RISIKEN VON FAMILIEN MIT KINDERN UND IHRE

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RISIKEN VON FAMILIEN MIT KINDERN UND IHRE
BEWÄLTIGUNGSSTRATEGIEN
Heiner Keupp
Vortrag bei der Fachtagung „Soziale Frühwarnsysteme in NRW“
am 5.11.2004 in Gelsenkirchen
Deutschland erlebt einen dramatischen Kinderschwund und gleichzeitig
wächst die Sorge um die Zukunft des „Generationenvertrags“. Wer soll
denn die Renten in einer grau werdenden Gesellschaft bezahlen, wenn
immer weniger Kinder geboren werden? Da wird uns bereits ein Generationenkrieg vorausgesagt. Aber warum werden immer weniger Kinder
zur Welt gebracht? Dieser globalisierte Netzwerkkapitalismus wird als
eine „entfesselte Welt“ beschrieben, die immer stärker unsere Lebensund Arbeitsformen prägt, also auch vor den privaten Lebensräumen
nicht halt macht. Die traditionellen „einbettenden Kulturen“ für Heranwachsende und ihre Familien gehen verloren und es ist fraglich, ob
neue entstehen. Die Anforderungen an Kinder und Eltern werden ständig höher – das gilt für materielle, soziale und symbolische Ressourcen. Kinder können auf diesem Hintergrund zum Risikofaktor werden
und immer mehr Frauen und Männer verzichten deshalb auf Nachwuchs. Aus einem solchen Defizitprofil lassen sich aber auch Forderungen für die Entwicklung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
ableiten, die Kindern eine Chance geben.
Wir sind ein alarmiertes Land, in dem sich die Horrormeldungen jagen
und dazu gehört neben den Themen Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Renten auch das Thema Kinder. Wer soll denn das ohnehin bedrohten Rentensystem noch absichern, wenn immer weniger Kinder zur Welt kommen, die in den „Generationenvertrag“ einsteigen könnten. Wenn man
sich auf einen Vortrag wie diesen vorbereitet, sammelt man wie ein
Eichhörnchen das, was die tägliche Lektüre zum jeweiligen Thema liefert. Zur Einstimmung will ich einen Einblick in mein Archiv geben.
In der Süddeutschen Zeitung vom 23. Februar 2004 heißt die Hauptüberschrift im Lokalteil „Kinderfeindlichkeit in München“. Berichtet wird
von einer Familie mit einem vierjährigen Mädchen, die per Klage von
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anderen Mietern aus dem Mehrparteihaus verjagt werden soll. In einem
124-seitigen „Lärmprotokoll“ haben die Kläger die Aktivitäten des Kindes festgehalten, das ganztags in der Krippe ist. Die Mutter sagt, dass
sie verstehen würde, dass sich die Bewohner unter ihnen gestört fühlen, die Decken seien sehr hellhörig. Der Vater fügt dann hinzu: „Aber
es ist unmöglich, sich lautlos durch Wohnung zu bewegen“. Das Problem wird sich im Sommer erledigen, dann wird die Familie eine Eigentumswohnung beziehen können und der Wohnblock ist „kinderfrei“. Am
5. März 2004 kommt die SZ noch einmal auf dieses Thema zurück,
denn der frühere Artikel, in dem auch die Kinderbeauftragte der Stadt
München befragt wurde, hat bei ihr großen Wirbel ausgelöst. Sie bekam
eine Reihe von Anrufen, die man als geballte Beweiskraft für eine steigende Kinderfeindlichkeit nehmen kann. Da wollen Anrufer wissen,
welche rechtliche Handhabe gegen Kinderlachen und Kindergeschrei
bestehen. Da wird berichtet, dass ein Nagelbrett auf den Spielplatz eines Kindergartens geworfen wurde. Da werden Anzeigen angedroht,
weil Kinder auf dem Gehweg mit Kreide gemalt haben. Es entsteht ein
Horrorgemälde und unterstreicht die Überschrift „Die Kinderfeindlichkeit in der Stadt nimmt zu“. Ist da nicht alles Belegmaterial schon
angeliefert, mit dem meine Fragestellung belegt werden könnte?
Natürlich nicht, denn das beschriebene skandalöse Verhalten ist ja
nicht die Ursache, sondern selbst Symptom.
Die Frankfurter Rundschau vom 27. Februar 2004 hat die Betreuung
von Kindern unter drei Jahren zum Thema des Tages auf der Seite 2
gemacht. Da wird uns nicht nur eine aktuelle vergleichende Statistik
über die Geburtenrate in Deutschland geliefert, sondern auch eine Erklärung, warum sie so niedrig ist. Der Anteil der Kinder unter drei Jahren, die in Tageseinrichtungen oder von Tagesmüttern betreut werden,
liegt in Deutschland bei 8,5%. Im Vergleich dazu sind es beispielsweise
in Dänemark 64%, in Großbritannien 34% und in Frankreich 29%:
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Da es keinen linearen Zusammenhang zwischen Geburtenrate und Kinderbetreuungseinrichtungen gibt, bildet deren defizitärer Zustand nicht
den einzigen Faktor, der es in Deutschland schwer macht, Kinder zu
bekommen.
