2010_02_03_Skript 1_Handzettel mit Linien

Werbung
Ethische Fallbesprechung:
Verfahren und inhaltliche
Strukturierung
Georg Marckmann
Universität Tübingen
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Fortbildung „Ethikberatung im Krankenhaus“
Zollernalb-Klinikum gGmbH
Albstadt, 04.02.10 (Tag 1)
1
Ethische Fallbesprechung
Definition (Steinkamp & Gordijn 2005):
„Ethische Fallbesprechung auf Station ist der
systematische Versuch, im Rahmen eines
strukturierten, von einem Moderator geleiteten
Gesprächs mit einem multidisziplinären Team
innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu der ethisch
am besten begründbaren Entscheidung zu gelangen.“
Zielsetzungen:
Primär: Ethisch möglichst gut begründete Entscheidung
Ethische Gründe: vier Prinzipien
Sekundär: Konsens im Behandlungsteam
Herausforderung: Wie gelangt man zu der ethisch am
besten begründeten Entscheidung?
2
Entscheidungsdimensionen
Verfahren („prozedural“, „formal“)
Vorgehen
bei Entscheidungsfindung
Zeitlicher Ablauf, Transparenz
Beteiligte Personen: Patient/in, Angehörige/Eltern,
Team, externe Sachverständige (Medizin, Ethik)
Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung
für ethisch akzeptable Entscheidung!
Inhalt („material“)
inhaltliche
Entscheidungskriterien
Prinzipien
Ziel: Begründung einer Entscheidung!
ethische
3
Prozedurale Voraussetzungen
Individualität der Einzelfälle leichter zu implementieren!
Vielen ethischen Problemen liegen Kommunikationsprobleme
zugrunde
Notwendig: Beteiligung des Teams an der Entscheidung
Kommunikationsstrukturen & Entscheidungsverfahren verbessern!
Interdisziplinarität der Betreuung
Begrenztheit der Wahrnehmung: Patient wird von Pflegenden u.
Ärzten unterschiedlich „rekonstruiert“ Bild des Patienten
Entscheidungen erfordern Bewertungen: Einseitige Bewertungen
vermeiden!
Entscheidungen müssen von allen umgesetzt werden!
Ziel: Konsens bei Situationsbeurteilung und
Behandlungsempfehlung
Keine hinreichende Legitimation inhaltliche Begründung!!
Behandelnder Arzt trägt letzte Verantwortung für die Entscheidung!
4
Ethikberatung: Modelle (nach Neitzke)
Experten-Modell
Delegations-Modell
KEK berät Fall ohne Antragsteller Empfehlung an Team
Delegierter aus dem Team stellt Fall im KEK vor gemeinsame
Diskussion Empfehlung
Prozess-Modell (vgl. Nimwegener Interaktions-Modell)
Konsil-Modell
1-3 Mitglieder des KEK gehen zur Fallbesprechung auf Station
Ethikberater geht als Einzelperson zur Fallsbesprechung auf Station
Wichtig: Letztverantwortung verbleibt bei behandelndem Arzt
Verbindlichkeit der Empfehlung geht von argumentativer
Überzeugung aus
Team muss ethische Argumentation selbst nachvollziehen
Prozess- oder Konsil-Modell
5
Ethikberatung – Verfahren (nach Neitzke)
Wer stellt wie eine Fallanfrage?
Mitarbeiterinnen, Patienten, Pflege; mündlich, schriftlich (Fax, Mail)
Wer nimmt die Fallanfrage entgegen? (Erstkontakt)
Wer entscheidet über die Annahme des Falls?
Nicht jedes Problem ist ein ethisches Problem!
Wer koordiniert wie die Beratungsgespräche?
Wer nimmt an den Beratungsgesprächen teil? Wer moderiert?
Wer protokolliert?
Welche Beratungsmethode wird verwendet?
Wie wird Beratungsergebnis dokumentiert?
Gibt es Folgetermine, Qualitätssicherung, Evaluation?
Empfehlung: 2-3 Personen (Moderation, Protokoll)
Nimwegener Methode, Bochumer Arbeitsbogen, Prinzipienmodell
Brief an behandelnden Arzt, in Akte abgelegt
6
Rolle(n) des Moderators
Neutraler Moderator
Ethischer Experte
Leitet das Gespräch
Verantwortlich für Prozess, nicht Ergebnis
Inhaltlich neutral
Methodenkompetenz (Kommunikation)
Kenntnisse von Ethik, Leitlinien, Gesetzen
Bringt inhaltliche Argumente in das Gespräch ein
keine subjektive Meinung, sondern begründete ethische
Argumente ( Prinzipien!)
