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al-fiqh
Das Islamische Recht
und seine Entstehung im ersten Jahrhundert
`abbasidischer Kalifatsdynastie
von Irmgard Zingelmann
2011
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung
2.
Historische Einordnung
3.
3.1.
3.2.
3.2.1.
3.2.2.
3.2.3.
3.2.4.
Das Islamische Recht (Jurisprudenz, fiqh)
Die Grundlagen der Rechtsfindung
Die vier anerkannten Rechtsschulen
Die Rechtschule (al-madhab) des Abu Hanifa (um 80/699-150/76)
Die Rechtschule (al-madhab) des Malik Ibn Anas (97/715-179/796)
Die Rechtschule (al-madhab) des aš-Šāfi (150/767-204/820)
Die Rechtschule (al-madhab) des Ahmad Ibn Hanbal (164/780-241/855)
4.
5.
6.
Die Mu`tazila
Literaturverzeichnis
Bildnachweise
1. Einleitung
Nach einer Einführung in die Anfangszeit der `Abbasiden, werden die Grundlagen des
islamisches Rechts (fiqh, Jurisprudenz) und deren Autoritäten behandelt.
2. Historische Einordnung
Fünfhundert Jahre lang, von 749 bis 1248 n. Chr. führten die `Abbasiden das Islamische
Reich.
In den ersten 100 Jahren `abbasidischer Kalifatsdynastie, also von 749 bis 850 n. Chr., nach
islamischer Zeitrechnung 50 bis 150 H. (Hiğrī) begannen muslimische Gelehrte damit,
systematisch die Grundlagen des islamisches Rechts (fiqh, Jurisprudenz) und des islamischen
Glaubensbekenntnisses (Dogma) zusammenzustellen und aufzuschreiben.
Der Kalif Harun ar-Rasid schuf das oberste Richteramt (qadi l-qudat) und veranlasste seinen
ersten obersten Richter Abu Yusuf, den wohl berühmtesten Schüler Abu Hanifas, dazu, das
“Buch der Grundsteuer” zu verfassen.
Sein Sohn Al-Ma’mun gründete in Bagdad eine Akademie, das "bayt al-hikma" (Haus der
Weisheit),
die zugleich auch eine Bibliothek war, und beschäftigte dort ein Team von
Übersetzern, um hellenistische Wissenschaftswerke der Mathematik, der Medizin und der
Philosophie ins Arabische zu übersetzen.
Es wird von einem Traum al-Ma’muns berichtet, in dem Aristoteles von ihm forderte:
“Übersetze meine Werke ins Arabische!”.
Bis zur Zeit Ibn n-Nadims (gest. ca. 996) war eine
große
Anzahl
von
Büchern
der
griechischen
Philosophie und Wissenschaft (Aristoteles, Hippokrates,
Galen und Euklid)
übersetzt worden,
und
viele
Muslime hatten, wie aus
dem siebenten Abschnitt seines Katalogs (Fihrist) ersichtlich ist, Originalwerke über ähnliche
Themen verfasst.
Im 12. Jh. n .Chr. begann die Übersetzung der arabischen Texte (Transkriptionen).
Al-Ma’mun bestimmte die Lehrmeinung (Doktrin) der Mu‘tazila von der Geschaffenheit des
Korans zur Staatsmeinung (Dogma). Er richtete die Mihna, eine Art Inquisition ein, deren
Aufgabe darin bestand, von Richtern und anderen Würdenträgern des Islams den Eid auf die
Lehrmeinung der Mu`tazila zu verlangen. Diejenigen, die ihn verweigerten, wurden
abgesetzt und verfolgt.
Nur wenige, unter ihnen der Theologe und Rechtsgelehrte Ahmad Ibn Hanbal (780-855), um
den sich der Widerstand der ahl al-hadit formiert hatte, weigerten sich entschlossen, der
Lehrmeinung der Mu`tazila zu folgen.
Unter den beiden nachfolgenden Kalifen al-Ma’muns: al-Mu`tasim (833-842) und al-Watiq
(842-847) wurde die mihna fortgesetzt und im Jahre 847 vom Kalifen al-Mutawakkil (reg. 847861)
aufgehoben.
Mit dem Kalifat seines Nachfolgers Muntasir (reg. 861-862) begann ein Jahrzehnt türkischer
Soldatenherrschaft. Die `abbasidische Staatsgewalt verfiel, und die Provinzen lösten sich
nach und nach vom Kalifat ab.