DIE ZEIT versorgt uns in den letzten Wochen besonders intensiv mit
Material zum Thema „Das kinderlose Land“ – so heißt eine ganze Serie
und in der 29-teiligen Serie „Leben in Deutschland“ gab es einen Artikel von Susanne Mayer „Wie man in Deutschland die Kindheit erlebt“
(DIE ZEIT Nr. 42 vom 09.10.2003) und dort heißt es: „Kinder in
Deutschland sind heute so selbstbewusst wie nie. Eltern in Deutschland, natürlich nicht alle, begegnen ihren Kindern mit einem Respekt,
der noch vor einem halben Jahrhundert allein Erwachsenen vorbehalten
war. Kinder lernen im Unterricht, dass sie Rechte haben, die in einer
UN-Charta verankert sind. Sie werden gefragt, was sie essen oder welche Schule sie besuchen wollen, sie dürfen mitentscheiden, wohin es in
den Ferien geht. Sie bekommen Geldgeschenke, alle zusammen in Milliardenhöhe. Und doch, Kinder in Deutschland haben Grund, sich zu
den Erwachsenen zu drehen und zu rufen: Ihr seid ja alle nackt! Inmitten der Wohlstandsgesellschaft ist der Anteil der Kinder, die arm sind,
doppelt so hoch wie unter Erwachsenen. Inmitten der Wissensgesellschaft erleben Kinder einen Bildungsnotstand: In den Schulen sind ihre
Chancen, sich zu Höchstleistungen zu entfalten, nur halb so gut wie in
europäischen Nachbarländern. In abgeblätterten Gebäuden werden sie
gnadenlos in eine Hierarchie willkürlicher Noten sortiert. Nicht wenige
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von ihnen macht die Schule so zu Versagern: Zehn Prozent der Schüler
lagen laut der Pisa-Studie unterhalb der schlechtesten Leistungsstufe;
so viele wie sonst nur in Brasilien oder Luxemburg. Inmitten einer Gesellschaft, die sich der Freizügigkeit rühmt, wurde der Streifradius des
Grundschulkindes seit den siebziger Jahren von 20 auf 4 Kilometer gestutzt. Eine Gesellschaft, die von Fitness besessen ist, zieht Kinder auf,
von denen über die Hälfte zum Zeitpunkt der Einschulung nicht mal 30
Sekunden auf einem Bein stehen kann“. Und etwa später heißt es: „Ja,
den Deutschen sind ihre Kinder zum Problem geworden. Tippt man bei
Google Kind+Ratgeber ins Suchfensterchen, spuckt die Suchmaschine
317000 Einträge aus. Alles muss anscheinend gelernt werden. Kinder
wickeln und erziehen, Kinder gesund kriegen, mit Kindern Lieder singen, mit Kindern fernsehen, sie durch die Pubertät begleiten. Und als
würden die Eltern nicht fleißig genug Ratgeber lesen, gibt es zugleich
eine eigene Gattung von Büchern, in denen das Versagen der Eltern beschrieben und angeprangert wird.
Schließlich gehört zu meiner notorischen Lektüre Susanne Gaschke, die
einen moralgetränkten Bestseller diesen Typs geschrieben hat und
mich mit ihren Texten immer wieder aufregt, die aber in ihrem Eröffnungsartikel „Das kinderlose Land“ (DIE ZEIT Nr. 4 vom 15.01.2004)
einige interessante Befunde referiert. Sie fragt sich, warum Kinder immer weniger in die Lebenswelt junger Erwachsener passen: „Unterbelichtet … scheint bisher das Reich der persönlichen, generationstypischen,
zeitgeistigen,
arbeitsweltbedingten
Frauen-und-Männer-
Gründe, die gegen Kinder wirken. Die Gießener Familienwissenschaftlerin Uta Meier ermittelte in einer nichtrepräsentativen, gleichwohl aufschlussreichen Umfrage unter Studierenden und wissenschaftlichen
Mitarbeitern der Universitäten Gießen und Marburg geschlechtsspezifische Antworten auf die Frage, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt gegen
ein Kind spräche: Die männlichen Befragten antworteten, sie müssten
dann lebenslange Unterhaltsverpflichtungen akzeptieren; sie fürchteten
die Unruhe, die ein Kind in ihre wissenschaftliche Arbeit bringen würde;
sie hätten Angst, dass sie unliebsame neue Alltagsaufgaben übernehmen müssten. Die Frauen quälte in erster Linie die Sorge, nach der Geburt eines Kindes beruflich den Anschluss zu verpassen; und vielleicht
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den falschen Partner zu haben, der, wenn das Kind da sei, ‚sicher nicht’
helfen werde“.
„Sieht man genau hin, dann ist die Kinderlosigkeit in dieser Gesellschaft eher ein Trend, der von der Avantgarde der Gebildeten insgesamt ausgeht – mit besonders schlechten Ergebnissen für die Männer.
52 Prozent der Akademikerinnen zwischen 30 und 35 Jahren sind
(noch) kinderlos, aber 59 Prozent der männlichen Hochschulabsolventen; bei den 35- bis 40-Jährigen sind es 34 Prozent der Frauen und 41
Prozent der Männer. Bei den Hauptschulabsolventen liegt die Quote der
dauerhaft Kinderlosen weit darunter (siehe Grafik), auch hier sind es
aber die Männer, die häufiger ohne Nachwuchs bleiben“.
Alles spricht jedenfalls dafür, dass im Grundriss der Lebensgestaltung
von Menschen in der heutigen Gesellschaft Kinder als normalitätsstiftendes Element nicht mehr selbstverständlich vorkommen und das hat
Gründe und Konsequenzen für Kindheit. Man könnte von einer Krise
des Aufwachsens im gesellschaftlichen Umbruch. Ich will damit den
Versuch ankündigen, Krisen von Heranwachsenden nicht nur als individuelle Probleme anzusprechen, sondern auch in dem gesellschaftlichen
Rahmen ihrer Entstehung sichtbar und verstehbar zu machen. Die Krisen von Kindern und Jugendlichen verweisen auf einen dramatischen
gesellschaftlichen Strukturwandel, auf den unsere gesamte Gesellschaft
desorientiert reagiert. Für Heranwachsende gehen damit aber traditionelle soziale Einbettungen und Schutzfaktoren verloren und es bleibt
zu fragen, welche Ressourcen und Kompetenzen notwendig wären für
eine produktive und souveräne Lebensbewältigung.
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ÜR EINE PRODUKTIVE UND SOUVERÄNE LEBENSBEWÄLTIGUNG.
Dem Begriff der Krise kann man immer weniger entgehen und die Diagnose eines „kinderlosen Landes“ ist natürlich eine Krisendiagnose.
Wenn man sich in den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen umhört, dann bekommt unter dem Stichwort „Krise“ eine reiche
Ernte. Sich umhören heißt ja heute u.a., dass man seine InternetSuchmaschinen anwirft, so wie es auch Susanne Mayer getan hat.
Ich habe das, was mir die Suchmaschine Google angeboten hat, zweimal ausgewertet. Das erste Mal am 01.02.2003 und ein zweites Mal am
01.03.2004. Mit der Eingabe des Stichworts Krise wird man mit Informationen überhäuft. Interessant sind die Kombinationen. Da bringt es
die Liaison von Deutschland und Krise auf den absoluten Spitzenwert,
wenn er auch im Abstand von einem Jahr deutlich zurückgegangen ist.
