Soweit die Theorie.
In der Praxis werden Bewerber zunächst meist abgewiesen.
Das Judentum missioniert nicht – im Unterschied zu Christentum und Islam, die ihre Religion universal verbreiten wollen. Wer
Jude werden will, muss beweisen, dass es ihm mit dem Übertritt
ernst ist. „Ich will Jude werden, um dereinst in den Himmel zu
kommen“, wird keinen Rabbiner überzeugen. Der Aspirant muss
Hebräisch lernen, um die Tora einigermaßen zu verstehen.
Er sollte zwei bis drei Jahre lang durch praktische Teilnahme in
die Lebensregeln der jüdischen Welt hineinwachsen, muss
insbesondere mit den Essvorschriften und der Gestaltung der
Feiertage genau vertraut sein.
Orthodoxe und liberale jüdische Gemeinden betrachten die
Aufnahmepraxis des jeweils anderen Lagers misstrauisch. Das
hat einen handfesten Grund: Der Staat Israel garantiert allen
Juden das Recht auf Einwanderung. Vor kurzem haben orthodoxe Rabbiner vor dem obersten israelischen Gerichtshof – erfolglos – gegen die Einbürgerung eines Mannes geklagt, der nach
zu liberalen Regeln in den USA konvertiert sein soll.
FRANK BARTH, KANTOR
S TAT I O N E N D E S J U D E N T U M S
Um 1250 v. Chr.
Auszug aus Ägypten unter der
Führung von Moses
Um 1000–928 v. Chr.
Glanzzeit des jüdischen Reiches
unter den Königen David und Salomo: David vereinigt die König-
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reiche Juda und Israel und macht
Jerusalem zur Hauptstadt, Salomo lässt dort Jahwe einen prächtigen Tempel bauen
587 v. Chr.
Zerstörung des Ersten Tempels,
50-jähriges Babylonisches Exil
515 v. Chr.
Nach der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft Einweihung des Zweiten Tempels in
Jerusalem
63 v. Chr.
Palästina wird römische Provinz
70 nach Chr.
Nach einem jüdischen Aufstand
gegen Rom nimmt Titus Jerusalem ein und zerstört den Tempel.
Das Judentum wird „Diaspora“Religion (griechisch: Zerstreuung). Juden leben als Minderheit
in Ländern mit anderer Religion
FOTO: AKG; BRIDGEMAN ART LIBRARY; VARDA/IMAGES.DE; ULLSTEIN; HARALD SCHMITT; TOPHAM PICTUREPOINT/KEYSTONE
infografik: Maria Steffen
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Araber erobern Palästina
1066
Erstes Judenpogrom in Spanien,
dem im Mittelalter zahlreiche
Verfolgungswellen folgen, etwa
während der Pestepidemien des
14. Jahrhunderts in Zentraleuro-
pa sowie jene, die 1492 zur Vertreibung der Juden aus Spanien
führen
Ab 1870
Aufkommen des so genannten
modernen Antisemitismus
1933–1945
Verfolgung und Völkermord an
Juden im deutschen Machtbereich. Die Nazis ermorden sechs
Millionen Juden, das enspricht
zwei Dritteln der jüdischen
Bevölkerung Europas vor dem
Krieg
1948
Ausrufung des Staates Israel
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DIE SECHS
WELTRELIGIONEN
Im nächsten stern: Teil 3
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HINDUISMUS
Himmel der 1000 Götter
Eroberer Indiens brachten vor
3500 Jahren ihre eigenen Götter
ins Land, ließen aber die alten
Gottheiten dort in Amt und Würden.
So entstand die pluralistischste
Religion der Erde
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