Die Fledermaus Operette in drei Akten von Johann Strauss MATERIALMAPPE Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebes Publikum, Johann Strauss hat mit seiner musikalischen Satire „Die Fledermaus“ ein zeitlos aktuelles Stück geschaffen, das seit seiner Uraufführung 1874 bis heute das Publikum begeistert. Mit vorliegender Materialmappe möchten wir Ihnen sowohl einen Eindruck von der Operette als auch von der Nürnberger Inszenierung des Regisseurs Waut Koeken vermitteln. Judith Debbeler, produktionsbetreuende Dramaturgin, erläutert in einem kurzen Bericht die Hintergründe und Charaktere des Stücks und gibt den Schülerinnen und Schülern damit bereits vor dem Theaterbesuch einen kritischen Blick auf Glitzer und Glanz. Die anschließenden Pressestimmen zeigen die Reaktionen auf die gelungene Inszenierung des jungen Belgiers. Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung von „Die Fledermaus“ sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops un d Gespräche für Schülerinnen und Schüler an. Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich wenden. Mit herzlichen Grüßen, Gudrun Bär Theaterpädagogin Kontakt: Staatstheater Nürnberg u18plus: junges publikum Theaterpädagogin Gudrun Bär Telefon: 0911-231-6866 Email: [email protected] 2 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ CHACUN À SON GOÛT! DIE RACHE DER FLEDERMAUS „Im Feuerstrom der Reben, trala, la la la la la la, sprüht ein himmlisch Leben, trala, la la la la!” In einem einzigen Satz drücken diese Zeilen aus dem Finale des 2. Aktes das gesamte Lebensgefühl der „Fledermaus” aus: Champagnerseligkeit, sprühende Lebenslust sowie den Traum, allen irdischen Begrenzungen im Wirbel des rauschenden Festes zu entfliegen. Und fliegen wollen sie alle: Alfred, ehemaliger Liebhaber der inzwischen mit Eisenstein verheirateten Rosalinde, flötet vor ihrem Fenster nach seiner alten Liebe: „Täubchen, das entflattert ist, stille mein Verlangen!“ Adele, das Kammermädchen der von Eisensteins, die – angeblich von ihrer Schwester Ida – eine Einladung zum Ball des verrückten Prinzen Orlofsky erhält, seufzt ob ihres eingesperrten Daseins: „Ach, wenn ich jenes Täubchen wär„, fliegen könnte hin und her, mich in Wonne und Vergnügen in dem blauen Äther wiegen!“ Auch ihren Arbeitgeber Gabriel von Eisenstein zog es schon immer von dannen: Verkleide t als Schmetterling, legte er einst nach einem rauschenden Kostümball seinen Freund Dr. Falke im Fledermauskostüm im Stadtpark ab und flatterte davon, so dass dieser morgens unter dem Gelächter der Schulkinder durch die halbe Stadt nach Hause trotten musst e. Dass Eisenstein seinerseits sich in Gegenwart der Amtsgewalt nicht hat beherrschen können, muss er nun in Form einer Haftstrafe abbüßen, die er noch am selben Abend antreten soll – und die er nur zu gerne in den Wind schlägt angesichts Falkes verlockender Einladung zum Ball Orlofskys, der von sich sagt: „Ich lade gern mir Gäste ein, man lebt bei mir recht fein.“ Die Abwesenheit ihres Gatten kommt wiederum Rosalinde wie gerufen, die Adele freigibt, um Alfred zu empfangen. Doch: Außer Falke weiß niemand, dass alle Beteiligten sich abends bei Orlofsky wiedertreffen werden. Fast alle Beteiligten, muss man sagen: Denn nach einem kurzen Stelldichein mit Rosalinde wird Alfred als vermeintlicher Eisenstein von Gefängnisdirektor Frank in „sein schönes, großes Vogelhaus“ – soll heißen: in den Arrest – geführt. Danach macht sich Frank seinerseits zu Orlofsky auf, um zusammen mit den anderen Protagonisten, an der Nase herumgeführt von