Das bestätigt die aktuelle Befindlichkeit in Deutschland, die gegenwärtig wohl doch mit dem Begriff Krisenbewusstsein treffend charakterisiert ist. Der inhaltliche Spitzenwert ist unverändert die Arbeit und damit also die Krise der Arbeitsgesellschaft. In der Krise waren aber nicht
nur Politik, Gesellschaft, Europa, Kultur, Umwelt, auch die USA hatte
einen hohen krisenproduzierenden Wert, zu dem man dann noch die
Kriegsgefahr hinzunehmen konnte. Ansonsten konnte man gesellschaftliche Teilbereiche wie Bildung, Schule, Familie, Jugend, Alter, Energie und Gesundheit als aktuell sehr krisenträchtig einordnen. Hohe
Werte sind auch mit den Geschlechterrollen verbunden, wobei die Situation der Frau deutlich häufiger mit Krise in Verbindung gebracht wird
wie die der Männer. Werte sind von Krisen erfasst, vor allem auch das,
was man sich als Gemeinschaft vorstellt. Beruhigend scheint mir, dass
die „geistig-moralische Krise“, die uns vor 20 Jahren eine „Wende“ beschert hat, ausgestanden scheint. Erstaunlich finde ich, wie häufig die
Krise der Psychologie thematisiert, jedenfalls deutlich häufiger, als
psychische Krisen. Themen wie Terrorismus oder Zuwanderung hätte
man weiter oben in der Rangliste erwartet. Der Irakkrieg wirkt offensichtlich noch ungeheuer nach und daneben sind es die Krisendynamiken rund um die Wirtschaftskrise und die Turbulenzen um die „Reform“
des Gesundheitswesens, die im öffentlichen Bewusstsein an Dramatik
zugenommen haben. Dass das Krisenbewusstsein im Zusammenhang
mit Kindern von allen Themen, die mit dem privaten Lebensbereich
verbunden sind, den höchsten Wert aufweist, möchte ich aus guten
Gründen als letzten Punkt ansprechen.
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DAS GOOGLE-KRISENTHERMOMETER
Zeitpunkt
01.02.200 01.03.200
3
4
Krise und Schule
64800
58600
Kri-
23000
55100
24300
55000
se/Gemeinschaft
Lust
5.060000
Spaß
Krise und Werte
2.360000
Glück
Krise und Gewalt
1.400000
Angst
Krise
1.030000
sundheit
27900
44600
Krise und Männer
28000
44200
Krise und Jugend
29200
39400
Krise und Kirche
22000
38600
153000
Globalisier.
29800
35900
138000
Krise
13600
31200
116000
se/Kapitalismus
101000
109000
Krise der Psycho-
13500
25900
89800
100000
9080
25300
10700
19600
17900
12100
5970
10100
577
8170
Krise
241000
Krise und
Deutschland
198000
Krise und Politik
131000
Krise der Arbeit
139000
Krise und Gesell-
311000
schaft
Krise und USA
93400
Krise und Medien
Krise und Krieg
Ge-
und
Kri-
logie
Krise und Europa
Krise und Kultur
der
53800
51500
Krise und Bildung
Krise und Terro-
98500
rismus
96800
Pflegekrise
96800
Krise
77900
74900
und
Wirt-
schaft
Psychische Krisen
Krise und Kinder
50100
74400
Krise und Frauen
69400
71900
Zuwanderung
7930
7150
Krise und Sicher-
51100
69000
Paradigmakrisen
4970
5590
Quarterlife Crisis
22
1650
heit
Krise und Alter
28900
Krise und Univer-
66400
62000
sität
Midlife Crisis
Krise/Heiner
Keupp
Geistig-
Krise und Familie
46200
61800
Irakkrise
19900
61800
673
210
277
moralische K.
Auf zwei notwendigen gedanklichen Pfaden könnte man jetzt weiter
fragen, um das Krisenthema im Zusammenhang mit Kindern und Familien aufzuhellen. Auf dem einen Pfad geht man der Frage nach, welche
gesellschaftlichen Förderstrukturen Kinder und Familien brauchen und
warum es unsere Gesellschaft nicht schafft, für Kinder und Familien
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solche förderlichen sozialen und materiellen Bedingungen zu schaffen.
Auf dem anderen Pfad muss man sich auf die psychosozialen Entwicklungsbedingungen des Aufwachsens heute konzentrieren. Diesen zweiten Pfad werde ich vor allem verfolgen.
Eine Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass Menschen aus der Normalität ihrer gewohnten und verlässlichen alltäglichen Selbstverständlichkeiten herausfallen. In diesen Selbstverständlichkeiten bündelt sich unser jeweils erreichtes Balancierungsverhältnis von inneren Welten mit
dem, was wir als Realität erleben. In unserer alltäglichen Identitätsarbeit arbeiten wir an dieser Integration oder Passung. Krisen können
durch akute lebensverändernde Ereignisse ausgelöst werden, die für
einzelne Personen oder Mikrosysteme die Alltagsnormalitäten gefährden können. Es gibt aber auch Krisen der Normalität selber, wenn sich
die Grundlagen eines soziokulturellen Systems so verändern, dass bislang tragfähige Schnittmuster der Lebensgestaltung ihre Tauglichkeit
verlieren. In einer solchen „Normalitätskrise“ befinden wir uns gegenwärtig und mit dem Blick auf Heranwachsende bedeutet diese Aussage,
dass die Normalitätsannahmen, die in die Identitätsprojekte der Erwachsenengeneration eingegangen sind, von Kindern und Jugendlichen
nicht selbstverständlich als Grundlage für ihre eigenen Entwicklungsaufgaben und deren Bewältigung übernommen werden können.
Im weiteren Vorgehen werde ich zunächst fragen, was heute Identitätskonstruktionen zu leisten haben und welche Kompetenzen der Lebensbewältigung in einer Welt des globalisierten digitalen Kapitalismus erforderlich sind. Im weiteren versuche ich mich an der Beantwortung
von vier zusammenhängenden Fragen:
In welcher Gesellschaft leben wir?
Welche Identitätskonstruktionen werden in einer solchen Gesellschaft notwendig?
Welche Ressourcen brauchen Heranwachsende und ihre Familien
zur produktiven Lebensbewältigung in einer solchen Gesellschaft?
1. IN WELCHER GESELLSCHAFT LEBEN WIR?
Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem
Urteil relativ einig: Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen
ans „Eingemachte“ in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur,
in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte. In Frage
9
stehen zentrale Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche, die Burkart Lutz schon 1984 als den „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ bezeichnet hatte. Diese Grundannahmen
hatten sich zu Selbstverständlichkeiten in unseren Köpfen verdichtet.
Ihr zunehmender Verlust an gesellschaftlicher Tragfähigkeit hat auch
erhebliche Konsequenzen für das, was eine Gesellschaft als ihr „soziales Erbe“ begreift und das an eine heranwachsende Generation weitergegeben werden soll.
