Programmheft 2007 - Schlossfestspiele Sondershausen

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Johann Strauß
Die Fledermaus
Schlossfestspiele Sondershausen 2007
Dr. Falke (Johannes Wollrab), Ballgäste
Die Fledermaus ist nicht die beste Operette.
Sie ist DIE Operette, das Meisterwerk dieser Kunstart.
Felix von Weingartner
Johann Strauß
Die Fledermaus
Komische Operette in drei Akten
Text von Carl Haffner und Richard Genée
Uraufführung am 5. April 1874 in Wien
Eine Veranstaltung der Theater Nordhausen / Loh-Orchester Sondershausen GmbH
im Auftrag der Stadt Sondershausen
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Liebe Besucherinnen und Besucher der Schlossfestspiele Sondershausen,
sehr geehrte Damen und Herren,
zur zweiten Saison der Schlossfestspiele Sondershausen darf ich Sie ganz herzlich
begrüßen. Nach dem großen Erfolg der Oper Die Hochzeit des Figaro im vergangenen
Jahr freue ich mich, Ihnen in diesem Sommer eine der beliebtesten Operetten überhaupt anzukündigen: In Die Fledermaus hat Johann Strauß seine erfolgreiche Tanzmusik mit einer turbulenten Handlung verbunden und so ein Meisterwerk der Wiener
Operette geschaffen.
Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen noch die Ausstellung der Patenklasse der
Schlossfestspiele im Vestibül des Schlosses, in der eigene Bühnenbild- und Kostümentwürfe der Jugendlichen gezeigt werden.
Im Namen der Musik- und Bergstadt Sondershausen danke ich unseren Kooperationspartnern Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH, Kyffhäusersparkasse, Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten sowie Landesmusikakademie Sondershausen für die gute Zusammenarbeit, ohne die die Schlossfestspiele nicht möglich
wären.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und gute Unterhaltung mit der Operette
Die Fledermaus im Schlosshof Sondershausen.
Ihr
Joachim Kreyer
Bürgermeister der Stadt Sondershausen
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Eisenstein (Jussi Järvenpää), Rosalinde (Maria-Antonietta Mollica)
Die Handlung
Die Vorgeschichte
Vor vier Jahren hat Rentier Eisenstein seinem
Freund Dr. Falke einen Streich gespielt. Nach einem Maskenball ließ er ihn – in ein Fledermauskostüm gehüllt – im Park seinen Rausch ausschlafen. So musste Dr. Falke am
nächsten Tag in aller Öffentlichkeit im lächerlichen Kostüm nach Hause gehen. Diese
Schande hat er seinem Freund bis heute nicht vergessen.
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1. Akt
Vor dem Haus der Eisensteins singt Alfred,
der ehemalige Verehrer der Hausherrin Rosalinde. Adele, das Stubenmädchen, erhält
– vermeintlich von ihrer Schwester Ida – eine Einladung zum Ball des Prinzen Orlofsky.
Sie versucht, sich dafür einen freien Abend zu erschwindeln, doch zunächst bleibt
Rosalinde hart.
Alfred ringt Rosalinde das Versprechen ab, ihn zu empfangen, während ihr Ehemann
seine mehrtägige Haftstrafe wegen Beleidigung einer Amtsperson absitzt. So bleibt
Rosalinde nichts übrig, als Adele doch frei zu geben.
Eisenstein kommt mit seinem Advokaten Dr. Blind von der Gerichtsverhandlung, die
für ihn nicht günstig verlaufen ist. In diese Situation platzt Dr. Falke, der ihn überredet,
die Haftstrafe erst am nächsten Morgen anzutreten und heute Abend mit ihm auf
den Ball des Prinzen zu gehen. Eisenstein ist schnell überredet. Nach dem Abschied
der Eheleute kommt Alfred zum Rendezvous mit Rosalinde. Gefängnisdirektor Frank,
der Eisenstein zum Haftantritt holen will, überrascht die beiden. Um Rosalinde nicht
zu kompromittieren, lässt Alfred sich an seiner Stelle abführen.
