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Einführung in die Linguistik, Teil 4
Spracherwerb
Markus Bader, Miriam Butt, Uli Lutz, Björn Wiemer
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 1/31
Spracherwerb
Fragestellung
Wie erwerben Kinder ihre Sprache (Erstspracherwerb)?
Grundlegende Antworten
Kinder erwerben Sprache ...
... ohne expliziten Untericht
... auf der Basis positiver Evidenz (d.h. auf der Basis
dessen, was sie hören)
... unter variierenden Umständen und in einer kurzen
Zeitspanne
... in identischer Weise über verschiedene Sprachen
hinweg
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 2/31
SE ohne expliziten Untericht
Im Unterschied zum Erlernen einer Zweitsprache nach
Abschluß der Kindheit benötigt das Kind keine
systematische Instruktion zum Erwerb seiner
Muttersprache(n).
(1) Child: Nobody don’t like me
Mother : No, say „nobody likes me.”
Child: Nobody don’t like me
(eight repetitions of this dialogue)
Mother : No, now listen carefully: say „nobody likes me.”
Child: Oh! Nobody don’t likes me
(McNeill, 1966, 69)
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 3/31
SE auf der Basis positiver Evidenz 1
Positive Evidenz: Das, was das Kind hört, d.h. Evidenz
darüber, was grammatisch ist (von Sprechfehlern etc.
abgesehen)
Negative Evidenz: Evidenz darüber, was grammatisch
nicht korrekt ist, beispielsweise aufgrund von expliziten
Korrekturen
Linguisten benötigen sowohl positive als auch negative
Evidenz zum Erstellen der Grammatik einer bestimmten
Sprache.
Auch im Sprachunterricht erhält man sowohl positive
als auch negative Evidenz.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 4/31
SE auf der Basis positiver Evidenz 2
Der Erstspracherwerb funktioniert (auch) ohne negative
Evidenz:
Negative Evidenz wird nicht allen Kindern bei allen
Gelegenheiten gegeben.
Negative Evidenz ist generell nicht zuverlässig.
Negative Evidenz ist nicht ausreichend.
D.h.: Der Erstspracherwerb muss auf der Basis von
positiver Evidenz ablaufen
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 5/31
Wie entsteht sprachliches Wissen?
Spracherwerb duch Versuch und Irrtum (Trial and Error)
Korrekturen und negative Evidenz
Spracherwerb durch Imitation
Spracherwerb auf der Basis angeborenen Wissens
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 6/31
Korrekturen und negative Evidenz
Zusätzliche Evidenz gegen dieses Modell:
Eltern korrigieren eher den Wahrheitsgehalt der
Äußerungen ihrer Kinder als deren grammatische Form.
(1)
a. Mama isn’t boy, he a girl — That’s right.
b. Walt Disney comes on Tuesday — No, he does not.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 7/31
Versuch und Irrtum
Gegen Versuch und Irrtum als Mechanismus für den
Spracherwerb sprechen zwei Argumente:
Da Kinder in ganz unterschiedlichen sprachlichen
Umgebungen aufwachsen, sollte der Verlauf des
Spracherwerbs bei jedem Kind anders sein. Es gibt
aber eine erhebliche Gleichförmigkeit.
Auch das Ergebnis des Spracherwerbs sollte deutliche
Unterschiede aufweisen. Auch dem ist nicht so: Von
geringen Variationen abgesehen erwirbt jeder, der einer
bestimmten Sprache ausgesetzt ist, die gleichen
grammatischen Regeln.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 8/31
Imitation
Übergeneralisierungen: Formen, die das Kind gar nicht
durch Imitation erworben haben kann.
(2)
goed statt went, foots statt feet
Strukturen, die ihrer Zielsprache gar nicht vorkommen:
(3)
*What do you think what pigs eat?
(4)
Was glaubst du, was Schweine essen.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 9/31
Das logische Problem des Spracherwerbs
Kinder können in sehr kurzer Zeit allein aufgrund
positiver Evidenz das komplizierte sprachliche Wissen
erwerben, das allen sprachlichen Fähigkeiten
zugrundeliegt.
Da positive Evidenz allein zum Spracherwerb nicht
ausreicht, müssen Kinder bereits ein bestimmtes
Vorwissen mitbringen: angeborenes sprachliches
Wissen.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 10/31
Das Prinzipien- und Parameter-Modell
Die Hypothese der Universalgrammatik (UG)
(z.B. Chomsky, 1988):
Zur menschlichen Ausstattung gehört angeborenes
sprachliches Wissen.