Wenn wir sicher wüssten, was uns die künftigen gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem globalisierten, digitalisierten Kapitalismus bringen werden, dann könnten wir entsprechende Lernprozesse im klassischen curricularen Sinne organisieren. Auch wenn wir diesen gesellschaftlichen „Heilsplan“ nicht kennen, können wir doch im Sinne der
„Streitschrift Zukunftsfähigkeit“ des Bundesjugendkuratoriums vom
17.12.2001 davon ausgehen, „dass die Gesellschaft der Zukunft
eine Wissensgesellschaft sein wird, in der Intelligenz, Neugier,
lernen wollen und können, Problemlösen und Kreativität eine
wichtige Rolle spielen;
eine Risikogesellschaft sein wird, in der die Biographie flexibel
gehalten und Identität trotzdem gewahrt werden muss, in der
der Umgang mit Ungewissheit ertragen werden muss und in der
Menschen ohne kollektive Selbstorganisation und individuelle
Verantwortlichkeit scheitern können;
eine Arbeitsgesellschaft bleiben wird, der die Arbeit nicht ausgegangen ist, in der aber immer höhere Anforderungen an den
Menschen gestellt werden, dabei zu sein;
eine demokratische Gesellschaft bleiben muss, in der die Menschen an politischen Diskursen teilnehmen und frei ihre Meinung vertreten können, öffentliche Belange zu ihren Angelegenheiten machen, der Versuchung von Fundamentalismen und Extremen widerstehen und bei allen Meinungsverschiedenheiten
Mehrheitsentscheidungen respektieren;
als Zivilgesellschaft gestärkt werden soll, mit vielfältigen Formen
der Partizipation, Solidarität, sozialen Netzen und Kooperation
der Bürger, egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft, welchen
Berufs und welchen Alters;
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eine Einwanderungsgesellschaft bleiben wird, in der Menschen
verschiedener Herkunft, Religion, Kultur und Tradition integriert
werden müssen, vorhandene Konflikte und Vorurteile überwunden und Formen des Miteinander-Lebens und –Arbeitens entwickelt werden müssen, die es allen erlauben, ihre jeweilige Kultur
zu pflegen, aber auch sich wechselseitig zu bereichern“
(Bundesjugendkuratorium 2001, S. 17f.).
Diese Liste lässt sich noch durch sechs weitere zentrale Bezugspunkte
für eine Gegenwartsanalyse vervollständigen:
Was im letzten Vierteljahrhundert begonnen wurde, steht auch
weiterhin auf der Tagesordnung: Die Herstellung einer nachhaltig gesicherten Chancengleichheit der Geschlechter, die gegen
eine
unverändert
fortwirkende
patriachal
geprägte
Dominanzkultur durchzusetzen ist.
Wir leben in einer Ungleichheitsgesellschaft, in der sich die Verteilung des ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapitals
immer mehr von dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit weg
bewegt und damit auch die Verteilung von Lebenschancen.
Die Gesellschaft, in der wir leben ist auch eine Erlebnisgesellschaft, in immer mehr Menschen ihre Selbstentfaltungswünsche
im Hier und Heute verwirklichen wollen und auf der Suche nach
Lebensfreude und Authentizität sind.
Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der die Medien immer
mehr die Funktionen der Erziehung, der Normvermittlung, der
Vorbilder, aber auch der Gewöhnung an Gewalt übernommen
haben.
Die Gesellschaft, die sich immer mehr abzeichnet, wird auch eine globalisierte, kapitalistische Netzwerkgesellschaft sein, die
sich als Verknüpfung von technologischen und ökonomischen
Prozessen erweist. Für Castells bedeutet „die Netzwerkgesellschaft einen qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung“
(1996, S. 477). Ihre Konsequenzen „breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben (Castells 1991, S. 138).“
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Wir leben einer Welt hegemonialer Ansprüche, in der immer
häufiger Mittel des Terrors, des Krieges und demokratisch nicht
legitimierter Herrschaft zum Einsatz kommen.
In diesen Bezugspunkten lässt sich die komplexe Mischung risikoreicher Potentiale der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellation andeuten, auf die bezogen Subjekte heute ihre Identitätskonstruktionen
entwerfen müssen.
An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude,
der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns ein „fluide Gesellschaft“ oder
die „liquid modernity“ (Bauman 2000) zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.
Reflexive Mod ernisierung: FLUIDE GESELLSCH A FT
Ind iv id ua lisierung
Grenzen gerat en in Fluss, Konst ant en w erden zu Variab len.
Wesent liche Grund m ust er der FLUIDEN GESELLSCH AFT:
Plura lisieru ng
Dek onst ruk t ion von
Geschlecht srollen
Ent grenzung
Fusion
• Glob aler H orizont
• A rbeit ~Freizeit (m obiles Bü ro)
• Grenzenloser Virt ueller Raum
• H ochk ult ur~Pop u lark u lt ur
(Reich- Ranick i bei Got t schalk )
• Kult ur/N at ur: z.B. durch
Gent echnik , Schönheit schirurgie
• ‚Echt es‘/‚Konstruiert es‘
• Crossov er, Hyb rid- Form a t e
• Medient echnologien k onv ergieren
Wert ew a ndel
Durchlässigk eit
Disem bedding
Globa lisieru ng
Digit alisieru ng
• Größere Unm it t elb ark eit :
Int erak t ivit ät , E- Com m erce
Wechselnde Konfigurat ionen
• Flexible A rbeit sorga nisa t ion
• Fernw irk ungen, Realt im e
• Pat chw ork - Fam ilien, b efrist et e
Com m u nit ies (z.B. Szenen)
• Öffent lich/Priv at (z.B. W ebCam s)
• Mod ulare Konzep t e (z.B. Technik )
• Lebensp hasen (z.B. ‚Junge A lt e‘)
• Sam p ling- Ku lt ur (M usik , Mode)
N eue Met a- H erausforderung BOUN DARY- MAN AGEMEN T
überarbeitet nach: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future
Values.
