Ethische Fallbesprechungen in der Onkologie

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Leitthema
Onkologe 2009
DOI 10.1007/s00761-009-1695-z
© Springer Medizin Verlag 2009
G. Marckmann MPH1 · F. Mayer2
1 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen, Tübingen
2 Abteilung Onkologie, Hämatologie, Immunologie, Rheumatologie und
Pulmologie, Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Tübingen
Ethische Fallbesprechungen
in der Onkologie
Grundlagen einer ­prinzipienorientierten
Falldiskussion
Schwierige ethische Entscheidungen
gehören zum klinischen Alltag in der
Onkologie. Wie kann man einem Patienten angemessen begegnen, wenn
dieser eine erfolgversprechende Antitumortherapie ablehnt? Soll bei einer
weit fortgeschrittenen bösartigen Tumorerkrankung eine möglicherweise
nebenwirkungsreiche Chemotherapie begonnen werden? Soll man dem
dringenden Therapiewunsch eines
Patienten folgen, auch wenn kaum
mehr Aussicht besteht, das Tumorwachstum positiv zu beeinflussen?
Diese und ähnliche Entscheidungen
können für den zuständigen Arzt erleichtert werden, wenn er den Fall gemeinsam mit Kollegen im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung diskutiert und sich dabei an einem inhaltlich strukturierten Entscheidungsmodell orientiert. Im vorliegenden Beitrag möchten wir aufzeigen, wie eine
ethische Fallbesprechung organisiert
und auf der Grundlage der vier klassischen medizinethischen Prinzipien
inhaltlich strukturiert werden kann.
Anschließend erläutern wir die Anwendung des Entscheidungsmodells
an einem konkreten Fallbeispiel aus
der Hämatoonkologie.
Organisation ethischer
Fallbesprechungen
Nach unserer Erfahrung ist es sinnvoll,
schwierige ethische Entscheidungen im
Rahmen einer fallbezogenen Teambesprechung auf der jeweiligen Station zu
diskutieren (s. Infobox 1). Hierzu werden – mit einem entsprechenden zeitlichen Vorlauf – Vertreter der verschiedenen Berufsgruppen und medizinischen
Fachdisziplinen, die an der Betreuung des
Patienten beteiligt sind, eingeladen. Sofern verfügbar, kann ein Ethikberater
(z. B. aus dem klinischen Ethikkomitee
(KEK)) das Gespräch moderieren. Gerade bei Spannungen zwischen den Berufsgruppen oder den medizinischen Teams
kann es sehr hilfereich sein, wenn das Gespräch von einer „neutralen“ Person geleitet wird, die selbst nicht am Behandlungsprozess beteiligt ist.
Welche Vorteile bietet diese Form der
Fallbesprechung?
1.Durch die Beteiligung der verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen kann die Situation des Patienten
aus unterschiedlichen Perspektiven
beleuchtet werden. Jede Berufsgruppe hat einen jeweils spezifischen Zugang zum Patienten und benutzt unterschiedliche Erklärungs- und Deutungsmuster. Die Integration der verschiedenen Sichtweisen ist eine notwendige Voraussetzung, um ein um-
fassendes Bild des Patienten zu erhalten.
2.Häufig divergieren die Einschätzungen zur Situation des Patienten
zwischen den Berufsgruppen und
medizinischen Disziplinen. Es erscheint deshalb wichtig, diese unterschiedlichen Auffassungen durch eine
breite Beteiligung der Mitarbeiter bei
der Diskussion zu berücksichtigen.
3.Das Ziel der ethischen Fallbesprechung ist die Unterstützung der Entscheidungsfindung. Beim Beratungsergebnis handelt es sich um eine begründete Handlungsempfehlung, nicht um um eine Direktive.
Die Verantwortung verbleibt ungeteilt bei dem jeweils zuständigen Arzt.
Wenn die Mitarbeiter in die Fallbesprechung einbezogen sind, können
sie den Entscheidungsprozess und die
dem Ergebnis zugrunde liegenden
Argumente selbst nachvollziehen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass
das Ergebnis auch tatsächlich in der
Praxis von allen Beteiligten mitgetragen und umgesetzt wird.
