Leitthema Onkologe 2009 DOI 10.1007/s00761-009-1695-z © Springer Medizin Verlag 2009 G. Marckmann MPH1 · F. Mayer2 1 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen, Tübingen 2 Abteilung Onkologie, Hämatologie, Immunologie, Rheumatologie und Pulmologie, Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Tübingen Ethische Fallbesprechungen in der Onkologie Grundlagen einer ­prinzipienorientierten Falldiskussion Schwierige ethische Entscheidungen gehören zum klinischen Alltag in der Onkologie. Wie kann man einem Patienten angemessen begegnen, wenn dieser eine erfolgversprechende Antitumortherapie ablehnt? Soll bei einer weit fortgeschrittenen bösartigen Tumorerkrankung eine möglicherweise nebenwirkungsreiche Chemotherapie begonnen werden? Soll man dem dringenden Therapiewunsch eines Patienten folgen, auch wenn kaum mehr Aussicht besteht, das Tumorwachstum positiv zu beeinflussen? Diese und ähnliche Entscheidungen können für den zuständigen Arzt erleichtert werden, wenn er den Fall gemeinsam mit Kollegen im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung diskutiert und sich dabei an einem inhaltlich strukturierten Entscheidungsmodell orientiert. Im vorliegenden Beitrag möchten wir aufzeigen, wie eine ethische Fallbesprechung organisiert und auf der Grundlage der vier klassischen medizinethischen Prinzipien inhaltlich strukturiert werden kann. Anschließend erläutern wir die Anwendung des Entscheidungsmodells an einem konkreten Fallbeispiel aus der Hämatoonkologie. Organisation ethischer Fallbesprechungen Nach unserer Erfahrung ist es sinnvoll, schwierige ethische Entscheidungen im Rahmen einer fallbezogenen Teambesprechung auf der jeweiligen Station zu diskutieren (s. Infobox 1). Hierzu werden – mit einem entsprechenden zeitlichen Vorlauf – Vertreter der verschiedenen Berufsgruppen und medizinischen Fachdisziplinen, die an der Betreuung des Patienten beteiligt sind, eingeladen. Sofern verfügbar, kann ein Ethikberater (z. B. aus dem klinischen Ethikkomitee (KEK)) das Gespräch moderieren. Gerade bei Spannungen zwischen den Berufsgruppen oder den medizinischen Teams kann es sehr hilfereich sein, wenn das Gespräch von einer „neutralen“ Person geleitet wird, die selbst nicht am Behandlungsprozess beteiligt ist. Welche Vorteile bietet diese Form der Fallbesprechung? 1.Durch die Beteiligung der verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen kann die Situation des Patienten aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Jede Berufsgruppe hat einen jeweils spezifischen Zugang zum Patienten und benutzt unterschiedliche Erklärungs- und Deutungsmuster. Die Integration der verschiedenen Sichtweisen ist eine notwendige Voraussetzung, um ein um- fassendes Bild des Patienten zu erhalten. 2.Häufig divergieren die Einschätzungen zur Situation des Patienten zwischen den Berufsgruppen und medizinischen Disziplinen. Es erscheint deshalb wichtig, diese unterschiedlichen Auffassungen durch eine breite Beteiligung der Mitarbeiter bei der Diskussion zu berücksichtigen. 3.Das Ziel der ethischen Fallbesprechung ist die Unterstützung der Entscheidungsfindung. Beim Beratungsergebnis handelt es sich um eine begründete Handlungsempfehlung, nicht um um eine Direktive. Die Verantwortung verbleibt ungeteilt bei dem jeweils zuständigen Arzt. Wenn die Mitarbeiter in die Fallbesprechung einbezogen sind, können sie den Entscheidungsprozess und die dem Ergebnis zugrunde liegenden Argumente selbst nachvollziehen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis auch tatsächlich in der Praxis von allen Beteiligten mitgetragen und umgesetzt wird. 4.Nicht zuletzt können wiederholte Fallbesprechungen die inter- und intraprofessionelle Diskussionskultur auf der Station fördern und damit über die konkrete Beratung hinaus den Umgang mit ethisch schwierigen Fallkonstellationen nachhaltig