Wenn wir uns der Frage zuwenden, welche gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen die alltäglichen Lebensformen der Menschen heute
prägen, dann kann man an dem Gedanken des „disembedding“ oder
der Enttraditionalisierung anknüpfen. Dieser Prozess lässt sich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends hängen natürlich zusam-
12
men. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen
Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben
gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen und damit die möglichen Vorstellungen von Normalität
und Identität. Klar ist, dass die Grenzüberschreitungen nicht mehr das
Devianzproblem darstellen, sondern sie beginnen zur Normalerfahrung
unserer globalisierten Netzwerkgesellschaft zu werden. Andererseits
sind die Freiheiten des einzelnen nicht grenzenlos. Er muss seine
Grenzen selbst einziehen, er muss Grenzmanagement betreiben und
dabei gibt es die neuen normativen Eckpunkte der (Hyper-) Flexibilität,
der Fitness und der Mobilität, die nicht straflos vernachlässigt werden
dürfen. Als ein weiteres Merkmal der „fluiden Gesellschaft“ wird die zunehmende Mobilität benannt, die sich u.a. in einem häufigeren Ortsund Wohnungswechsel ausdrückt. Die Bereitschaft zu diesen lokalen
Veränderungen folgt vor allem aus der Logik der Arbeitsmärkte, die ein
flexibles Reagieren auf veränderte Marktbedingungen erfordert und die
immer
weniger
beständige
Betriebszugehörigkeiten
sichert.
Der
„flexible Mensch“ (wie ihn Sennett 1998 beschrieben hat) – so jedenfalls
die überall verkündete Botschaft – muss sich von der Idee der lebenslangen Loyalität gegenüber einer Firma lösen, er muss sich in seinem
Arbeitsmarktverhalten
an
die
ökonomisch
gegebenen
Netzwerkstrukturen anpassen. Das ist die Botschaft der vom einzelnen
geforderten geistigen, seelischen und körperlichen „Fitness“: Sei bereit,
dich
auf
alles
einzulassen!
Auch
aus
diesem
Diskurs
werden
Heranwachsende von der Botschaft erreicht, dass sie bislang gesetzte
Grenzen überschreiten können, ja müssen, wenn sie erfolgreich an
dem gesellschaftlichen Wettbewerb um Chancen und Macht beteiligt
sein wollen. Und sie werden sich fragen, wie in ein solches Leben der
hektischen Getriebenheit Kinder hineinpassen, die bekanntermaßen
ihren eigenen Lebensrhythmus haben, der zwangsläufig zu Sand im
Getriebe des Turbokapitalismus werden muss.
Zusammenfassend können wir feststellen, dass wir in einer Gesellschaft
leben, die gekennzeichnet ist durch
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tiefgreifende kultureller, politischer und ökonomischer Umbrüche, die durch einen global agierenden digitalen Netzwerkkapitalismus bestimmt werden;
sich ändernde biographische Schnittmuster, die immer weniger
aus bislang bestimmenden normalbiographischen Vorstellungen
bezogen werden können;
durch Wertewandel, der einerseits neue Lebenskonzepte stützt,
der aber zugleich in seiner pluralisierten Form zu einem Verlust
unbefragt als gültig angesehener Werte führt und mehr selbst
begründete Wertentscheidungen verlangt;
veränderte Geschlechterkonstruktionen, die gleichwohl untergründig wirksame patriachale Normen und Familienmuster nicht
überwunden haben;
die Pluralisierung und Entstandardisierung familiärer Lebensmuster, deren Bestand immer weniger gesichert ist und von den
beteiligten Personen hohe Eigenleistungen in der Beziehungsarbeit verlangt;
die wachsende Ungleichheit im Zugang der Menschen zu materiellen, sozialen und symbolischem Kapital, die gleichzeitig auch
zu einer ungleichen Verteilung von Lebenschancen führt;
zunehmende Migration und daraus folgenden Erfahrungen mit
kulturellen Differenzen und einem Patchwork der Verknüpfung
dieser Differenzen zu neuen Hybriditäten, die aber von spezifischen Bevölkerungsgruppen als Bedrohung erlebt werden;
wachsenden Einfluss der Medien, die nicht nur längst den Status
einer zentralen Erziehungs- und Bildungsinstanz haben, sondern auch mit ihrem hohen Maß an Gewaltpräsentation zumindest die Gewöhnung an Gewalt wesentlich fördern;
hegemonialen Ansprüche, die die Mittel von Krieg und Terror
einsetzen, um ihre jeweiligen ideologischen Vorstellungen einer
Weltordnung jenseits demokratischer Legitimation durchzusetzen.
2. WELCHE IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN ENTSTEHEN
IN EINER SOLCHEN GESELLSCHAFT?
Das Leben in der Wissens-, Risiko-, Ungleichheits-, Zivil-, Einwanderungs-, Erlebnis- und Netzwerkgesellschaft verdichtet sich zu einer
verallgemeinerbaren Grunderfahrung der Subjekte in den fortgeschrit-
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tenen Industrieländern: In einer "ontologischen Bodenlosigkeit", einer
radikalen Enttraditionalisierung, dem Verlust von unstrittig akzeptierten Lebenskonzepten, übernehmbaren Identitätsmustern und normativen Koordinaten. Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Genau in dieser Grunderfahrung wird die Ambivalenz der aktuellen Lebensverhältnisse spürbar. Es klingt natürlich für Subjekte verheißungsvoll, wenn ihnen vermittelt wird, dass sie ihre Drehbücher selbst
schreiben dürften, ein Stück eigenes Leben entwerfen, inszenieren und
realisieren könnten. Die Voraussetzungen dafür, dass diese Chance
auch realisiert werden können, sind allerdings bedeutend. Die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen sind oft
nicht vorhanden und dann wird die gesellschaftliche Notwendigkeit und
Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der
man sich gerne entziehen möchte. Die Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, hat ohne Zugang zu der erforderlichen Ressourcen, etwas zynisches.
Wie könnte man die Aufgabenstellung für unsere alltägliche Identitätsarbeit formulieren? Hier meine thesenartige Antwort: Im Zentrum der
Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen die Fähigkeiten zur Selbstorga-nisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen
auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen
und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn. Das alles findet natürlich in einem mehr oder weniger förderlichen soziokulturellem
Rahmen statt, der aber die individuelle Konstruktion dieser inneren
Gestalt nie ganz abnehmen kann. Es gibt gesellschaftliche Phasen, in
denen die individuelle Lebensführung in einen stabilen kulturellen
Rahmen "eingebettet" wird, der Sicherheit, Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt und es gibt Perioden der "Entbettung" (Giddens 1997, S. 123), in denen die individuelle Lebensführung wenige
kulturelle Korsettstangen nutzen kann bzw. von ihnen eingezwängt
wird und eigene Optionen und Lösungswege gesucht werden müssen.
Gerade in einer Phase gesellschaftlicher Modernisierung, wie wir sie
gegenwärtig erleben, ist eine selbstbestimmte "Politik der Lebensführung" unabdingbar.
