Die Bedeutung der Philosophie von Karl Jaspers für den Arzt heute Auftaktsveranstaltung des Würzburger Philosophicums, Donnerstag den 27.10.2011 Priv. Doz. Dr. med. Thomas Bohrer M.A. Arbeitstext Der ärztliche Arbeitsalltag ist heute geprägt durch administrative Tätigkeiten, ökonomische Zwänge und des zunehmenden Verlustes der originären ArztPatienten-Beziehung. Der Patient wird zunehmend als Kunde aufgefasst, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Patient wird nicht mehr als solche gesehen. Trotz alledem sucht der Patient auch heute noch einen guten Arzt mit der Hoffnung auf Linderung seiner Beschwerden oder Heilung seines Leidens. Karl Jaspers (geboren 1878 in Oldenburg, gestorben 1969 in Basel), einer der führenden Philosophen aus Deutschland im vergangenen Jahrhundert, ist für die heutige Auseinandersetzung von Medizin und Philosophie weiterhin ein Meilenstein im Denken. Jaspers ist einer der Hauptvertreter der Existenzphilosophie in Deutschland und war seit frühster Jugend an einem schweren pulmonalen Leiden erkrankt, sodass er sich nur durch eiserne Disziplin ein Leben bis in hohe Alter sichern konnte. Er studierte an den Universitäten Heidelberg, München und Göttingen, promovierte schließlich in Heidelberg im Fach Psychiatrie wechselte dann ins Fach Psychologie und schrieb damals als Habilitationsschrift ein berühmtes Werk, nämlich das Lehrbuch der Allgemeinen Psychopathologie. Hier wandte er sich gegen die von ihm so genannte Hirnmythologie und konzentrierte sich auf die Beschreibung psychischer Krankheitsbeschreibung mit psychologischphänomenologischen Methoden. 1916 wurde er zum Professor am Philosophischen Institut ernannt und war bis 1933 eng mit Martin Heidegger befreundet, bis dieser in die NSDAP eintrat. 1927 erfolgte sein Werk Grundriss der Philosophie. Aufgrund der so genannten „jüdischen Versippung“ durch seine Ehe mit der ehemaligen Krankenschwester Gertrud Maier wurde Karl Jaspers 1927 in den Ruhestand versetzt, erhielt 1938 Publikationsverbot und sollte am 14. April 1945 in ein Konzentrationslager zusammen mit seiner Ehefrau verschleppt werden, letzteres blieb ihm allerdings erspart, da US Armee am 30. März Heidelberg befreite. 1945 war Karl Jaspers an der Wiedereröffnung der Universität Heidelberg unmittelbar beteiligt, wechselte 1948 an die Universität Basel und starb dort 1969. In seinen letzten Jahren betätigte er sich zunehmend auch als politischer Schriftsteller. Zwei zentrale philosophische Begriffe von Karls Jaspers sollen in dieser Veranstaltung herausgearbeitet werden, die einen unmittelbaren Bezug zur klinischen Praxis des Arztes haben, nämlich den der Existenz, dieser Begriff steht im Mittelpunkt der Philosophie von Karl Jaspers und der Begriff der Grenzsituation, ein Begriff der sowohl für den Patienten selbst aber auch für den klinisch tätigen Arzt und Menschen von unmittelbarer Bedeutung ist. Welche Ansatzpunkte und Voraussetzungen nennt Jaspers selbst? Hier bietet sich ein Blick in Karl Jaspers Werk Der Arzt im technischen Zeitalter (erschien im Piperverlag 1999). Zunächst einige Zitate aus diesem Werk: „Die Humanität dagegen ist nicht zu planen. Sie entfaltet sich grundsätzlich neu in jedem Arzte, in jeder Klinik durch die Wirklichkeit des ärztlichen Menschen selber. Für sie gilt die Regel, die der große englische Arzt Sydenham im 17. Jahrhundert aussprach: Niemand ist anders von mir behandelt worden, als ich behandelt sein möchte, wenn ich dieselbe Krankheit bekäme.“ (man denke in diesem Zusammenhang auch an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant). Diese schöne und einfache Auffassung ist durch die neueren Entwicklungen in Frage gestellt. Nicht rückgängig zu machen ist die Spezialisierung. Die Steigerung des Könnens hat die Tendenz den Spezialisten an bestimmte Denkweisen zu bannen. Ein Patient wird der langen Reihe von spezialistischen Untersuchungsmethoden und Behandlungen unterworfen, die aber auch ihren guten Sinn schädigen, wenn sie nicht aufgenommen werden von den führenden Blick eines Arztes, der den ganzen Menschen in seiner realen Situation vor Augen hat. Den wissenschaftlichen Spezialisierungen entspricht die Umgestaltung des Unterrichts. Ein Aggregat von Spezialfächern tritt an die Stelle der Schulung im biologischen Denken überhaupt. Die Zeit der Studenten ist durch die Studienpläne so besetzt, dass tiefere Besinnung verhindert wird wegen der Zerstreuung in das Vielerlei des zu Lernenden.