verbessern. Der Onkologe 2009 | Leitthema Tab. 1 Prinzipienorientierte Falldiskussion [7] 1. Analyse: medizinische Aufarbeitung des Falls a) Information über den Patienten (Anamnese, Befunde, Diagnosen etc.) b) (Be-)Handlungsoptionen mit ihren Chancen und Risiken (Prognose) 2. Bewertung I: ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten a) Wohl des Patienten fördern, nicht schaden b) Autonomie respektieren 3. Bewertung II: ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten: Familienangehörige, andere Patienten, Versichertengemeinschaft (Gerechtigkeit) 4. Synthese: konvergieren oder divergieren die Verpflichtungen? Im Konfliktfall á begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion: a) Was ist der stärkste Einwand gegen die ausgewählte Option? b) Wie hätte der Konflikt möglicherweise vermieden werden können? Ethische Grundlage: prinzipienorientierte Medizinethik Die allgemeine Zielsetzung einer ethischen Fallbesprechung besteht darin, die ethisch am besten begründbare Handlungsoption herauszuarbeiten. Welche der medizinisch möglichen Behandlungsstrategien ergriffen werden soll, hängt von den ethischen Verpflichtungen ab, denen Ärzte und andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen unterliegen. Vier ethische Prinzipien bestimmen den Inhalt der Verpflichtungen [1]: FWohltun, FNichtschaden, FRespekt der Autonomie des Patienten, FGerechtigkeit. Das Prinzip des Wohltuns verpflichtet alle im Gesundheitswesen Tätigen dazu, dem Patienten zu nutzen und sein Wohlergehen durch die Behandlung und Prävention von Krankheiten sowie die Linderung von Beschwerden zu fördern. Nach dem Prinzip des Nichtschadens soll dem Patienten kein Schaden zugefügt werden. Da beinahe jede wirksame medizinische Intervention auch ein Schadensrisiko beinhaltet, ergibt sich häufig ein Konflikt zwischen dem Prinzip des Wohltuns und dem Prinzip des Nichtschadens. Nutzen und Schaden sind sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Das Prinzip Respekt der Autonomie fordert die Berücksichtigung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Patienten und richtet sich gegen die wohlwollende ärztliche Bevormundung – im Sinne eines Paternalismus. Dabei verlangt das Autonomieprinzip nicht nur negativ | Der Onkologe 2009 die Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme, sondern auch positiv die Förderung der Entscheidungsfähigkeit. Praktische Umsetzung findet das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im Grundsatz des informierten Einverständnisses („informed consent“), das als zentrale Elemente die Aufklärung und Einwilligung des Patienten umfasst: Eine medizinische Maßnahme darf nur dann durchgeführt werden, wenn der Patient nach entsprechender Aufklärung seine Einwilligung dazu erteilt hat. Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert allgemein eine gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten im Gesundheitssystem. Mehr noch als die 3 vorangehenden Prinzipien bedarf das Prinzip der Gerechtigkeit bei der Anwendung einer weiteren Interpretation: Was bedeutet z. B. eine gerechte Verteilung knapper medizinischer Ressourcen? (Zur Einführung s. [6]). Relativ unkontrovers dürfte der folgende allgemeine Gerechtigkeitsgrundsatz sein: Gleiche Fälle sind gleich und ungleiche Fälle nur insofern ungleich zu behandeln, als sie moralisch relevante Unterschiede aufweisen. Interpretationsschwierigkeiten bereitet hier die Frage, was im Einzelfall moralisch relevante Unterschiede sind. Inhaltliche Strukturierung ethischer Fallbesprechungen Bei der Diskussion eines konkreten Falls gilt es nun, die Verpflichtungen abzuprüfen, die jeweils aus den einzelnen ethischen Prinzipien resultieren [8]. Wir sprechen deshalb von einer prinzipienorientierten Falldiskussion, die insgesamt 5 Bearbeitungsschritte umfasst (. Tab. 1). Die Fallbesprechung beginnt mit der