15
Meine These bezieht sich genau darauf:
Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle
Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum "Selbsttätigwerden" oder zur „Selbsteinbettung“. Kinder und Jugendliche brauchen in ihrer Lebenswelt „Freiräume“, um sich
selbst zu entwerfen und gestaltend auf ihren Alltag einwirken zu können. Das Gelingen dieser Identitätsarbeit bemisst sich für das Subjekt
von Innen an dem Kriterium der Authentizität und von Außen am Kriterium der Anerkennung.
Identitätsarbeit hat eine innere und äußere Dimension. Eher nach außen gerichtet ist die Dimension der Passungsarbeit. Unumgänglich ist
hier die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und von Anerkennung und Integration. Eher nach ,innen', auf das Subjekt, bezogen ist
Synthesearbeit zu leisten, hier geht es um die subjektive Verknüpfung
der verschiedenen Bezüge, um die Konstruktion und Aufrechterhaltung
von Kohärenz und Selbstanerkennung, um das Gefühl von Authentizität
und Sinnhaftigkeit.
IDEN TITÄ T A LS PA TCH W ORKIN G
Biogra p hische
Kernna rra t ionen
Eb ene
M et a id ent it ä t
D om inierend e
Teilid ent it ä t en
Id ent it ä t sgefü hl
A u t hent izit ä t s- und
Kohärenzgefühl
H a ndeln
Ebene
Teilid ent it ät en
z.B.
Geschlecht
Unt erha lt u ng/
Freizeit
A rb eit
Körp er
Polit ik
E be n e
sit u a t iv e Selb st t hem a t isieru ngen
( = Viele einzelne sit u a t iv e Selb st erfa hru ngen)
Projek t e
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3. WELCHE RESSOURCEN BRAUCHEN HERANWACHSENDE ZUR PROUKTIVEN LEBENSBEWÄLTIGUNG IN EINER SOLCHEN GESELLSCHAFT?
Was bedeuten solche grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen
für Kinder und Jugendliche? Die 13. Shell-Studie hat gezeigt, dass immerhin 35% der westdeutschen und 42% der ostdeutschen Jugendlichen
eher düster in die erwartbare Zukunft blickt. Und bemerkenswert finde
ich, dass sich nur 21% gut auf zukünftige Entwicklungen vorbereitet
fühlen. Die PISA-Studie hat die Heranwachsenden bestätigt. Es wird also zu fragen sein, welche Kompetenzen denn in einer Welt notwendig
sind, deren lange Zeit (scheinbar) stabiler Grundriss aus den Fugen geraten und damit in hohem Maße krisenanfällig geworden ist – vielleicht
sogar als Dauerzustand. Wer sich heute in Deutschland mit der
Lebenssituation und den Zukunftschancen von Kindern und
Jugendlichen beschäftigt und wer danach fragt, mit welchen Krisen sie
konfrontiert sind und über welche Ressourcen zu deren produktiver
Bewältigung sie verfügen, der wird dem Stichwort PISA nicht entgehen
können.
Die Panik, die durch PISA ausgelöst wurde, hat deren Kern verfehlt. Bei
PISA geht es um Basiskompetenzen für Lebensbewältigung in einer widersprüchlichen Welt des digitalen Kapitalismus, „Basiskompetenzen,
die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung
in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“ (Deutsches PISAKonsortium 2001, S. 29). Vielmehr kommt es darauf an Heranwachsende in ihren Ressourcen so zu stärken, dass sie ihre eigene Identitätspassung finden. Diese Empowermentperspektive ist unabdingbar
an verbindliche und umfassende Partizipation gebunden, die von Erwachsenen nicht als Gnadenerweis aus der politischen Dominanzkultur
der Erwachsenen eröffnet, aber auch wieder genommen werden kann,
wenn es dieser politisch nicht mehr opportun erscheint.
Welche Ressourcen benötigen nun Heranwachsende, um selbstbestimmt und selbstwirksam ihre eigenen Weg in einer so komplex gewordenen Gesellschaft gehen zu können? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich die folgenden nennen:
Lebenskohärenz
In einer hochpluralisierten und fluiden Gesellschaft ist die Ressource
„Sinn“ eine wichtige, aber auch prekäre Grundlage der Lebensführung.
Sie kann nicht einfach aus dem traditionellen und jederzeit verfügbaren
Reservoir allgemein geteilter Werte bezogen werden. Sie erfordert einen hohen Eigenanteil an Such-, Experimentier- und Veränderungsbereitschaft. Im Rahmen der salutogenetisch ausgerichteten Forschung
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hat sich das „Kohärenzgefühl“ (sense of coherence) als ein erklärungsfähiges Konstrukt erwiesen (vgl. Antonovsky 1998). Dieses Modell geht
von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt
als Potential gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen
und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit
organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen
sind "symbolisches Kapital", also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine
zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer
Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen.
Die empirische Datenlage bei den Phänomenen Gewalt und Sucht zeigen deutlich, dass das Kohärenzgefühl sich auch in diesen Risikobereichen als Widerstandsressource erweist. Jugendliche, die das Gefühl haben, die Welt zu verstehen und im Griff zu haben, neigen wesentlich
weniger zu gewaltförmigem Verhalten oder zum Drogenkonsum.
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Boundary management
In einem soziokulturellem Raum der Überschreitung fast aller Grenzen
wird es immer mehr zu einer individuellen oder lebensweltspezifischen
Leistung, die für das eigene „gute Leben“ notwendigen Grenzmarkierungen zu setzen. Als nicht mehr verlässlich erweisen sich die Grenzpfähle traditioneller Moralvorstellungen, der nationalen Souveränitäten,
der Generationsunterschiede, der Markierungen zwischen Natur und
Kultur oder zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit. Der Optionsüberschuss
erschwert die Entscheidung für die richtige eigene Alternative. Beobachtet wird – nicht nur – bei Jugendlichen eine zunehmende Angst vor
dem Festgelegtwerden („Fixeophobie“), weil damit ja auch der Verlust
von Optionen verbunden ist. Gewalt- und Suchtphänomene können in
diesem Zusammenhang auch als Versuche verstanden werden, entweder im diffusen Feld der Möglichkeiten unverrückbare Grenzmarkierungen zu setzen (das ist nicht selten die Funktion der Gewalt) oder experimentell Grenzen zu überschreiten (so wird mancher Drogenversuch
verstanden). Letztlich kommt es darauf an, dass Subjekte lernen müssen, ihre eigenen Grenzen zu finden und zu ziehen, auf der Ebene der
Identität, der Werte, der sozialen Beziehungen und der kollektiven Einbettung.