3. Das Islamische Recht (Jurisprudenz, fiqh)
Oberster Gesetzgeber ist im islamischen Recht ALLAH (T), und sein Gesetz, welches in Koran
und ahadit (Pl. von hadit) dokumentiert ist, gilt als religiöses Gebot; der terminus technicus
“fiqh” beinhaltet die Lehre vom offenbarten Gesetz, der šarī`a, dem deutlich gebahnten Weg
oder dem Weg zur Tränke.
3.1. Die Grundlagen der Rechtsfindung
Die Traditionsliteratur dokumentiert die Entwicklung des Fiqh wie folgt:
Aus der Anwendung und Ausgestaltung der koranischen Satzungen als erster Instanz, der
Sunna/1 und der Iğma’, entwickelte sich der Fiqh, welcher - im weitesten Umfang - alle
`Ibādāt
(Beziehungen zu ALLAH (T))
und mu`āmalāt
(Beziehungen des sozialen Lebens)
umfasst.2
Der große Historiker des 14.Jahrhunderts n. Chr., Ibn Haldūn (1332-1406), erklärte in seinem
Werk
“al-muqaddima”
(die
Voraussetzung,
die
Prämisse)
das
Islamische
Recht
(fiqih)
folgendermaßen:
“(Es beinhaltet die) Kenntnis der Gesetze (Regeln) ALLAHS (T) für die Handlungen
verantwortlicher Muslime, für die diese Gesetze gelten. Unterschieden wird im Hinblick
darauf, was geboten (farḍ), verboten (ḥarām), empfohlen (mandūb), missbillig, unerwünscht
(makrūh)
oder einfach erlaubt, indifferent (mubah) ist.”.
Ibn Haldūn
1 sunna, Pl. sunnan, arab. überlieferte Norm, Handlungsweise des Propheten Muhammed; für Muslime empfohlen
zu tun, das heißt ALLAH (T) belohnt dafür, wenn man es tut, aber bestraft nicht, wenn man es nicht tut.
2 Harald Motzki kommt in seiner Untersuchung über die Anfänge der islamischen Jurispudenz zu folgendem
Schluß: "An Goldzihers und Schachts These, dass die klassische usul-Theorie der islamischen Jurispudenz, nach
der Koran, sunna und Konsens der Gemeinschaft die Wurzeln des Rechts darstellen, kein Abbild der historischen
Entwicklung des islamischen Rechts und seiner Jurispudenz darstellt und dass die Anfänge durch die
theoretischen und praktischen Bemühungen - das heißt den ra'y - der ersten muslimischen jurisprudentes gelegt
wurden, wird nicht zu rütteln sein. Aber die Folgerung daraus, dass "die Wurzeln" durchweg oder größtenteils nur
eine sekundäre Rolle gespielt hätten - ist in dieser Allgemeinheit falsch. SCHACHTS Darstellung der Anfänge des
islamischen Rechts ist eine Historisierung dieser Anti-usul-Theorie, die jedoch mit der geschichtlichen Wirklichkeit
genauso wenig in Einklang steht wie ihr Gegenstück. Die Wahrheit liegt wohl - wie so oft - in der Mitte. Dafür hat
die vorliegende Untersuchung einige Anhaltspunkte geliefert. So war festzustellen, dass schon im 1. Jahrhundert
bewusst auf Koran und auf Entscheidungen des Propheten als Rechtsquellen zurückgegriffen wurde, wenn auch
nicht in dem Umfang späterer Zeit.".
3.2. Die vier allgemein anerkannten Rechtschulen
ayshawazwaz,wordpress.com/2010/02/21
Zur selben Zeit, als die `Abbasiden das Kalifat übernahmen, begannen sich Lehrmeinungen,
“Rechtsschulen”, arab. madhab (Pl. madāhib) zu bilden. Schüler von umayyadischen Gelehrten,
die wie ihre Lehrer zugleich Traditionarier3 und Juristen waren, setzten die begonnene
Anordnung des juristischen Materials nach Themen fort, wobei sich schon früh bestimmte
juristische Tendenzen herausbildeten.
So erkannten die Angehörigen der Hanafiten, der Rechtschule aus der Stadt Kufa (Irak), der
eigenen Entscheidung (ra’y) einen wesentlichen Einfluss als einer vierten Quelle der
Rechtsfindung, nach Koran, Hadit und Konsenz der Gelehrten (iğma`), zu;
während
die
Malikiten,
die
Rechtschule
aus
Medina,
größeres
Gewicht
dem
Gewohnheitsrecht der Einwohner Medinas, (`amal ahl al-medina) bei der Rechtsfindung beimaß.