2. Akt
Auf dem Fest des Prinzen Orlofsky führt
Ida ihre Schwester Adele als Künstlerin ein. Eisenstein und Frank erscheinen unter
falschem Namen. Was die beteiligten Personen nicht wissen: Sie alle sind Teil von
Falkes Rache an Eisenstein.
Eisenstein flirtet mit Adele, ohne sie zu erkennen. In diesem Moment erscheint auch
Rosalinde, der Falke einen Tipp gegeben hat, maskiert auf dem Ball. Sie schmeichelt
ihrem Gatten unerkannt seine Taschenuhr ab. Obwohl Eisenstein vom Streich erzählt,
den er Falke einst spielte, merkt er nicht, dass er längst zum Opfer von dessen
Racheplan geworden ist.
Das Fest wird immer ausgelassener. Kurz bevor die Menge Rosalinde zwingen kann,
ihre Maske fallen zu lassen, schlägt die Uhr sechs. Eisenstein muss nun endgültig
ins Gefängnis. Auch Frank eilt zu seinem Dienstbeginn.
3. Akt
Im Gefängnis singt Alfred in seiner Zelle.
Gefängniswärter Frosch philosophiert bei hochprozentigen Getränken vor sich hin, als
Direktor Frank, noch verkatert und müde vom Ball, zum Dienst kommt. Ida und Adele
sprechen vor und gestehen Frank, dass Adele nur Hausmädchen ist. Sie bitten ihn,
Adeles Ausbildung zur Künstlerin zu finanzieren. Eisenstein erscheint zum Haftantritt.
Doch Frank hält das für einen Scherz des vermeintlichen Marquis, da „Eisenstein“ ja
bereits am Vorabend im Beisein seiner Frau verhaftet wurde. Eisenstein schöpft Verdacht und verkleidet sich mit Blinds Robe als Anwalt, um seinen Nebenbuhler und die
ebenfalls aufgetauchte Rosalinde unter dem Vorwand, sie verteidigen zu wollen, zu
verhören.
Überraschend finden sich die Ballgäste ein und nötigen Falke, den Scherz aufzuklären.
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Eisenstein (Jussi Järvenpää), Dr. Falke (Johannes Wollrab)
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Peter Kemp
Entstehung und Rezeption
Als Max Steiner, einer der Direktoren
des Theaters an der Wien, die Rechte an
dem französischen Singspiel Le Reveillon
(1872) erwarb, war er überzeugt, daß
er den Erfolg, den dieses Stück in Paris
gehabt hatte, wiederholen könne. Er betraute den Schriftsteller Carl Haffner mit
der Abfassung einer deutschen Version.
Henri Meilhac und Ludovic Halévy, die
für Bizet den Text zu seiner Oper Carmen
geschrieben hatten, waren die Verfasser
von Le Reveillon nach dem Vorbild einer
deutschen Komödie Das Gefängnis von
Roderich Benedix aus dem Jahr 1851.
Aber Steiner verwarf Haffners Versuch
als unbrauchbar und versuchte, das französische Vaudeville an den Direktor des
Wiener Carl-Theaters, Franz Jauner,
loszuwerden – vergebens! Der Verleger
und Theateragent Gustav Lewy schlug
dann vor, Richard Genée solle Haffners
Fassung zu einem Operettenlibretto für
Johann Strauß umarbeiten. (...)
Als Strauß das Textbuch der Operette
gelesen hatte, die damals noch Dr. Fledermaus heißen sollte, war er Feuer und
Flamme. In ganz kurzer Zeit hatte er die
Hauptlinien der Partitur skizziert, angeblich
in „42 Tagen und Nächten“. Die Presse
berichtet zwar anderes, es steht aber
heute fest, daß die Hauptarbeit an der
Fledermaus zwischen Mitte August und
Mitte Oktober 1873 vor sich ging. In
diesem Zeitraum war Johann ständig in
Wien und hatte keine weiteren Verpflichtungen. Es mag sein, dass er die Arbeit
an der Operette unterbrach, weil es bis
zur Uraufführung, die für September 1874
ins Auge gefaßt war, noch reichlich Zeit
war. Als dann aber, aus finanziellen Gründen, die Premiere doch schon für April
angesetzt wurde, konnte Strauß nur
knapp vor der Uraufführung mit der Partitur fertig werden.