medizinischen Aufarbeitung des Falls, die sich wiederum in 2 Unterschritte gliedert: Zunächst wird die für die Entscheidung erforderliche Information über den Patienten gesammelt (Vorgeschichte, Beschwerden, Befunde, Sozialanamnese, Diagnosen etc.). Dann wird überlegt, welche Behandlungsoptionen grundsätzlich in Frage kommen (inklusive Behandlungsverzicht!) und welche Chancen und Risiken mit ihnen jeweils verbunden sind. Am Ende dieses ersten Bearbeitungsschritts wissen wir, was wir tun können, wir wissen aber noch nicht, welche der verfügbaren Handlungsoptionen wir tatsächlich auch ergreifen sollen. Hier beginnt die eigentliche ethische Aufarbeitung des Falls. Dazu wird schrittweise geprüft, welche der Behandlungsmöglichkeiten gemäß den 4 ethischen Prinzipien jeweils geboten wären. Man beginnt dabei sinnvollerweise mit den ethischen Verpflichtungen des Wohltuns und Nichtschadens (Schritt 2a), da sich die Zustimmung des Patienten (Respekt der Autonomie, Schritt 2b) erübrigt, wenn im ersten Bearbeitungsschritt klar wird, dass die Behandlungsmaßnahmen keinen Nutzen für den Patienten bieten. Im 3. Schritt werden die Verpflichtungen gegenüber Dritten herausgearbeitet, wobei hier neben den Angehörigen andere Patienten und die Gemeinschaft der Versicherten insgesamt zu berücksichtigen sind. Im 4. Schritt wird dann geprüft, ob die Verpflichtungen, die sich aus den einzelnen ethischen Prinzipien ergeben, konvergieren oder divergieren. Im Konfliktfall, der sich ethisch als Konflikt zwischen verschiedenen Prinzipien rekonstruieren lässt, ist eine begründete Abwägung der Verpflichtungen erforderlich, da keine feste Hierarchie der Prinzipien vorgegeben ist. Es gilt dabei fallbezogene Gründe zu finden, welche ethische Verpflichtung Vorrang genießen soll (zur begründeten Abwägung vgl. ausführlicher das Fallbeispiel in [5]). Der letzte Bearbeitungsschritt dient dann der kritischen Reflexion des Falls: Worin besteht der stärkste Einwand gegen die favorisierte Handlungsoption? Und: Wie hätte der Konflikt möglicherweise verhindert werden können? Ziel letzterer Fragestellung ist es, aus dem vorliegenden Fall zu lernen und – im Sinne einer präventiven Ethik – Zusammenfassung · Abstract vergleichbare Konflikte in Zukunft nach Möglichkeit zu vermeiden. Anhand eines konkreten Fallbeispiels sei im Folgenden angedeutet, wie das Modell der prinzipienorientierten Falldiskussion in der Praxis angewandt werden kann. Fallbeispiel Ein 36-jähriger Patient wird nach einer Reanimation in einem auswärtigen Krankenhaus auf die Intensivstation aufgenommen. Der Patient hatte sich am Vorabend mit zunehmenden Schmerzen und Taubheitsgefühl im rechten Oberschenkel vorgestellt. Er zeigte sich in kachektischem Ernährungszustand bei stabilen Vitalparametern. Klinisch fiel eine massive Hepatosplenomegalie auf, Milz und Leber reichten jeweils bis ins kleine Becken. Das Blutbild zeigte eine massive Leukozytose von 550.000/µl, Thrombozyten von 440.000/µl und eine Anämie von 5 g/dl. Retentionsparamter, Leberwerte und Gerinnung lagen noch im Normbereich, pathologisch erhöht zeigten sich Harnsäure mit 12 mg/dl, LDH mit 2200 U/l sowie Serum-Kalium. C-reaktives Protein und Procalcitonin als Entzündungszeichen waren deutlich erhöht. Wenige Stunden später fand ihn die Pflege mit Schnappatmung im Bett liegen. Es wurde sofort eine kardiopulmonale Reanimation begonnen. Nach Intubation und Gabe von Adrenalin stabilisierte sich der Kreislauf des Patienten; er wurde umgehend verlegt. Bei Übernahme war der Patient unter Flüssigkeitszufuhr und hohen Katecholamindosen kreislaufstabil, die Oxygenierung war unter einer kontrollierten Beatmung mit einer Sauerstoffkonzentration von 70% ausreichend. Der Patient war anurisch, eine unter Reanimation ausgebildete Laktazidose war rückläufig. Laborchemisch waren die Werte denen des Vorabends vergleichbar, lediglich