Aš-Šāfi’ī, der Begründer der safi’itischen Rechtschule und der Wissenschaft von den
Grundlagen des Rechts (usul al-fiqh), bildete eine zwischen den Hanafiten und
Malikiten
vermittelnde Lehre heraus, und in der vierten Rechtschule des Ahmad Ibn Hanbal sind alle
Gesetze aus Koran und Hadit und - im Gegensatz zu den Hanbaliten - nur notgedrungen aus
der eigenen Entscheidung (ra’y) abgeleitetet.
Alle vier Rechtschulen konnten sich bis heute in der islamischen Welt behaupten.
3 Wenn im Zusammenhang mit Religion und Recht des Islam von “Tradition” (hadit), “Traditionariern”
(muhadditun, ahl al hadit) und “Traditionalismus” die Rede ist, so geht es um Nachrichten über Worte und
Werke des Propheten, um die formalisierte Überlieferung dieser Zeugnisse und um die Tendenz der Lehrer,
Glaube und Handeln der Muslime auf die Tradition der Urgemeinde zu gründen.
3.2.1. Die Rechtschule (al-madhab) des Abu Hanifa (um 80/699-150/76)
Am engsten mit dem `abbasidischen Kalifat verbunden ist die Rechtschule des Irakers Abu
Hanifa an-Nu’man Ibn Tabit Ibn Zuta (der Name Zuta ist aramäischen Ursprungs und bedeutet "der
Kleine"),
einem maula aus Kufa. Sein Vater Tābit wurde als freies Mitglied des Stammes
Taimallah in der Stadt Kufa geboren, in die sein Großvater Zuta als persischer Sklave (er
wurde von seinem Herrn freigelassen)
kam.4 Als erfolgreicher Seidenfabrikant hatte Abu Hanifa es
zu einem kleinen Vermögen gebracht, welches es ihm ermöglichte, an Vorlesungen der
älteren tabi`un Abu Amr as-Sa’bi (gest.722),5 Ata Ibn A. Rabah (gest.732) und Hammad Ibn
A. Sulaiman (gest. um 738), bei dem er 18 Jahre lang hörte, teilzunehmen und zu lernen.
Von Abu Hanifa selbst wird überliefert, dass er seinen Lehrer Hammad, der sich auf eine
Reise nach Basra begeben hatte, in einer Vorlesung vertrat. Nach der Rückkehr Hammads
erklärte dieser 20 von 60 Antworten, die Abu Hanifa auf Fragen gegeben hatte, für falsch,
was ihn veranlasste, nur noch an Vorlesungen teilzunehmen. Erst nach dem Tod seines
Lehrers begann Abu Hanifa mit seiner Lehrtätigkeit, die ihn bald so berühmt machte, dass
ihn die letzten umayyadischen Kalifen und der `Abbasidenkalif al-Mansur immer wieder
nötigten, ein Richteramt zu übernehmen. Seine beharrliche Weigerung brachte ihn schließlich
ins Gefängnis, wo er 767 in Bagdad starb.6
Zu seinen Schülern zählten u.a. Zufar Ibn al-Hudail (gest.774) und Muhammed Ibn al-Hasan
as-Saibani (805). Als bedeutendster Schüler Abu Hanifas gilt Abu Yusuf Ya`qub (715-798). Von
Harun ar-Rasid zum Oberrichter ernannt, verfasste er im Auftrag des Herrschers sein
Hauptwerk, das “Buch von der Grundsteuer”, welches später eine dem Islam entsprechende
Steuerpraxis herbeiführte.
Die
Echtheit
der
dem
Abu
Hanifa
zugesprochenen
Bücher
ist
eine
schwierige
literaturhistorische Frage, denn außer der risala (Traktat, Schreiben) an Utman al-Batti (gest.
760),
die allem Anschein nach von Abu Hanifa selbst redigiert wurde, scheinen die meisten
erhaltenen Bücher Bearbeitungen seiner Schüler zu sein. Der Madhab von Abu Hanifa neigt
in dogmatischen Fragen der Murgi`a zu und ist für ihre theoretische Stringenz in
grundsätzlichen Fragen des Rechts sowie für Neuerungen in der Bewältigung praktischer
4 Die Genealogie des Abu Hanifa ist unklar, weil sie später stark in das Schulgezänk hineingezogen wurde, z.B.
wird die Herkunft seines Vaters mit Ostiran angegeben; jedoch schwanken die Ortsangaben (Kabul, Tirmid,
Nasa'), so daß wir es u.a. mit verschiedenen lokalen Traditionen zu tun haben.
5 tabi`, Pl. tabi`un, arab.: Nachfolger, die Muslime der zweiten und folg. Generation nach dem Propheten
Muhammed (s.a.s.).