Falkes Intrige, lustvoll im allgemeinen Schwindel der Champagnerverbrüderung und im Strudel der Walzer-, Polka- und Csárdásmusik zu versinken. Mit der „Fledermaus“ von Johann Strauss Sohn erreichte die Wiener Operette 1874 ihren ersten Höhepunkt. Mit szenischer Schwungkraft, hintersinnigem Witz und psychologischer Treffsicherheit beschreibt sie die Wiener Gesellschaft der Gründerzeit, ihre Lebensfreude, aber auch ihren Drang, sozialen, räumlichen und zeitlichen Begrenzungen im Fluge zu entkommen: „Wie fliehen schnell die Stunden fort, die Zeit wird sicher keinem lang, es heisst ja hier d as Losungswort: Amüs„ment, Amüs„ment!“ Die Verdoppelung und Vortäuschung von sozialen Identitäten, der Verlust jeglicher Orientierung, die Sehnsucht nach Aufhebung gesellschaftlicher Schranken und die immerwährende, leise Sehnsucht nach Flucht aus dem Alltag bilden den Treibstoff für Falkes Intrige, der alle ahnungslos auf den Leim gehen, während die Grenzen von Zeit, Raum und Identität im Walzertakt durcheinandergewirbelt werden. Über alldem hängt eine latente Wehmütigkeit über die Flüchtigkeit der schönen Augenblicke – „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“. Die Wiener Volkskomödie schimmert vor allem im Gefängnisakt durch, wo der betrunkene Gerichtsdiener Frosch mit seinem einfältigen Witz die allgemeine Ernüchterung und Demaskierung begleitet und kommentiert, während das Publikum schadenfroh und herzhaft lachen kann. Hier findet nicht nur die Auflösung des Spiels im Spiel statt, sondern zugleich auch die Entlarvung der Verhaltensweisen der verschiedenen Charaktere, die nicht nur dem Gebahren der zeitgenössischen Wiener Gesellschaft einen Spiegel vorhält, sondern 3 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ von zeitloser Bedeutung ist. Nicht zufällig wurde „Die Fledermaus“ nach dem gewaltigen Erfolg ihrer Uraufführung am 5. April 1874 im Theater an der Wien zu einer der meistg espielten Wiener Operetten überhaupt – und ist es bis heute geblieben. Judith Debbeler »GLÜCKLICH IST, WER VERGISST, WAS DOCH NICHT ZU ÄNDERN IST« ERNST DECSEY: DIE FLEDERMAUS AUS: JOHANN STRAUSS. PAUL NEFF, WIEN 1948. Der alte Benedix hätte nicht geglaubt, wie lang die Umwege zur Unsterblichkeit sind. Eines seiner blonden Lustspiele kam irgendwie nach Paris und machte dort die Bekanntschaft der offenbachschen Textdichter. Man gefiel einander und aus dem Atelier Meilhac und Halévy ging in neuer Aufmachung „Réveillon“ hervor („Das Souper um Mitternacht“). Die Regie half durch realistische Nuancen nach – u. a. ließ sie warme, noch rauchende Speisen auftragen – und das neue Pariser Vaudeville wanderte in erster Erfolgsblüte nach Wien. Direktor Steiner kaufte das Stück für das Theater an der Wien, konnte sich jedoch zur Aufführung nicht entschließen. Es steckte zu tief im Pariser Lokalkolorit. Gleich zu Anfang erklärt das Stubenmädchen Pernette, sie wolle „faire la réveillon avec mon amoureux“. Wie das übersetzen? Dem Wiener Theaterpublikum war der Ausdruck „réveillon“, der Tumult am Weihnachtsabend, absolut fremd und darauf beruhten die Verwicklungen des Stücks. So bietet Steiner das Buch Direktor Jauner vom Carltheater an, das damals Vaudevilles pflegte; aber Jauner wird mit dem Verleger Lewi nicht fertig. Das Buch kommt wieder zu Steiner und in einem gesegneten Augenblick schlägt Lewy ihm vor, daraus ein Libretto für Johann Strauss zu machen. Steiner ging darauf ein und beauftragte sogleich Haffner und Genée mit der Sache. Genée ging an die Operettisierung von „Réveillon“ mit seinem Doppelgeschick – wie weit Haffners Anteil reichte, lässt sich nicht genau sagen –, Genées Anteil war jedenfalls der größere, ja er beriet Strauss auch später in der Anordnung der Musikstücke. [...] Haffner und Genée nahmen einige Charakteränderungen vor: Aus der lamoyanten Fanny wurde die witzige Rosalinde, aus dem Bauernmäuschen Pernette das pikante Stubenmädchen Adele, aus Gaillardin wurde Gabriel von Eisenstein, aus Yermontoff wurde Orlofsky, aus dem Geiger Alfred, der in seiner Steifheit nicht zu gebrauchen war, der tenorsingende Alfred und so kam aus einer Regiebemerkung über ein Kostüm ein neues musikalisches Lustspiel hervor, dessen Mitte der große Ballakt wurde. Um Rosalinde auf den Ball zu bringen, musste eine neue Person als Träger einer neuen Intrige erfunden werden: Dr. Falk, Eisensteins Freund. Beide besuchten einmal einen Maskenball, Eisenstein als Schmetterling, Falk als Fledermaus; Eisenstein, der Falk trunken machte, lud ihn auf dem Heimweg unter einem Baum in seinem Kostüm ab und gab ihn dem öffentlichen Spott preis. Dafür rächt sich nun die „Fledermaus“ und sorgt dafür, dass Rosalinde zu Orlofsky kommt und Eisenstein sich in seine eigene Frau verliebt. Die etwas schief benannte Komödie müsste demnach eigentlich heißen: „Die Rache der Fledermaus“. Die Librettisten benutzten auch Einzelheiten: wie das Spiel mit der verführerischen Uhr, dem Madeira oder im dritten Akt die stummen Szenen des Gerichtsdieners Leopold, dem sie den unsterblichen Namen „Frosch“ verliehen. Sie benutzten auch die Aufklärungen: Der Gefängnisdirektor und Eisenstein lassen ihre Maske fallen, es gibt plötzlich zwei Eisensteine, 4 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ einen, der schon sitzt (Alfred), und den andern (der sitzen soll), der aber schaudernd erfährt, was zu Hause ... bei Frau Rosalinde ... geschehen sein mag. Einen Augenblick lang streift die Posse, wie jeder echte Humor es tun muss, das Tragische – dies ist die Sühne für die leichtsinnige Nacht! –, worauf Eisenstein, durch eine rasche Notlüge Alfreds beruhigt, unter allgemeiner Zustimmung in den Arrest abgeht. So kam Johann Strauss auf Umwegen zu den besten Librettisten seiner Zeit, zu Meilhac und Halévy, den Textdichtern Offenbachs, verbessert durch Richard Genée. Dabei verfuhren er und sein Mitarbeiter sehr musiksinnig und vor allem sehr architektonisch. Das Ganze ist ein großer Festball. Der erste Akt dazu Auftakt: die Vorfreuden, die sich durch das Gegenspiel durchlügen müssen. Der dritte Akt: der Katzenjammer, aus dem sich die Gerechtigkeit erhebt, um die gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen. Und was konnten sie Johann Strauss Willkommeneres bieten als einen Ball? Eine kosmopolitische Soirée, wie er sie in Russland, in Paris bei Metternichs erlebt hatte? Dieser Prinz Yermontoff, dieser achtzehnjährige Greis, dieser ermüdete Knabe war ja nur Deckfigur für den großen Lebemann, den Fürsten Demidoff, dessen mondäne Exzesse in Paris Tagesgespräch waren. Und schließlich wurde das Ganze ortlos gemacht: Pincornet les bœufs entfiel und es blieb ein Tanz, der sich selbst feierte, eine Verbrüderung und Verschwisterung in Walzertrunkenheiten, worin alle Personen untergehen und der Champagner das Symbol der Gesellschaftsekstase bildet. [...] Sie kamen geistig nicht hoch über den Stoff, versagten sich das castigare ridendo mores („lachend die Sitten geißeln“), gaben aber ein treues Spiegelbild der zeitgenössischen Gesellschaftsfreuden, einer Heiterkeit, worin die Menschen wie Billardkugeln aneinanderprallen, worin aber