die Retentionsparameter waren passend zur Anurie angestiegen, die Gerinnungsparameter waren pathologisch. Im Differenzialblutbild zeigte sich eine Linksverschiebung der myeloischen Reihe bis zu Blasten; es ergab sich kein Anhalt für eine Akzeleration oder einen Blastenschub bei einer vermuteten chronisch-myeloischen Leukämie (CML). Onkologe 2009 DOI 10.1007/s00761-009-1695-z © Springer Medizin Verlag 2009 G. Marckmann MPH · F. Mayer Ethische Fallbesprechungen in der Onkologie. Grundlagen einer prinzipienorientierten Falldiskussion Zusammenfassung Ethische Entscheidungen in der Onkologie können durch strukturierte Fallbesprechungen unterstützt werden, an denen alle Berufsgruppen und medizinischen Fachdisziplinen teilnehmen, die an der Versorgung des Patienten beteiligt sind. Inhaltlich sollte sich das Gespräch an den vier medizinethischen Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit orientieren. Nach der medizinischen Analyse des Falls mit Herausarbeitung der möglichen Behandlungsstrategien, jeweils mit ihren Chancen und Risiken, ist zunächst zu prüfen, welche Option aus der Fürsorgeperspektive für das Wohlergehen des Patienten am bes- ten ist. Anschließend ist zu klären, welche Behandlungsoption der Patient selbst nach entsprechender Aufklärung für sich bevorzugt und welche Verpflichtungen gegenüber Dritten wie z. B. Familienangehörigen bestehen. Sofern sich in der abschließenden Synthese ein Konflikt ergibt, ist eine begründete Abwägung zwischen den Verpflichtungen erforderlich. Eine kritische Reflexion des Falls bildet den Abschluss der prinzipienorientierten Falldiskussion. Schlüsselwörter Ethik · Onkologie · Klinische Ethikberatung · Falldiskussion · Ethische Prinzipien Ethics consultations in oncology. Elements of a principles-oriented case discussion Abstract Ethical decisions in oncology can be supported by structured case discussions with the participation of the different professional groups and medical disciplines involved in the patient’s care. The discussion should be structured according to the four classical ethical principles of beneficence, nonmaleficence, respect for autonomy, and justice. After the medical analysis of the case with identification of possible treatment strategies, including their benefits and risks, it must be assessed, from the perspective of beneficence, which treatment strategy is best for the pa- tient’s well-being. Then, after appropriate disclosure, the option that the patient herself prefers must be clarified, as well as the obligations toward third parties such as family members. If the final synthesis yields a conflict, the conflicting obligations must be balanced, based on good reasons. A critical review of the case concludes the case discussion. Keywords Ethics · Oncology · Clinical ethics consultation · Case discussion · Ethical principles Der Onkologe 2009 | Leitthema Infobox 1 „Eine ethische Fallbesprechung auf Station ist der systematische Versuch, im Rahmen eines strukturierten, von einem Moderator geleiteten Gesprächs mit einem multidisziplinären Team innerhalb eines begrenzten Zeitraums zu der ethisch am besten begründbaren Entscheidung zu gelangen“ [9]. Mittlerweile waren die Eltern des Patienten eingetroffen. Sie teilten mit, dass bei dem Patienten 5 Jahre zuvor eine CML diagnostiziert worden sei. Nach der Diagnosestellung und den ersten Aufklärungsgesprächen sei der Patient zunächst sehr zuversichtlich gewesen. Im Laufe der nächsten Wochen habe er jedoch eine fatalistische Einstellung gegenüber der Erkrankung entwickelt. Er habe sich nur noch vom Heilpraktiker behandeln lassen. Die Eltern hätten ihn über Jahre immer wieder gedrängt, sich doch spezifisch behandeln zu lassen. Dabei hätten sie insbesondere auch auf seine Verantwortung gegenüber den zwei minderjährigen Kindern hingewiesen. Der Patient habe dies aber immer