Dieses angeborene sprachliche Wissen bezeichnet
man als Universalgrammatik.
Die Universalgrammatik umfaßt Prinzipien und
Parameter.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 11/31
Beispiele für Prinzipien:
(5)
Strukturabhängigkeit (structure dependence)
Die Anwendung grammatische Regeln ist
ausschließlich strukturell geregelt.
(6)
a. Peter will write a book.
b. Will Peter write a book?
(7)
Bildung von Ja-Nein-Fragen: Hypothese 1
Bewege das zweite Wort an den Satzanfang!
(8)
a. My oncle will write a book.
b. *Oncle my will write a book?
c. Will my oncle write a book?
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 12/31
Beispiele für Prinzipien:
(9)
Bildung von Ja-Nein-Fragen: Hypothese 2
Bewege das erste Verb an den Satzanfang!
(10) a. My oncle who has been living here for 10 years will
write a book.
b. *Has my oncle who been living here for 10 years will
write a book?
c. Will my oncle who has been living here for 10 years
write a book?
(11) Bildung von Ja-Nein-Fragen: Hypothese 3
Bewege das finite Hilfsverb des Satzes an den
Satzanfang!
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 13/31
Beispiele für Prinzipien:
Grammatiken besitzen grundlegende Operationen zum
Aufbau von Phrasenstruktur-Bäumen.
Phrasen sind immer in einer bestimmten Art und Weise
aufgebaut (X̄-Theorie).
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 14/31
Beispiele für Parameter:
(12) a. . . . dass Peter
die Antwort weiß.
b. . . . that Peter knews the answer.
Die Stellung des Kopfes (des Wortes, das der Phrase
ihren Namen gibt):
phraseninitial (VP im Englischen: VO)
phrasenfinal (VP im Deutschen: OV)
(13) Head Direction Parameter
Where is the head of a phrase located
(Values to be chosen: head final or head initial)
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 15/31
Beispiele für Parameter:
(14) a. Peter weiss die Antwort.
b. Peter knews the answer.
(15) a. Peter könnte
die Antwort wissen.
b. Peter might know the answer.
Die Bedingungen für die Anwendung von Bewegung:
Keine Bewegung in englischen deklarativen
Hauptsätzen (kein Verbzweit)
Bewegung in deutschen deklarativen Hauptsätzen
(Verbzweit).
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 16/31
Beispiele für Parameter:
(16) a. *Wie immer Peter könnte
b. Wie immer könnte Peter
die Antwort wissen.
die Antwort wissen.
(17) a. As always, Peter might know the answer.
b. *As always might Peter know the answer.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 17/31
Erwerb der Wortstellung
Um 2 Jahre herum beginnen Kinder damit, Wörter zu
kombinieren.
Die frühen Mehrwortäußerungen von Kindern weichen
selten von ihrer Zielsprache ab was den „Head
Direction Parameter” in (1) betrifft:
Köpfe stehen initial in kopfinitialen Sprachen
(Englisch, Französisch, Italienisch)
Köpfe stehen final in kopffinalen Sprachen
(Japanisch, Türkisch)
(1) Head Direction Parameter
Where is the head of a phrase located
(Values to be chosen: head final or head initial)
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 18/31
Über welche Kategorien verfügen Kinder?
(1) a.
b.
c.
d.
Papa have it. (Eve, 1;6)
Cromer wear glasses. (Eve, 2;0)
Maria go. (Sarah, 2;3)
Mumma ride horsie. (Sarah, 2;6)
(2) a.
b.
c.
d.
Eve gone. — [has] — (Eve, 1;6)
Eve cracking nut. — [is] — (Eve, 1;7)
Mike gone. — [has] — (Sarah, 2;3)
Kitty hiding — [is] — (Sarah, 2;10)
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 19/31
Über welche Kategorien verfügen Kinder?
In den frühen Sätzen von (englischerwerbenden) Kindern
fehlen häufig grammatisch relevante Morpheme und Wörter
(sog. funktionale Elemente):
Grammatische Morpheme (das -s der 3. Person
Singular Präsens, das -ed des Präteritums)
Hilfsverben (have, be)
Artikel
Vorhanden sind dagegen inhaltlich relevante Wörter:
Nomen
Verben
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 20/31
Kleine Kinder - kleine Bäume?