6 Die Geschichte von Abu Hanifas Ablehnung eines qadi-Amts könnte Legende sein, weil allem Anschein nach
sein Sozialprestige für eine solche Position nicht ausgereicht hätte. Zudem hatte Ibn Abi Laila (gest.148/765), der
aus einer angesehenen ansar-Familie stammte, dieses Amt in Kufa von 120/741 mit einer kurzen Unterbrechung
inne.
Probleme bekannt. Heute ist er in der Türkei, im Irak, Libanon, Syrien, Israel/Palästina,
Afghanistan, Pakistan und Indien verbreitet.
3.2.2. Die Rechtschule (al-madhab) des Malik Ibn Anas (97/715-179/796) 7
Zu einer bedeutenden frühen islamischen Lehrmeinung entwickelte sich die Rechtschule von
Medina.
Ihr großer Lehrer war der Nachkomme eines himyaritischen Fürsten, der Medinenser Abu
Abdallah Malik Ibn Anas Ibn Malik Ibn Abu Amir al Asbahi, der in seiner Jugend die
Gesellschaft von Sängern gesucht haben soll und sich erst später, auf den Rat seiner Mutter
hin, dem Studium des Fiqh zuwandte. Zu seinen Lehrern gehörten Rabi`a Ibn Farruh (gest.
753),
der in Medina Recht auf der Grundlage des Ra’y lehrte, az-Zuhri, Hisam Ibn Urwa und
Nafi’ (der Maula von Ibn Umar).
Der `abbasidischen Bewegung stand Malik Ibn Anas anfangs fern und nahm 762/763 passiv
am gescheiterten `alidischen Aufstand von Muhammed an-Nafs az-Zakkiya ‘Ibn AbdALLAH
(die reine Seele) und dessen Bruder Ibrahim Ibn Abdallah in Basra/Irak teil, wofür er vom
medinensischen Stadthalter bestraft wurde. Später söhnte er sich mit der `abbasidischen
Regierung aus und unterhielt zu den bei den Kalifen al-Mahdi und Harun ar-Rasid gute
Beziehungen. Der Letztgenannte besuchte während einer Pilgerfahrt im Jahre 796 (dem
Todesjahr Maliks)
in Medina seine Vorlesungen.
Zu seinen Schülern gehörten u.a. Abu Abdallah Muhammad Ibn Idris Ibn al-Abbas as-Safi’i
(gest.820), Abu l-Hasan Ali Ibn Ziyad at-Tunisi (gest.800), Abu Ali Abdarrahman Ibn al-Qasim
Ibn Halid al-Utaqi (749-806), Abdallah Ibn Wahb Ibn Muslim al-Fihri al-Qurasi al-Misri Abu
Muhammad (743-812) und Abu Abdallah Asad Ibn al-Furat Ibn Sinan (759-828).
Die Lehre Maliks ist in seinem Hauptwerk “al-muwatta" (der geebnete Pfad), das eine
systematische Sammlung der Traditionen des Amal (Gewohnheitsrecht in Medina, medinensische
Rechtspraxis)
und des Hadit als juristisches Argument beinhaltet und in Nachschriften seiner
Schüler erhalten ist, dokumentiert.
Die Rechtschule des Malik hat über Ägypten den ganzen islamischen Westen erobert. Heute
ist er in Afrika (Nord-Afrika, Nigeria, Sudan) und im Osten in Kuwait verbreitet.
7
Die Angaben des Geburtsjahrs Maliks schwanken zwischen 90/708 und 97/715.
Titelblatt zum Buch des Fastens aus dem Al-Muwatta' auf Pergament. Hergestellt
für die Privatbibliothek von Ali ibn Yusuf ibn Taschfin in Marrakesch im Jahr 1107
Sahīḥ al-Ḥadīt in al-Muwatta`a
3.2.3. Die Rechtschule (al-madhab) des aš-Šāfi (150/767-204/820)
Auf die Prägung des islamischen Rechts wirkte wohl Abu Abdallah Muhammad Ibn Idris Ibn
al-`Abbas as-Safi`i am stärksten ein.
Er wurde - einer Überlieferung zufolge nach am Todestag Abu Hanifas - im Jahre 767 in
Gazza (Palästina)8 geboren und gehörte zum Stamm der Quraiš (seine Mutter zu dem Unterstamm
der banu Azd).
Als er zwei Jahre alt war, zog seine Mutter mit ihm nach Mekka, wo er in
sozial schwachen Verhältnissen aufwuchs. Seine größte Freude war es, sich bei den
Beduinen aufzuhalten, bei denen er vorzüglich die Lieder der Araber und das reine Arabisch
lernte.