4.Nicht zuletzt können wiederholte Fallbesprechungen die inter- und
intraprofessionelle Diskussionskultur auf der Station fördern und damit
über die konkrete Beratung hinaus
den Umgang mit ethisch schwierigen
Fallkonstellationen nachhaltig verbessern.
Der Onkologe 2009 | Leitthema
Tab. 1 Prinzipienorientierte Falldiskussion [7]
1. Analyse: medizinische Aufarbeitung des Falls
a) Information über den Patienten (Anamnese, Befunde, Diagnosen etc.)
b) (Be-)Handlungsoptionen mit ihren Chancen und Risiken (Prognose)
2. Bewertung I: ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten
a) Wohl des Patienten fördern, nicht schaden
b) Autonomie respektieren
3. Bewertung II: ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten: Familienangehörige, andere Patienten, Versichertengemeinschaft (Gerechtigkeit)
4. Synthese: konvergieren oder divergieren die Verpflichtungen? Im Konfliktfall á begründete
Abwägung
5. Kritische Reflexion:
a) Was ist der stärkste Einwand gegen die ausgewählte Option?
b) Wie hätte der Konflikt möglicherweise vermieden werden können?
Ethische Grundlage: prinzipienorientierte Medizinethik
Die allgemeine Zielsetzung einer ethischen
Fallbesprechung besteht darin, die ethisch
am besten begründbare Handlungsoption herauszuarbeiten. Welche der medizinisch möglichen Behandlungsstrategien ergriffen werden soll, hängt von
den ethischen Verpflichtungen ab, denen
Ärzte und andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen unterliegen. Vier ethische
Prinzipien bestimmen den Inhalt der Verpflichtungen [1]:
FWohltun,
FNichtschaden,
FRespekt der Autonomie des Patienten,
FGerechtigkeit.
Das Prinzip des Wohltuns verpflichtet alle
im Gesundheitswesen Tätigen dazu, dem
Patienten zu nutzen und sein Wohlergehen durch die Behandlung und Prävention von Krankheiten sowie die Linderung
von Beschwerden zu fördern.
Nach dem Prinzip des Nichtschadens
soll dem Patienten kein Schaden zugefügt
werden. Da beinahe jede wirksame medizinische Intervention auch ein Schadensrisiko beinhaltet, ergibt sich häufig ein
Konflikt zwischen dem Prinzip des Wohltuns und dem Prinzip des Nichtschadens.
Nutzen und Schaden sind sorgfältig gegeneinander abzuwägen.
Das Prinzip Respekt der Autonomie fordert die Berücksichtigung der Wünsche,
Ziele und Wertvorstellungen des Patienten und richtet sich gegen die wohlwollende ärztliche Bevormundung – im
Sinne eines Paternalismus. Dabei verlangt
das Autonomieprinzip nicht nur negativ
| Der Onkologe 2009
die Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme, sondern auch
positiv die Förderung der Entscheidungsfähigkeit. Praktische Umsetzung findet das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im Grundsatz des informierten
Einverständnisses („informed consent“),
das als zentrale Elemente die Aufklärung
und Einwilligung des Patienten umfasst:
Eine medizinische Maßnahme darf nur
dann durchgeführt werden, wenn der Patient nach entsprechender Aufklärung seine Einwilligung dazu erteilt hat.
Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert
allgemein eine gerechte Verteilung von
Nutzen und Lasten im Gesundheitssystem. Mehr noch als die 3 vorangehenden
Prinzipien bedarf das Prinzip der Gerechtigkeit bei der Anwendung einer weiteren
Interpretation: Was bedeutet z. B. eine gerechte Verteilung knapper medizinischer
Ressourcen? (Zur Einführung s. [6]). Relativ unkontrovers dürfte der folgende
allgemeine Gerechtigkeitsgrundsatz sein:
Gleiche Fälle sind gleich und ungleiche
Fälle nur insofern ungleich zu behandeln,
als sie moralisch relevante Unterschiede
aufweisen. Interpretationsschwierigkeiten
bereitet hier die Frage, was im Einzelfall
moralisch relevante Unterschiede sind.
Inhaltliche Strukturierung
ethischer Fallbesprechungen
Bei der Diskussion eines konkreten Falls
gilt es nun, die Verpflichtungen abzuprüfen, die jeweils aus den einzelnen
ethischen Prinzipien resultieren [8]. Wir
sprechen deshalb von einer prinzipienorientierten Falldiskussion, die insgesamt 5
Bearbeitungsschritte umfasst (. Tab. 1).