Unterschiedliche Schwerpunkte möglich
Hängt auch von den Kompetenzen des Moderators ab
Zielsetzung: ethisch gut begründete Entscheidung Methodenkompetenz allein nicht ausreichend!
7
Moderation
Formalen Ablauf der Fallbesprechung gestalten (Begrüßung,
Zeitrahmen einhalten, Verabschiedung etc.)
Entscheidungsprozess strukturieren, Argumente sortieren
Teilnehmer am Gespräch aktivieren/motivieren
Systematisch Information/Meinungen sammeln
Berücksichtigung verschiedener Perspektiven und Aspekte
sichern
Positionen durch Nachfragen verdeutlichen
Begründung von Positionen herausarbeiten
Meinungsunterschiede verdeutlichen
Fachfragen und Bewertungen differenzieren
Transparenz schaffen
Persönliche Konflikte versachlichen
Ergebnissicherung am Ende der Fallbesprechung
8
Vorbereitung der Fallbesprechung
Anlass: Gefühl, dass die Behandlung möglicherweise „keinen
Sinn“ mehr macht, dass „etwas nicht stimmt“
Kann vom Team (ärztl./pflegerisch/PSD/Seelsorge etc.),
Eltern/Angehörigen geäußert werden
Ethische Fallbesprechung vereinbaren und vorbereiten
Wer? Wann? Wo? Befunde? Weitere Diagnostik oder Konsile
erforderlich? Ggf. Information über Sichtweise des Patienten u. der
Angehörigen besorgen
Teilnehmen sollten nach Möglichkeit alle Disziplinen, die an der
Versorgung des Patienten beteiligt sind!
Wichtig: ausreichende Vorbereitungszeit (möglichst 24-48h)
Teilnehmer an Fallbesprechung
Was ist meine Sichtweise des Problems?
Welchen Informationsbedarf habe ich? Fragen an andere?
Wie bewerte ich die unterschiedlichen Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten?
9
Fallbesprechung: Inhaltliche Struktur
Ziele
Argumentation strukturieren
Berücksichtigung wesentlicher Aspekte sichern
Ethische Qualität des Beratungsergebnisses sichern
Methoden
Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechung
Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis
Prinzipienorientierte Falldiskussion (Marckmann)
Systematische Abklärung der ethischen Verpflichtungen
Orientierung an 4 Prinzipien:
Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie, Gerechtigkeit
Anwendung in zwei Schritten: Interpretation und Gewichtung
im Konfliktfall
10
Prinzipienorientierte Falldiskussion
1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles
Information über Patient (Diagnose etc.)
Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken
2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten
Interpretation
3.
Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge)
Autonomie des Patienten
Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten
(Gerechtigkeit)
Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft
Gewich4. Synthese: Konflikt? → Begründete Abwägung
tung
5. Kritische Reflexion des Falls
Stärkster Einwand?
Vermeidung möglich?
11
Fallbeispiel
39jähr. Patient mit gel. Schmerzen im Brustbereich
Gefühlsstörungen in Armen und Beinen
Komplette Querschnittslähmung
CT: Tumor im Brustbereich, Lungengrenzen überschritten, in
Rückenmarkskanal eingewachsen
Operation Lähmungen , aber keine vollst. Tumorentfernung
Histologie: kleinzelliges Bronchial-Karzinom
Kombinierte Radiochemotherapie
Tumorausdehnung , Lähmungen , WS stabilisiert
CT-Kontrolle nach Therapieabschluss:
Metastasen in Nebenniere, Pankreas und Leber
Patient gibt Hoffnung nicht auf, wünscht Fortsetzung einer
„aggressiven“ Chemotherapie
Soll man dem Wunsch des Patienten nachkommen?
12
Prinzipienorientierte Falldiskussion
1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles
Information über Patient (Diagnose etc.)
Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken
2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten
Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge)
Autonomie des Patienten
3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten
(Gerechtigkeit)
Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft
4. Synthese: Konflikt? → Begründete Abwägung
5. Kritische Reflexion des Falls
Stärkster Einwand?