In Mekka studierte er bei Muslim Ibn Halid az-Zangi (gest.795) und Sufyan Ibn `Uyaina
(gest.811) Islamisches Recht (Fiqh) und überlieferte Texte Muhammeds (Hadit).
Im Alter von 20 Jahren begab er sich zu Malik Ibn Anas nach Medina. Der große Gelehrte
erkannte die außergewöhnliche sprachliche Begabung des jungen aš-Šāfi`ī, der ihm
auswendig den Muwatta’ vortragen konnte, und behielt ihn bei sich in Medina. Neun Jahre
lang, bis zum Tod seines Lehrers 795, lernte as-Safi`i bei ihm und ging dann zusammen mit
seinem Onkel Abu
Mus`ab in den Yemen, wo er bald aufgrund seines umfangreichen
Wissens, aber auch durch seine Frömmigkeit bekannt wurde.
Weil er dem Zaiditenimam Yahya Ibn `Abdallah gehuldigt hatte, wurde er gefangen
genommen und dem Kalifen Harun ar-Rasid in Raqqa, wohin sich dieser wegen der Unruhen
in Bagdad für einige Jahre zurückgezogen hatte, vorgeführt.
Nach seiner Begnadigung lernte er den vom Herrscher sehr geschätzten berühmten Schüler
Abu Hanifas Muhammad Ibn al-Hasan aš-Šaibani kennen. Die Beziehung der beiden
Gelehrten war nicht ungetrübt und so verließ aš-Šāfi`ī, der sich nicht gegen die Meinung von
aš-Šaibani behaupten konnte, 804 Bagdad und reiste über Harran und Syrien nach Ägypten.
Vom Stadthalter wurde er anfangs als Schüler von Malik Ibn Anas freundlich aufgenommen,
fiel aber später wegen seiner - zu Malik unterschiedlichen - Lehrmeinung in Ungnade und
musste 810 Ägypten verlassen.
Aš-Šāfi`ī
begab sich zurück nach Bagdad, wo er seine Lehrtätigkeit erfolgreich wieder
aufnahm. Drei Jahre später, im Jahre 814 kehrte aš-Šāfi`ī mit seinem Gönner, dem Sohn
des neu ernannten Stadthalters von Ägypten `Abdallah Ibn Musa nach Ägypten zurück,
pilgerte kurz danach nach Mekka und verlegte im Jahre 815 seinen Wohnsitz nach Ägypten.
Aš-Šāfi`ī starb in Fustat (heute Kairo) 820 und wurde in der Gruft der Zuhriten am Fuß des
Muqattam beigesetzt.
8
n.a. in Asqalan, Mina oder im Yemen.
Zu den Schülern aš-Šāfi`ī gehörten unter anderem der Ägypter Abu Ya`qub Yusuf Ibn Yahya
al-Qurasi al-Buwaiti, er war der erste Nachfolger von aš-Šāfi`ī und wurde von diesem als
seine ”Zunge” gelobt. Al-Buwaiti weigerte sich, an das Staatsdogma der Mu`tazila von der
Erschaffenheit des Korans zu glauben. Daraufhin wurde er unter der Herrschaft des Kalifen
al-Watiq gefesselt nach Bagdad gebracht und ins Gefängnis geworfen, wo er 845 starb.
Weitere Schüler aš-Šāfi`īs waren Abu Taur Ibrahim Ibn Halid Ibn Abu l-Yaman al-Kalbi (gest.
854)
aus Bagdad, bekannt als Überlieferer der älteren Schriften aš-Šāfi`īs; Abu Ali al-Hasan
Ibn Muhammad Ibn as-Sabah az-Za`farani (gest. 874) aus az-Za’faraniya, einem Dorf in der
Hähe von Bagdad (von ihm überlieferten unter anderem al-Buhari und Abu Dawud, die großen Gelehrten der
Hadit-Wissenschaft) und der Ägypter Abu Ibrahim Isma’il Ibn Yahya Ibn Isma`il al-Muzani (792877),
der seine letzte Ruhestätte in der Nähe vom Grab aš-Šāfi`īs fand.
Die Angaben über die Anzahl der von aš-Šāfi`ī verfassten Schriften - von seinen Schülern in
die älteren Bagdader bzw. mekkanischen und jungeren ägyptischen eingeteilt - differieren
zwischen 113 und 140.
Sein Hauptwerk, welches in späterer Zeit "kitabu-l-umm" (Mutterbuch, das Buch der Mutter)
genannt wurde, fassten die Schüler aš-Šāfi`īs nach seinem Tod aus dessen Abhandlungen
zusammen.9 Es ist die wohl umfassendste Darstellung seiner Rechtslehre,
ausschließlich
auf
die
dem durch logische Deduktion und Qiyas interpretierten Hadit beruht
und so vermittelnd zwischen dem Prinzip des Amal von Malik und des Ra’y von Abu Hanifa
steht.