“ (Seite 8, ebenda) „Die Spezialisierung, die Verschulung des Unterrichts, die Tendenzen des Zeitalters im Massenbetrieb, die naturwissenschaftliche Ratlosigkeit vor dem Psychischen, all diese Momente haben das heutige Arztsein mitbestimmt. Sie haben zum Ergebnis eine bei Ärzten und Kranken verbreitete Unzufriedenheit. Es ist merkwürdig, dass im Kontrast zur außerordentlichen Leistungsfähigkeit der modernen Medizin nicht selten eine Stimmung des Versagens auftritt…. Aber es scheint als ob es für die Menge der kranken Menschen immer schwerer wurde, ihren für den einzelnen Menschen rechten Arzt zu finden. Man könnte meinen, die guten Ärzte würden seltener, während Wissenschaft als Können ständig wachse.“ (Seite 12, ebenda). „Alles scheint in bester Ordnung. Täglich werden die großen therapeutischen Erfolge an zahllosen Kranken erzielt. Aber erstaunlich: Es wächst eine Unzufriedenheit bei Kranken und Ärzten. Seit Jahrzehnten ist zugleich mit dem Fortschritt die Rede von der Krise der Medizin, von Reformen, von Überwindung der Schulmedizin und Neugründung der gesamten Krankenauffassung und des Arztseins. Woran liegt das? 1. Die soziologischen Folgen des technischen Zeitalters wirken durch Organisationen des Arztwesens auf den ärztlichen Beruf bis zur Bedrohung der Idee des Arztes selber. 2. Die naturwissenschaftliche Medizin hat eine Tendenz, sich dem Exakten zu unterwerfen, statt es zu nutzen, den Arzt durch den Forscher überwältigen zu lassen. 3. Da an der Grenze der naturwissenschaftlichen Möglichkeiten das ärztliche Tun nicht aufhört, gerät der Arzt an ihr in Verwirrung, hinein gezwungen in die Glaubens- und Ziellosigkeit vieler moderner Menschen und des öffentlichen Zustandes überhaupt.“ (Seite 40f, ebenda) Diese Zitate von Karls Jaspers belegen, obwohl sie über 40 Jahre alt sind, die Aktualität seines Denkens für den Arzt heute. Das Besondere in der Philosophie Karl Jaspers besteht in dreierlei Hinsicht. Erstens ist das Zwischenmenschliche, das bei vielen Natur – und Geisteswissenschaftlern als nebensächlich gilt, in seiner Philosophie ein Hauptkriterium. Obwohl Jaspers zweitens aus der Psychiatrie stammt und auch entsprechende phänomenologisch fundierte Werke verfasste, stellt Jaspers fest, dass die Naturwissenschaften keine Hilfe zur Selbstvergewisserung und zur Weltorientierung bieten, sondern drittens jeder einzelne Mensch einer illusionslose Sicht seiner Existenz benötigt, um eine Grundlage seiner Handlungsentscheidung zu haben. Es sind vier verschiedene Arten des Seins, die die Verwirklichung des Menschen nach Karl Jaspers von großer Bedeutung sind, zunächst das biologische Dasein als Macht, Geltungs- und Genussinteresse. Hier findet auch eine Begrenzung der Phänomenologie und Positivismus statt. Als weitere Daseinsform existiert das Bewusstsein als objektives Denken des eigenen Ichs. Dieser Begriff ist der Logik zugeordnet. Als dritte Seinsweise existiert der Geist als Teilhabe von ganzheitlichen sinnstiftenden Ideen, und als viertes die Existenz als das, was jeder einzelne Mensch selbst sein kann und damit die Möglichkeit des ureigensten wahren Menschseins. Diese Menschenbild von Karls Kaspers findet sich bereits in seinem Werk Psychologie der Weltanschauung von 1919 und wird in seinem weiteren Werk Die geistige Situation der Zeit 1931 weiter ausgebaut, hier setzt sich Karl Jaspers auch kritisch mit der Massengesellschaft, Entfremdung und Herrschaft durch die Technisierung auseinander. Sinninhalt vor allem in den letzteren Werk ist das sich der Mensch nicht dem Massendasein der Gesellschaft hingibt, sondern sein Wissen auch dazu nützt, um gegebene Denkstrategien zu überwinden und selbstständig zu denken. Konkreter Hintergrund damals war der aufkommende Faschismus und der seit Jahren bestehende Bolschewismus in Europa. Die Existenz ist für Jaspers also mit dem Begriff des Selbstseins zu erklären und nicht mehr gegenständlich. Zentral für Karl Jaspers ist, dass die Existenz nicht allein auf sich selbst beschränkt ist, sondern auch auf den Anderen gerichtet ist. Diese Haltung bedarf ganz wesentlich der Kommunikation mit dem anderen Menschen und steht ständig vor der Wahl: „Sie muss sich über sich entscheiden. Ich bin nicht nur da, bin nicht nur der Punkt eines Bewusstseins überhaupt, bin nicht ständig in geistiger Bewegung um geistiges Hervorbringens, sondern ich kann in diesem allem ich selbst sein oder in ihm verloren sein.