Vermeidung möglich?
13
Behandlungsmöglichkeiten
1. Kurativ: Hochdosierte Mehrfachchemotherapie
Ansprechrate ca. 20-30%
Kaum Heilungschancen, Lebensverlängerung evtl. möglich
Erhebliche Nebenwirkungen, tötl. Leberversagen möglich
2. Palliativ: Monochemotherapie
Ansprechrate ca. 15%
Heilung praktisch ausgeschlossen, evtl. Verlangsamung des
Tumorwachstums
Nebenwirkungen geringer
3. (Rein) Symptomatische Therapie
Schmerztherapie, Symptomlinderung, Begleitung ….
Tumorerkrankung bleibt unbeeinflusst, früherer Tod wahrscheinlich
Bessere Lebensqualität
14
Prinzipienorientierte Falldiskussion
1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles
Information über Patient (Diagnose etc.)
Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken
2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten
Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge)
Autonomie des Patienten
3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten
(Gerechtigkeit)
Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft
4. Synthese: Konflikt? → Begründete Abwägung
5. Kritische Reflexion des Falls
Stärkster Einwand?
Vermeidung möglich?
15
Wohltun / Nichtschaden
Option 1 – Mehrfachchemotherapie
Kaum Heilungschancen, Lebensverlängerung möglich
Erheblich reduzierte LQ durch NW; hohes Letalitätsrisiko
Mehr Schaden als Nutzen?
Option 2 – Monochemotherapie
Geringe Erfolgsaussicht
Keine Heilung, evtl. Lebensverlängerung
Eingeschränkte LQ durch NW
Rechtfertigt der Nutzen den Schaden?
Option 3 – (Rein) symptomatische Behandlung
Bessere Lebensqualität
Evtl. früherer Tod
Mehr Nutzen als Schaden?
16
Wohltun / Nichtschaden
Auswahl der Therapie hängt von
Interpretation des Patientenwohls ab!
Evaluative Vorstellungen des guten Lebens:
1. „Kämpfen bis zuletzt“
Option 1: Mehrfachchemotherapie
2. „Lebensqualität erhalten“
Option 3: Symptomatische Therapie
Interpretationsspielraum im Einzelfall
Auswahl der Therapie nicht direkt aus der
pME ableitbar!
17
Respekt der Autonomie
Patient wünscht „aggressive“ Chemotherapie
Option 1: Mehrfachchemotherapie
Gerechtigkeit
Option 1 und 2: Hoher Ressourcenverbrauch bei
geringer Erfolgsaussicht
Option 3: Geringerer Ressourcenverbrauch, höherer
Nutzen durch bessere Lebensqualität
gerechtere Ressourcenverteilung?
18
Prinzipienorientierte Falldiskussion
1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles
Information über Patient (Diagnose etc.)
Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken
2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten
Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge)
Autonomie des Patienten
3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten
(Gerechtigkeit)
Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft
4. Synthese: Konflikt? → Begründete Abwägung
5. Kritische Reflexion des Falls
Stärkster Einwand?
Vermeidung möglich?
19
Ethische Konflikte?
Hängt von Interpretation des Patientenwohls
ab
Annahme: Wohl = „LQ erhalten“ Option 3
Wohltun
Autonomie
Gerechtigkeit
Option 3
Option 1
Option 3
20
Gewichtung im Konfliktfall
Erneute Prüfung von Schritt 2: weitere Alternativen?
Keine apriori-Gewichtung durch pME vorgegeben
Begründete Abwägung im Einzelfall
Patientenwunsch
authentisch: „Kämpfertyp“;
realistische Einschätzung
Patientenwunsch beruht auf
unrealistischer Einschätzung
der Heilungschancen
Patientenautonomie
höher gewichten
Patientenwohl höher
gewichten
Option 1: Mehrfachchemo
Option 3: Sympt. Therapie
21
Prinzipienorientierte Falldiskussion
1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles
Information über Patient (Diagnose etc.)
Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken
2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten
Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge)
Autonomie des Patienten
3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten
(Gerechtigkeit)
Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft
4. Synthese: Konflikt? → Begründete Abwägung
5. Kritische Reflexion des Falls
Stärkster Einwand?
Vermeidung möglich?
22
Herunterladen