Die šafi`itische Rechtschule ist heute in Ägypten, Syrien, Jordanien, Palästina, Indonesien,
Malaisia und unter den sunnitischen Kurden in der Türkei, im Yemen, Irak und Iran
verbreitet.
9
Andere halten as-Safi`i selbst für den Autor.
3.2.4. Die Rechtschule (al-madhab) des Ahmad Ibn Hanbal (164/780-241/855)
Der Iraker Abu Abdallah Ahmad Ibn Muhammad Ibn Ḥanbal aus dem Stamm Šaiban wurde
als Sohn einer pro-`abbasidischen Familie 780 in Bagdad geboren. Dort lernte er Sprach
(Luġa)- und Hadit-Wissenschaft und begab sich dann auf ausgedehnte Studienreisen, die ihn
über Irak und Syrien bis in den Jemen führten.
In San`a, der Hauptstadt Jemens, nahm er an Vorlesungen des Korankommentators und
Überlieferers von Traditionen, Abdarrazzaq Ibn Hummam teil.
Seine juristische Ausbildung erhielt er aber hauptsächlich von seinem Lehrer im Ḥiğāz Sufyan
Ibn `Uyaina (gest.811), der größten Autorität der dortigen Rechtschule (fiqh).
In Bagdad hörte er Vorlesungen bei Abu Yusuf, dem Schüler des Abu Hanifa und zum Teil
auch bei aš-Šāfi`ī über Fiqh und Usul al-.fiqh.
Ahmad Ibn Hanbal gilt als Vertreter des Widerstands der Ahl l-Hadit (Leute der Haditwissenschaft,
Haditgelehrten),
weil er die Thesen der Mu`tazila zum “erschaffenen Koran” entschlossen
ablehnte. Er unterschied nicht zwischen ALLAH (T) und Seinem Wort, deshalb unterwarfen
die drei Kalifen al-Ma’mun, al-Mu’tasim und al-Watiq ihn der Mihna.
Erst unter dem Kalifat al-Mutawakkils (reg. 847-861) konnte Ahmad Ibn Hanbal wieder frei
unterrichten und zahlreiche Schüler um sich sammeln. Er starb 855 in Bagdad.
Zu seinem Schülern zählten unter anderem seine Söhne Abu l-Fadl Salih (818-878), der
Monographien über seinen Vater schrieb, und Abu Abdarrahman Abdallah Ibn Ahmad Ibn
Muhammad Ibn Hanbal as-Saibani (828-903).
Auch der große hanbalitische Gelehrte von Nisabur, Abu Ya’qub Ishaq Ibn Mansur Ibn
Bahram al-Marwazi al-Kausag, aus Marw/Horasan lernte bei Ibn Hanbal in Bagdad. Von ihm
überlieferten die hadit-Gelehrten al-Buhari und Muslim und Abu Bakr Ahmad Ibn Hani at-Tai
al-Bagdadi al-Atram (gest.875), von dem unter anderem der Hadit-Gelehrte an-Nasa’i
überlieferte.
Von den ca. 22 Schriften, die Ahmad Ibn Hanbal zugeschrieben werden, ist “al-Musnad” (das
Überlieferte),
was entweder von ihm selbst oder von seinem Sohn Abdallah redigiert wurde,
am bekanntesten und beinhaltet etw. 28000-29000 ahadit.10
Al-Musnad
10
vgl. ebd. S. 502 ff.
Für die hanbalitischen Rechtschule ist eine Interpretation der Texte von Koran und Hadit
kennzeichnend, die sich von ihrem wörtlichen Sinn so wenig wie möglich entfernen sollte und
deren gelegentlicher Anthropomorphismus nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern “ ohne Wie
” (bidun kaifa) akzeptiert werden sollte. Nach seiner Lehre durfte nicht befohlen werden, was
nicht klar geboten war, und nichts untersagt werden, was nicht ausdrücklich verboten war.
Heute ist die hanbalitische Rechtschule auf der ganzen arabischen Halbinsel (außer im Oman,
wo die Hawarig vorherrschen)
und in Palästina (um die Stadt Nablus herum) beheimatet.