Die Fallbesprechung beginnt mit der medizinischen Aufarbeitung des Falls, die
sich wiederum in 2 Unterschritte gliedert: Zunächst wird die für die Entscheidung erforderliche Information über den
Patienten gesammelt (Vorgeschichte, Beschwerden, Befunde, Sozialanamnese, Diagnosen etc.). Dann wird überlegt, welche
Behandlungsoptionen grundsätzlich in
Frage kommen (inklusive Behandlungsverzicht!) und welche Chancen und Risiken mit ihnen jeweils verbunden sind.
Am Ende dieses ersten Bearbeitungsschritts wissen wir, was wir tun können,
wir wissen aber noch nicht, welche der
verfügbaren Handlungsoptionen wir tatsächlich auch ergreifen sollen. Hier beginnt die eigentliche ethische Aufarbeitung
des Falls. Dazu wird schrittweise geprüft,
welche der Behandlungsmöglichkeiten
gemäß den 4 ethischen Prinzipien jeweils
geboten wären. Man beginnt dabei sinnvollerweise mit den ethischen Verpflichtungen des Wohltuns und Nichtschadens
(Schritt 2a), da sich die Zustimmung des
Patienten (Respekt der Autonomie, Schritt
2b) erübrigt, wenn im ersten Bearbeitungsschritt klar wird, dass die Behandlungsmaßnahmen keinen Nutzen für den
Patienten bieten. Im 3. Schritt werden die
Verpflichtungen gegenüber Dritten herausgearbeitet, wobei hier neben den Angehörigen andere Patienten und die Gemeinschaft der Versicherten insgesamt zu
berücksichtigen sind. Im 4. Schritt wird
dann geprüft, ob die Verpflichtungen, die
sich aus den einzelnen ethischen Prinzipien ergeben, konvergieren oder divergieren. Im Konfliktfall, der sich ethisch
als Konflikt zwischen verschiedenen Prinzipien rekonstruieren lässt, ist eine begründete Abwägung der Verpflichtungen
erforderlich, da keine feste Hierarchie der
Prinzipien vorgegeben ist. Es gilt dabei
fallbezogene Gründe zu finden, welche
ethische Verpflichtung Vorrang genießen
soll (zur begründeten Abwägung vgl. ausführlicher das Fallbeispiel in [5]). Der letzte Bearbeitungsschritt dient dann der kritischen Reflexion des Falls: Worin besteht
der stärkste Einwand gegen die favorisierte Handlungsoption? Und: Wie hätte der
Konflikt möglicherweise verhindert werden können? Ziel letzterer Fragestellung
ist es, aus dem vorliegenden Fall zu lernen
und – im Sinne einer präventiven Ethik –
Zusammenfassung · Abstract
vergleichbare Konflikte in Zukunft nach
Möglichkeit zu vermeiden. Anhand eines
konkreten Fallbeispiels sei im Folgenden
angedeutet, wie das Modell der prinzipienorientierten Falldiskussion in der Praxis angewandt werden kann.
Fallbeispiel
Ein 36-jähriger Patient wird nach einer
Reanimation in einem auswärtigen Krankenhaus auf die Intensivstation aufgenommen. Der Patient hatte sich am Vorabend
mit zunehmenden Schmerzen und Taubheitsgefühl im rechten Oberschenkel vorgestellt. Er zeigte sich in kachektischem
Ernährungszustand bei stabilen Vitalparametern. Klinisch fiel eine massive Hepatosplenomegalie auf, Milz und Leber
reichten jeweils bis ins kleine Becken. Das
Blutbild zeigte eine massive Leukozytose von 550.000/µl, Thrombozyten von
440.000/µl und eine Anämie von 5 g/dl.
Retentionsparamter, Leberwerte und Gerinnung lagen noch im Normbereich, pathologisch erhöht zeigten sich Harnsäure mit 12 mg/dl, LDH mit 2200 U/l sowie
Serum-Kalium. C-reaktives Protein und
Procalcitonin als Entzündungszeichen
waren deutlich erhöht. Wenige Stunden
später fand ihn die Pflege mit Schnappatmung im Bett liegen. Es wurde sofort eine
kardiopulmonale Reanimation begonnen.