Strauß und Genée arbeiteten eng zusammen. Genée verfaßte nicht nur die Texte
der Arien und die Dialoge, sondern er half
dem Komponisten auch bei der Ausarbeitung der Partitur, zumal er über reiche
Kenntnisse in der Theaterpraxis verfügte.
(...)
Die Fledermaus wurde nach ihrer Premiere am Ostersonntag, 5. April 1874, im
Theater an der Wien auch von der Presse
mit viel Beifall aufgenommen. (...)
Im Juli 1874 war die Premiere der Fledermaus in Berlin, sehr bald erschien sie
auch auf anderen deutschen Bühnen und
eroberte nach Europa auch Amerika und
Australien. Es war die erste StraußOperette, die in London aufgeführt wurde,
und im Oktober 1877 erschien sie – mit
dem neuen Titel La Tzigane – in Paris
auf der Bühne. 1894 dirigierte der damalige Generalmusikdirektor Gustav Mahler
Die Fledermaus im Hamburger Stadttheater und im selben Jahr stand die „Operette der Operetten“ auch das erste Mal
auf dem Programm der Wiener Hofoper,
und zwar aus Anlaß einer Feier zum fünfzigjährigen künstlerischen Wirken des
Komponisten.
Wenn eine Operette populär werden soll, muß jeder nach seinem Geschmack
etwas darin finden... Die Leute auf der Galerie haben selten Geld, um sich
Klavierauszüge zu kaufen, noch seltener ein Klavier. Da muß man’s fein anstellen,
daß ihnen einiges frisch von der Vorstellung weg im Ohr sitzen bleibt.
Johann Strauß
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Orlofsky (Antonia Munding), Ida (Viola Offele)
Strauß
Ein neunzehnjähriger Jüngling spielt mit
einer kleinen Kapelle in einem Biergarten
in einer Wiener Vorstadt zum Tanz auf,
übernimmt nach des Vaters Tod dessen
Kapelle und spielt weiter zum Tanz auf,
begnügt sich nicht mit den vorhandenen
Tänzen, sondern komponiert Hunderte
von Walzern, Galopps, Polkas und dergleichen für seine Tanzkundschaft, wird
weltberühmt, erfreut sich der liebenden
Hochachtung so eigenwilliger Meister
wie Brahms und Wagner, führt in seinen
Unterhaltungskonzerten u.a. Werkbruch-
stücke des in Wien wenig geschätzten
Wagner auf, spielt im Freundeskreis am
liebsten Kammermusik von Beethoven
und Mozart, kommt erst als hoher Vierziger mit der Bühne in Berührung, schreibt
gleich als eine seiner ersten Operetten
ein Werk, das wahrhaft unvergänglich ist:
Die Fledermaus, begründet damit – ungewollt – die Vorherrschaft der Wiener
Operette zu einer Zeit, in der von Paris
aus Offenbach die Welt mit seinen Werken bezauberte, und – was noch mehr
sagt – er legt die Wiener Operette so
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Eisenstein (Jussi Järvenpää), Rosalinde (Maria-Antonietta Mollica), Ballgäste
breit und so tief an, daß sie auch noch
bedeutende Nachfolger fand (im Gegensatz zu Offenbach).
Woher dieser unglaubliche Erfolg? Man
verweist zur Erklärung meist auf das sanges- und tanzfreudige Wien jener Jahrzehnte, auf die erstaunliche musikalische
Begabung und auf die nicht analysierbare
Schöpferkraft von Johann Strauß Sohn.
Das ist alles richtig; aber eines wird vielfach übersehen, und das ist die doppelte
Schulung dieses wahrhaft großen Man-
nes: seinen künstlerischen Geschmack
schulte er ständig an Meisterwerken
der ernsten Kunst, zugleich aber schulte
er den Blick für die Wirkung seiner eigenen Kompositionen an der (von vielen
„Künstlern“ so verachteten) breiten Masse, für die er schrieb – nicht anders als
jener Luther, der mit seiner Bibelübersetzung auch „wirken“ wollte und daher
„dem gemeinen Volk aufs Maul schaute“.