4. Die Mu`tazila
Die wichtigste religiöse Bewegung im ersten Jahrhundert des `abbasidischen Kalifas ist die
rationalistische Theologie der Mu’tazila,11 deren bedeutendste Leistung es war, alle
griechischen Ideen in den Islam zu übernehmen, die den islamischen Lehrmeinungen auch
nur im Geringsten von Nutzen zu sein schienen. Es war dann anderen überlassen, diese
Ideen immer wieder zu prüfen, bis sie entdeckten, welche wirklich assimilierbar waren und
welche nicht. So gelangte eine große Anzahl von Ideen in die muslimische Orthodoxie und
wurde beibehalten, wenn auch nur selten in genau derselben Form, in der die Mu`taziliten
sie vorgestellt hatten.
Die Mu`tazila erwuchs aus der Kalambewegung (kalam: Rede, Diskussion) einer offenen,
politischen und theologischen Diskussion über Streitfragen der muslimischen Gemeinde, die
sich dann in der Auseinandersetzung mit dem hellenisierten Christentum des Orient – unter
anderem in Bezug auf das Wesen Gottes also den tauhid (göttliche Einheit) gegen die
Trinitätslehre - und in Bezug auf die Verteidigung des Monotheismus gegen den Dualismus
iranischer Religionen (Zaratustrimus, Manichäismus, Zindiqe), behaupten mußte. Von ihren
christlichen Kontrahenten lernten die Mutakallimun (ahl al-kalam: Disputanten, Dialektiker)
Methoden der griechischen Dialektik und Begriffe griechischer Metaphysik, Begriffe einer
abstrakten, von allem Anschaulichen entkleideten Gottesauffassung.12
11
al-Mu`tazila, arab. Aktiv Partizip des VIII. Stamms i`tazala sich fernhalten, sich entfernen;
sich absondern; Der Begriff Mu`tazila wird häufig mit der Bedeutung “die auf sich
Zurückziehenden” oder “die Desertierten” wiedergegeben. Carlo Nallino bevorzugte die
Übersetzung “Neutrale” d.h. Nichtanhänger einer der beiden widerstreitenden Parteien der
orthodoxen vier Rechtschulen und der Harigiten in Bezug auf die schwerwiegende politische
Frage wie der fasiq (ein nach islamischen Gesetzen unmoralisch Handelnder ) zu beachten
sei.
12 Während die muslimischen Juristen im fiqh das praktisch auslegende “Verstehen” der offenbarten
Pflichtenlehre übten, suchen die mutakallimun, ahl al-kalam (Disputanten, Dialektiker), das in der
Die großen Lehrer des Kalam waren Abu l-Hudail13 und seine Schüler an-Nazzam14 in Basra,
Mu`ammar,15 Bisr Ibn al-Mu`tamir16 in Bagdad.
Deren Lehrmeinungen zur zur Ideologie des `abbasidischen Machtanspruchs und zugleich
zu dessen Legitimation wurden.
Denn um die allgemeine Konzeption des Kalifats wurde heftig diskutiert und gestritten. Sollte
der Kalif als von ALLAH (T) eingesetzter charismatischer Herrscher und damit höchste,
gesetzgebende Autorität im Staate sein - so vom Standpunkt der Ši`a aus - oder musste
auch er sich Hütern der Sunna, der auf die sanktionierte Tradition des Propheten (s.a.s.)
gestützten Auslegung des Korans und dem Konsens der Juristen beugen?
Das war vor allem eine Frage praktischer Machtpolitik. In wessen Händen soll die Legislative,
die einen wichtigen Teil der realen Macht darstellt, liegen - in den Händen der Gelehrten, der
Theologen und Juristen, oder in den Händen ihrer Rivalen, der “Sekretäre” des hohen
Beamtentums der `abbasidischen Bürokratie?
Zwei Gruppen der sozialen und geistigen Elite standen sich gegenüber: Auf der einen Seite
die Anhänger islamischer Lehrüberlieferung - auf der anderen Seite die
Sekretäre und
Abkommen der persischen Aristokratie, die Partei der mawali.
Die Lehrmeinung der Mu`tazila von dem erschaffenen Koran beziehen sie auf den Vers 3 der
43. Sure, in welcher es sinngemäß heißt:
“WIR haben sie (die Schrift) zu einem arabischen Koran gemacht.”
Offenbarung Gegebene ilm (Wissen) durch nazar (Spekulation) dem Verstand verfügbar zu machen.
Zwischen dem fiqh und dem `ilm bahnte sich so eine methodische Trennung an, obwohl die
Theologen zugleich Rechtsgelehrte waren.