abgelehnt. Die Ehefrau bestätigte, dass der Patient eine spezifische Therapie der CML immer strikt abgelehnt habe, da er sich bei unausweichlichem Schicksal ein therapiebedingtes Leiden ersparen wolle. Offen blieb in den Gesprächen, wie die negative Einstellung zustande kam. Der Ehefrau zufolge war der Patient umfassend über die Therapieoptionen einschließlich einer Behandlung mit Imatinib informiert worden. Dennoch würde er in der aktuellen Situation keine „Apparatemedizin“ wünschen, auch wenn dies den Tod bedeute. In die auswärtige Klinik habe er sich explizit nicht zur Therapie der CML, sondern ausschließlich zur Linderung der Beschwerden begeben. Eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht existiere nicht. In der vorliegenden Situation stellte sich nun die Frage, wie der aktuell intensivpflichtige Patient mit einer fortgeschrittenen CML weiter behandelt werden soll. | Der Onkologe 2009 Prinzipienorientierte Diskussion des Falls Analyse: medizinische Aufarbeitung des Falls Situation des Patienten Die CML als maligne Erkrankung mit geringer Dynamik kann nach heutigem Kenntnisstand auch weiterhin nur durch eine allogene Blutstammzelltransplantation geheilt werden. Jedoch kann die medikamentöse Therapie die Erkrankung über viele Jahre – möglicherweise Jahrzehnte – bei guter Lebensqualität sehr gut kontrollieren. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung lagen bereits Daten über den Tyrosinkinaseinhibitor Imatinib vor. Mit dieser Therapie – welche nicht im klassischen Sinne einer Chemotherapie entspricht – sind aktuellen Daten zufolge nach 7 Jahren 86% der Patienten noch am Leben. Zensiert man Todesfälle, die mit der Erkrankung nicht zusammenhängen, sind die Daten noch günstiger: Im gleichen Zeitraum sterben nur 6% der Patienten an ihrer Erkrankung [3]. Behandlungsstrategien mit Chancen und Risiken 1.Fortführung und ggf. Intensivierung der Intensivtherapie mit sofortigem Beginn einer Antitumortherapie: Bei dieser Behandlungsstrategie würde man versuchen, das Leben des Patienten mit allen verfügbaren medizinischen Mitteln zu erhalten. Aktuell findet sich kein Anhalt für eine Akzeleration oder einen Blastenschub, sodass die Prognose von Seiten der CML – die intensivmedizinische Situation außen vor gelassen – auch in der vorliegenden Situation mit hoher Tumorlast als günstig einzustufen ist, wenn eine konsequente Behandlung mit Imatinib erfolgt. Problematisch ist angesichts der Tumormasse der Therapiebeginn mit der Gefahr eines Tumorlysesyndroms. Akut ist der Patient vorrangig durch das Multiorganversagen bedroht. Anhand der in der Intensivmedizin gebräuchlichen Instrumente zur Abschätzung der Krankenhausmortalität, dem APACHE-IIScore [2] und dem SAPS-II-Score [4] wird die Überlebenschance mit etwa 20% angenommen. 2.Maximale Intensivtherapie, Leukapherese zur Reduktion der Tumorlast und Entscheidung über Antitumortherapie nach dem weiteren Verlauf: Bei dieser Behandlungsstrategie würde man die Entscheidung zur Aufnahme einer Antitumortherapie von dem weiteren intensivmedizinischen Verlauf des Patienten abhängig machen. Mit dem Vorgehen verbindet sich die Hoffnung, das Risiko eines Tumorlysesyndroms bei Einleitung einer spezifischen Tumortherapie zu reduzieren. Wenn sich der Zustand weiter verschlechtert, würde man auf eine tumorspezifische Therapie verzichten und die lebensverlängernden Maßnahmen begrenzen (vgl. Strategie 3). Wenn sich der Zustand des Patienten aber bessert, würde man eine Antitumortherapie beginnen (vgl. Strategie 1). 3.Abbruch der Intensivtherapie, Beschränkung auf eine angemessene Sterbebegleitung: Nach Abbruch der lebensverlängernden Maßnahmen würde der Patient in kurzer Zeit versterben. Es ist davon auszugehen, dass das Sterben bei angemessener palliativmedizinischer Versorgung für den Patienten nicht mit Leiden verbunden ist. Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten (1): Wohltun und Nichtschaden Bei diesem Bearbeitungsschritt ist aus der Fürsorgeperspektive heraus zu prüfen, welche der 3 verfügbaren Behandlungsoptionen unter Berücksichtigung der jeweiligen Chancen und Risken für das Wohlergehen des Patienten am besten ist. Die Äußerungen des Patienten und seiner Angehörigen werden zunächst bewusst ausgeblendet. Aufgrund des Multiorganversagens ist die Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten deutlich reduziert. Dagegen sind die Aussichten, mit einer spezifischen Tumortherapie die CML erfolgreich zu behandeln, hervorragend. Kritisch ist sicherlich aufgrund der hohen Zellzahl die erste Phase der Therapie. Für Strategie 2 spricht das geringere Ri- siko einer Tumorlyse, dafür stellt die Leukapherese eine Kreislaufbelastung dar und birgt ein gewisses Blutungsrisiko. Strategie 1 vermeidet diese Probleme zu Lasten des Risikos einer Tumorlyse. Ob man eine spezifische Therapie (Strategie 1 oder 2) oder die Beschränkung auf Sterbebegleitung (Strategie 3) für das Wohlergehen des Patienten als besser erachtet, hängt wesentlich davon ab, wie man die Prognose des Patienten bewertet. Ist sie gut genug, um einen intensiven Behandlungsversuch zu rechtfertigen? Oder ist sie so ungünstig, dass es für den Patienten besser wäre, sterben zu dürfen? Eine mögliche Bewertung möchten wir andeuten: Ein Therapieversuch bietet dem Patienten eine kleine, aber doch realistische Chance, das Multiorganversagen zu überwinden. Übersteht er die erste kritische Phase, so ist die Prognose mit einer Therapie der CML mit Imatinib günstig, der Patient könnte auf ein Leben von vielen Jahren bei guter Lebensqualität hoffen. Gleichzeitig hat er durch einen Therapieversuch kaum mehr etwas zu verlieren, da er bereits bewusstlos und von lebensverlängernden Maßnahmen abhängig ist, sodass Strategie 1 oder 2 für das Wohlergehen des Patienten am besten wäre. Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten (2): Respekt der Autonomie Der Patient ist aktuell nicht ansprechbar und kann nicht äußern, welche der 3 Behandlungsstrategien er bevorzugt. Das am 01.09.09 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts hat bestätigt, dass bei einem einwilligungsunfähigen Patienten zunächst auf schriftlich in einer Patientenverfügung festgelegte Behandlungswünsche zurückgegriffen werden muss (BGBL, 2009 Teil I, Nr. 48, S. 2286; für eine ausführlichere Darstellung der neuen Regelung vgl. [10]). Sofern – wie in diesem Fall – keine Patientenverfügung vorliegt, muss sich die Entscheidung an mündlich geäußerten Behandlungswünschen oder hilfsweise an dem mutmaßlichen Patientenwillen orientieren. Den Aussagen der Ehefrau zufolge hatte der Patient sich nach Diagnosestellung vor 5 Jahren bewusst gegen eine Antitumortherapie entschieden und wür- de auch in der vorliegenden Situation keine „Apparatemedizin“ mehr wünschen. Diese Einschätzung wird von den Eltern des Patienten unterstützt. Um die Autonomie des Patienten zu respektieren, müsste man folglich Strategie 3 wählen, d. h. auf eine spezifische Therapie der CML verzichten und die lebensverlängernden Maßnahmen beenden. Kritisch ist dabei, dass den Aussagen der Ehefrau zufolge die ablehnende Haltung des Patienten gegenüber der Therapie zumindest teilweise in einer falschen Einschätzung der Prognose sowie der Nebenwirkungen der Therapie – die ja keine Chemotherapie im klassischen Sinne darstellt – begründet zu sein scheint. Vielleicht hätte sich der Patient für eine Therapie entschieden, wenn er sich über die tatsächliche Prognose und die vergleichsweise geringen Nebenwirkungen im Klaren gewesen wäre. Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten In diesem Bearbeitungsschritt sind v. a. Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen, d. h. der Ehefrau, den Eltern und den Kindern zu diskutieren. Für alle Beteiligten wäre es sicher am besten, wenn der Patient durch eine spezifische Tumortherapie die – wenn auch nicht sehr große – Chance bekäme, noch einige Jahre weiter zu leben. Vor allem die minderjährigen Kinder könnten davon profitieren. Gemäß den Verpflichtungen gegenüber Dritten wäre folglich Strategie 1 oder Strategie 2 geboten. An dieser Stellte wäre darüber hinaus zu diskutieren, wie die verschiedenen Strategien im Hinblick auf den Ressourcenverbrauch zu beurteilen sind. Bei der Diskussion des vorliegenden Falls stand diese Frage nicht im Vordergrund, da der Patient auch bei der aufwendigsten Therapieoption eine zumindest etwa 20%ige Wahrscheinlichkeit hatte, Jahre in guter Lebensqualität hinzu zu gewinnen. Synthese: begründete Abwägung im Konfliktfall In diesem Schritt ist nun zu prüfen, ob die Verpflichtungen, die aus den einzelnen ethischen Prinzipien resultieren, konvergieren oder divergieren. Gemäß den Wohltunsverpflichtungen müsste man im vorliegenden Fall die intensivmedizinischen Maßnahmen fortsetzen und eine Antitumortherapie beginnen (Strategie 1 oder 2). Die Verpflichtungen gegenüber Dritten weisen in die gleiche Richtung. Um die Patientenautonomie zu respektieren, müsste man hingegen auf lebensverlängernde Maßnahmen und eine Behandlung der CML verzichten (Strategie 3). Es resultiert folglich ein Konflikt zwischen der Autonomie des Patienten einerseits und seinem Wohlergehen sowie den Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen andererseits. Wie könnte hier eine begründete Abwägung der konfligierenden Verpflichtungen aussehen? Grundsätzlich hat jeder einwilligungsfähige Patient das Recht, eine nützliche und möglicherweise auch lebensrettende Behandlungsmaßnahme abzulehnen, auch wenn dies für Dritte – z. B. nahe Familienangehörige – mit erheblichen Nachteilen verbunden ist. Die aktuelle Gesetzgebung zur Patientenverfügung bestätigt, dass dieses Recht nicht erlischt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, selbst seine Entscheidung über die Durchführung der Maßnahmen zu äußern. Eine im einwilligungsfähigen Zustand geäußerte Ablehnung einer Therapie bleibt auch bei Verlust der Einwilligungsfähigkeit verbindlich, sodass im vorliegenden Fall der Autonomie des Patienten Vorrang vor seinem Wohlergehen einzuräumen und folglich Strategie 3 durchzuführen wäre. Die autonomieorientierten Argumente für einen Verzicht auf eine spezifische Tumortherapie sind jedoch insofern etwas geschwächt, da die Ablehnung des Patienten möglicherweise auf einer nicht realistischen Einschätzung der Chancen und Risiken beruhte. Allerdings war der Patient mehrfach über Wirkungen und Nebenwirkungen der CML-Therapie mit Imatinib aufgeklärt worden, sodass er die Chance hatte, ein angemessenes Verständnis seiner Situation zu gewinnen. Dass er auch bei der akuten Verschlechterung seines Zustands die auswärtige Klinik nicht zur Behandlung der CML, sondern nur zur symptomorientierten Linderung seiner Beschwerden aufsuchte, bekräftig wiederum die Entschlossenheit, mit der der Patient eine Antitumortherapie ablehnte. Wenn es überhaupt zu rechtDer Onkologe 2009 | Leitthema fertigen wäre, sich hier über die klare – antizipierte – Ablehnung der CML-Therapie hinwegzusetzen, bräuchte man sehr starke am Wohlergehen des Patienten orientierte Argumente: Angesichts der insgesamt doch eher ungünstigen intensivmedizinischen Prognose des Patienten scheinen diese im vorliegenden Fall nicht hinreichend stark zu sein, um eine Behandlung des Patienten gegen seinen zuvor klar geäußerten – und auch gelebten! – Willen durchzuführen. Als Ergebnis der Abwägung kann man folglich festhalten: Ethisch am besten begründbar ist die Strategie 3, d. h. der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und eine Antitumortherapie, da dies den zuvor geäußerten Wünschen des Patienten