Vor künstlerischen Verstiegenheiten
bewahrte diesen Feuerkopf die an Hans
Sachs gemahnende Verbindung mit dem
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Volk, vor seinen Plattheiten der Umgang
mit edler Musik.
Sagt man von Offenbach, seine Hauptwirkung gehe von den witzigen Couplets aus
(was nur bedingt richtig ist), so ruhen die
Operetten von Strauß vorwiegend auf
den Tanzliedern. Keineswegs nur auf den
Walzer-Liedern, sondern auf den Tanzliedern schlechthin. (...) Und diese Tanzlieder
sind mehr als schmeichelnde, lockende
Walzer, sprühende Galopps, funkelnde
Polkas; sie sind rein musikalisch so stark,
daß sie selbst in ganz kunstloser (man
darf zuweilen sogar sagen: gestaltloser)
Reihung als geschlossene Kunstwerke
anmuten. Beispiele dafür bieten das Potpourri der Fledermaus-Ouvertüre, die
Erinnerungs-Pantomime des Gefängnisdirektors im dritten Fledermaus-Akt, die
Konzertwalzer Geschichten aus dem Wiener Wald, An der schönen blauen Donau
(dieser eigentlichen Wiener Internationalhymne) und vieles mehr.
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Marguerite Kollo
Zur Situation des Genres Operette
Mit nichts tut sich das deutsche Geistes- Ihre Vitalität hat sich die über hundert
leben so schwer wie mit dem angeblich
Jahre alte Operettenform bis heute
so Leichten. Die Liebe zur Operette, ihr
erhalten. Auch und gerade wegen der
Genuß, wird von mutigen Dichtern und
„Unwahrscheinlichkeit“ ihrer Handlung,
Denkern jedoch eingestanden. Karl Kraus
des Rauschbewußtseins, des mehr
formulierte kämpferisch: „Ich kann mir
oder weniger sinnvollen Unsinns. Mit
denken, daß ein junger Mensch von den
einem Rhythmus, der das bewegungsWerken Offenbachs, die er in einem Som- lose Rezipieren des Werks, also das
mertheater zu sehen bekommt, entschei- Stillsitzen, zuweilen fast unerträglich
dendere Eindrücke empfängt, als von jemacht. Und einer Erotik, die mit ihrem
nen Klassikern, zu deren verständnisloser Esprit, und ihrer Eleganz, zeitlos anzieEmpfängnis ihn die Pädagogik antreibt.“
hend wirkt. Man kann ohne Zweifel
Und Theodor W. Adorno dialektisiert in
davon ausgehen, daß die Qualität und
seiner Einleitung in die Musiksoziologie
der Einfallsreichtum dieser angeblich
unter dem Stichwort „Operette“ folgenso leichten musikalischen Kunstgattung
dermaßen: „Sollte der Weltgeist in die
inzwischen der klassischen Kultur angeleichte Musik sich verirrt haben, so hätte
hört, die es unbedingt zu erhalten gilt.
er an ihr einige Gerechtigkeit verübt“.
Eisenstein (Jussi Järvenpää), Orlofsky (Antonia Munding)
Die Weltausstellung 1873 in Wien
Börsenkrach und Cholera
Die prunkvollen Eröffnungsfeierlichkeiten
und das anfängliche Interesse der geladenen Gäste an der Wiener Weltausstellung
konnten nicht lange über die Schwierigkeiten hinwegtäuschen, die sich bereits
1872 angedeutet hatten. Seit dem Bau
der Ringstraße und dem Plan, eine Weltausstellung durchzuführen, befand sich
Wien in gründerzeitlicher Hochkonjunktur,
was viele Börsenspekulanten und Gewerbetreibende nach Wien lockte. Doch
Fehleinschätzungen der Situation, betrügerische Spekulationen und Korruption
führten schließlich neun Tage nach der
Eröffnung zum Zusammenbruch der Börse. Der „schwarze Freitag“ oder „Wiener
Börsenkrach“ stürzte auf der Stelle viele
Unternehmer in den finanziellen Ruin.