Manche Forscher haben vorgeschlagen, dass
Phrasenstrukturbäume der frühen Kindergrammatik nur aus
inhaltlichen Kategorien wie N(P) und V(P) aufgebaut sind:
VP
NP
Cromer
PP
P
P
VP
HH
H
V
NP
wear
glasses
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 21/31
The Full Competence Hypothesis
Die Full Competence Hypothesis (Poeppel & Wexler 1993)
besagt dagegen, dass Kinder praktisch von Beginn ihrer
Mehrwortäußerungen an über das volle Spektrum von
syntaktischen Kategorien verfügen:
Kinder verfügen sowohl über inhaltliche Kategorien wie
N und V als auch über grammatische Kategorien wie I
und C.
Kinder machen grammatisch relevante
Unterscheidungen zwischen finiten und nicht-finiten
Verben.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 22/31
The Full Competence Hypothesis: Evidenz
Es ist schwierig, anhand des Erwerbs des Englischen
zu entscheiden, mit welchen syntaktischen Kategorien
Kinder frühe Mehrwortäußerungen bilden.
Sprachen, in denen auch in einfachen, deklarativen
Hauptsätzen Move zur Anwendung gelangt, können
einschlägige Evidenz liefern.
Zu diesen Sprachen gehören die Verbzweit-Sprachen
wie das Deutsche.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 23/31
Nochmals: Verben im Deutschen
(1) a.
b.
Das Buch wird
Maria gewinnen.
Das Buch gewinnt Maria.
(2) a.
b.
Maria wird
den Preis gewinnen.
Maria gewinnt den Preis.
(3) a.
b.
Für ihren Aufsatz wird
Maria den Preis gewinnen.
Für ihren Aufsatz gewinnt Maria den Preis.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 24/31
Generalisierung: Verben im Deutschen
In deklarativen Hauptsätzen des Deutschen
Stehen nicht-finite Verben (Infinitive, Partizipien) am
Satzende in V, werden also nicht bewegt.
Steht das finite Verb (das für Person, Numerus etc.
flektierte Verb) in C (= an der zweiten Position).
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 25/31
Beispiel 1
CP
`
DP2
Diesen Preis
```
``
C’
PP
C
gewinnt1
PP
VP
HH
H
NP
Maria
V’
##cc
DP2 V
t
t1
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 26/31
Beispiel 2
CP
DP2
XXX
Diesen Preis
XX
X
C’
P P
C
VP
wird1
PP
PP
NP
Maria
P
P
V’
!aa
!!
a
DP2
V
PP
P
P
t
gewinnen t1
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 27/31
Finitheit und Verbstellung 1
Typische Beispiele früher Mehrwortäußerungen im
Deutschen
(1) a.
b.
Ich hab ein dossen Ball (Andreas, 2;1)
Ich mach das nich (Andreas, 2;1)
(2) a.
b.
Thorsten Caesar haben (Andreas, 2;1)
du das haben (Andreas, 2;1)
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 28/31
Finitheit und Verbstellung 2
Tabelle 1: Finiteness versus verb position: three
or more constituents (Source: Poeppel & Wexler,
1993)
V2/Not Final
Vfinal/Not V2
+Finite -Finite
197
6
11
37
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 29/31
Schlussfolgerung
Die von Poeppel und Wexler (1993) sowie anderen
untersuchten Daten unterstützen die Full Competence
Hypothesis:
Kinder scheinen praktisch mit Beginn von
Mehrwortäußerungen über das volle Inventar
syntaktischer Kategorien zu verfügen.
Kinder scheinen auch schon früh Wissen über die
Anwendung von Move zu besitzen.
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 30/31
Offene Frage
Kinder scheinen Sätze ohne finites Verb als Hauptsätze
verwenden zu können, was in der
Erwachsenen-Grammatik nicht möglich ist.
Die Full Competence Hypothesis allein liefert dafür
keine Erklärung.
(1) a.
b.
Papa have it. (Eve, 1;6)
Cromer wear glasses. (Eve, 2;0
(2) a.
b.
Thorsten Caesar haben (Andreas, 2;1)
du das haben (Andreas, 2;1)
Einführung in die Linguistik, Teil 4 – p. 31/31
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