entspricht und damit ethisch durch den Respekt der Patientenautonomie gerechtfertigt ist. Weiterer Verlauf des Falls Aus den verschiedenen Gesprächen wird deutlich, dass der Patient zumindest im Rahmen der Erstdiagnose umfassend und korrekt über die Erkrankung informiert worden war. Trotz der guten Erfolgsaussichten und der geringen Belastungen hat er eine spezifische Therapie über Jahre abgelehnt. Diese Grundhaltung hat sich auch bei zunehmender Verschlechterung des Zustands und zuletzt offensichtlich drohendem Tod nicht geändert. Aktuell ist die Situation durch das Multiorganversagen noch kritischer. Nach ausführlicher gemeinsamer Besprechung schließen sich auch die Eltern des Patienten dem Wunsch der Ehefrau an, dem Patientenwillen folgend die lebenserhaltenden intensivmedizinischen Maßnahmen zu beenden. Den Angehörigen wird die Begleitung durch einen Geistlichen angeboten, das Angebot wird dankbar angenommen. Nach Absetzen der kreislaufwirksamen Medikamente stirbt der Patient innerhalb weniger Minuten im Beisein seiner Angehörigen. Fazit für die Praxis Ethische Entscheidungen in der Onkologie können durch strukturierte ethische Fallbesprechungen unterstützt werden, an denen alle Berufsgruppen und medizinischen Fachdisziplinen teilnehmen, | Der Onkologe 2009 die an der Versorgung des Patienten beteiligt sind. Inhaltlich sollte sich das Gespräch an den vier klassischen medizinethischen Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit orientieren. Nach der medizinischen Analyse des Falls mit Herausarbeitung der möglichen Behandlungsstrategien, jeweils mit ihren Chancen und Risiken, ist zunächst zu prüfen, welche Option aus der Fürsorgeperspektive für das Wohlergehen des Patienten am besten ist. Anschließend ist zu klären, welche Behandlungsoption der Patient selbst nach entsprechender Aufklärung für sich bevorzugt und welche Verpflichtungen gegenüber Dritten wie z. B. Familienangehörigen bestehen. Sofern sich in der abschließenden Synthese ein Konflikt ergibt, ist eine begründete Abwägung zwischen den Verpflichtungen erforderlich. Eine kritische Reflexion des Falls bildet den Abschluss der prinzipienorientierten Falldiskussion. Korrespondenzadresse Prof. Dr. G. Marckmann MPH Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen Gartenstraße 47, 72074 Tübingen [email protected] Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1. Beauchamp TL, Childress JF (2008) Principles of biomedical ethics. Oxford University Press, New York, Oxford 2. Escarce JJ, Kelley MA (1990) Admission source to the medical intensive care unit predicts hospital death independent of APACHE II score. JAMA 264:2389–2394 3. Hochhaus A, O’Brien SG, Guilhot F et al (2009) Sixyear follow-up of patients receiving imatinib for the first-line treatment of chronic myeloid leukemia. Leukemia 23:1054–1061 4. Le Gall JR, Lemeshow S, Saulnier F (1993) A new simplified acute physiology score (SAPS II) based on a European/North American multicenter study. JAMA 270:2957–2963 5. Marckmann G (2005) Prinzipienorientierte Medizinethik im Praxistest. In: Rauprich O, Steger F (Hrsg) Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis. Campus, Frankfurt New York, S 389–415 6. Marckmann G (2008) Gesundheit und Gerechtigkeit. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 51:887–894 7. Marckmann G, Wiesing U (2008) Klinische Ethikkomitees: Erfahrungen am Universitätsklinikum Tübingen. In: Frewer A, Fahr U, Rascher W (Hrsg) Klinische Ethikkomitees. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Königshausen & Neumann, Würzburg, S 99–113 8. McCullough LB, Ashton CM (1994) A methodology for teaching ethics in the clinical setting: a clinical handbook for medical ethics. Theor Med 15:39–52 9. Steinkamp N, Gordijn B (2005) Ethik in der Klinik und Pflegeinrichtung. 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