auch nicht die geringste nackte Frau, keinerlei aufgeschlagenes Bett mitspielt. Das Buch der „Fledermaus“ – ein Scherz mit dem Leben der bürgerlichen Welt – blieb ohne die Raumtiefen von Mozarts Figarokomödie, geriet aber nicht unter die Höhe von Rossinis Barbie. Ein Faschingsbuch, das nur der mit Musik füllen konnte, in dessen Kehle die Musik dazu schon hing und der wie ein Mitspieler nur seine Stimme zu erheben brauchte. Wie ein Verliebter wirft sich Strauss darauf. Er verlässt seine Villa in der Hetzendorfer Straße nicht mehr. In sechs Wochen, genauer: in 42 Nächten schreibt er seine Partitur. Das Meisterwerk entsteht um die Jahreswende auf 1874. Ohne Strauss spräche heute niemand mehr vom Vaudeville „Le Réveillon“, es wäre veraltet wie die meisten Bücher Meilhacs und Halévys; das Rätsel der fortlebenden Fledermaus liegt in der straussischen Kunst, dauerhafte Musik zu schreiben. [...] Bei Strauss ist alles noch lebendig wie damals. Man kann die Nummern der „Fledermaus“ einzeln durchgehen: Nirgends spürt man das Aroma der Vergangenheit, nirgends müdes Welken, das um Mitleid bittet, alles blitzende Gegenwart, denn Strauss besaß die Gabe des Genies: die melodische Ausdrucksdauer. Ob er zur Operette „berufen“ sei oder nicht, bildete Streitgegenstand der Kritik vor der „Fledermaus“, als er‟s zu beweisen hatte, und nach der „Fledermaus“, als er es bewiesen hatte. Er war Tanzkomponist. Und dies allein genügte zur „Berufung“, denn schon vor Wagner wusste man, dass der Tanz eine Handlung darstelle: männliche Werbung im Kampf und – meist angenehmen – Sieg über weiblichen Widerstand. Mit diesen Formen konnte der Tanzkomponist dem „Drama“ bewegende Kräfte zuführen, dreht sich doch die Operettenhandlung immer ums erotische Gleichnis. Außerdem verleitete diese Gattung den damit beschäftigten Komponisten vielleicht dazu, einige bauliche Fähigkeiten bei den Finales zu entwickeln, Stimmungen zu halten und Menschen zu beseelen, – was bei der „Fledermaus“ restlos gelang. Das zweite Finale führt in steiler Gipfellinie über die Komödie hinaus in einem Rausch des Daseins. [...] Dann aber ragte Strauss unter vielen deutschsprachigen Bühnenkomponisten durch eine seltene, man möchte sagen romantische Fähigkeit hervor, wie sie nur Mozart, Rossini, Smetana besaßen: Er konnte ein wirkliches Allegro, ein inneres Presto schreiben. Er war Schnellpolka-Komponist und jagte deren sprühenden Geist, nicht angetriebene Langsamkeiten, in die Wiener Operette. Die Ouvertüre zur „Fledermaus“ ist ein Potpourri-Reigen dreier Gedanken. Der Komponist gleitet von Thema zu Thema über die Unterdominante hinab, besonders einfach ist die Modulation bei der Glockenstelle. Und doch ist sie Repertoirestück sämtlicher Kapellen zwischen Kapstadt 5 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ und Hammerfest; und nicht grundlos surrt es jedes Mal durchs Theater, wenn sie sich entfesselt. Denn es ist eine Kaskade rhythmischer Freuden. [...] Das erste Allegrothema ist die Polka aus dem dritten Finale: „Alles, was dir Sorge macht, ist ein Scherz, von mir erdacht“, womit der Musik eine geistreich-fröhliche Melodik unterlegt wird. Das auf dem Vorhalt tänzerisch stehen bleibende Zweiviertelthema verleugnet dabei nicht seinen Pariser Ursprung; auch der Stoff selbst mag den Komponisten unbewusst zum französischen Ausdruck gestimmt haben. Das zweite Thema ist der Walzer des Orlofsky („Bei rauschender Weise im fröhlichen Kreise“), der berühmte G-Dur-Walzer,der erst lauernd die Dominante umspielt, bis er plötzlich vor Wonne stampfend in Frenesie emporschnellt. Das dritte ist das parodistische Tränenthema Rosalindes: „Oje, oje, wie rührt mich dies!