Einführung in die Linguistik, Teil 4 Spracherwerb Markus Bader, Frans Plank, Henning Reetz, Björn Wiemer Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 1/25 Spracherwerb Fragestellung Wie erwerben Kinder ihre Sprache (Erstspracherwerb)? Grundlegende Antworten Kinder erwerben Sprache ... ... ohne expliziten Untericht ... auf der Basis positiver Evidenz (d.h. auf der Basis dessen, was sie hören) ... unter variierenden Umständen und in einer kurzen Zeitspanne ... in identischer Weise über verschiedene Sprachen hinweg Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 2/25 SE ohne expliziten Untericht Im Unterschied zum Erlernen einer Zweitsprache nach Abschluß der Kindheit benötigt das Kind keine systematische Instruktion zum Erwerb seiner Muttersprache(n). (1) Child: Nobody don’t like me Mother : No, say „nobody likes me.” Child: Nobody don’t like me (eight repetitions of this dialogue) Mother : No, now listen carefully: say „nobody likes me.” Child: Oh! Nobody don’t likes me (McNeill, 1966, 69) Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 3/25 SE auf der Basis positiver Evidenz 1 Positive Evidenz: Das, was das Kind hört, d.h. Evidenz darüber, was grammatisch ist (von Sprechfehlern etc. abgesehen) Negative Evidenz: Evidenz darüber, was grammatisch nicht korrekt ist, beispielsweise aufgrund von expliziten Korrekturen Linguisten benötigen sowohl positive als auch negative Evidenz zum Erstellen der Grammatik einer bestimmten Sprache. Auch im Sprachunterricht erhält man sowohl positive als auch negative Evidenz. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 4/25 SE auf der Basis positiver Evidenz 2 Der Erstspracherwerb funktioniert (auch) ohne negative Evidenz: Negative Evidenz wird nicht allen Kindern bei allen Gelegenheiten gegeben. Negative Evidenz ist generell nicht zuverlässig. Negative Evidenz ist nicht ausreichend. D.h.: Der Erstspracherwerb muss auf der Basis von positiver Evidenz ablaufen Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 5/25 Wie entsteht sprachliches Wissen? Spracherwerb durch Imitation Spracherwerb durch Verstärkung Spracherwerb durch Bildung von Assoziationen Spracherwerb auf der Basis angeborenen Wissens Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 6/25 Das logische Problem des Spracherwerbs Kinder können in sehr kurzer Zeit allein aufgrund positiver Evidenz das komplizierte sprachliche Wissen erwerben, das allen sprachlichen Fähigkeiten zugrundeliegt. Da positive Evidenz allein zum Spracherwerb nicht ausreicht, müssen Kinder bereits ein bestimmtes Vorwissen mitbringen: angeborenes sprachliches Wissen. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 7/25 Das Prinzipien- und Parameter-Modell Die Hypothese der Universalgrammatik (UG) (z.B. Chomsky, 1988): Zur menschlichen Ausstattung gehört angeborenes sprachliches Wissen. Dieses angeborene sprachliche Wissen bezeichnet man als Universalgrammatik. Die Universalgrammatik umfaßt Prinzipien und Parameter. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 8/25 Beispiele für Prinzipien: Grammatiken besitzen zwei grundlegende Operationen, Merge und Move. Phrasen sind immer in einer bestimmten Art und Weise aufgebaut. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 9/25 Beispiele für Parameter: Die Stellung des Kopfes (des Wortes, das der Phrase ihren Namen gibt): phraseninitial (VP im Englischen: VO) phrasenfinal (VP im Deutschen: OV) Die Bedingungen für die Anwendung von Move: Keine Bewegung in englischen deklarativen Hauptsätzen (kein Verbzweit) Bewegung in deutschen deklarativen Hauptsätzen (Verbzweit). Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 10/25 Erwerb der Wortstellung Um 2 Jahre herum beginnen Kinder damit, Wörter zu kombinieren. Die frühen Mehrwortäußerungen von Kindern weichen selten von ihrer Zielsprache ab was den „Head Direction Parameter” in (1) betrifft: Köpfe stehen initial in kopfinitialen Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch) Köpfe stehen final in kopffinalen Sprachen (Japanisch, Türkisch) (1) Head Direction Parameter Where is the head of a phrase located (Values to be chosen: head final or head initial) Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 11/25 Über welche Kategorien verfügen Kinder? (1) a. b. c. d. Papa have it. (Eve, 1;6) Cromer wear glasses. (Eve, 2;0) Maria go. (Sarah, 2;3) Mumma ride horsie. (Sarah, 2;6) (2) a. b. c. d. Eve gone [has]. (Eve, 1;6) Eve cracking nut [is]. (Eve, 1;7) Mike gone [has]. (Sarah, 2;3) Kitty hiding [is]. (Sarah, 2;10) Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 12/25 Über welche Kategorien verfügen Kinder? In den frühen Sätzen von (englischerwerbenden) Kindern fehlen häufig grammatisch relevante Morpheme und Wörter (sog. funktionale Elemente): Grammatische Morpheme (das -s der 3. Person Singular Präsens, das -ed des Präteritums) Hilfsverben (have, be) Artikel Vorhanden sind dagegen inhaltlich relevante Wörter: Nomen Verben Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 13/25 Kleine Kinder - kleine Bäume? Manche Forscher haben vorgeschlagen, dass Phrasenstrukturbäume der frühen Kindergrammatik nur aus inhaltlichen Kategorien wie N(P) und V(P) aufgebaut sind: VP PP P P NP Cromer VP HH H V NP wear glasses Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 14/25 The Full Competence Hypothesis Die Full Competence Hypothesis (Poeppel & Wexler 1993) besagt dagegen, dass Kinder praktisch von Beginn ihrer Mehrwortäußerungen an über das volle Spektrum von syntaktischen Kategorien verfügen: Kinder verfügen sowohl über inhaltliche Kategorien wie N und V als auch über grammatische Kategorien wie I und C. Kinder machen grammatisch relevante Unterscheidungen zwischen finiten und nicht-finiten Verben. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 15/25 The Full Competence Hypothesis: Evidenz Es ist schwierig, anhand des Erwerbs des Englischen zu entscheiden, mit welchen syntaktischen Kategorien Kinder frühe Mehrwortäußerungen bilden. Sprachen, in denen auch in einfachen, deklarativen Hauptsätzen Move zur Anwendung gelangt, können einschlägige Evidenz liefern. Zu diesen Sprachen gehören die Verbzweit-Sprachen wie das Deutsche. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 16/25 Nochmals: Verben im Deutschen (1) a. b. Das Buch wird Maria gewinnen. Das Buch gewinnt Maria. (2) a. b. Maria wird den Preis gewinnen. Maria gewinnt den Preis. (3) a. b. Für ihren Aufsatz wird Maria den Preis gewinnen. Für ihren Aufsatz gewinnt Maria den Preis. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 17/25 Generalisierung: Verben im Deutschen Bisher haben wir nur Sätze betrachtet, in denen ein Wort der Klasse I (Hilfs- oder Modalverb) zusammen mit einem Verb aufgetreten ist. Das Muster, das wir für diese Sätze betrachtet haben, läßt sich leicht generalisieren für Sätze, die nur ein einziges Verb enthalten: In deklarativen Hauptsätzen des Deutschen Stehen nicht-finite Verben (Infinitive, Partizipien) am Satzende in V, werden also nicht bewegt. Steht das finite Verb (das für Person, Numerus etc. flektierte Verb) in C (= an der zweiten Position). Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 18/25 Beispiel 1 CP ` ``` `` NP2 Diesen Preis C’ XXX XX C wird1 IP XXX XX NP Maria I’ PP P P VP I HH H NP2 V t t1 gewinnen Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 19/25 Beispiel 2 CP ` NP2 Diesen Preis ``` `` C’ XXX XX C gewinnt1 IP PPP P NP I’ "b " b " b Maria VP I ##cc NP2 V t t1 t1 Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 20/25 Finitheit und Verbstellung 1 Typische Beispiele früher Mehrwortäußerungen im Deutschen (1) a. b. Ich hab ein dossen Ball (Andreas, 2;1) Ich mach das nich (Andreas, 2;1) (2) a. b. Thorsten Caesar haben (Andreas, 2;1) du das haben (Andreas, 2;1) Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 21/25 Finitheit und Verbstellung 2 Tabelle 1: Finiteness versus verb position: three or more constituents (Source: Poeppel & Wexler, 1993) V2/Not Final Vfinal/Not V2 +Finite -Finite 197 6 11 37 Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 22/25 Schlussfolgerung Die von Poeppel und Wexler (1993) sowie anderen untersuchten Daten unterstützen die Full Competence Hypothesis: Kinder scheinen praktisch mit Beginn von Mehrwortäußerungen über das volle Inventar syntaktischer Kategorien zu verfügen. Kinder scheinen auch schon früh Wissen über die Anwendung von Move zu besitzen. Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 23/25 Offene Frage Kinder scheinen Sätze ohne finites Verb als Hauptsätze verwenden zu können, was in der Erwachsenen-Grammatik nicht möglich ist. Die Full Competence Hypothesis allein liefert dafür keine Erklärung. (1) a. b. Papa have it. (Eve, 1;6) Cromer wear glasses. (Eve, 2;0 (2) a. b. Thorsten Caesar haben (Andreas, 2;1) du das haben (Andreas, 2;1) Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 24/25 Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 25/25