“ (Von der Wahrheit Seite 77). Karl Jaspers unterscheidet im Rahmen seines Existenzbegriffs wissenschaftliche Wahrheit von existenzieller Wahrheit. Grundlegendes Unterscheidungskriterium ist, dass die Existenz selbst durch die Wissenschaft nicht erfasst werden kann und eine absolute Wahrheit nicht existiert. Karls Jaspers definiert damit Existenzialphilosophie als „das Denken, durch das der Mensch er selbst werden könnte“. Eng verbunden mit der Existenz ist bei Jaspers einer weiterer Begriff, nämlich der Grenzsituationen. Dieser Begriff ist für den Arzt heute von zentraler Bedeutung und wird in der klinischen Praxis nahezu nicht berücksichtigt. Immer wieder zeigen sich jedoch Situationen in der Klinik, wie der plötzliche Tod eines Patienten, eine schwere Komplikation, die Unvermeidbarkeit von eigenen Fehlern, die als Belastungen in der klinischen Praxis sind. Die Grenzsituation bedeuten nach Karl Jaspers, dass jeder Mensch an sie stößt und zwar diesbezüglich an folgende absolute Punkte: Das Sterben eines Mitmenschen, die Gedanken an den eigenen Tod, die Unausweichlichkeit von Kampf, Leiden und Schuld. „Die Unbedingtheit wird … zeitlich offenbar in der Erfahrung in der Grenzsituation und der Gefahr der sich Untreuwerdens (Einführung in die Philosophie, Seite 57). Sie ist die Entscheidung zwischen gut und böse. Gut sein heißt, das Leben unter die Bedingung des moralischen gültigen zustellen. Im Konfliktfall auch gegen eigene Glücks- und Daseinsinteressen (ebenda Seite 48)“. Dieses Zitat belegt die existenzielle Verankerung des Menschen in Bezug auf die oben genannten Grenzsituationen sehr deutlich. Es zeigt, dass jeder Mensch trotz der wissenschaftlichen Weltorientierung irgendwann einmal, wie es Jaspers nennt, an das „schlechthin Unbegreifliche“ stößt. Hier weist sich eine Ausweglosigkeit auf, jeder Mensch fühlt sich dann so, „ als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden“. Im Gegensatz zu den modernen Strömungen in der populärwissenschaftliche Literatur bzw. Lebensratgebern plädiert Karl Jaspers, der diese Grenzerfahrungen für absolut notwendig hält, sogar dafür, dass das Wesen dem Menschen sich dann erst bewusst wird in diesen Grenzsituationen, denn es sind diese Grenzsituationen, die zum fruchtbaren Scheitern des Menschen führen (siehe auch „Die philosophische Hintertreppe“). Bezogen auf dem Arzt bedeutet dies, dass es gerade die Grenzsituationen sind, die das eigentliche Arztsein ausmachen. Eine diskursive Verdrängung aus dem ärztlichen Alltag, wie dies in vielen Kliniken und Praxis gängig ist, führt an der eigentlichen Bestimmung des Arztes vorbei. Dabei macht die Berücksichtung dieser Grenzsituationen und der eigenen Existenz das eigentliche Arztsein erst aus und heben ihn ab von dem reinem Naturwissenschaftler. Durch die Möglichkeit der Selbstverwirklichung wird dem Patienten ein Leitfaden zum praktischen Handeln an die Hand gegeben, mit der „Wahl seines Selbst“. Es ist deswegen von ausschlaggebender Bedeutung auch für den Arzt heute, naturwissenschaftliche Gegebenheiten in der Medizin kritisch zu hinterfragen, das ärztliche Tun mit dem Vorgaben, die von außen an ihm gestellt werden, kritisch zu hinterfragen, sich seiner eigenen Bedeutung in der Praxis oder Klinik tatsächlich bewusst zu werden im Sinne einer positiven Arzt-Patienten-Beziehung, und sich damit auch den (eigenen) Grenzsituationen zu stellen. Dies kann auch ein entscheidender Faktor dafür sein, den in der aktuellen Literatur zur Arbeitssituation von Ärzten in Deutschland und Amerika genannten hohen Prozentsatz vom Burnout und Depression, ursächlich Herr werden zu können. Als Beispiel für die existenzielle Bedrohung bzw. eine absolute Grenzsituation werden abschließend an diesem Vortrag zusammen mit zwei haitianischen Ärzten Dr. Godson Jean Louis und Dr. Adelin Charles einige Einblicke in die Folgen des großen Erdbebens vom 12.01.2010 in Haiti aufgezeigt. Beide Ärzte haben zusammen mit dem Referenten damals in einem Feldlazarett vor Ort in Port-au Prince, Haiti, gearbeitet.