“ – Worte, die übrigens von Strauss selbst dem Text zugefügt wurden. Die kurze Stretta schäumt rasch zu Ende; erst für sie schreibt Strauss, der Meister nobler Zurückhaltung, kleine und große Trommel und Triangel vor, was die Praxis der Provinzbühnen nicht hinderte, dem Publikum schon in der Einleitung Gran-Cass-Hiebe zu versetzen. Jedenfalls gibt diese Ouvertüre die Stimmung i h r e r Welt so stilvoll wider wie die der „Lustigen Weiber“ oder der „Meistersinger“ die der ihren. Von der Mitte des zweiten Akts aus übersieht man die Technik des Werkes am besten. Dort begrüßt der Chor das Fest bei Orlofsky mit einer E-Dur-Polka („Ein Souper hier uns winkt“). Aber die Orlofsky-Stimmung ist hier nicht neu. Man hörte sie schon: Sie umklingt im ersten Akt das Geflüster des Falk, der Eisenstein zuredet, die Soirée zu besuchen. Sie betört als leichte rhythmische Lockung schon das Stubenmädchen Adele, während sie den Einladebrief ihrer Schwester liest. Sie entsprang einer Wendung des Textes (Falk: „Wenn die Polka lockend klingt“). Sie ist instrumental, nicht vokal erfunden – die Gesangnoten sind irgendwie eingezwängt – und erlangt eine parodistische Bedeutung im dritten Akt, wo sie (in F-Dur) den verkaterten Frank verhöhnt, und zwar mit einer obstinaten (eigensinnigen) Fagott-Stimme versehen, die allen Kopfweh-Jammer der Welt in eintönig-stöhnenden c-des-c versammelt. So schwebt die Polka als stimmungstragendes Erinnerungsmotiv durch die Vorgänge, ohne als solches gewollt zu sein. Eine weitere Probe dafür ist das berühmte Melodram im dritten Akt, eine wirklichkeitsnahe Psychologie des Ballettmorgens, entsprungen dem eigenen Erleben. Ein Herr torkelt, den Zylinder über den Augen, Überrock hochgeknöpft, in sein Bureau. In den gedämpften Violinen (Klarinetten und Oboen unisono) ein langes, langes Gähnen; in den Bratschen verräterische 32el-Stöße. Die Fagotte sagen dazu: „Mein schönes, großes Vogelhaus ...“ – ah, es ist der Gefängnisdirektor Frank! Einmal hat er das Vogelhaus-Motiv sehr entschlossen im Einklang mit der Trompete gesungen: im nüchternen und amtlichen Zustand. Ja, als er damals störend eintrat, um Eisenstein zu holen, begleitete ihn schon ein kurzes Melodram, meldete ihn das Streichquartett witzig als den „Vogelhaus-Besitzer“. Nun parodiert das Motiv den wackeligen Mann, ein Walzer nimmt ihn in die Arme, schleift ihn herum – in ihrer hohen Lage klingt die Bratsche mit der Flöte wie „benebelt“ – „Ha, welch ein Fest, welche Nacht voll Freud!“ Er besinnt sich ... da steht die Wirklichkeit ... das Vogelhaus – Fagotte laufen in ein spitzes Haarweh-Unisono aus – noch ein Verführungswalzer, die Orlofskypolka traumhaft, endlich sanftes Entschlummern auf wiegendem Cellobass. Strauss, der die Musik in Nummernform komponierte, gibt nicht jeder Person ein rhythmisches Profil; dennoch sind sie lebendig. Der schönsingende Alfred, eigentlich nur eine Stimme, kein „Mann“, wird durch einen spielopernhaften Romanzenton, C-Dur, 6/8, charakterisiert; das berühmte Trinklied „Glücklich ist, wer vergisst“, eine Polka-Mazur, vergoldet seinen flachköpfigen Leichtsinn und gibt Alfred den Ton köstlicher Selbstparodie. Der cholerische Eisenstein lebt sich in der impetuosen D-Dur-Polka aus, deren Themen in die Luft geschleudert werden wie die Papiere des idiotischen Advokaten Blind. [...] Das Stubenmädchen Adele führt sich durch ein langes Koloraturgelächter ein (in der Partitur noch um zwei Takte