Nach Intubation und Gabe von Adrenalin stabilisierte sich der Kreislauf des Patienten; er wurde umgehend verlegt.
Bei Übernahme war der Patient unter
Flüssigkeitszufuhr und hohen Katecholamindosen kreislaufstabil, die Oxygenierung war unter einer kontrollierten Beatmung mit einer Sauerstoffkonzentration von 70% ausreichend. Der Patient war
anurisch, eine unter Reanimation ausgebildete Laktazidose war rückläufig. Laborchemisch waren die Werte denen des Vorabends vergleichbar, lediglich die Retentionsparameter waren passend zur Anurie angestiegen, die Gerinnungsparameter waren pathologisch. Im Differenzialblutbild zeigte sich eine Linksverschiebung der myeloischen Reihe bis zu Blasten; es ergab sich kein Anhalt für eine Akzeleration oder einen Blastenschub bei einer vermuteten chronisch-myeloischen
Leukämie (CML).
Onkologe 2009 DOI 10.1007/s00761-009-1695-z
© Springer Medizin Verlag 2009
G. Marckmann MPH · F. Mayer
Ethische Fallbesprechungen in der Onkologie. Grundlagen
einer prinzipienorientierten Falldiskussion
Zusammenfassung
Ethische Entscheidungen in der Onkologie können durch strukturierte Fallbesprechungen unterstützt werden, an denen alle
Berufsgruppen und medizinischen Fachdisziplinen teilnehmen, die an der Versorgung
des Patienten beteiligt sind. Inhaltlich sollte sich das Gespräch an den vier medizinethischen Prinzipien Wohltun, Nichtschaden,
Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit
orientieren. Nach der medizinischen Analyse
des Falls mit Herausarbeitung der möglichen
Behandlungsstrategien, jeweils mit ihren
Chancen und Risiken, ist zunächst zu prüfen,
welche Option aus der Fürsorgeperspektive
für das Wohlergehen des Patienten am bes-
ten ist. Anschließend ist zu klären, welche Behandlungsoption der Patient selbst nach entsprechender Aufklärung für sich bevorzugt
und welche Verpflichtungen gegenüber Dritten wie z. B. Familienangehörigen bestehen.
Sofern sich in der abschließenden Synthese ein Konflikt ergibt, ist eine begründete Abwägung zwischen den Verpflichtungen erforderlich. Eine kritische Reflexion des Falls bildet den Abschluss der prinzipienorientierten
Falldiskussion.
Schlüsselwörter
Ethik · Onkologie · Klinische Ethikberatung ·
Falldiskussion · Ethische Prinzipien
Ethics consultations in oncology. Elements of
a principles-oriented case discussion
Abstract
Ethical decisions in oncology can be supported by structured case discussions with
the participation of the different professional groups and medical disciplines involved
in the patient’s care. The discussion should
be structured according to the four classical
ethical principles of beneficence, nonmaleficence, respect for autonomy, and justice. After the medical analysis of the case with identification of possible treatment strategies, including their benefits and risks, it must be assessed, from the perspective of beneficence,
which treatment strategy is best for the pa-
tient’s well-being. Then, after appropriate disclosure, the option that the patient herself
prefers must be clarified, as well as the obligations toward third parties such as family members. If the final synthesis yields a conflict, the conflicting obligations must be balanced, based on good reasons. A critical review of the case concludes the case discussion.
Keywords
Ethics · Oncology · Clinical ethics consultation · Case discussion · Ethical principles
Der Onkologe 2009 | Leitthema
Infobox 1
„Eine ethische Fallbesprechung auf Station ist
der systematische Versuch, im Rahmen eines
strukturierten, von einem Moderator geleiteten Gesprächs mit einem multidisziplinären
Team innerhalb eines begrenzten Zeitraums
zu der ethisch am besten begründbaren Entscheidung zu gelangen“ [9].