Kritiker der Weltausstellung sahen sich
bestätigt und machten die kaiserliche
Entscheidung, ein Projekt dieser Art
durchzuführen, (...) für den wirtschaftlichen Zusammenbruch verantwortlich.
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Ende Oktober, als man die Gefahr der
Krankheit gebannt sah, setzte der große
Besucherstrom aus ganz Europa ein,
den die Organisatoren für die gesamte
Ausstellungsdauer erhofft hatten.
Die Schauseite der Weltausstellung
waren jedoch rauschende Ballnächte
und andere spektakuläre Ereignisse
wie der Besuch der deutschen Kaiserin
Augusta, des russischen Zaren oder von
Nasr-ed-Din, dem Schah von Persien.
Die Weltausstellung wurde u.a. auch
als Friedensfest seitens der Politiker
genutzt. Kunstvoll inszenierte Empfänge
von Ehrengästen sollten Zeichen für
Völkerverständigung und Frieden sein.
Tatsächlich betonte der Kaiser am 5.
November (...) besonders diesen Aspekt
der Weltausstellung. Nach dem Krieg
zwischen Deutschland und Frankreich,
der Gründung des Deutschen Reiches
und den Kriegen Österreichs an den Nordund Südgrenzen war dies von besonderer
Bedeutung. Gleichzeitig jedoch wurden
Im Juni kam es zu einer zweiten Katastrophe, die nun auch ausländische Besu- opulente Ausstattung und überwältigende Inszenierungen als politische Allegorie
cher von einer Reise nach Wien abhalten
eingesetzt, um die wirtschaftliche
sollte. Im Weltausstellungshotel „Donau“
Macht und den Aufstieg Österreichs zu
erkrankten 13 Gäste an Cholera. Zwar
demonstrieren. Die Diskrepanz zwischen
waren hygienische und medizinische Vorbereitungen getroffen, doch breitete sich Schein und Sein der Weltausstellung,
zwischen der Selbstdarstellung Privilegierdie Epidemie schnell aus. Trotz der verhältnismäßig geringen Zahl der Todesopfer ter und der gesellschaftlichen Realität
erhielt der Enthusiasmus für die Weltaus– Verschuldung und sozialem Elend ärmerer Schichten – wurden offensichtlich.
stellung einen spürbaren Dämpfer. Erst
Europa, armes Europa,
wann endet der lustige Wahn?
Noch braust der tolle Fasching,
wir tanzen auf einem Vulkan!
Und ginge die Welt auch in Fransen,
sie schwelgen doch bis zum Exzeß!
Und tanzen, tanzen, tanzen,
ja, das ist der Wiener Kongreß.
aus „Der Kongreß tanzt“
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Gertrude Krumbholz / Astrid Haase-Türk
Wiener Walzer
Der Walzer hat von allen Gesellschaftsschwenken und Wirbeln, das Hochwertänzen die längste Tradition. Sein Name
fen und Umstoßen“ der Partnerin.
kommt übrigens von dem deutschen
Wort „waltzen“ und bezieht sich auf die
Um 1750 findet sich das Wort „walzen“
drehenden Bewegungen der Füße, die
als Tanzform in einer Wiener Stegreifkoüber den Boden schleifen (Dreher, Schlei- mödie. 1770 berichtete Johann Wolfgang
fer). Mit seinen Vorläufern lässt sich der
von Goethe über seine Erfahrungen mit
Walzer bis ins 12./13. Jahrhundert, die
dem „deutschen Tanz“ und 1782 veröfMinnesängerzeit, zurückverfolgen. (...)
fentlichte Carl von Zangen das Buch
Die meisten Tanzhistoriker führen den
Etwas über das Walzen. Aufsehen erregWalzer auf den alten Dreher oder Ländler
ten 1787 vier Personen, die in Wien bei
aus dem 16. Jahrhundert zurück. (...)