länger als im Klavierauszug), was aber später nicht festgehalten wird, vielleicht weil sie nicht Hauptfigur ist. Diese ist vielmehr Rosalinde, der Liebling des Komponisten. Wenn Eisenstein Abschied nimmt, zerfließt sie in Krokodilstränen einer Mollromanze mit chromatischen Violinvorhalten (as-g). Wenn Frank sie mit Alfred überrascht, spreizt sie sich zu einem marionettenhaften Beleidigtsein, zu der „Was-glauben-Sie-denn“-Entrüstung, die ihre Tugend mit 6 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ Norma-Gesten verteidigt, während der Liebhaber frech danebensitzt. In einer Violinpolka liegt ihr Weiber-Raffinement, und die Darstellerin braucht nur das durchtriebene Linienspiel der Melodie nachzuspielen. Ein Walzer schließt das Raffinement stilvoll ab. Es ist kein Volksgarten- oder Dommayer-Walzer, sondern der Charakterwalzer einer Dame, die zu Tode gekränkt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Orlofsky, Träger des zweiten Akts, Repräsentant des modernen Zeitvertreibs, exotischer Boulevardbevölkerer, sarmatische Zeitfigur von turgenjewschem Parfüm, ist so geschildert, wie man eine interessante Reisebekanntschaft im Freundeskreis mit witzigem Behagen schildert. [...] In wirksamer Akzentuierung des infantilen Verschwendertums haben die Librettisten Orlofsky zur Hosenrolle gemacht, und nach dem Couplet lässt Publikumsgespanntheit die Figur nicht mehr los. Leider geht der delikate Glanz des Porträts, das Kolorit des genialen Genrebilds durch den fatalen Gleichmut der Bühnenpraxis meist verloren, kein Kapellmeister müht sich um den Humor der Instrumentation, und meist wird das Couplet zitiert, ohne dass man seinen aparten Reiz ahnt: „„s ist bei uns so Sitte,Chacun à son goût!“[...] Aber „Die Fledermaus“ wäre nicht straussisch und kein aus dem Orgiasmus geborenes Meisterwerk, besäße sie das zweite Finale nicht. Nach allem Frohbeschwingten kommt zuletzt der Schwung in die Höhen über Buch und Textdichter hinaus. In zwei breiten Ansätzen – unterbrochen vom Ballett – gewinnt die Musik die Finalhöhe. Die ersten Impulse gehen vom Allegro con brio aus, das die Personen bereits chorisch zusammenballt: „Die Majestät wird anerkannt rings im Land!“ Eine einzelne Stimme erhebt sich dann, zart verzückt wie in Eingebung: „Brüderlein und Schwesterlein wollen wir alle sein!“, zieht die anderen Solostimmen an sich; sie schwellen imitatorisch an, stauen sich auf der Dominante und stürzen, sich entladend, in eine Walzerhymne, die in ihrer Art ganz neu ist. In bloßen Urlauten schwelgt eine jauchzende Gesangsmelodie („Duidu!“), ein verklärtes Jodeln erfüllt die Luft, bis alles bewusste Denken in einer wahren Klangüberschwemmung untergeht. Nach dem Ballett beginnt unversehens der zweite Teil: ein Tanzwalzer. Thema um Thema entwickelt sich, und alle zusammen bilden eine große Walzerpartie von fünf Teilen mit Coda, die Form, die Strauss für den Volksgarten zu schreiben gewohnt war und die er dem Vorgang überwirft wie einen Mantel. [...] Der Vorhang fällt. Wir müssen ins Gefängnis des Lebens zurück, aus dem uns eben der Dionysiker befreite. Es scheint uns amüsanter; in seiner dicken Luft hängt irgendwo ein Walzer, aus einer Ecke trällert es: „Ha, welche Nacht voll Lust und Freud„ ...!