Mittlerweile waren die Eltern des Patienten eingetroffen. Sie teilten mit, dass bei
dem Patienten 5 Jahre zuvor eine CML diagnostiziert worden sei. Nach der Diagnosestellung und den ersten Aufklärungsgesprächen sei der Patient zunächst sehr zuversichtlich gewesen. Im Laufe der nächsten Wochen habe er jedoch eine fatalistische Einstellung gegenüber der Erkrankung entwickelt. Er habe sich nur noch
vom Heilpraktiker behandeln lassen. Die
Eltern hätten ihn über Jahre immer wieder gedrängt, sich doch spezifisch behandeln zu lassen. Dabei hätten sie insbesondere auch auf seine Verantwortung gegenüber den zwei minderjährigen Kindern
hingewiesen. Der Patient habe dies aber
immer abgelehnt.
Die Ehefrau bestätigte, dass der Patient
eine spezifische Therapie der CML immer
strikt abgelehnt habe, da er sich bei unausweichlichem Schicksal ein therapiebedingtes Leiden ersparen wolle. Offen blieb
in den Gesprächen, wie die negative Einstellung zustande kam. Der Ehefrau zufolge war der Patient umfassend über die
Therapieoptionen einschließlich einer Behandlung mit Imatinib informiert worden. Dennoch würde er in der aktuellen
Situation keine „Apparatemedizin“ wünschen, auch wenn dies den Tod bedeute.
In die auswärtige Klinik habe er sich explizit nicht zur Therapie der CML, sondern ausschließlich zur Linderung der
Beschwerden begeben. Eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht existiere nicht.
In der vorliegenden Situation stellte
sich nun die Frage, wie der aktuell intensivpflichtige Patient mit einer fortgeschrittenen CML weiter behandelt werden soll.
| Der Onkologe 2009
Prinzipienorientierte
Diskussion des Falls
Analyse: medizinische
Aufarbeitung des Falls
Situation des Patienten
Die CML als maligne Erkrankung mit
geringer Dynamik kann nach heutigem
Kenntnisstand auch weiterhin nur durch
eine allogene Blutstammzelltransplantation geheilt werden. Jedoch kann die medikamentöse Therapie die Erkrankung über
viele Jahre – möglicherweise Jahrzehnte –
bei guter Lebensqualität sehr gut kontrollieren. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung lagen bereits Daten über den Tyrosinkinaseinhibitor Imatinib vor. Mit dieser Therapie – welche nicht im klassischen
Sinne einer Chemotherapie entspricht –
sind aktuellen Daten zufolge nach 7 Jahren 86% der Patienten noch am Leben.
Zensiert man Todesfälle, die mit der Erkrankung nicht zusammenhängen, sind
die Daten noch günstiger: Im gleichen
Zeitraum sterben nur 6% der Patienten
an ihrer Erkrankung [3].
Behandlungsstrategien mit
Chancen und Risiken
1.Fortführung und ggf. Intensivierung
der Intensivtherapie mit sofortigem
Beginn einer Antitumortherapie: Bei
dieser Behandlungsstrategie würde
man versuchen, das Leben des Patienten mit allen verfügbaren medizinischen Mitteln zu erhalten. Aktuell
findet sich kein Anhalt für eine Akzeleration oder einen Blastenschub,
sodass die Prognose von Seiten der
CML – die intensivmedizinische Situation außen vor gelassen – auch in
der vorliegenden Situation mit hoher
Tumorlast als günstig einzustufen ist,
wenn eine konsequente Behandlung
mit Imatinib erfolgt. Problematisch
ist angesichts der Tumormasse der
Therapiebeginn mit der Gefahr eines
Tumorlysesyndroms. Akut ist der Patient vorrangig durch das Multiorganversagen bedroht. Anhand der in der
Intensivmedizin gebräuchlichen Instrumente zur Abschätzung der Krankenhausmortalität, dem APACHE-IIScore [2] und dem SAPS-II-Score [4]
wird die Überlebenschance mit etwa
20% angenommen.
2.Maximale Intensivtherapie, Leukapherese zur Reduktion der Tumorlast und Entscheidung über Antitumortherapie nach dem weiteren Verlauf: Bei dieser Behandlungsstrategie würde man die Entscheidung zur
Aufnahme einer Antitumortherapie von dem weiteren intensivmedizinischen Verlauf des Patienten abhängig machen. Mit dem Vorgehen verbindet sich die Hoffnung, das Risiko
eines Tumorlysesyndroms bei Einleitung einer spezifischen Tumortherapie zu reduzieren. Wenn sich der Zustand weiter verschlechtert, würde
man auf eine tumorspezifische Therapie verzichten und die lebensverlängernden Maßnahmen begrenzen
(vgl. Strategie 3). Wenn sich der Zustand des Patienten aber bessert, würde man eine Antitumortherapie beginnen (vgl. Strategie 1).