der italienischen Oper Una cosa rara den
Es war ein Rundtanz im Dreiviertel- oder
ersten Walzer tanzten; allerdings wird
Dreiachtel-Takt, bei dem sich die Paare
bezweifelt, dass dort der Walzer „kreiert“
umfassten und um sich selbst drehten, wo- wurde. Am preußischen Hof lernte man
bei sie einen imaginären Mittelpunkt um- 1794 den Walzer, so auch die spätere
kreisten. Dieser langsame Tanz wurde bis Königin Luise von Preußen, die
Anfang dieses Jahrhunderts in Stadt und
allerdings nicht davon entzückt war und
Land getanzt. Eine zweite Version sieht
ihn verbot (in Berlin galt das Verbot bis
die Entstehung des Walzers im sogenann- 1918). Dagegen wurde auf Münchner
ten „Langaus“, einem Tanz, bei dem die
Bällen gespielt und getanzt. Seinen SieTänzer einen sehr langen Raum mit den
geszug trat der Walzer nach dem Wiener
wenigsten Drehungen zu durchtanzen
Kongress (1815) an. Nicht wenig daran
hatten. Die fortwährenden Verbote der
beteiligt waren die berauschenden WalObrigkeit bis ins 18. Jahrhundert waren
zermelodien von Lanner und der Straußgegen diesen Tanz gerichtet. Bestraft
Dynastie.
wurden das Verdrehen, „das Herum-
Alfred (Alexander Herzog), Rosalinde (Maria-Antonietta Mollica)
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Adele (Iris Schork), Ida (Viola Offele), Frank (Ji-Su Park)
Fledermäuse in Mythologie und Symbolik
In Europa ist die Fledermaus seit der
Antike überwiegend negativ besetzt. So
erzählt Ovid in seinen Metamorphosen
(IV, 1–34), dass die Töchter des Königs
von Böotien zur Strafe in Fledermäuse
verwandelt wurden, weil sie es vorgezogen hatten, am Webstuhl zu arbeiten und
sich Geschichten aus der Mythologie zu
erzählen, statt an den Festlichkeiten zu
Ehren Bacchus‘ teilzunehmen. Auch die
Bibel schreibt Fledermäusen negative
Eigenschaften zu, zählt sie zu den unreinen Tieren (genauer zu den Vögeln) und
bringt sie in Verbindung mit heidnischen
Götzenbildern (Deuteronomium 14,16
und Jesaja, 2,20). Der Römer Davis Basilius schrieb, dass die Fledermaus mit
dem Teufel blutsverwandt sei.
Dämonische und teuflische Wesen
werden in der bildenden Kunst häufig
mit Fledermausflügeln dargestellt und
unterscheiden sich dadurch von Engeln.
Im Barock ist die Fledermaus sogar
eines der Attribute des Antichrists.
Auch der spanische Maler Francisco de
Goya verwendete Fledermäuse neben
Eulen als Symbole des Bedrohlichen.
Ein alter Aberglaube besagt, dass sich
Fledermäuse gerne in Frauenhaare
wickeln. Dieser entstand vermutlich aus
der christlichen Vorstellung heraus, dass
die Haare von Frauen Dämonen bzw.
allgemein „das Böse“ anziehen (weshalb
in vielen Glaubensvorstellungen Frauen
ihre Haare bedeckt halten müssen).
Bei der Landbevölkerung Mexikos gelten
die Vampirfledermäuse zum Teil auch
heute noch als Hexen, die den schlafenden Menschen das Blut aussaugen.