Soziale Ressourcen
Gerade für Heranwachsende sind neben familiären Netzwerken ihre
peer groups eine wichtige Ressource. Im Rahmen der BelastungsBewältigungs-Forschung stellen soziale Netzwerke vor allem einen
Ressourcenfundus dar. Es geht um die Frage, welche Mittel in
bestimmten Belastungssituationen im Netzwerk verfügbar sind oder
von den Subjekten aktiviert werden können, um diese zu bewältigen.
Das Konzept der „einbettenden Kulturen“ (Kegan 1986) zeigt die
Bedeutung familiärer und außerfamiliärer Netzwerke für den Prozess
einer gelingenden Identitätsarbeit vor allem bei Heranwachsenden.
Dies kann im Sinne von Modellen selbstwirksamer Lebensprojekte
erfolgen, über die Rückmeldung zu eigenen Identitätsstrategien, über
die Filterwirkung kultureller und vor allem medialer Botschaften bis hin
zur Bewältigung von Krisen und Belastungen. Ein zweiter Aspekt
kommt hinzu: Netzwerke bedürfen der aktiven Pflege und ein
Bewusstsein dafür, dass sie nicht selbstverständlich auch vorhanden
sind. Für sie muss etwas getan werden, sie bedürfen der aktiven Beziehungsarbeit und diese wiederum setzt soziale Kompetenzen voraus.
Sind diese Kompetenzen im eigenen Sozialisationsmilieu nicht aktiv
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Sozialisationsmilieu nicht aktiv gefördert worden, dann werden die
„einbettenden Kulturen“ auch nur ungenügend jene unterstützende
Qualität für eine souveräne Lebensgestaltung erzeugen können, die ihnen zukommen sollte.
Das gegenwärtig durchgeführte Kinderpanel des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass soziale Ressourcen in Form von guten Freunden und
der Einbindung in Gruppen Gleichaltriger sozial ungleich verteilt sind
und das führt dann auch gleich zum nächsten zentralen Punkt:
6,0
5,0
4,0
3,0
2,0
1,0
3,9
3,1
5,8
5,1
0,0
gute Freunde
ohne Armut
Peers
armutsbetroffene Einkommenslage
Materielle Ressourcen
Die Armutsforschung zeigt, dass Kinder und Jugendliche überproportional hoch von Armut betroffen sind und Familien mit Kindern nicht
selten mit dem „Armutsrisiko“ zu leben haben. Susanne Mayer hat es in
DIE ZEIT so zusammengefasst: „In Deutschland sind Kinder zu 27 Prozent von Armut betroffen, das ist der zweithöchste Wert in Europa. Nur
in Irland ist das Armutsrisiko der Kinder höher (28 Prozent), in Dänemark liegt es bei 11 Prozent. Widerfährt deutschen Kinder das Missgeschick, in einem Haushalt alleinerziehender Eltern zu landen, steigt ihre
Chance, dass es äußerst ärmlich zugeht, auf 47 Prozent. Würden diese
Kinder in Schweden bei Papa oder Mama leben, wären nur 19 Prozent
von ihnen arm. Könnten Kinder sich ihr Geburtsland aussuchen, nun,
Deutschland wäre vermutlich nicht die erste Wahl“.
Das Kinderpanel des Deutschen Jugendinstituts kommt zu den folgenden Ergebnissen:
20
11
9
9
72
keine Armut
strenge Armut
Armutslage
armutsgefährdet
Tabelle: Sozialhilfeabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen
Quelle: Robert-Koch-Institut (Hg.) (2001). Armut bei Kindern und Jugendlichen.
Da materielle Ressourcen auch eine Art Schlüssel im Zugang zu anderen Ressourcen bilden, entscheiden sie auch mit über Zugangschancen
zu Bildung, Kultur und Gesundheit. Hier liegt das zentrale und höchst
aktuelle sozial- und gesellschaftspolitische Problem. Eine Gesellschaft
die sich ideologisch, politisch und ökonomisch fast ausschließlich auf
die Regulationskraft des Marktes verlässt, vertieft die gesellschaftliche
Spaltung und führt auch zu einer wachsenden Ungleichheit der Chancen an Lebensgestaltung. Hier holt uns immer wieder die klassische
soziale Frage ein. Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten
der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung
nicht möglich. Von die Chance auf Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozess in Form von sinnvoller Tätigkeit und angemessener Be-
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zahlung ist für Heranwachsende kaum möglich, Autonomie und Lebenssouveränität zu gewinnen.
Tabelle: Gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen (12 – 16 Jahre)
nach der sozialen Lebenslage (in Prozent; gerundet)
Quelle: HBSC-Survey 1998; Universität Bielefeld
Die gesellschaftlichen „disembedding“-Erfahrungen gefährden die unbefragt selbstverständliche Zugehörigkeit von Menschen zu einer
Gruppe oder einer Gemeinschaft. Die „Wir-Schicht“ der Identität – wie
sie Norbert Elias nennt- , also die kollektive Identität wird als bedroht
wahrgenommen. Es wächst das Risiko, nicht zu dem gesellschaftlichen
Kern, in dem sich dieses „Wir“ konstituiert, zu gehören. Die Soziologie
spricht von Inklusions- und Exklusionserfahrungen. Nicht zuletzt an
der Zunahme der Migration wird der Konflikt um die symbolische
Trennlinie von Zugehörigkeit und Ausschluss konflikthaft verhandelt.
Rassistische Deutungen und rassistisch begründete Gewalt sind Teil
dieses „Zugehörigkeitskampfes“.
Anerkennungskulturen
Eng verbunden mit der Zugehörigkeitsfrage ist auch die Anerkennungserfahrung. Ohne Kontexte der Anerkennung ist Lebenssouveränität nicht zu gewinnen. Auch hier erweisen sich die gesellschaftlichen
Strukturveränderungen als zentrale Ursache dafür, dass ein „Kampf um
Anerkennung“ entbrannt ist. In traditionellen Lebensformen ergab sich
durch die individuelle Passung in spezifische vorgegebene Rollenmuster und normalbiographische Schnittmuster ein selbstverständlicher
Anerkennungskontext. Diese Selbstverständlichkeit ist im Zuge der Individualisierungsprozesse, durch die die Moderne die Lebenswelten der
Menschen veränderte und teilweise auflöste, in Frage gestellt worden.