3.Abbruch der Intensivtherapie, Beschränkung auf eine angemessene
Sterbebegleitung: Nach Abbruch der
lebensverlängernden Maßnahmen
würde der Patient in kurzer Zeit versterben. Es ist davon auszugehen, dass
das Sterben bei angemessener palliativmedizinischer Versorgung für den
Patienten nicht mit Leiden verbunden
ist.
Ethische Verpflichtungen
gegenüber dem Patienten (1):
Wohltun und Nichtschaden
Bei diesem Bearbeitungsschritt ist aus der
Fürsorgeperspektive heraus zu prüfen,
welche der 3 verfügbaren Behandlungsoptionen unter Berücksichtigung der jeweiligen Chancen und Risken für das Wohlergehen des Patienten am besten ist. Die
Äußerungen des Patienten und seiner Angehörigen werden zunächst bewusst ausgeblendet. Aufgrund des Multiorganversagens ist die Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten deutlich reduziert. Dagegen sind die Aussichten, mit einer spezifischen Tumortherapie die CML erfolgreich zu behandeln, hervorragend. Kritisch ist sicherlich aufgrund der hohen
Zellzahl die erste Phase der Therapie.
Für Strategie 2 spricht das geringere Ri-
siko einer Tumorlyse, dafür stellt die Leukapherese eine Kreislaufbelastung dar und
birgt ein gewisses Blutungsrisiko. Strategie 1 vermeidet diese Probleme zu Lasten
des Risikos einer Tumorlyse. Ob man eine
spezifische Therapie (Strategie 1 oder 2)
oder die Beschränkung auf Sterbebegleitung (Strategie 3) für das Wohlergehen des
Patienten als besser erachtet, hängt wesentlich davon ab, wie man die Prognose des Patienten bewertet. Ist sie gut genug, um einen intensiven Behandlungsversuch zu rechtfertigen? Oder ist sie so
ungünstig, dass es für den Patienten besser wäre, sterben zu dürfen? Eine mögliche Bewertung möchten wir andeuten:
Ein Therapieversuch bietet dem Patienten
eine kleine, aber doch realistische Chance, das Multiorganversagen zu überwinden. Übersteht er die erste kritische Phase, so ist die Prognose mit einer Therapie
der CML mit Imatinib günstig, der Patient
könnte auf ein Leben von vielen Jahren bei
guter Lebensqualität hoffen. Gleichzeitig
hat er durch einen Therapieversuch kaum
mehr etwas zu verlieren, da er bereits bewusstlos und von lebensverlängernden
Maßnahmen abhängig ist, sodass Strategie 1 oder 2 für das Wohlergehen des Patienten am besten wäre.
Ethische Verpflichtungen
gegenüber dem Patienten (2):
Respekt der Autonomie
Der Patient ist aktuell nicht ansprechbar
und kann nicht äußern, welche der 3 Behandlungsstrategien er bevorzugt. Das
am 01.09.09 in Kraft getretene Gesetz zur
Änderung des Betreuungsrechts hat bestätigt, dass bei einem einwilligungsunfähigen Patienten zunächst auf schriftlich in einer Patientenverfügung festgelegte Behandlungswünsche zurückgegriffen werden muss (BGBL, 2009 Teil I, Nr.
48, S. 2286; für eine ausführlichere Darstellung der neuen Regelung vgl. [10]). Sofern – wie in diesem Fall – keine Patientenverfügung vorliegt, muss sich die Entscheidung an mündlich geäußerten Behandlungswünschen oder hilfsweise an
dem mutmaßlichen Patientenwillen orientieren. Den Aussagen der Ehefrau zufolge hatte der Patient sich nach Diagnosestellung vor 5 Jahren bewusst gegen eine
Antitumortherapie entschieden und wür-
de auch in der vorliegenden Situation keine „Apparatemedizin“ mehr wünschen.