13 Abu l-Hudail Muhammad Ibn al-Hudail Ibn `Al. Al-`Allaf (135/752, nach anderen 134 oder 131 226/840, nach anderen 227 oder 235) wurde in Basra geboren und lebte später in Bagdad. Im Jahre
204/819 zog al-Ma'mun ihn zusammen mit an-Nazzam an den `abbasidischen Hof. Abu l-Hudail kann
als literarischer Begründer des mu`tazilitischen kalam betrachtet werden, wenn auch seine
Philosophie von der allgemeinen Lehre der Mu`tazila abwich. Er hatte viele Schüler und seine Schule
existierte lange Zeit hindurch (vgl.: Fuad Sezgin “GAS” Band I, DOGMATIK, Mu`tazila, S. 617).
14 Abu Ishaq Ibrahim Ibn Saiyar ibn Hani' al-Basri an-Nazzam (gest. 220/835) war nicht nur
Theologe, sondern auch ein hervorragender Dichter, ausgezeichneter Philologe, Dialektiker und ein
großer, experimentierender und systematischer Naturphilosoph. Wie sein Lehrer Abu l-Hudail wurde
auch er in Basra erzogen und lebte später in Bagdad. An-Nazzam trennte sich jedoch bald von seinem
Lehrer und gründete seine eigene Schule. In Bagdad bekämpfte er die Murgi'iten, die Gabriten, die
Traditionarier und die Juristen (vgl.: ebd. S. 618).
15 Mu`ammar Ibn `Abbad as-Sulami Abu Mu`tamir od. Abu `Amr (gest. 215/830) aus Basra lebte in
der Zeit von Harun ar-Rasid in Bagdad (vgl.: ebd. S. 616).
16 Abu Sahl Bisr Ibn al-Mu`tamir al-Hilali (gest. 210/825) galt als der Vertreter der mu`tazilitischen
Schule in Bagdad. Wahrscheinlich wurde er in Kufa geboren, aber weder Geburtsort noch Geburtsjahr
sind bekannt. Auf Befehl von Harun ar-Rasid wurde er für eine Zeit in Bagdad inhaftiert, weil er mit
den `Aliden sympatisierte (vgl.: ebd. S. 615).
Ist ğa`ala (gemacht) dasselbe wie geschaffen? Geht man davon aus, dass die beiden
Wortbedeutungen von ğa`ala, gemacht und geschaffen identisch sind, so heißt dies, dass
ALLAH (T) ihn auch anders hätte “machen” können, genauso wie ER einen Menschen groß
oder klein erschafft.
Ein geschaffener Koran hätte nicht dasselbe Gewicht, dasselbe Prestige wie ein
ungeschaffener, und es könnten nicht dieselben Einwände gegen ihn erhoben werden, wenn
seine Bestimmungen durch einen Erlass eines Imam umgestoßen würden.
Die Doktrin vom “erschaffenen Koran” vermehrte also die Macht des Kalifen und seiner
Sekretäre.
“Der Koran ist ungeschaffen! Er ist ein Ausdruck von göttlichem Wissen.”
Diese Aussage der Gegner der Mu`tazila bringt das Wesen ALLAHS (T) zum Ausdruck. Damit
wäre der Koran im Wortlaut unveränderbar und von keinem “charismatischen” Kalifen zu
ändern. Die Lehrmeinung vom “unerschaffenen Koran” vermehrte also die Macht der
Traditionarier als autorisierte Interpreten des Korans und beschnitt die Macht des Kalifen.
5. Literaturangaben
Gerhard Endreß, “Der Islam”, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1982, Zweite
überarbeitete Auflage 1991;
Claude Cahen, “Der Islam I”, Fischers Weltgeschichte Band 14, Fischer Bücherei GmbH
Frankfurt am Main 1968;
W. Montgomery Watt, “Der Islam”, Verlag W.Kohlhammer Stuttgart Berlin Köln Mainz;
Josef van Ess, "Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra", Band I und
II, Walter de Gruyter Berlin New York 1992;
Fuad Sezgin “Geschichte des arabischen Schrifttums (GAS)”, Band 1 FIQH, Die vier
orthodoxen Rechtsschulen;
Harald Mozki, "DIE ANFÄNGE DER ISLAMISCHEN JURISPRUDENZ", Kommissionsverlag Franz
Steiner, Stuttgart 1991.
6. Bildnachweise
Kitābu l-umm
www.kampussyariah.com/um.jpg
Umm al-kitab, attributed to Imam Muhammad al-Baqir Persian manuscript, dated
1298/1881 Written in archaic Persian, this eighth century text was appropriated into
Ismaili literature and is preserved by the Ismailis of Central Asia.
www.iis.ac.uk/.../Large/Gallery/big_mss15.jpg
uBk64/TGpUnDx24xI/AAAAAAAAAv8/mpkFbRAg7o0/s1600/fiqh.jpg
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