“ [...] Die dionysische Stimme des Werkes wurde indes bei der Uraufführung am 5. April 1874 im Theater an der Wien kaum gehört. Man hielt für „hübsch“, was korybantisch (wild jubelnd) war, und kaum jemand ahnte, dass die Gattung Operette, deren ursprüngliche Aufgabe war, zwischen den Akten einer ernsten Oper ein wenig zu hanswursteln, hier eine vom Leben befreiende letzte Form gefunden und ihren Hörern den Schatz des Lachens mitgegeben habe. Gleichwohl kann von einem verschleierten Durchfall der „Fledermaus“, wie meist behauptet wird, keine Rede sein. Zwei Monate nach der Pemiere hatte das Werk 49 Wiedergaben aufzuzeichnen. Von den 88 Operettenaufführungen, die 1874 im Theater an der Wien stattfanden, entfielen 58 auf „Die Fledermaus“. Nach dem bekannten „Siegeszug“ über die Auslandsbühnen wurde sie zur „Operette der Operetten“ erhoben, zum Kanon, woran die Léhar-Operette ebenso gemessen wurde wie Strauss an der Lecocq-Operette. [...] Strauss zählte 48 Jahre, als er „Die Fledermaus“ schrieb. Er stand auf jenem hohen Punkt, von dem man selbstbewusst nach rückwärts, etwas beklommen nach vorwärts blickt. Man steigt in diesen Jahren die Treppe schon etwas umständlicher hinauf, entschließt sich, das erste silberne Grau im Haarschwarz wegzufärben; wenn man Strauss ist, will und muss man jung bleiben. Er blieb es. An seine zweite Jugend schloss er eine dritte, ein Wunder an Vitalität. Sein Meisterwerk war geschaffen und „Die Fledermaus“ klärt die Frage, ob Strauss Dramatiker der Operette war oder nicht. Wo er seinem Euphorismus, seiner dithyrambischen Philosophie, seinem erotischen Weltgefühl musikalische Symbole geben, wo er mit einem Wort den innersten Musiker singen lassen konnte, dort war er Meister: der Dramatiker des eigenen Temperaments. Seine 7 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Fledermaus“ Tragik als Wiener Künstler bestand darin, dass er das straußsche Buch ein Leben lang suchte und nur einmal fand: das Buch, in das sein Ich wie in einen anderen Leib einging. Eine zweite „Fledermaus“ hat er nicht geschrieben. PRESSESTIMMEN Der Belgier Waut Koeken, der vom Regietheater herkommt, ist klug genug, sich nicht in platten Gegenwartsbezogenheiten auszutoben. [...] Dieser Fledermaus-Cocktail ist gemixt aus tollen Tanzeinlagen, schwungvollen Choreographien – etwa wenn Graf Orlofsky, der sich wie ein russischer Mafia-Millionär benimmt, mit seiner Zigarettenspitze die Polonaise seiner Gäste wie Dominosteine zu Fall bringt – einem begeisternd guten Ensemble und reichlich Komik mit einem Spritzer Gesellschaftskritik. Fazit: Süffige Unterhaltung. Bayerischer Rundfunk Begeisterter Beifall im Nürnberger Opernhaus: [...] Ein ganzes Ensemble spielt sich in moussierende Rage, bringt die millionenfach bewährten Gags mit so viel Temperament und Charme über die Rampe, dass man keine prophetische Gabe besitzen muss, um dieser StraussOperette ein langes Spielplan-Leben vorherzusagen. [...] Dass die Sache so schwer in Ordnung geht, hängt einerseits an der spielfreudigen ASänger-Besetzung und andererseits an der außergewöhnlichen musikalischen Qualität. Christof Prick hat die Edelperle des Operettenrepertoires zur Chefsache erklärt und entlockt den Philharmonikern einen ganz zauberhaft walzenden, geschmeidigen, animierenden und nie oberflächlich abgezirkelten Tonfall, der vermittelt, wie nah die Partitur an der Oper siedelt. Nürnberger Nachrichten Hier steht, neben der großartigen Frau Meier, die Fledermaus im Mittelpunkt, die mit Sibylle Witkowski eine ausgezeichnete Besetzung bekommen hat. Am Ende treffen sie sich alle im Gefängnis wieder, wo die Gefangenen, sinnreich symbolistisch, in den ausgehöhlten Kronleuchtern sitzen, aber es gibt keinen Grund für Katzenjammer, wenn Tilman Lichdi den Tenor outriert tenoriert und Kurt Schober einen exzellenten Dr. Falke macht. Nordbayerischer Kurier 8