Diese Einschätzung wird von den Eltern
des Patienten unterstützt. Um die Autonomie des Patienten zu respektieren, müsste man folglich Strategie 3 wählen, d. h.
auf eine spezifische Therapie der CML
verzichten und die lebensverlängernden
Maßnahmen beenden. Kritisch ist dabei,
dass den Aussagen der Ehefrau zufolge die
ablehnende Haltung des Patienten gegenüber der Therapie zumindest teilweise in
einer falschen Einschätzung der Prognose sowie der Nebenwirkungen der Therapie – die ja keine Chemotherapie im klassischen Sinne darstellt – begründet zu
sein scheint. Vielleicht hätte sich der Patient für eine Therapie entschieden, wenn
er sich über die tatsächliche Prognose und
die vergleichsweise geringen Nebenwirkungen im Klaren gewesen wäre.
Ethische Verpflichtungen
gegenüber Dritten
In diesem Bearbeitungsschritt sind v. a.
Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen, d. h. der Ehefrau, den Eltern und
den Kindern zu diskutieren. Für alle Beteiligten wäre es sicher am besten, wenn
der Patient durch eine spezifische Tumortherapie die – wenn auch nicht sehr
große – Chance bekäme, noch einige Jahre weiter zu leben. Vor allem die minderjährigen Kinder könnten davon profitieren. Gemäß den Verpflichtungen gegenüber Dritten wäre folglich Strategie 1 oder
Strategie 2 geboten. An dieser Stellte wäre darüber hinaus zu diskutieren, wie die
verschiedenen Strategien im Hinblick auf
den Ressourcenverbrauch zu beurteilen
sind. Bei der Diskussion des vorliegenden
Falls stand diese Frage nicht im Vordergrund, da der Patient auch bei der aufwendigsten Therapieoption eine zumindest etwa 20%ige Wahrscheinlichkeit hatte, Jahre in guter Lebensqualität hinzu zu
gewinnen.
Synthese: begründete
Abwägung im Konfliktfall
In diesem Schritt ist nun zu prüfen, ob
die Verpflichtungen, die aus den einzelnen ethischen Prinzipien resultieren, konvergieren oder divergieren. Gemäß den
Wohltunsverpflichtungen müsste man
im vorliegenden Fall die intensivmedizinischen Maßnahmen fortsetzen und eine Antitumortherapie beginnen (Strategie 1 oder 2). Die Verpflichtungen gegenüber Dritten weisen in die gleiche Richtung. Um die Patientenautonomie zu respektieren, müsste man hingegen auf lebensverlängernde Maßnahmen und eine
Behandlung der CML verzichten (Strategie 3). Es resultiert folglich ein Konflikt
zwischen der Autonomie des Patienten einerseits und seinem Wohlergehen sowie
den Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen andererseits. Wie könnte hier
eine begründete Abwägung der konfligierenden Verpflichtungen aussehen?
Grundsätzlich hat jeder einwilligungsfähige Patient das Recht, eine nützliche und
möglicherweise auch lebensrettende Behandlungsmaßnahme abzulehnen, auch
wenn dies für Dritte – z. B. nahe Familienangehörige – mit erheblichen Nachteilen verbunden ist. Die aktuelle Gesetzgebung zur Patientenverfügung bestätigt, dass dieses Recht nicht erlischt, wenn
man nicht mehr in der Lage ist, selbst seine Entscheidung über die Durchführung
der Maßnahmen zu äußern. Eine im einwilligungsfähigen Zustand geäußerte Ablehnung einer Therapie bleibt auch bei
Verlust der Einwilligungsfähigkeit verbindlich, sodass im vorliegenden Fall der
Autonomie des Patienten Vorrang vor seinem Wohlergehen einzuräumen und folglich Strategie 3 durchzuführen wäre.
Die autonomieorientierten Argumente
für einen Verzicht auf eine spezifische Tumortherapie sind jedoch insofern etwas
geschwächt, da die Ablehnung des Patienten möglicherweise auf einer nicht realistischen Einschätzung der Chancen und
Risiken beruhte. Allerdings war der Patient mehrfach über Wirkungen und Nebenwirkungen der CML-Therapie mit
Imatinib aufgeklärt worden, sodass er
die Chance hatte, ein angemessenes Verständnis seiner Situation zu gewinnen.