Fledermäuse werden außerdem mit der
Seele und deshalb mit dem Tod assoziiert, auf einigen Darstellungen aus dem
14. Jahrhundert verlassen die Seelen
beim Sterben den Körper in Form einer
Fledermaus. Daraus könnten auch die
europäischen Vampirsagen entstanden
sein, die es bereits gab, bevor die mittelamerikanischen Vampirfledermäuse
bekannt waren. Dieser Vampirglaube hat
sich bis heute in der Populärkultur gehalten und spiegelt sich vor allem in der
Phantasie von Buchautoren und Filmemachern. Figuren wie Graf Dracula oder
auch Der kleine Vampir fliegen nächtens
als Fledermäuse herum und suchen ihre
Opfer, auch andere Vampirfilme, wie
etwa Tanz der Vampire, nutzen dieses
Motiv. Ebenfalls durch die nächtliche
Lebensweise inspiriert ist die Schöpfung
der Comic- und Filmfigur Batman – ein
Superheld, der in Fledermausverkleidung
nachts auf Verbrecherjagd geht.
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Die heute wenig begreifliche Verkleidung in eine Fledermaus war früher auf Bällen
populär. Eingeführt scheint sie in Berlin ein französischer Emigrant zu haben, der
1799 auf einer Festlichkeit bei Hofe als Fledermaus verlarvt erschien – sein Name
war Antoine Rivarol – und der Königin Louise die folgende Strophe überreichte:
„Puisque le sort m`a fait chauve-souris,
Je vois en Vous le belle astre des nuits.“
(Weil Fledermaus ich ward durch Schicksalsmacht,
Erblick ich Dich als schönsten Stern der Nacht.)
Heinrich Eduard Jacob
Michail M. Bachtin
Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur
Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe,
ohne Polarisierung der Teilnehmer in
Akteure und Zuschauer. Im Karneval
sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann
handelnde Person. Im Karneval wird nicht
zugeschaut, streng genommen wird er
aber auch nicht vorgespielt. Der Karneval
wird gelebt – nach besonderen Gesetzen
und solange diese Gesetze in Kraft bleiben. Das karnevalistische Leben ist ein
Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist
die umgestülpte Welt.
Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung
bestimmen, werden für die Dauer des
Karnevals außer Kraft gesetzt. Das betrifft
vor allem die hierarchische Ordnung und
alle aus ihr erwachsenden Formen der
Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette, das
heißt: alles, was durch die sozialhierarchische und jede andere Ungleichheit der
Menschen, einschließlich der altersmäßigen, geprägt wird. Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben.
An ihre Stelle tritt eine besondere Karnevals-Kategorie: der freie, intim-familiäre,
zwischenmenschliche Kontakt. Das ist
ein wichtiges Moment des karnevalistischen Weltempfindens. Die Menschen,
sonst durch die unüberwindbaren
Schranken der Hierarchie getrennt, kommen auf dem öffentlichen Karnevalsplatz
in familiäre Berührung miteinander. Diese
Kategorie bestimmt auch den eigentümlichen Charakter der Massenhandlungen,
der karnevalistischen Gestikulation, des
unverblümten karnevalistischen Wortes.
Der Karneval bildet in einer konkret-sinnlichen, in einem Mischbereich von Realität
und Spiel erlebten Form einen neuen
Modus der Beziehungen von Mensch zu
Mensch aus, der sich den allmächtigen
sozialhierarchischen Beziehungen des
gewöhnlichen Lebens entgegensetzt.
Benehmen, Geste und Wort lösen sich
aus der Gewalt einer jeden hierarchischen
Stellung (des Standes, der Rangstufe,
des Alters, des Besitzstandes), von der
sie außerhalb des Karnevals voll und
ganz bestimmt wurden. Sie werden
exzentrisch und deplaziert vom Standpunkt der Logik des gewöhnlichen
Lebens. Exzentrizität ist eine besondere
Kategorie des karnevalistischen Weltempfindens, die eng mit der Kategorie
des intim-familiären Kontaktes zusammenhängt. Sie gestattet es den unterschwelligen Seiten der menschlichen
Natur, sich in konkret-sinnlicher Weise
aufzuschließen und auszudrücken.
Mit der Familiarisierung hängt noch eine
dritte Kategorie des karnevalistischen
Weltempfindens zusammen: die karnevalistische Mesalliance. Die freie famili-
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Frank (Ji-Su Park), Frosch (Uwe Schmieder)
äre Beziehung ergreift alles: alle Werte,
Gedanken, Phänomene und Dinge.