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Anerkennung muss – wie es Charles Taylor (1993, S. 27) herausarbeitet
- auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene erworben werden
und insofern ist sie prekär geworden: "So ist uns der Diskurs der Anerkennung in doppelter Weise geläufig geworden: erstens in der Sphäre
der persönlichen Beziehungen, wo wir die Ausbildung von Identität und
Selbst als einen Prozess begreifen, der sich in einem fortdauernden Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen vollzieht; zweitens in der
öffentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennung
eine zunehmend wichtigere Rolle spielt." Taylors zentrale These ist für
ein Verständnis der Hintergründe von Gewalt und Sucht zentral: Er geht
davon aus, „dass unsere Identität teilweise von der Anerkennung oder
Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen
geprägt (werde), so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen
wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann,
wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt.
Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann
eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches,
deformiertes Dasein einschließen" (S. 13f.).
Interkulturelle Kompetenzen
Die Anzahl der Kinder und Jugendliche, die einen Migrationshintergrund haben, steigt ständig. Sie erweisen sich als kreative Schöpfer
von Lebenskonzepten, die die Ressourcen unterschiedlicher Kulturen
integrieren. Sie bedürfen aber des gesicherten Vertrauens, dass sie zu
dazu gehören und in ihren Identitätsprojekten anerkannt werden. In
der schulischen Lebenswelt treffen Heranwachsende aufeinander, die
unterschiedliche soziokulturelle Lern- und Erfahrungsvoraussetzungen
mitbringen, die zugleich aber auch den Rahmen für den Erwerb interkultureller Kompetenzen bilden.
Zivilgesellschaftliche Kompetenzen
Zivilgesellschaft ist die Idee einer zukunftsfähigen demokratischen Alltagskultur, die von der identifizierten Beteiligung der Menschen an ihrem Gemeinwesen lebt und in der Subjekte durch ihr Engagement
zugleich die notwendigen Bedingungen für gelingende Lebensbewältigung und Identitätsarbeit in einer offenen pluralistischen Gesellschaft
schaffen und nutzen. „Bürgerschaftliches Engagement“ wird aus dieser
Quelle der vernünftigen Selbstsorge gespeist. Menschen suchen in die-
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sem Engagement Lebenssinn, Lebensqualität und Lebensfreude und sie
handeln aus einem Bewusstsein heraus, dass keine, aber auch wirklich
keine externe Autorität das Recht für sich beanspruchen kann, die für
das Subjekt stimmigen und befriedigenden Konzepte des richtigen und
guten Lebens vorzugeben. Zugleich ist gelingende Selbstsorge von
dem Bewusstsein durchdrungen, dass für die Schaffung autonomer Lebensprojekte soziale Anerkennung und Ermutigung gebraucht wird, sie
steht also nicht im Widerspruch zu sozialer Empfindsamkeit, sondern
sie setzen sich wechselseitig voraus. Und schließlich heißt eine „Politik
der Lebensführung“ auch: Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass
meine Vorstellungen vom guten Leben im Delegationsverfahren zu
verwirklichen sind. Ich muss mich einmischen. Eine solche Perspektive
der Selbstsorge ist deshalb mit keiner Version „vormundschaftlicher“
Politik und Verwaltung vereinbar. Ins Zentrum rückt mit Notwendigkeit
die Idee der „Zivilgesellschaft“. Eine Zivilgesellschaft lebt von dem Vertrauen der Menschen in ihre Fähigkeiten, im wohlverstandenen
Eigeninteresse gemeinsam mit anderen die Lebensbedingungen für alle
zu verbessern. Zivilgesellschaftliche Kompetenz entsteht dadurch,
„dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die
Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle
über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die
Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren
Bürgerinnen und Bürgern dies ermöglichen" (Ottawa Charta 1986).
Welche Kompetenzen also brauchen Heranwachsende, um in jener Gesellschaft handlungsfähig sein zu können, die sich im Gefolge des gesellschaftlichen Strukturwandels herausbildet. Viele Jugendlichen selbst
fühlen sich durch Elternhaus und Schule ungenügend vorbereitet. Erwachsenwerden ist ein schwieriger werdendes Projekt. An welchen Modellen und Werten sollen sich Heranwachsende orientieren oder von
welchen sich abgrenzen? Und welche Ressourcen brauchen sie dazu?
Sie müssen ihre eigene Lebenserzählung finden, die für sie einen kohärenten Sinnzusammenhang stiftet.
Sie müssen in einer Welt der universellen Grenzüberschreitungen ihr eigenes „boundary management“ in bezug auf Identität,
Wertehorizont und Optionsvielfalt vornehmen.
Sie brauchen die „einbettende Kultur“ soziale Netzwerke und die
soziale Kompetenz, um diese auch immer wieder mit zu erzeugen.
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Sie benötigen die erforderliche materielle Basissicherung, die
eine Zugangsvoraussetzung für die Verteilung von Lebenschancen bildet.
Sie benötigen die Erfahrung der Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der sie ihr Lebensprojekt verwirklichen wollen.
Sie brauchen einen Kontext der Anerkennung, der die basale
Voraussetzung für eine gelingende Identitätsarbeit ist.
Sie brauchen Voraussetzungen für den alltäglichen interkulturellen Diskurs, der in einer Einwanderungsgesellschaft alle Erfahrungsbereiche durchdringt.
Sie müssen die Chance haben, in Projekten des bürgerschaftlichen Engagements zivilgesellschaftliche Basiskompetenzen zu
erwerben.
Meine Abschlussthese nimmt noch mal die Titelfrage auf:
Die Mehrheit der jungen Erwachsenen hat den Wunsch, Kinder zu bekommen und gleichzeitig haben sie in ihrem Alltagsleben keinen Platz.
Hier könnten gute Kinderbetreuungseinrichtungen wirksame Hilfe leisten. Wir wissen einigermaßen, was Heranwachsende brauchen, um
selbstbestimmt ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Wir wissen
aber auch, dass genau die Ressourcen, die dazu erforderlich sind, keine „nachwachsenden Rohstoffe“ sind. Der globalisierte Kapitalismus
erzwingt immer mehr Leben- und Arbeitsformen, die solche Ressourcen benötigen und sie gleichzeitig vernichten. Die „Sperrigkeit“ und
„Widerständigkeit“ von Kindern sollte Erwachsene ermuntern, „einbettende Kultur“ zu schaffen, in denen Eigensinn und Widerstand gefördert, gelebt und gegen die Imperative des „homo oeconomicus verteidigt wird.
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