Dass er auch bei der akuten Verschlechterung seines Zustands die auswärtige Klinik nicht zur Behandlung der CML, sondern nur zur symptomorientierten Linderung seiner Beschwerden aufsuchte,
bekräftig wiederum die Entschlossenheit,
mit der der Patient eine Antitumortherapie ablehnte. Wenn es überhaupt zu rechtDer Onkologe 2009 | Leitthema
fertigen wäre, sich hier über die klare – antizipierte – Ablehnung der CML-Therapie
hinwegzusetzen, bräuchte man sehr starke am Wohlergehen des Patienten orientierte Argumente: Angesichts der insgesamt doch eher ungünstigen intensivmedizinischen Prognose des Patienten scheinen diese im vorliegenden Fall nicht hinreichend stark zu sein, um eine Behandlung des Patienten gegen seinen zuvor
klar geäußerten – und auch gelebten! –
Willen durchzuführen. Als Ergebnis der
Abwägung kann man folglich festhalten:
Ethisch am besten begründbar ist die Strategie 3, d. h. der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und eine Antitumortherapie, da dies den zuvor geäußerten
Wünschen des Patienten entspricht und
damit ethisch durch den Respekt der Patientenautonomie gerechtfertigt ist.
Weiterer Verlauf des Falls
Aus den verschiedenen Gesprächen wird
deutlich, dass der Patient zumindest im
Rahmen der Erstdiagnose umfassend und
korrekt über die Erkrankung informiert
worden war. Trotz der guten Erfolgsaussichten und der geringen Belastungen hat
er eine spezifische Therapie über Jahre
abgelehnt. Diese Grundhaltung hat sich
auch bei zunehmender Verschlechterung
des Zustands und zuletzt offensichtlich
drohendem Tod nicht geändert. Aktuell
ist die Situation durch das Multiorganversagen noch kritischer.
Nach ausführlicher gemeinsamer Besprechung schließen sich auch die Eltern
des Patienten dem Wunsch der Ehefrau
an, dem Patientenwillen folgend die lebenserhaltenden intensivmedizinischen
Maßnahmen zu beenden. Den Angehörigen wird die Begleitung durch einen Geistlichen angeboten, das Angebot
wird dankbar angenommen. Nach Absetzen der kreislaufwirksamen Medikamente
stirbt der Patient innerhalb weniger Minuten im Beisein seiner Angehörigen.
Fazit für die Praxis
Ethische Entscheidungen in der Onkologie können durch strukturierte ethische
Fallbesprechungen unterstützt werden,
an denen alle Berufsgruppen und medizinischen Fachdisziplinen teilnehmen,
| Der Onkologe 2009
die an der Versorgung des Patienten beteiligt sind. Inhaltlich sollte sich das Gespräch an den vier klassischen medizinethischen Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit orientieren. Nach der medizinischen Analyse des Falls mit Herausarbeitung der möglichen Behandlungsstrategien, jeweils mit ihren Chancen und Risiken, ist zunächst zu prüfen, welche Option aus der Fürsorgeperspektive für das
Wohlergehen des Patienten am besten
ist. Anschließend ist zu klären, welche
Behandlungsoption der Patient selbst
nach entsprechender Aufklärung für sich
bevorzugt und welche Verpflichtungen
gegenüber Dritten wie z. B. Familienangehörigen bestehen. Sofern sich in der
abschließenden Synthese ein Konflikt ergibt, ist eine begründete Abwägung zwischen den Verpflichtungen erforderlich.
Eine kritische Reflexion des Falls bildet
den Abschluss der prinzipienorientierten
Falldiskussion.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. G. Marckmann MPH
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin,
Universität Tübingen
Gartenstraße 47, 72074 Tübingen
[email protected]
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
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Oxford
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Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis. Campus, Frankfurt
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  8. McCullough LB, Ashton CM (1994) A methodology
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  9. Steinkamp N, Gordijn B (2005) Ethik in der Klinik
und Pflegeinrichtung. Ein Arbeitsbuch. Luchterhand, Neuwied, Köln
10. Vetter P, Marckmann G (2009) Gesetzliche Regelung der Patientenverfügung: Was ändert sich
für die Praxis? Ärzteblatt Baden-Württemberg
64:370–374
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