Alles, was durch die hierarchische Weltanschauung außerhalb des Karnevals
verschlossen, getrennt, voneinander
entfernt war, geht karnevalistische Kontakte und Kombinationen ein. Der Karneval vereinigt, vermengt und vermählt das
Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe
mit dem Niedrigen, das Große mit dem
Winzigen, das Weise mit dem Törichten.
Damit wiederum hängt die vierte Kategorie des Karnevals zusammen: die Profanation, die karnevalistischen Ruchlosigkeiten, das System der karnevalistischen
Erniedrigungen und „Erdungen“, die unanständigen Reden und Gesten, die auf die
Zeugungskraft der Erde und des Leibes
hinweisen, die karnevalistischen Parodien
heiliger Texte und Aussprüche.
Bei allen diesen Kategorien des Karnevals handelt es sich nicht um abstrakte
Gedanken über Gleichheit und Freiheit,
über den Zusammenhang eines jeden mit
jedem, über die Einheit der Gegensätze.
Nein: das sind konkret-sinnliche, in der
Form des Lebens erlebte und gespielte
brauchtümlich-schauderhafte „Gedanken“,
die im Verlauf von Jahrtausenden in
den breiten Massen der europäischen
Menschheit sich ausbildeten und lebten.
Was nun andererseits
die Menschen gesellig macht,
ist ihre Unfähigkeit,
die Einsamkeit und in dieser
sich selbst zu ertragen.
Arthur Schopenhauer
Textnachweise:
Felix von Weingartner, zit. nach Bernard Grun, Kulturgeschichte der Operette, Berlin 1967. Die Inhaltsangabe
auf Seite 5 f. ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. Peter Kemp, Die Familie Strauß. Geschichte
einer Musikerdynastie, Stuttgart 1987. Johann Strauß Sohn, zit. nach Peter Kemp, a.a.O. Kulturbibliothek
der klassischen Musik- und Theaterstücke, Opern- und Operettenführer, Wilhelmshaven 1986. Marguerite
Kollo, „Zur Situation des Genres Operette“, in: http://operettenstiftung.org/de/operette.html. Die Wiener
Weltausstellung, Börsenkrach und Cholera, in: http://www.expo2000.de/expo2000/geschichte/
detail.php?wa _ id=4&lang=2&s _ typ=10. Gertrude Krumbholz und Astrid Haase-Türk, Richtig Tanzen, Standardtänze, München 2002. „Fledermäuse in Mythologie und Symbolik“, in: http://de.wikipedia.org/wiki/
Flederm%C3%A4use. Heinrich Eduard Jacob, Johann Strauß – Vater und Sohn, Bremen o.J.. Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Frankfurt/Main 1976. Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval.
Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/Main 1990. Der Kongreß tanzt, Musikalische Komödie in drei
Akten von Hugo Wittmann und Julius Bauer, zit. nach Otto Brusatti und Wilhelm Deutschmann, FleZiWiCsá
& Co, Die Wiener Operette, Ausstellungskatalog 91. Sonderausstellung des Historischen Museums der
Stadt Wien, Wien 1984.
Die Texte wurden teilweise gekürzt und redigiert veröffentlicht.
Inszenierungsfotos von Tilmann Graner, www.foto-tilmann-graner.de
Impressum
Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH
Spielzeit 2006/07, Intendant: Lars Tietje,
Redaktion: Birgit Susemihl / Anne-Kristin Schmidt,
Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer, Nordhausen.
Programmheft Nr. 2 der Schlossfestspiele Sondershausen.
Für die freundliche Bereitstellung des Polizeiwagens danken wir
der Polizeidirektion Nordhausen.
Für die freundliche Unterstützung danken wir außerdem dem
Juventas Gästehaus und dem Schlossrestaurant Sondershausen.
Schlossfestspiele Sondershausen
Postfach 11 20 | 99701 Sondershausen
Telefon (0 36 32) 6 22-7 02
Telefax (0 36 32) 6 22-4 04
[email protected]
www.schlossfestspiele-sondershausen.de
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